über Bord wirft

Datum: 31.10.2015
Ausgabe Glarus
Die Südostschweiz
8750 Glarus
055/ 645 28 28
www.suedostschweiz.ch
Medienart: Print
Medientyp: Tages- und Wochenpresse
Auflage: 7'242
Erscheinungsweise: 6x wöchentlich
Themen-Nr.: 312.015
Abo-Nr.: 1094349
Seite: 5
Fläche: 75'215 mm²
Costa
4-
Mit der Kamera unterwegs: Der Glarner Michael Stierlin fotografiert zum Thema Stille und Einsamkeit, kann auf Kreuzfahrt die Stille
über Bord werfen und widmet sich auch den technischen Finessen von Dampftraktoren.
Bilder Claudia Kock Marti/Michael Stierlin/Peter Eberle
Wie Michael Stierlin
Einsamkeitsgefühle
über Bord wirft
Ein Blick in die eigenen vier Wände, auf dem Dampftraktor fahrend und
auf Kreuzfahrt: Mit diesen drei Motiven wird sich Michael Stierlin aus Glarus
beim Photovoice-Ausstellungsprojekt von Pro Infirmis Glarus einbringen.
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von Claudia Kock Marti
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der nahen, viel befahrenen Strasse auf- freundlicher, kommunikativer Mensch
ier in meiner Wohnung gegeben.
ist. Um unter Leuten zu sein, geht er
an der Landstrasse in
nach der Arbeit gern in die Beiz, trinkt
Glarus lebe ich allein
und fühle mich oft auch
einsam», sagt Michael
Stierlin ganz direkt. Darum habe er
den von Pro Infirmis angebotenen
Workshop «Wenn Stille und Einsamkeit erdrückend laut werden» gezielt
ausgewählt. Dabei sei er beim Starttermin, zu dem er nach der Arbeit bei
einer Schreinerei in Ennenda geeilt sei,
schier zu spät gekommen. «Zuerst habe ich eine Stunde lang vor dem ProInfirmis-Büro gewartet, wo aber niemand kam. Dann bin ich wieder nach
Hause und habe die Einladung nochmals genau durchgelesen, um in die
Landesbibliothek zu düsen.»
Auf Kreuzfahrt nicht allein
Seither sind ein paar Wochen vergangen, viele Fotos geschossen und drei
für die kommende Ausstellung ausgewählt worden. Stierlin zeigt diese mit
Stolz auf seiner Digitalkamera.
Auf einem Bild ist ein Kreuzfahrtschiff zu sehen. «Auf Kreuzfahrt im
Mittelmeer kann ich zum Beispiel die
erdrückende Stille über Bord werfen»,
sagt er dazu. Bereits zwei Mal habe er
die gleiche Kreuzfahrt gemacht - von
Rom über Ibiza, Sizilien, Ägypten und
Marokko nach Barcelona. Stierlin
Schwerer Autounfall mit 14 Jahren ein Bier oder mehr und ist manchmal
Der heute 37-jährige Stierlin ist in Gla- sogar bei der Arbeit betrunken. Das
rus geboren worden und aufgewachsen. Wegen einer um den Hals verwickelten Nabelschnur habe er als
«Ich wollte auf jeden
Säugling zu wenig Sauerstoff bekommen, erzählt er. Somit sei er schon als
Kind etwas langsamer gewesen als andere Kinder, kommentiert er die Folgen
davon. Als Neunjähriger habe er statt
der üblichen Primarschule eine Kleinklasse in Braunwald besucht.
«Und dann passiert noch der schwere Unfall.» Als 14-Jähriger wird Stierlin
Fall nach Glarus
zurück und habe
hier einen guten
Arbeitgeber.»
Michael Stierlin
Teilnehmer am Photovoice-Projekt
auf dem Fussgängerstreifen in Glarus
überfahren. Mit einem Schädel- und
Beckenbruch kommt er ins Spital. geht nicht lange gut. Ein AlkoholentStierlin wird für immer seinen Ge- zug wird 2011 nötig. «Den mache ich,
ruchssinn verlieren und braucht heute
vorzeitig ein Hörgerät. Eigentlich sei er
damals - im Kinderspital in Zürich nochmals neu geboren worden, sagt
das ist ganz klar», habe er sich damals
Stierlin.
in sich hineinzufressen. Heute sei er
Rückkehr nach Glarus
gesagt. Nach dem Entzug im Spital
lernt er im psychiatrischen Zentrum in
Herisau zudem besser, nicht mehr alles
trocken und trinke literweise Rivella.
In seiner Küche steht ein riesiger
Wegen seiner Handicaps kommt er als
Jugendlicher in das Kinderheim Bühl
in Wädenswil, wo er während drei Jahren eine Anlehre als Schreiner absol-
Sack mit leeren Pet-Flaschen. Einmal
pro Woche kommt jemand von Pro Infirmis und hilft beim Putzen, wie Stierlin erklärt. Und sein freiwilliger Beiviert. «Dass ich nach Glarus zurück stand steht ihm bei den Finanzen zur
wollte, war für mich sonnenklar»,
Seite.
blickt Stierlin zurück. Nicht um der
strahlt: «Man lernt dort neue Leute Mutter am Rockzipfel zu hängen, wie Feuer gefangen für Dampftraktion
kennen, vor allem beim gemeinsamen manche damals sagen. Für eineinhalb Bereits vor dem Entzug im Jahr 2011
Nachtessen oder auch bei den vielen Jahre wohnt er mit einer Freundin in
Abendunterhaltungen.» Doch seien Glarus. Die Beziehung zerbricht aber.
ihm diese manchmal auch zu laut, soAuch ein Arbeitsplatz wird gefundass er sich in die Stille der Kabine zu- den. Seit nunmehr 18 Jahren ist Stierrückziehen müsse.
lin als Hilfsarbeiter bei der Holzbau
Aus dem dreistöckigen Käfig mit Tschudi AG in Ennenda beschäftigt.
verschiedensten Kletterstationen in
seinem Wohnzimmer ist ein stetiges Zuerst zu 100 Prozent und heute zu
Rascheln zu hören. Drei Degus leisten 80 Prozent. «Die wissen vor allem geStierlin seit ein paar Monaten Gesell- nau, was ich kann», so Stierlin.
schaft. «Ich habe Freude daran», sagt «Ich wollte unter die Leute gehen»
der Tierfreund zu den ursprünglich in
Chile beheimateten, tagaktiven Nage- «Nur in der eigenen Bude zu hocken,
tieren. Katzen zu halten, habe er wegen ist nicht gut», weiss Stierlin, der ein
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wird Stierlin von Peter Eberle angesprochen. Der Sammler von Dampfmaschinen in Glarus fragt ihn, ob er nicht
beim Dampftraktorenverein mitmachen wolle. Interessiert folgt er der Einladung und ist seither begeistertes Mit-
glied. Auf seinem in Hätzingen aufgenommenen Lieblingsfoto für die Pho-
tovoice-Präsentation ist er auf einem
Dampftraktor von Peter Eberle zu sehen. Den richtigen Umgang mit Dampf,
Kohle und Wasser habe er aber lernen
müssen, sagt Stierlin ganz in Fahrt.
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Daneben hat er noch andere Hobbys. Das Velofahren, das Samariter-
treffen einmal im Monat und auch
Das Photovoice-Projekt
das Turnen im Plusport-Verein gehö-
ren dazu. Auch die Familie sei ihm
sehr wichtig. Die Mutter lebt nicht
mehr, der Vater wohnt seit ein paar
Jahren in Interlaken. Die Schwester
und eine Grossmutter sind aber im
Kanton Glarus. Bei einer Tante sei er
zweimal pro Woche zum Mittagessen
eingeladen, so Stierlin.
Photovoice soll weiter wirken
Begegnungsmöglichkeiten neben der
Arbeit sind denn auch für ihn ein zentrales Thema. Seit September tauscht
er sich über Internet mit einer russischen Brieffreundin aus. Sie habe von
seinem fehlenden Geruchssinn und
auch von seinem Hörgerät gewusst, be-
vor sie ihn angeschrieben habe, sagt
Stierlin. Das sei sehr wichtig für ihn,
betont er mit sanfter Stimme. Wie es
mit der Brieffreundschaft weitergeht,
sei offen. Vielleicht könne sie schon
Am 3. Dezember, dem Tag der
Menschen mit Behinderung, ist
in der Landesbibliothek Glarus
Vernissage zur Fotoausstellung,
für die zurzeit Menschen mit
Behinderung mit der Kamera
unterwegs sind. Während eines
Monats werden ihre Fotografien
ab 3. Dezember in Glarner Läden
zu sehen sein. 26 Leute bearbeiten dazu in fünf Ateliers Themen ihres Alltags mit all seinen
Barrieren. Es geht um Momente,
in denen das Leben als Erfolg
oder als Kampf erfahren wird,
um Mobilität, Erwartungen, Stille,
Einsamkeit oder Situationen, in
denen Fremdbestimmung erlebt
wird. Die «Südostschweiz» stellt
Michael Stierlin als zweiten von
drei Projektteilnehmern vor. (ckm)
bald für einen Ferienbesuch in die
Schweiz kommen - oder er sie einmal
in Russland besuchen.
Fest steht der 3. Dezember, an dem
das Photovoice-Projekt der Glarner Öffentlichkeit vorgestellt wird. «Unsere
Gruppe hofft, dass damit nun nicht
einfach alles fertig ist und jeder wieder
seine Wege geht», sagt Stierlin. Schön
fände er, wenn mit den Fotos auch
noch ein Kalender oder sogar ein Buch
gestaltet werden könnte.
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