Am Ende einer Epoche

Am Ende einer Epoche Wer von Mühleberg spricht, meint das Atomkraftwerk. Dabei ist Mühleberg auch ein Dorf. Ein Dorf, das nächstes Jahr 1000 Jahre alt wird. Das Atomkraftwerk war eine Epoche, sagt der Gemeindepräsident. Eine, die bald vorbei ist. Von deren Beginn, dem Ende und dem, was dazwischen geschah: Gewöhnung. In Mühleberg nennen sie es das Werk. Man ist für das Werk oder gegen das Werk und bald ist es sowieso nicht mehr da, das Werk. Dann ist Mühleberg wieder ein Dorf wie viele andere, ein ländliches Dorf, eines, durch das man hindurchfährt, auf der Überlandstrasse eins von Bern nach Murten, und Bauernhäuser sieht, Restaurants, eine Tankstelle, eine Bäckerei und den Volg. Aber nichts vom Werk. Auch heute ist es schwer zu finden. Es steht versteckt hinter dem Wald, am Ufer der Aare, in einer Senke. Von den höchsten Punkten des Dorfes sieht man die Spitze des rot-­‐weiss gestreiften Kamins. Sonst nichts. Es ist als wäre es nicht da und mancher Mühleberger vergisst tatsächlich hie und da, dass es ja noch immer da ist. Seit mehr als vierzig Jahren, seit 1972, seit einem halben Menschenleben. Viele haben erlebt, wie es gebaut wurde. Der Mühleberger SP-­‐Präsident Andreas Remund hat früher dort gefischt, wo es heute steht. Heute fischt er in der Saane. Beim Atomkraftwerk selber kann man nicht mehr ans Ufer. Als das Werk kam, am Anfang, da waren einige skeptisch, klar. Aber irgendwann war es halt einfach da und ändern konnte man ja sowieso nichts daran. „Wir leben schon lange damit. Bei uns herrscht nicht so Angst“, sagt Gemeindepräsident René Maire, in Mühleberg aufgewachsen, von Beruf Käsermeister. Maire ist ein ruhiger Typ, kein Polteri, SVP-­‐Mitglied, aber ein gemässigtes, wie er sagt. Er findet, dass jede Energie ihre Vor-­‐ und Nachteile hat. Die Klimaerwärmung macht ihm mehr Angst als die Kernkraft. Braunkohle verbrennen sei nicht besser als Atome spalten. Und Energiejunkies seien wir nun mal. Tschernobyl und Fukushima hätten ihn erschreckt, klar, aber das sei nicht vergleichbar. In Tschernobyl habe man auf Gedeih und Verderben alles aus dem Kraftwerk rausgequetscht und in Fukushima bei der Sicherheit gespart. Das passiere hier nicht. Maire spricht nicht ungern vom Atomkraftwerk. Aber noch lieber spricht er von der Geschichte Mühlebergs. Im nächsten Jahr wird das Dorf 1000-­‐jährig. Ob es genau 2016 ist, weiss man nicht. Aber man hat sich darauf geeinigt. Zum Jubiläum gibt es eine Festschrift. Ein historisch bewanderter Mühleberger hat sie verfasst. In der Schrift wird das Atomkraftwerk erwähnt, aber nicht gross thematisiert. „Das Werk war eine Episode“, sagt Maire. „Die fing irgendwann mal an. Wir haben damit gelebt. Und irgendwann wird es anders sein.“ Arbeit und Angst Irgendwann, das ist bald. 2019 wird das Werk abgestellt. 47 Jahre lang wird es dann seinen Dienst getan haben. 47 Jahre lang werden die Mühleberger neben dem Koloss gewohnt haben, der manchen Leuten Arbeit gab und andern grosse Angst machte. Letzteres vor allem den Auswärtigen, den Städtern. Es gibt da eine Episode aus den 80er-­‐Jahren. Damals sollte in Mühleberg das bestehende Zwischenlager für radioaktive Abfälle erweitert werden. Es gab Einsprachen, insgesamt rund 25, aus Olten, Bern, Thun oder Zürich, eine aus Mühleberg. Die Einsprachen der Städter sind grundsätzlicher Natur. Sie schreiben von der „Gefährlichkeit von Atomkraftwerken“, von der „Gefahr von Unfällen und Pannen“ oder von der „wenig erforschten Langzeitwirkung der Niedrigstrahlung“. Die einzige Einzeleinsprache aus Mühleberg verfassten zwei Männer, die in nächster Nähe zum Atomkraftwerk wohnten. Sie befürchteten, dass in Mühleberg ein Endlager für grosse Mengen Atommüll entstehen könnte. Bemerkenswert ist der letzte Abschnitt ihres dreiseitigen Briefes. Unter „Schlussbemerkungen“ halten die Männer trotz aller Kritik fest: „Die Unterzeichnenden stehen zum KKW Mühleberg und haben Vertrauen in die zuverlässige Führung dieses Werks.“ Die Loyalität reicht bis in die Gegenwart. Nach der Katastrophe von Fukushima fuhren linke Atomkraftgegner von Bern her auf ihren Velos ins Dorf. Sie wollten vor dem Atomkraftwerk demonstrieren. An der Strasse standen einige Einheimische. Sie hatten Pro-­‐Kernkraft-­‐
Transparente in der Hand. Mit Kreide hatten sie Slogans auf die Strasse geschrieben. Es war eine kleine Gruppe. Doch dass die Kernkraftbefürworter in Mühleberg nicht in der Minderheit sind, ist kein Geheimnis. Es ist sogar beweisbar. Zumindest für die Zeit vor Fukushima, mittels einer Umfrage von 2009. Damals fragte der Energiekonzern BKW die Leute in der Region, was sie davon halten würden, wenn nach der Abschaltung am alten Platz ein neues Atomkraftwerk gebaut würde. Das hatte das Unternehmen ursprünglich vor. Das Projekt lief unter dem Namen Ersatzkernkraftwerk Mühleberg (EKKM). Das neue AKW hätte allerdings fast viermal mehr Strom produziert als das heutige. Die Zustimmung der Mühleberger hätte die BKW gehabt. Im Dorf äusserten sich 65 Prozent der Befragten positiv oder eher positiv zum Bau des neuen Kraftwerks. In den umliegenden Gemeinden war die Zustimmung ähnlich hoch, aber nirgends höher. „Das Ding hätte man hinstellen können“, sagt SP-­‐Präsident Remund. Die gleichen Leute wie immer wären dagegen gewesen, aber die hätten sicher nicht die Mehrheit gestellt. Steuergünstige Gemeinde Wie kommt das? Geld sagen Zyniker, Geld und Arbeit. Und sie mögen Recht haben, zumindest zu einem Teil. 600'000 Franken Liegenschaftssteuern zahlt die BKW jährlich der Gemeinde Mühleberg. Hinzu kommt ein Teil der Gewinnsteuern. Wie viel das ist, hängt vom Geschäftsergebnis ab. Remund schätzt, dass die gesamten Einnahmen vom Atomkraftwerk etwa einen Sechstel des Gemeindebudgets ausmachen. Mühleberg gehört zu den steuergünstigsten Gemeinden im Kanton Bern. Der Steuerfuss liegt bei 1,25. Zum Vergleich: In der Stadt Bern sind es 1,54. Das liege nicht nur am AKW, sagt der Gemeindepräsident. Aber auch: Nach der Abschaltung dürfte der Steuerfuss um zwei Zehntel steigen, schätzt Maire. Mühleberg wäre dann bei 1,45 – immer noch tiefer als Bern oder die Nachbargemeinden, aber nicht mehr so deutlich. Dann sind da die Arbeitsplätze: „Rund 60 Personen von der Gemeinde Mühleberg arbeiten im Werk unten“, sagt der Gemeindepräsident. Der BKW-­‐Sprecher sagt, direkt im AKW seien es wohl etwas weniger. Fakt ist: Für das Dorf mit rund 2800 Einwohnern ist das Atomkraftwerk ein nicht unwichtiger Arbeitgeber. Einige haben jahrzehntelang im Werk gearbeitet. Viele dürften noch jahrelang bleiben. Das Werk muss schliesslich nach der Abschaltung abgebaut werden. Die BKW geht davon aus, dass die meisten Mitarbeiter im Kernkraftwerk „eine positive Einstellung gegenüber der Kernenergie haben“. Ein Beispiel zeigt, dass dies zumindest früher mitunter auch für deren Frauen galt. 1978 kam ein Journalist des Schweizer Fernsehens nach Mühleberg, bewaffnet mit Mikrophon und Kamera. Für die Sendung Blickpunkt befragte er Leute im Dorf nach deren Meinung zum Atomkraftwerk. Im Dorfladen fand er drei Frauen: Die erste, eine alte Frau mit Kopftuch nach Art der Bauersfrauen, wollte sich nicht äussern. Die zweite sagte, sie hätte „nie etwas gehabt gegen das Kernkraftwerk“. Spannend ist die dritte, eine etwa 40-­‐jährige Frau. Sie zögerte, sagte dann: „Ich kann nicht viel sagen, mein Mann arbeitet bei der BKW.“ Dann überlegte sie kurz und fügte an: „Ich bin also dafür.“ Wissen und Pragmatismus Doch es sind nicht nur das Geld und die Arbeit, welche Mühleberg milde stimmten. Der wohl wichtigere Faktor ist das, was nebenbei, über die Zeit geschah: Gewöhnung, Kontakt mit den Fachleuten, das angeeignete Wissen. Wissen beruhigt, wie ein Selbstversuch zeigt. Nach einer Führung durch das Atomkraftwerk ist man vollgestopft mit neuen Erkenntnissen: Über das mehrstufige Sicherheitssystem und die gemessen an der Leistung geringe Menge Abfall. Man weiss, dass Strahlung auch in der Natur vorkommt und dass das Notsystem SUSAN in der Lage wäre, den Reaktor selbständig abzuschalten, wenn dazu niemand mehr in der Lage wäre. Die Mitarbeiter machen einen seriösen Eindruck. Bevor man rein darf, wird jeder gescannt wie am Flughafen. Einer der Besucher macht Witze über Journalisten, die ob jedem neuen Riss im Kernmantel in Panik geraten. Und als der Guide das Sicherheitssystem am Modell erklärt, ist aus den Reihen der Gäste ein leises „Wow“ zu vernehmen. Das Strahlungsmessgerät des Guides zeigt auch am Schluss des Tages null Millisievert an. Die Besucher haben also keine Strahlung abbekommen. In Mühleberg wissen mittlerweile einige Leute viel über Atomkraft. Das ist kein Zufall. Wenn man einen solchen Koloss, sagt SP-­‐Präsident Remund, in eine relativ heile Welt wie diese Bauernlandschaft setze, dann sei das ein unglaublicher Eingriff. Auch in die Zusammensetzung der Bevölkerung: „Plötzlich hatte es da Techniker. Das gab es vorher nicht. Das war eine Bauerngemeinde, stark ländlich geprägt.“ Das Dorf sei beeinflusst worden. „Man hat dann plötzlich Leute im Gemeinderat, die man vorher nicht gehabt hätte. Wenn man mit diesen laufend reden muss – jeder wird beeinflusst, wenn man mit jemandem spricht, bewusst oder unbewusst.“ Am Anfang war es nicht besonders schwer, die Mühleberger zu beeinflussen. Denn sie wussten ganz einfach nichts von der Kernkraft. Dies wird klar im Interview, das der Journalist des Schweizer Fernsehens bei seiner Umfrage mit dem ehemaligen Gemeindepräsidenten Mühlebergs führte. Dieser war im Amt, als der Mühleberger Gemeinderat im Oktober 1966 das Baugesuch der BKW einstimmig guthiess. Wie es zu dem einstimmigen Entscheid gekommen sei, fragte der Journalist. Der Herr in der Tweedjacke sagte, von den damaligen Gemeinderäten habe niemand etwas verstanden von der Kernkraft. Man habe sich deshalb auf Informationen abstützen müssen. Und da habe es einen Haufen Orientierungsversammlungen von der BKW gegeben. „Da haben wir uns überzeugen lassen, dass das etwas Sauberes und etwas Rechtes sein muss“, sagte er. Damit habe man sich aber nicht begnügt, so der ehemalige Gemeindepräsident. Man habe in Deutschland ein Werk besichtigt, das bereits in Betrieb war. Leute aus der dortigen Bevölkerung seien dabei gewesen und hätten gesagt, sie merkten gar nichts davon. Doch auch das habe ihm noch nicht gereicht. „Ich habe mir gesagt, das sind jetzt Leute, die da aufgeboten wurden.“ Er sei dann auf die Strasse gegangen, um die Menschen selbst zu fragen. Zuerst sei ein Velofahrer gekommen, ein jüngerer Bursche. Der habe gesagt, Kernkraft sei das Sauberste, das es gäbe. Ein Atomdörfli und eine Schule SP-­‐Präsident Remund hat in der Schule mal einen Vortrag gemacht zum Thema: „Wie kam Mühleberg zu seinem Atomkraftwerk?“. „Als ich erfahren habe, mit welchem Wissensstand das Ding her kam, da hat es mich gestrusset“, sagt er. Doch dann, nach dem Bau seien sogleich die Bedürfnisse gekommen, die konkreten Probleme, die gelöst werden mussten. Pragmatismus war gefragt. Wo wohnen die Angestellten? Braucht es neue Strassen? Eine Schule für die Kinder? „Man musste in Mühleberg ein Schulhaus bauen. Man hat das Atomdörfli – diese Arbeitersiedlung – gebaut. Man hat wegen diesen Sicherheitskonzepten Strassennamen und Hausnummern eingeführt, das gab es vorher nicht in Mühleberg“, sagt Remund. Wenn man sich um etwas kümmern muss, dann arrangiert man sich, sagt er. Noch heute ist der Umgang mit dem Werk ein pragmatischer. Grundsatzdiskussionen und Grabenkämpfe über Atomkraft gibt es in der Mühleberger Politik kaum. „Es geht hier um Sachpolitik“, sagt Gemeindepräsident Maire. Geschadet hat die Sache allenfalls der lokalen SP. Man habe die BKW-­‐Mitarbeiter als Mitglieder verloren, weil sich die Partei klar gegen die Atomkraft positioniert habe, sagt SP-­‐
Präsident Remund. Er sieht sich gerne als Störenfried, als „penetrant dummer Siech“, wie er sagt. Als er seine ersten Jod-­‐Tabletten zugeschickt bekam, hat er sie zurückgeschickt mit der Anmerkung, das Kraftwerk sei ja angeblich sicher. Es nützte nichts, er musste sie annehmen. „Das war spannend“, sagt Remund. In einigen Jahren kann er sie in den Müll werfen. Spätestens dann wenn die Mitarbeiter die Brennelemente aus dem Reaktor genommen haben, sie ins Zwischenlager nach Würenlingen gebracht, den radioaktiven Abfall für die Lagerung vorbereitet, die Gebäude abgerissen und den Bauschutt entsorgt haben. 2034 soll alles fertig sein. Dann wird Mühleberg wieder ein Dorf sein wie viele andere, eines durch das man hindurchfährt, auf der Überlandstrasse eins von Bern nach Murten, und Bauernhäuser sieht, Restaurants, eine Tankstelle, eine Bäckerei und den Volg. Aber nichts von einem Werk.