15 Jahrgangsstufentest 6. Klasse Deutsch an

Jahrgangsstufentest 6. Klasse Deutsch an Realschulen
Übungsaufgabe 2
Wie der Wal seinen Schlund bekam von Rudyard Kipling
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Im Meer, mein allerliebster Liebling, lebte einmal
ein Wal, und der fraß Fische. Er fraß den Mondfisch, den Thunfisch und den Tintenfisch, die Qualle und die Scholle, die Makrele und die Garnele,
die Sirene und die Muräne, und auch den quirligen,
wirbligen Aal fraß der Wal. Alle Fische, die er im
ganzen weiten Meer finden konnte, fraß er mit seinem Maul – so! Bis schließlich im ganzen weiten
Meer nur ein einziger kleiner Fisch übrig blieb, und
das war ein kleiner Schlaufisch, der hinter dem
rechten Ohr des Wals schwamm, um allen Gefahren aus dem Weg zu sein.
Da stellte sich der Wal auf die Schwanzflosse und
sagte: „Ich habe Hunger.“
Und der kleine Schlaufisch sagte leise und schlau:
„Edler und großmütiger Meeressäuger, hast du
schon einmal Mensch probiert?“
„Nein“, sagte der Wal. „Wie schmeckt das?“
„Gut“, sagte der kleine Schlaufisch. „Er ist nur ein
bisschen knubbelig.“
„Dann besorg mir welche“, sagte der Wal und
brachte das Meer mit seiner Schwanzflosse zum
Schäumen.
„Einer auf einmal reicht“, sagte der Schlaufisch.
„Wenn du zum fünfzigsten Grad nördlicher Breite
am vierzigsten westlichen Längengrad schwimmst,
triffst du mitten im Meer auf einem Floß einen
schiffbrüchigen Matrosen. Er hat nichts am Leib
als ein Paar blaue Drillichhosen, ein Paar Hosenträger und ein Taschenmesser, und fairerweise
muss ich dir sagen, dass er überaus einfallsreich
und klug ist.“
Also schwamm der Wal los, so schnell er konnte,
zum fünfzigsten Grad nördlicher Breite am vierzigsten Längengrad, und auf einem Floß mitten im Meer
traf er einen einzigen einsamen, schiffbrüchigen
Matrosen, der die Zehen ins Wasser hängen ließ. Er
trug nichts am Leib als ein Paar blaue Drillichhosen, ein Paar Hosenträger und ein Taschenmesser.
Da riss der Wal das Maul so weit auf, dass es fast
die Schwanzflosse berührte, und schluckte den
Matrosen und das Floß. Er schluckte alles hinunter
in seine warme, dunkle innere Speisekammer, und
dann schmatzte er und drehte sich dreimal auf der
Schwanzflosse herum.
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Doch sobald der überaus einfallsreiche und kluge
Matrose feststellte, dass er tatsächlich in der warmen, dunklen inneren Speisekammer des Wals war,
fing er an zu hüpfen und zu springen, zu stampfen
und zu singen, zu steigen und zu fallen, zu kratzen
und zu krallen, zu jammern und zu beten, zu stoßen
und zu treten, zu bellen und zu beißen, zu zerren
und zu reißen, zu zetern und zu keifen, zu brummen
und zu pfeifen, und dann tanzte er einen Seemannstanz, wo es überhaupt nicht am Platz war, und der
Wal fühlte sich ganz unwohl.
Deshalb sagte er zum Schlaufisch: „Dieser Mensch
ist sehr knubbelig und außerdem krieg ich von ihm
den Schluckauf. Was mach ich nur?“
„Sag ihm, dass er herauskommen soll“, riet der
Schlaufisch.
Also rief der Wal: „Komm heraus und benimm
dich ordentlich. Ich hab den Schluckauf.“
„Nein, nein!“, sagte der Matrose. „So nicht, sondern ganz anders. Bring mich zu meiner heimatlichen Küste und Britanniens weißen Felsen, dann
sehen wir weiter.“
Also schwamm der Wal drauflos, so schnell er nur
konnte; und endlich sah er die heimatliche Küste
des Matrosen. Er riss das Maul sperrangelweit auf
und rief: „Umsteigen nach Winchester, Casablanca, Sierra Leone, Kapstadt und Winsen an der
Luhe.“ Und gerade als er „Win“ sagte, spazierte der
Matrose aus seinem Maul heraus.
Aber während der Wal durchs Meer geschwommen
war, hatte der Matrose, der tatsächlich überaus einfallsreich und klug war, mit seinem Taschenmesser
aus dem Floß ein Gitter mit lauter kleinen Vierecken geschnitzt, hatte seine Hosenträger daran gebunden, hatte das Gitter in den Schlund des Wals
gezerrt, und da blieb es stecken! Der Matrose trat
hinaus. Er heiratete und lebte glücklich bis an sein
seliges Ende. Der Wal aber konnte wegen des Gitters im Rachen, das sich weder heraushusten noch
hinunterschlucken ließ, nichts anderes fressen als
ganz, ganz kleine Fische. Und aus diesem Grund
fressen Wale heutzutage nie Menschen.
Der kleine Schlaufisch schwamm davon und versteckte sich im Schlamm. Er hatte Angst, der Wal
könnte ihm böse sein.
Quelle: Rudyard Kipling: Geschichten für den allerliebsten Liebling (engl. Originaltitel: Just So Stories For Little
Children), aus dem Englischen übersetzt von Irmela Brender, Cecilie Dressler Verlag: Hamburg 1987, S. 7–12
(leicht gekürzt und verändert).
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Übungsaufgabe 2
Aufgabe 1
Formuliere für jeden Abschnitt einen treffenden Satz, in dem zum Ausdruck kommt, was der
Wal macht.
a) Zeile 1–12:
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b) Zeile 13 – 32:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
c) Zeile 33 – 39:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
d) Zeile 40 – 56:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
e) Zeile 57– 67:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
f) Zeile 68 – 74:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
g) Zeile 75 – 90:
________________________________________________________________________________________________________________________________________________
Aufgabe 2
Woran zeigt sich, dass der Matrose tatsächlich einfallsreich und schlau ist? Notiere zwei
unterschiedliche Beobachtungen. Schreibe vollständige Sätze.
a)
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________________________________________________________________________________________________________________________________________________
b)
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Übungsaufgabe 2 – Lösungsvorschläge
Lösungsvorschläge
Aufgabe 1
a) Zeile 1–12: Der Wal frisst fast alle Fische im Meer.
b) Zeile 13– 32: Er hat Hunger und möchte einen Menschen fressen.
c) Zeile 33 – 39: Der Wal sucht einen Menschen als Futter.
d) Zeile 40 – 56: Der Wal verschluckt den Matrosen und fühlt sich unwohl.
e) Zeile 57– 67: Er will den Matrosen wieder loswerden.
f) Zeile 68 – 74: Er bringt ihn in die Heimat zurück.
g) Zeile 75 – 90: Der Wal kann wegen des Gitters in seinem Schlund nur noch kleine Fische
fressen.
Aufgabe 2
Als Antwort genügen zwei der folgenden Beobachtungen:
– Der Matrose tanzt und lärmt im Magen des Wals herum, um ihm unangenehm zu sein.
– Der Matrose lässt sich vom Wal nach Hause bringen.
– Der Matrose schnitzt ein Gitter aus seinem Floß, das er dem Wal in den Schlund spreizt,
damit er keine Menschen mehr fressen kann.
Aufgabe 3
Ja, der Schlaufisch ist tatsächlich schlau.
Begründung: Der kleine Schlaufisch versucht sein Leben zu retten, indem er den Wal auf
eine andere Beute aufmerksam macht.
oder
Nein, der Schlaufisch ist eigentlich dumm.
Begründung: Der kleine Schlaufisch unterschätzt den Menschen. Jetzt ist er die einzige
Beute des Wals, der nun nur noch kleine Fische fressen kann.
Aufgabe 4
Das Bild zeigt, wie der Wal den Matrosen verschluckt. Erster Beweis: Das Gesicht des Wals
wirkt fröhlich und genussvoll. Zweiter Beweis: Der Matrose schaut in die Richtung des Wals.
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