Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung Thema des Monats | September 2015 Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge Autorinnen: Jana Mikota, Iris Wolf Redaktion: buchwolf.com Zielgruppe: Sekundarstufe I und II Inhalt: Einführung (t.1) Sechs Romane, vier Methoden (t.2) Literaturtipps und Links (t.3) Anhang: Leseproben der vorgestellten Bücher Sich in andere hineinzuversetzen ist eine Fähigkeit, die sich durch die Beschäftigung mit Literatur steigern lässt. Und Empathie zu entwickeln ist eine Möglichkeit, positiv mit den aktuellen Themen Flucht und Flüchtlinge umzugehen – anstatt mit Abwehr und Hass. Wir stellen passende Romane und Methoden für Sekundarstufe I und II vor. www.carlsen.de/lehrer Alle Carlsen-Unterrichtsmaterialien kostenlos zum Ausdrucken und Abspeichern Regelmäßig Klassensätze zu gewinnen • Viele Extras gratis Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge Einführung 2 t.1 Die Themen Flucht und Flüchtlinge sind aktuell und seit Monaten in der Presse präsent. Der gegenwärtige Kinder- und Jugendliteraturmarkt bietet hierzu zahlreiche Romane an, in denen die Geschichten von Flüchtlingen aus deren Sicht erzählt werden. Damit werden Schülerinnen und Schülern ohne Fluchterfahrung neue Perspektiven eröffnet. Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung können zudem die Gelegenheit nutzen, über eigene Erlebnisse zu sprechen – oder auch zu schweigen. Wichtig ist, dass die Betroffenen ihre persönliche Erfahrung nicht äußern müssen und dass sie nicht unfreiwillig zum Experten in Sachen Flucht gemacht werden. Wichtig für den Umgang mit traumatischen Ereignissen ist, dass das Leben »ganz normal« verläuft: in Ruhe aufstehen, essen, zur Schule gehen, am Nachmittag etwas unternehmen, zur Ruhe kommen, schlafen. Auf dieser Basis kann ein Literaturunterricht, der sich mit Flucht beschäftigt, zur vorsichtigen und vom Jugendlichen selbst gesteuerten Verarbeitung seiner Erlebnisse beitragen. Sechs Romane, vier Methoden Die sechs hier vorgestellten realistischen Kinder- und Jugendromane eignen sich für das literarische Lernen und greifen Aspekte wie Perspektivenübernahmen, Empathie, subjektive Involviertheit oder Alteritätserfahrung (vgl. Kruse 2012, S. 6 f.) auf. Es ist Literatur, die zum Handeln anregt (vgl. Thema des Monats August 2011: »Literatur, die zum Handeln anregt« ; k zum Download). Da es sich um komplexe Romane handelt, die einen hohen Grad an Lesekompetenz verlangen, dürfen Sie als Lehrkraft das Buch gerne vorlesen. Sie werden überrascht sein, wie viel besser anschließend die Textarbeit gelingt. Als Einstieg in eine umfangreiche Bearbeitung der Thematik bietet sich Zu Hause redet das Gras von Katherine Rundell an. Will »Wildkatze« Silver ist ein europäisches Mädchen, das frei und wild in Afrika aufgewachsen ist und das sich gezwungenermaßen im modernen England und als Waise zurechtfinden muss. Dadurch, dass die Protagonistin durch ihre Herkunft den deutschen Schülern gleicht, werden die Gefühle von Fremdheit, Verlassenheit, Angst und Wut hiesigen Schülern leicht zugänglich und können mit wenig Abwehr besetzt wahrgenommen werden. Auch für Schüler mit eigener Fluchterfahrung bietet das Buch genügend Abstand zur vielleicht noch verletzenden traumatischen Erfahrung. Die Kinder- und Jugendromane Die Zeit der Wunder von Anne-Laure Bondoux Vielleicht dürfen wir bleiben von Ingeborg Kringeland Hald Der Schrei des Löwen von Ortwin Ramadan Der unvergessene Mantel von Frank Cottrell Boyce Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer t.2 Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge haben dagegen kindlich-jugendliche Protagonisten, die ihr ursprüngliches Zuhause verloren haben oder die auf der Flucht sind. Die ersten beiden erzählen unmittelbar aus der Perspektive der Geflüchteten, das dritte Buch verschränkt die Perspektiven von Flüchtenden und Einheimischen, das vierte dagegen entfaltet seine Geschichte aus der Sicht einer Schülerin, die sich um zwei Flüchtlinge kümmert. Die Flüchtlinge in diesen vier Geschichten kommen aus dem Kaukasus, aus Bosnien, Nigeria und der Mongolei – alles Regionen und Länder, die hierzulande allzu leicht mit Armut und Primitivität verbunden werden. Dass das nicht der Realität entspricht, lässt sich durch den Vergleich mit Zu Hause redet das Gras ebenso wie durch die Auseinandersetzung mit den anderen Hauptpersonen thematisieren. So können sich Vorurteile verändern. Einmal hier angekommen, wähnen sich viele Flüchtlinge in Sicherheit. Dass das nicht so ist, erzählt der Roman Dreckstück der französischen Autorin Clémentine Beauvais aus der Perspektive von reichen Pariser Jugendlichen, die ein kleines schwarzes Mädchen entführen und quälen. Die Gründe sind rassistisch motiviert, denn die Jugendlichen geben, obwohl wohlhabend und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet, Migranten die Schuld an Dingen, die ihnen nicht gefallen. Leserinnen und Leser können sich im Laufe des Leseprozesses von den Figuren, die nicht sympathisch gezeichnet werden, distanzieren. Alle sechs Romane nähern sich unterschiedlich, sensibel und authentisch der Thematik Flucht, Flüchtlinge und dem alltäglichen Rassismus, dem Flüchtlinge ausgesetzt sind. Um mit diesen Texten Perspektivenübernahmen, Empathie, subjektive Involviertheit oder Alteritätserfahrung zu ermöglichen, erscheinen folgende Methoden gut geeignet: Das Vorlesegespräch (Link zum Thema das Monats Juni 2015) Das literarische Gespräch Fiktive Interviews (Beispiel: Unterrichtsmodell Was vom Sommer übrig bleibt, k.34 »Im Zug mit der Autorin«) Sprechblasen-Texte Diese Methoden ermöglichen eine intensive Auseinandersetzung mit den Figuren (vgl. Thema des Monats Mai 2013: »Literarische Bildung – Figurenanalyse« ; k zum Download). Sie fördern das Hineindenken und -versetzen in die Lebenswelt der Figuren, also das, was Bettina Hurrelmann als »emotionale Beteiligung« der Leserinnen und Leser auf die Gegebenheiten der Textstruktur bezeichnet (Hurrelmann 2003, S. 8). Literarische Figuren eröffnen häufig den Zugang zu einem literarischen Text und können das Interesse sowie die Lesefreude fördern. Das passt zu der Kompetenz »Literarische Figuren verstehen«: Hier geht es darum, Merkmale von Figuren zu erkennen, ihre Funktion innerhalb der Handlung nachvollzuziehen, ihre Entwicklung nachzuzeichnen und die Beziehungen der Figuren untereinander zu deuten (vgl. hierzu Becker 2015a, S. 18). Die Entfaltung des Fremdverstehens ist nach Didaktikern wie Kaspar H. Spinner einer der wichtigsten Beiträge des Literaturunterrichts. Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer 3 Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge Literaturtipps und Links ® Clémentine Beauvais Dreckstück 96 Seiten Carlsen, Hamburg 2015 Dieser beklemmende, kammerspielartige Roman lässt niemanden unberührt: David, ein Junge aus gutem Hause, und seine Clique schwänzen wieder einmal die Schule, als ihnen ein kleines schwarzes Mädchen über den Weg läuft, das offenbar Läuse hat. Einfach so, aus einer Laune heraus, nehmen sie sie mit, um sie in der Wohnung eines der verwöhnten Jugendlichen zu entlausen. Doch dann läuft die Situation immer mehr aus dem Ruder. Der ganze Überdruss, die Arroganz und der aufgestaute Hass der Jugendlichen entlädt sich nun an diesem kleinen Mädchen – und niemand hat den Mut, das grausame Spiel zu beenden … ® Anne-Laure Bondoux Die Zeit der Wunder 192 Seiten Carlsen, Hamburg 2011, 2013 k Zum Download des Unterrichtsmodells »An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen. Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto in meinem Pass wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und nahmen mich mit. So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an der Autobahn A4, als mir klar wurde, dass ich allein im Land der Menschenrechte würde zurechtkommen müssen.« Die Geschichte des Jungen Koumaïl, der aus den Kriegswirren des Kaukasus bis nach Frankreich flieht und nie den Mut und den Glauben an das Glück verliert. Und ein Buch darüber, wie weit Träume tragen. Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer 4 t.3 Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge 5 t.3 ® Frank Cottrell Boyce Der unvergessene Mantel 112 Seiten Carlsen, Hamburg 2012, 2015 k Zum Download des Unterrichtsmodells (ab Februar 2016) Julie soll sich ein bisschen um den Neuen in ihrer Klasse kümmern: Dschingis, ein Flüchtlingskind aus der Mongolei. Schließlich hat er keine Ahnung, wie man Fußball spielt, was man zum Schwimmen mitnimmt, und dass man nicht den ganzen Tag in einem Fellmantel herumläuft. Dafür weiß Julie bald alles über die Mongolei, dass dort Riesenblumenbäume wachsen, dass man Adlern dort eine Mütze aufsetzt, um sie zu beruhigen, und wie warm ein Fellmantel ist. Doch dann, eines Nachts, werden Dschingis und seine Familie abgeholt ... ® Ingeborg Kringeland Hald Vielleicht dürfen wir bleiben 112 Seiten Carlsen, Hamburg 2015 k Zum Download des Unterrichtsmodells (ab Dezember 2015) Obwohl seine Flucht aus Bosnien schon fünf Jahre her ist, kann sich Albin noch genau an alles erinnern: an die Soldaten vor der Haustür, an das Blut auf dem Küchenfußboden, an den tagelangen Marsch durch den Wald, die Hitze und den Durst. Jetzt ist Albin elf und lebt in einem sicheren Land, doch wieder ist er auf der Flucht. Um die drohende Abschiebung seiner Familie zu verhindern, ist er abgehauen und versteckt sich in einem fremden Auto, das den Großeltern von Amanda und Lisa gehört. Die Vier sind auf dem Weg in die Ferien … Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge 6 t.3 ® Ortwin Ramadan Der Schrei des Löwen 288 Seiten Carlsen, Hamburg 2011 k Zum Download des Unterrichtsmodells Der 16-jährige Yoba und sein kleiner Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria in Westafrika. Als Yoba einen Auftrag für den örtlichen Gangsterboss erledigt und plötzlich in den Besitz einer Tasche mit Geld gelangt, ist das ihre große Chance: Sie fliehen und lösen bei einem Menschenschleuser ein Ticket nach Europa. Wie so viele andere wollen sie es auf eines der Flüchtlingsboote nach Sizilien schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang - und viel gefährlicher als gedacht. Der Roman vermittelt in 45 Kapiteln ein erschütterndes Bild von inhumanen Zuständen und stellt sich den komplexen Fragen der globalen Verantwortung in der heutigen Zeit, ohne fertige Antworten zu bieten. Im Nachwort wird durch konkrete Zahlen des UNHCR eine klare Verbindung zwischen fiktiver Handlung und der Realität hergestellt. Es ist ein Roman über das Prinzip Hoffnung jenseits aller Hoffnungslosigkeit und über die Macht der Bruderliebe. »Der Schrei des Löwen« ist ein wichtiges und ein ungemütliches Buch. ® Katherine Rundell Zu Hause redet das Gras 256 Seiten Carlsen, Hamburg 2012, 2015 k Zum Download des Unterrichtsmodells Die Welt von Wilhelmina ist golden, frei und ungebunden. Mit ihrem Vater lebt sie auf einer Farm in Simbabwe und hat, wie sie selbst sagt, alles. Aber nach dem Tod ihres Vaters muss Will fort, weil die Farm verkauft werden soll. Sie wird nach England ins Internat geschickt. Und die Mädchen dort sind schlimmer als Löwen oder Hyänen. Will möchte am liebsten weglaufen. Und das tut sie auch. Sie versteckt sich im Zoo und trifft dort auf Daniel. Ihm und seiner resoluten Großmutter vertraut Wilhelmina und lässt sich am Ende von ihnen überzeugen, doch zurück ins Internat zu gehen und sich dort ihrem neuen Leben zu stellen.… Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge WEITERFÜHRENDE KINDER- UND JUGENDLITERATUR Gleitzman, Morris Einmal Carlsen 2009, 2013 Keyserlingk, Linde von Sie nannten sie Wolfskinder Carlsen 2011 WEITERFÜHRENDE LITERATUR Becker, Susanne Helene (2015a) Warum wurdest du eigentlich erfunden? In: Deutsch: Unterrichtspraxis für die Klassen 5 bis 10, H. 43, S. 16–19 Becker, Susanne Helene (2015b) Das Potential von Gesprächen für das literarische Lernen In: Deutsch: Unterrichtspraxis für die Klassen 5 bis 10, H. 43, S. 30–32 Hurrelmann, Bettina (2002) Literarische Figuren. Wirklichkeit und Konstruktivität In: Praxis Deutsch, H. 177, S. 4–12 Kruse, Iris (2012) Realistische Kinderliteratur und literarisches Verstehen In: Grundschulunterricht: Deutsch. H. 1, S. 4–7 INTERNETLINKS* http://www.bpb.de/shop/lernen/thema-im-unterricht/36913/methoden-kiste http://www.friedenspaedagogik.de/themen/gewalt_an_schulen/amoklauf_an_schulen/ umgang_mit_traumatischen_gewalterlebnissen https://www.duesseldorf.de/schulpsychologie/pdf/trauma.pdf * letzter Abruf: 17.08.2015 Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung – zusammengestellt im Auftrag des Carlsen Verlags von Iris Wolf © 2015 Carlsen Verlag GmbH Hamburg Redaktion: Iris Wolf; buchwolf.com Layout und Gestaltung: Elke Junker Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer 7 t.3 Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung Thema des Monats | September 2015 Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge Leseproben zum Einstieg in das Thema »Flucht und Flüchtlinge« Einführung: Iris Wolf Zielgruppe: Sekundarstufe I und II Inhalt: Einführung Leseproben: Zu Hause redet das Gras | Die Zeit der Wunder | Vielleicht dürfen wir bleiben | Der unvergessene Mantel | Der Schrei des Löwen | Dreckstück Hier finden Sie Auszüge aus sechs Romanen, die sich unterschiedlich, sensibel und authentisch der Thematik Flucht, Flüchtlinge und alltäglicher Rassismus, dem Flüchtlinge ausgesetzt sind, nähern. www.carlsen.de/lehrer Alle Carlsen-Unterrichtsmaterialien kostenlos zum Ausdrucken und Abspeichern Regelmäßig Klassensätze zu gewinnen • Viele Extras gratis Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« – Leseproben © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge – Leseproben Einführung Die folgenden sechs Romane nähern sich unterschiedlich, sensibel und authentisch der Thematik Flucht, Flüchtlinge und alltäglicher Rassismus, dem Flüchtlinge ausgesetzt sind. Sie finden hier jeweils Kapitel eins bzw. Teile anderer Kapitel. In den folgenden Auszügen werden die Protagonisten der Geschichten, überwiegend Flüchtlinge und Migranten, vorgestellt: Wilhelmina Silver in Zu Hause redet das Gras (Katherine Rundell) Blaise Fortune in Die Zeit der Wunder (Anne-Laure Bondoux) Albin in Vielleicht dürfen wir bleiben (Ingeborg Kringeland Hald) Juli, Dschingis und Nergui in Der unvergessene Mantel (Frank Cottrell Boyce) Yoba und Julian in Der Schrei des Löwen (Ortwin Ramadan) Florian, Anne-Laure, Gonzague, Élise, David und Elikya in Dreckstück (Clémentine Beauvais) Zum Einstieg in eine Unterrichtseinheit zum Thema Flucht in der Sekundarstufe I können Beschreibungen der Protagonisten angefertigt werden, auch Collagen oder Bilder könnten entstehen. Es bietet sich an, die Auszüge vorzulesen, auch als Lehrkraft. Anschließend suchen sich die Schüler aus, welchen Roman sie gemeinsam oder welche Romane sie allein lesen wollen. Dabei bildet Dreckstück eine Ausnahme, weil es hier um Rassismus und nicht primär um Flucht geht. Dieser Titel ist ab Klasse 10 und für die Oberstufe geeignet. Zu den Romanen gibt es bereits Unterrichtsmodelle, oder sie entstehen gerade. Abonnieren Sie den Lehrernewsletter des Carlsen Verlags unter https://www.carlsen.de/lehrer, dann erhalten Sie die entsprechende Nachricht automatisch: Zu Hause redet das Gras (k zum Download des Unterrichtsmodells) Die Zeit der Wunder (k zum Download des Unterrichtsmodells) Vielleicht dürfen wir bleiben (k zum Download des Unterrichtsmodells /ab Dezember 2015) Der unvergessene Mantel (k zum Download des Unterrichtsmodells /ab Februar 2016) Der Schrei des Löwen (k zum Download des Unterrichtsmodells) Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 – »Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« – Leseproben © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer 2 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl Katherine Rundell Aus dem Englischen von Henning Ahrens 3 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl EINS Manche Häuser hatten Glas in allen Fenstern und Schlösser in den Türen. Das wusste Wilhelmina. Das Farmhaus, in dem sie lebte, war kein solches Haus. Wenn es einen Haustürschlüssel gab, hatte sie ihn nie gesehen. Vermutlich war er von den Ziegen gefressen worden, die immer wieder in die Küche kamen. Das Haus stand am Ende des längsten aller Feldwege in der heißesten Ecke Simbabwes. Wilhelminas Schlafzimmerfenster war eine quadratische Öffnung in der Wand. Während der Regenzeit nähte sie Plastiktüten zusammen, die sie in den Rahmen spannte. Während der Hitzeperiode wehte Staub herein. Vor einigen Jahren hatte sich ein Besucher der Farm bei Wilhelmina nach ihrem Fenster erkundigt. »Dein Vater kann sich doch bestimmt eine Fensterscheibe leisten.« »Ich mag Staub und Regen«, hatte sie erwidert. Aus Staub und Regen wurde Matsch. Und Matsch bot jede Menge Möglichkeiten. Dieser rötliche Staub bedeckte all die unbefestigten Feldwege der Farm, auf denen Captain Browne, der Besit5 5 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl zer, täglich unterwegs war. Ebenso wie William Silver, der Verwalter der Farm. Und Wilhelmina, sein einziges Kind, die jeden Tag auf ihnen ausritt. Wilhelmina war ein besserer Reiter als jeder Junge auf der Farm. Wenn man das Reiten vor dem Laufen lernte, war das in etwa so, als würde man unter Wasser aus einer Colaflasche trinken oder kopfüber in einem Baobab-Baum hängen – es war verwirrend und berauschend. Das hatte Wilhelminas Vater immer gewusst, und deshalb huschte sie von Anfang an unter Pferden durch, rutschte auf Pferdeäpfeln aus, und wenn sie von Pferdebremsen gestochen wurde, riss sie an ihren langen dunklen Haaren. Die Stallburschen, die am Rande der Farm in den Strohdachhütten wohnten, weinten nie, wenn sie gestochen wurden, sondern fluchten höchstens lachend und lässig auf Shona: Ach, booraguma! Wilhelmina war überzeugt, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie diese Burschen. Außerdem war sie schneller als jeder gleichaltrige Junge. Und sie war noch viel mehr. Wenn die Farmarbeiter abends über sie sprachen, mussten sie ein »und« an das andere reihen, um ihr Wesen in Worte zu fassen: Will war dickköpfig, sha, und nervend und ungestüm und ehrlich und aufrichtig. Will hockte im Morgenlicht des späten Oktobers auf dem Fußboden und rührte in einem Topf mit Methylalkohol und Wasser. Wenn man die Füße mit diesem Gemisch einrieb, wurde die Haut so zäh wie lebendige Schuhsohlen. 6 6 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl Im großen Wohnzimmer standen sechs bunt zusammengewürfelte Stühle, aber Will saß lieber auf dem Boden. Dort hatte sie mehr Raum. Zwischen Wills Augen war viel Raum, und zwischen ihren Zehen war viel Raum. Überhaupt zeichnete sie sich besonders durch Weiträumigkeit aus. Sie wusste, dass sie auch so sprach – mit ausgedehnten Pausen und so langsam wie an afrikanischen Nachmittagen üblich. Will hörte Huftritte und hungriges Wiehern. Das war William Silver, der von seinem frühmorgendlichen Ritt über die Ländereien der Farm zurückkehrte. In diesem Teil von Simbabwe standen alle zeitig auf. Die meiste Arbeit musste vor dem Mittag getan sein, und der Oktober war der heißeste Monat überhaupt. Die Straßen schmolzen zu einer Teersuppe, in der Vögel stecken blieben. Will spürte, dass die Wohnzimmertür geöffnet wurde, noch bevor sie dies sah. Das bärtige Gesicht ihres Vaters erschien. Sie freute sich unbändig über seine Rückkehr und sprang schnell und geschmeidig und mit einem Satz auf. Sie warf sich in seine Arme und schlang die Beine um seine Hüften. »Dad!« »Guten Morgen, Wildkatze.« Will drückte ihr Gesicht gegen den Nacken ihres Vaters. »Guten Morgen, Dad«, sagte sie gedämpft. In Gegenwart von Männern war Will meist angespannt, weil sie eine Mischung aus Bewunderung und Argwohn in ihr weckten, und sie hielt immer ein paar Schritte Abstand. Sie gab fremden Männern ungern die Hand und verabscheute 7 7 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl es, ihre Haut zu spüren. Aber bei ihrem Dad war das anders. »Wolltest du heute nicht einen Ausflug machen?«, fragte William. »Ja, bald. Aber ich wollte dich noch sehen, Dad. Ich habe dich vermisst.« Will hatte die letzte Nacht im Baumhaus verbracht, in der Weite der Nacht und an der frischen Luft, und bei der Heimkehr ihres Vaters hatte sie schon geschlafen. Manchmal bekamen sie einander tagelang nicht zu Gesicht, doch sie fand, dass das Wiedersehen dann noch beglückender und prickelnder war. »Aber jetzt …« – sie ließ sich fallen – »… jetzt kann ich los, ja. Ich habe Shumba noch nicht gefüttert, und Simon wartet sicher schon auf mich.« Sie drehte sich in der Tür noch einmal um, weil sie etwas sagen wollte, das ausdrückte, wie sehr sie ihren Vater liebte. Und sie liebte ihn abgöttisch. »Faranuka, Dad!« Faranuka. Will sprach gut Shona, und Faranuka hieß so viel wie »sei glücklich«. Simon wartete tatsächlich schon. Er war Wills bester Freund, obwohl die beiden eigentlich wie Feuer und Wasser waren: Sie war eine kantige streunerhafte Weiße, er ein großer und behänder farbiger Junge. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Als Simon mit dem Zug angekommen war, um auf der Farm zu arbeiten, hatte Will ihn nur einmal angeschaut und mit der Gewissheit einer Sechsjährigen verkündet, dass sie ihn nicht möge, nein, denn er sei ein »Waschlappen«. Das lag an Simons großen 8 8 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl Babyaugen mit den absurd langen Wimpern. Sie wirkten wie sanfte und vertrauensvolle Teiche voller Tränen, die nur darauf zu warten schienen, endlich zu fließen. Aber Will begriff schon bald, dass Simon lebhaft, ungestüm und großartig und alles in allem ein Beweis dafür war, wie sehr der erste Eindruck täuschen konnte. Ja, sie wusste inzwischen, dass Simon ein Wirbelwind von Junge und die Geißel der Ställe war. Sein raues Lachen war viel zu tief für sein Alter, und er war so langgliederig und zappelig, dass er immer wieder Tassen oder Teller zerbrach. Auf Grund seiner Abneigung gegen die Blechbadewanne und seiner Vorliebe für den weichen, sappschenden Matsch Simbabwes roch er unverkennbar. Will fand, dass er nach Staub, Pflanzensaft und Pökelfleisch duftete. Simon wiederum fand, dass Will nach Staub, Pflanzensaft und Pfefferminz duftete. Weil die beiden so grundlegende Gemeinsamkeiten hatten – vor allem den Duft nach Pflanzensaft, aber auch die großen Augen und ungelenken Gliedmaßen –, war es unvermeidlich, dass sie sich mit sieben sozusagen ineinander verliebten und nach ein paar Jahren nicht nur enge Freunde, sondern unverbrüchlich miteinander verbunden waren. Simon hatte Will beigebracht, ihr Pferd noch kurz vor der Farm zu einem Galopp anzuspornen und zu schreien: »Hey! Hey-ja! Na los, du Schnecke!« Außerdem hatte er ihr beigebracht, sich unter den Pferdehals zu schwingen 9 9 PROD_9783551314208-Rundell-das-Gras_Inh_A01.pod.pod 15-06-24 13:26:41 -dsl- dsl und kopfüber zu reiten. Dann waren ihre Haare voller Staub, und die Wangen drückten gegen ihre Augen. Sie lehrten einander ihre Sprache. Er lernte Englisch, wie es in Simbabwe gesprochen wurde, sie die Grundlagen seines Chikorekore-Shona, wobei sie vor Anstrengung die Zunge durch die Lippen schob. Sie zeigte ihm, wie man minutenlang unter Wasser schwimmen konnte. Der Trick bestand darin, langsam einzuatmen. Man durfte es nicht hastig tun, sondern geduldig und mit gespitzten Lippen, als würde man durch einen Strohhalm trinken. Ihre Füße wurden dunkelbraun und hornig, weil sie immer barfuß über die Felder lief, und unter den Nägeln saß Dreck. Simon wohnte seit dem letzten Dezember mit seinem Bruder Tedias in den Lehmziegelhütten am Rand der Two Tree Hill Farm. Der Name, hatte Captain Browne gesagt, während er mit tabakgrünen Fingern eine Zigarette gedreht hatte, sei ein schlechter Scherz. Auf dem Two Tree Hill standen nämlich Hunderte von Bäumen, so viele, dass man den Hügel kaum noch sah. Genau genommen, hatte er erklärt, müsse die Farm einfach Tree Farm heißen. Oder Tree-Tree-Tree-Tree-Tree-Farm. Ha, ha, Captain Browne. Aber es gab natürlich auch Lichtungen mit braunem Gras und schimmernder Hitze und Ameisenhaufen, und über eine solche lief Will gerade. Sie ließ die Hacken gegen ihren Hintern knallen und trällerte vor sich hin. Sobald sie in Rufweite von Simons Lehmziegelhütte war, stieß sie ihren besten Shona-Ruf aus. 10 10 Anne-Laure Bondoux Die n er Zeitt der Wund Aus dem Französischen von Maja von Vogel E ins Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit. An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen, und ich konnte nur immer wieder diesen einen Satz sagen: »Ichheißebläsfortünuntichbinbürgaderfranzöschenrepublikdasisdiereinewaheit.« Ich hatte fast all meine wertvollen Dinge unterwegs verloren. Zum Glück war mein Reisepass noch da. Gloria hatte ihn an der Tankstelle tief in meine Jackentasche gesteckt. Die Angaben darin besagten, dass ich am 28. Dezember 1985 in Mont-Saint-Michel geboren wurde, direkt am Ärmelkanal, Seite 16 im grünen Atlas. Da stand es, schwarz auf weiß. Das Problem war mein Foto: Es war herausgerissen und später wieder eingeklebt worden. Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und nahmen mich mit. So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an der Autobahn A4, als mir klar wurde, dass Gloria verschwun5 den war und ich im Land der Menschenrechte und Charles Baudelaires ohne sie würde zurechtkommen müssen. Danach verbrachte ich einige Zeit in einem Durchgangslager, und dann in einem Erstaufnahmezentrum. Frankreich war nichts als eine Folge von Mauern, Gittern und Türen. Ich schlief in Schlafsälen, die mich an den Dachboden des Matachine erinnerten, nur dass es kein Dachfenster gab, durch das man die Sterne sehen konnte. Ich war ganz allein auf der Welt. Trotzdem durfte ich nicht zulassen, dass die Verzweiflung meine Seele zerfraß, bis nichts mehr übrig war. Außerdem musste ich nach Mont-Saint-Michel, um meine Mutter zu finden. Das war leicht zu erklären, aber ich k onnte die Sprache nicht. Ich konnte weder vom Schrecklichen Unglück berichten noch von den Widrigkeiten des Lebens, die mich hierhergeführt hatten. Und nicht davon erzählen zu können fühlte sich an, als würde ich ersticken. Heute ist das anders. Im Lauf der Jahre habe ich die Namen der Dinge gelernt und kann mit Verben, Adjektiven, Konjunktionen und Konjugationen umgehen. In meiner Tasche steckt ein neuer Reisepass, der den Gesetzen dieser Welt entspricht. Vor kurzem habe ich einen Brief von der französischen Botschaft in Tiflis bekommen. Darin stand, sie hätten vielleicht Glorias Spur gefunden. Darum sitze ich jetzt hier in der Abflughalle des Flughafens Roissy-Charles-de-Gaulle mit einem Koffer, einem schweren Herzen und der verrückten Hoffnung, sie endlich wiederzusehen. Aber zuerst muss ich meine Gedanken ordnen. Also: Ich heiße Blaise Fortune. Ich bin Bürger der Franzö6 sischen Republik, habe jedoch die ersten zwölf Jahre meines Lebens im Kaukasus verbracht, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, Seite 78 in meinem grünen Atlas. Damals sprach ich russisch und die Leute nannten mich Koumaïl. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich muss nur meine Geschichte erzählen. Die ganze Geschichte. Und zwar der Reihe nach. 7 Zwei Meine ältesten Erinnerungen reichen ins Jahr 1992 zurück, als Gloria und ich mit anderen Flüchtlingsfamilien im Großen Haus wohnen. Ich weiß nicht mehr, wie die Stadt heißt. Ich bin sieben Jahre alt. Es ist Winter, und wir haben keinen Strom mehr, auch keine Heizung. Es herrscht Krieg. Es riecht nach Waschpulver und Essig. Die Frauen haben sich in der Mitte des Hofes um einen riesigen Blechzuber versammelt, unter dem Holzscheite brennen. Ihre Arme sind nackt, die Haut bis zu den Ellbogen gerötet. Sie reden und lachen sehr laut. Eine Dampfwolke steigt auf und beschlägt die Fensterscheiben des Hauses, während die Wäsche im Schaum unseres Schmutzes kocht. Etwas abseits, unter dem Vordach, sitzt der schreckliche Sergueï und schärft sein Rasiermesser. Ritsch, ratsch. Er ruft uns, einen nach dem anderen. »He, du! Komm her!« Der schreckliche Sergueï kennt unsere Vornamen nicht. Es gibt zu viele Kinder im Haus, und das Gedächtnis des Säufers ist müde. Er ruft nur »Du!« und zeigt mit dem Rasiermesser auf einen von uns. Niemand würde wagen, ihm nicht zu gehorchen, solche Angst macht er uns mit seinem verdrehten Auge und der platten Nase. Bevor er Friseur wurde, war der schreckliche Sergueï Boxer, angeblich der beste der ganzen Stadt. Bis zu dem Tag, an dem 8 ein nervöser Armenier ihn auf die Bretter schickte. Das war vor dem Krieg. An diesem Tag hat Sergueï dem Tod ins Auge geblickt, hat Gloria gesagt. Darum ist er anders als die anderen und verdient unseren Respekt. Also laufe ich schnurstracks unter das Vordach, als er mit seinem Rasiermesser auf mich zeigt. Ich setze mich auf den dreibeinigen Hocker, mit dem Rücken zu ihm, und neige mit klopfendem Herzen den Kopf nach hinten. Sergueïs Rasiermesser hinterlässt kalte Furchen auf meinem Schädel, er bearbeitet ihn systematisch, bis alle Haare gefallen sind und über die Pflastersteine tanzen. Dann taucht der schreckliche Sergueï ein Handtuch in das Fass mit Essig und rubbelt mir damit den Kopf ab. Es brennt. Ich heule. Er schubst mich vom Hocker. »Lauf zu deiner Mama, Rotznase!« Ich richte mich auf, geschoren und von einem diffusen Schmerz erfüllt, laufe zu Gloria und schmiege mich in ihren Rock. Sie ist nicht meine Mutter, das weiß ich wohl, aber ich habe nur sie. »Großartig!«, ruft sie und fährt mir mit ihren schaumigen Händen über den Kopf. Ich sehe sie an. Sie beugt sich zu mir hinunter und küsst mich auf die Wange. Dabei murmelt sie: »Sie sehen wirklich hervorragend aus, Monsieur Blaise.« Ich lächle unter Tränen. Ich finde es so schön, wenn sie mich »Monsieur Blaise« nennt, auf Französisch, so dass es niemand versteht. »Geh spielen, Koumaïl«, sagt sie laut. »Ich bin beschäftigt, das siehst du doch.« Ich wische mir über die Augen und laufe zu den übrigen geschorenen Kindern, die im Hof spielen. 9 Das Waschpulver, das Lachen, das Rasiermesser, der Essig … So verläuft unser ständiger Kampf gegen Läuse, Flöhe und alle anderen Parasiten, einschließlich den laut Gloria fürchterlichsten: die Verzweiflung. Dieser Schmarotzer, sagt sie, ist gerissener und gefährlicher als der Armenier, der Sergueï verprügelt hat. Er ist unsichtbar und schleicht sich überall ein. Wenn du nichts dagegen unternimmst, frisst er deine Seele auf, bis nichts mehr übrig ist. Das macht mir Sorgen: Woran merkt man, dass man von Verzweiflung befallen ist, wenn man sie nicht einmal sehen kann? Was tut man dagegen, wenn nicht einmal das Rasiermesser hilft? Gloria drückt mich an ihre Brust. Sie erklärt mir, dass sie ein Gegenmittel hat. Solange ich in ihrer Nähe bleibe, wird mir nichts Schlimmes passieren, o. k.? »O. k.« 10 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl 1 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl 1 Ich ziehe meine Mütze bis fast über die Augen und den Reißverschluss der Steppjacke bis übers Kinn. Springe auf die Straße und strecke den Arm raus. Der Bus hält an. Äußerlich bin ich ganz cool. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich zu lange im frostigen Wald gehockt habe. Den Fahrer kenne ich zum Glück nicht. Er nimmt meine Buskarte, sieht sie an und gibt sie mir mit einem Lächeln zurück, als die Türen hinter mir zugleiten. Ist er einfach nur nett, oder war das ein hinterhältiges Lächeln? Vielleicht denkt er ja: Bürschchen, ich sehe dir doch an, dass du abgehauen bist. Warte nur, bis du dich hingesetzt hast. Dann verriegel ich die Türen und ruf die Polizei. Ich überlege, ob ich sagen soll, dass ich doch lieber wieder aussteigen will, aber der Busfahrer beachtet mich gar nicht. Er legt den Gang ein und setzt den Blinker. Der Bus protestiert ächzend, als er Gas gibt, und ich stehe wie festgenagelt auf der Gummimatte im Mittelgang. 5 5 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl »Bitte setz dich, bevor du fällst und dir wehtust«, sagt er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Ich schaffe es, meine Füße loszureißen, und torkele durch den Gang nach hinten, als der Bus auf die Fahrbahn schwenkt. Außer mir sitzen noch ein alter Mann und zwei Mädchen in dem Bus. Ich kenne keinen von ihnen. Der alte Mann schläft. Seine Augen sind ganz eingesunken in das runzelige Gesicht. Die Mädchen sehen mich an, als ich vorbeigehe. Die Jüngere lächelt. Ihr Haar glänzt in der Sonne. Ich will das Lächeln erwidern, kriege es aber nicht hin. In meinem Bauch hat sich ein fester Knäuelball gebildet, der jeden Moment aus meinem Bauch raus durchs Fenster auf die Straße zu hüpfen droht. Nicht ich beschließe, mich hinter die Mädchen zu setzen, sondern der Bus, als er durch ein Schlagloch fährt. »Hast du dich als Weihnachtsbaum verkleidet? Es ist doch noch gar nicht Weihnachten.« Die Jüngere versucht, ihren Kopf durch die Lücke zwischen den Rückenlehnen zu quetschen. Als Weihnachtsbaum verkleidet? So eine blöde Frage. 6 6 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl Noch kann ich mir vielleicht unauffällig einen anderen Platz suchen. Es hat ja jeder gesehen, dass ich unfreiwillig auf ausgerechnet diesen Platz geschleudert wurde. Das Knäuel in mir will sich einfach nicht lösen, egal wie tief ich in den Bauch atme. Mama hat gesagt, man soll tief in den Bauch atmen, wenn man Angst hat. Und dass man den Bauch kreiselnd massieren soll, gegen den Uhrzeigersinn. Aber ich kann mir doch hier nicht den Bauch massieren. Das sähe ja wohl völlig idiotisch aus. Noch idiotischer, als sich im Oktober als Weihnachtsbaum zu verkleiden. Ich versuche es mit dem Atmen und knete unauffällig meinen Bauch, aber der Knoten löst sich nicht. »Ich frag nur, weil du einen Tannenzweig mit Zapfen an der Mütze hast.« Ein Auge wird zwischen den Rückenlehnen sichtbar. »Ich heiße Lisa und meine Schwester heißt Amanda. Sie ist zwölf. Ich bin sechs. Wie heißt du? Wir wollen Oma und Opa besuchen. Wo willst du hin?« Bevor ich antworten kann, zieht die große Schwester Lisa zurück auf ihren Platz und faucht sie an. »Du darfst nicht mit Fremden reden. Oder verraten, wie wir heißen. Und erst recht nicht, wo wir hinfahren.« 7 7 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl An meiner Mütze hängt wirklich ein Tannenzweig. Ein ziemlich großer sogar. Kein Wunder, dass Lisa meint, ich sähe aus wie ein Weihnachtsbaum. Vielleicht hat der Busfahrer deshalb so gegrinst. Aber vielleicht auch wegen ganz was anderem. 8 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl 6 Der warme Wind kitzelt mich im Gesicht. Ich galoppiere um den Hofplatz. Runde um Runde. Weit entfernt auf der Hauptstraße ist eine Staubwolke zu sehen. Papa bremst mitten im Galopp ab. »Hüaaa! Lauf weiter, mein Pferd«, rufe ich. »Warte kurz, Albin«, sagt das Pferd. Es legt die Hand über die Augen, um in der grellen Sonne besser sehen zu können. Die Militärfahrzeuge in der Staubwolke werden immer kleiner, bis sie ganz verschwunden sind. Mein Pferd setzt sich langsam wieder in Bewegung. Das Pferd ist natürlich Papa. Für mich gibt es nichts Schöneres, als auf seine Schultern klettern zu dürfen und herumzugaloppieren. Wie jetzt. Papa ist groß und stark wie ein Pferd. Seit er seine Arbeit in der Fabrik verloren hat, hat er mehr Zeit, Pferd zu spielen. 22 22 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl Mama steht schon seit dem Frühstück im Gemüsebeet, den Po in die Luft gestreckt. Sie zupft Unkraut. Alles Gemüse, das bei uns auf den Tisch kommt, hat sie selber angebaut. Sie richtet sich auf und winkt Papa und mir zu. Sie ruft etwas. Wir können nicht hören, was sie sagt, aber sie legt eine Hand auf ihren dicken Bauch. Das Pferd bleibt so abrupt stehen, dass ich um ein Haar runtergefallen wäre. »Was hast du gesagt«, ruft Papa erschrocken zu ihr rüber. »Hast du Wehen?« Mama lacht und schüttelt den Kopf. »Der Bauch ist beim Unkrautjäten so im Weg«, sagt sie. Wenn das Pferd still steht, kann man gut hören, was sie sagt. »Leg dich ein bisschen hin und ruh dich aus«, kommandiert Papa. »Albin und ich jäten den Rest, wenn wir die Ziege gemolken haben.« »Mein Pferd muss nur noch ein bisschen trainiert werden, Mama«, rufe ich und drücke ihm meine nackten Fersen in die Seiten. Wir traben weiter. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis ich großer Bruder werde. Wenn ich mit Mama kuschele und meinen Kopf auf ihren Bauch lege, spüre ich, wie es sich da drinnen bewegt. Ich freue mich so auf das Baby. Dass ich dann jemanden zum Spielen habe. Unser kleines Steinhaus rauscht an mir vorbei. Mein Pferd 23 23 PROD_ 9783551555977-vielleicht-durfen-wir-bleiben-inh_A01.pod 14-12-15 15:20:55 -dsl- dsl schnauft und prustet, Schweißtropfen laufen aus dem hellen Haar in den Nacken. Papa und ich haben genau das gleiche Haar. Die roten Rosen um die Haustür verströmen einen schönen Duft, jedes Mal wenn wir dort vorbeikommen. Den Duft würde ich überall wiedererkennen. Im Stall wohnen eine Ziege und ein Haufen Kaninchen. Ich finde es toll, mit den Kaninchenjungen zu spielen. Sie sind so süß mit ihrem unendlich weichen Fell, den Schnupperschnauzen und den kugelrunden schwarzen Augen, mit denen sie mich voller Ernst anschauen. Als wüssten sie, dass die Spielerei für sie bald ein Ende hat. Früher oder später werden sie gegessen. So ist das nun mal. 24 el l n Fra k ttr o C yce o B Au sd em vo Engl isc n he Sa n la h N ao ur a on grafien v Mit Foto eney lare H C d n u unter Carl H OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 3 24.08.14 13:06 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 6 24.08.14 13:07 D ieses Foto hab ich seit dem Tag, an dem es aufgenom- men wurde, nicht mehr gesehen. Bis eben.Trotzdem kann ich euch alles darüber sagen, was ihr wissen wollt. Der Junge links ist Shocky. Der rechts ist Duncan, der immer mit Keksen in den Hosentaschen zur Schule kam. Inzwischen ist er verheiratet, unerklärlicherweise. Das Mädchen links ist Mimi Toolan, und die rechts, das bin ich. In dem Augenblick, als das Bild geknipst wurde, dachte ich vor allem darüber nach, ob Mimi mich nach der Schule mit zu sich nach Hause nehmen würde. Ihre Mutter ließ sie immer mit ihren Schminksachen spielen, was meine Mutter auf gar keinen Fall erlaubte, obwohl ich doch schon so reif und erfahren war. Außerdem dachte ich: ACH. DU. SCHANDE. Shocky hat mir die Hand auf die Schulter gelegt! Einmal, kurz vor Weihnachten, mussten wir im Unterricht eine Partner- 7 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 7 24.08.14 13:07 übung machen, und ich hatte Shocky überreden können. Da es sich um eine Art Vertrauensspiel handelte, hätte es am Ende zu einem kurzen Körperkontakt kommen sollen – wobei sich allerdings herausstellte, dass man Shocky nicht vertrauen konnte. Und zum Entstehungszeitpunkt dieses Fotos hatte er es geschafft, zweihundertsiebenunddreißig Tage lang ununterbrochen zu übersehen, dass ich existiere. Warum ich mich so genau daran erinnere, was mir durch den Kopf ging? Weil ich in der ersten Hälfte der Sechsten nur Folgendes im Kopf hatte: 1. Mimi, darf ich mit zu dir? 2. Shocky, beachte mich bitte! Außerdem wurde das Foto im Sommer aufgenommen, und erinnert sich nicht jeder an den letzten Sommer auf der Grundschule? Das Sportfest. Die Abschlussklassenfahrt. Das Abschlussfoto. Die endlosen Diskussionen, auf welche Schule man als Nächstes gehen sollte, die Versprechungen, befreundet zu bleiben, obwohl man nicht auf dieselbe Schule ging. Wie am letzten Nachmittag jeder bei jedem auf dem T-Shirt unterschrieb. Und an das ständige Gefühl, dass sich mit jedem Tag ein Stückchen mehr eine Tür öffnete, durch die Sonnenlicht hereinfiel, und schon sehr bald würde man durch diese Tür hinausdürfen, mit Gelächter und Gebrüll, so laut, 8 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 8 24.08.14 13:07 dass man nicht mal mitbekam, wenn sie hinter einem zufiel – für immer. Ich kann euch sogar sagen, wann genau das Foto gemacht wurde. In der zweiten Woche des Sommerquartals. Es war der Tag, als Mimi in der großen Pause zwei Jungen entdeckte – einen großen und einen kleinen –, die durch den Schulhofzaun herüberstarrten. Der große hielt den kleinen an der Hand, der kleine hatte eine Fellmütze auf, und sie trugen die gleichen Mäntel. Die Dinger sahen verrückt aus, lang wie Morgenmäntel und von innen mit Pelz gefüttert. Allerdings hätte jeder Mantel verrückt ausgesehen, denn die Sonne brannte vom Himmel. Auf dem Schulparkplatz schmolz der Asphalt. Alle anderen trugen T-Shirts. Mimi ging zu den beiden rüber und fragte: „Was gibt’s denn hier zu gucken?“ Der Große brachte sie zum Schweigen, indem er einen Finger an die Lippen legte. „Gib acht auf deine Lehrerin!“, sagte er und deutete zu Mrs Spendlove hinüber, die genau in diesem Moment in ihre Pfeife blies, um die Pause zu beenden – als hätte der Junge es vorausgesehen. Als wir alle in der Schlange standen, hatte ich die beiden plötzlich direkt hinter mir. Ich warf einen Blick auf den Kleinen, dem seine Mütze bis über die Augen gerutscht war. Es sah so unbequem aus, dass ich sie zurechtrücken wollte – aber der Große fasste mir unters Kinn und drehte meinen 9 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 9 24.08.14 13:07 Kopf weg. „Schau ihn nicht an“, sagte er. Ganz im Ernst, damit hatte er sich eigentlich eine Ohrfeige verdient. Aber ehe ich mich darum kümmern konnte, kam Mrs Spendlove und ließ uns in den Klassenraum. Die beiden Jungs marschierten zielstrebig nach hinten, und der Kleine machte es sich auf dem Platz gemütlich, der sonst eigentlich meiner war. Ich stellte mich daneben und starrte ihn direkt an, in der Annahme, dass er den Wink kapieren würde. Fehlanzeige. „Ich möchte, dass ihr gemeinsam mit mir ein neues Gesicht in unserer Klasse begrüßt“, sagte Mrs Spendlove. „Ein fröhliches neues Gesicht hoffentlich. Darf ich vorstellen: Dschingis.“ Alle begrüßten ihn, außer mir. „Und der andere, Miss? Wie heißt der?“, fragte ich. Sie hatte den Kleinen noch gar nicht bemerkt. „Oh, Dschingis, dein kleiner Bruder ist leider nicht in dieser Klasse. Er ist bei Miss Hoyle, ein Stück weiter den Flur runter.“ „Nein“, sagte Dschingis. „Mein kleiner Bruder ist hier in dieser Klasse. Sehen Sie, er sitzt doch neben mir.“ Alle lachten, außer Mrs Spendlove. „Entschuldigung, mein Fehler. Ich meine, er gehört in Miss Hoyles Klasse“, sagte sie und versuchte uns anderen mit Handwedeln zum Schweigen zu bringen, peinlich berührt, weil sie dachte, dass wir ihn auslachten und es ihre Schuld war. Aber ich stand ja genau neben den beiden und merkte, dass der Große sich nicht etwa geirrt hatte. Er schaltete einfach auf stur. 10 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 10 24.08.14 13:07 „Julie, wärst du so nett, Dschingis’ Bruder in Miss Hoyles Klasse zu bringen?“ Natürlich wäre ich so nett gewesen, zumal ich meinen Platz wiederhaben wollte. Aber kaum hatte ich mich dem Kleinen genähert, da hob der Große seine Hand, mir direkt vors Gesicht, und sagte: „Nein.“ „Wie bitte?“ „Er muss bei mir bleiben. Ich habe die Pflicht, auf ihn aufzupassen. Ihn zu beschützen. Ich muss in seiner Nähe sein.“ „Also, so läuft das nicht, Dschingis. Erstens wird Miss Hoyle ihn beschützen, wenn er in ihrer Klasse ist. Und außerdem braucht er doch gar keinen Schutz, weil ...“ Er hörte nicht mal zu, sondern kramte ein paar Stifte und etwas Papier hervor, um ein bisschen zu zeichnen. Mrs Spendlove klappte ihren Laptop auf und suchte eine Weile herum. „Ah“, sagte sie und wandte sich direkt an den Kleinen. „Du musst in eine andere Klasse gehen, Kub...“ Und sie begann, diesen unglaublichen Namen Silbe für Silbe zu buchstabieren. Aber noch ehe sie bei der dritten Silbe angelangt war, hob Dschingis den Kopf und sagte wieder Nein. „Nein.“ Einfach so. Das war bereits sein zweites Nein zu Mrs Spendlove. Ein Mal konnte man ja noch für ein Versehen halten. Mit dem zweiten stieg man in den Ring. Ganz klar. Vor unseren Augen spielte sich ein Machtkampf ab. Mrs Spendlove ging zum Angriff über: „Wie bitte?“ 11 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 11 24.08.14 13:07 „Nennen Sie ihn Nergui“, sagte Dschingis. „Das ist einfacher.“ Was ihr gegenüber wirklich eine Frechheit war, weil er Mrs Spendlove Vorschriften machte und ihr außerdem mitteilte, dass es sie überforderte, einen Namen richtig auszusprechen. Mrs Spendlove schmetterte den Angriff ab. „Tja, hier steht aber etwas anderes“, sagte sie und versuchte erneut den langen Namen auszusprechen. Dschingis erhob sich. Sie blickte ihm in die Augen. Er sagte: „Bitte.“ Bitte war gut. Bitte bedeutete in gewisser Weise Rückzug. Auf jeden Fall war Bitte ein Pluspunkt für Mrs Spendlove. Sie klappte den Laptop ganz, ganz langsam zu. „Na gut“, sagte sie. „Nur für heute darfst du hier in unserer Klasse bleiben, Nergui.“ Dschingis bedankte sich und nahm wieder Platz. Es sah nach einem Sieg für Mrs Spendlove aus. Nur dass dieser Junge exakt seinen Willen durchgesetzt hatte: Sein kleiner Bruder saß neben ihm und wurde mit irgendeinem nicht offiziellen Namen angesprochen. Vielleicht hatte Mrs Spendlove das gespürt. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sie sich für eine weitere Herausforderung entschied. „Wenn du dann bitte deine Mütze abnehmen würdest, Nergui“, sagte sie. „Damit wir anfangen können.“ Weder der Kleine noch Dschingis rührten sich. Die beiden 12 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 12 24.08.14 13:07 saßen einfach nur mit diesem Und was, wenn nicht?-Gesicht da und taten, als hätten sie nichts verstanden. Mrs Spendlove versuchte es noch mal. „Es tut mir leid, aber du musst deine Mütze abnehmen, Nergui.“ „Nein“, sagte Dschingis. Alle schauten zu Mrs Spendlove. „Wir können nicht erlauben, dass während des Unterrichts Mützen getragen werden, Dschingis.“ Nun schauten alle zu Dschingis. Es war wie bei einem superspannenden Tennisspiel. „Es ist gefährlich, meinem kleinen Bruder die Mütze abzunehmen.“ „Wie kann das denn gefährlich sein? Sitzt sein Kopf etwa nicht fest auf seinem Hals?“ Dafür erntete sie einen Lacher, der ihr einen gewissen Vorteil verschaffte. „Nicht gefährlich für ihn. Gefährlich für andere.“ Mrs Spendlove runzelte die Stirn. Wollte er ihr etwa drohen? „Wenn ich ihm die Mütze abnehme“, fuhr Dschingis fort, „könnte er durchdrehen und alle hier umbringen.“ Das war eindeutig eine Drohung. Er drohte uns allen. Mit seinem kleinen Bruder. „Dschingis ...“ „Was tust du, damit dein Adler ruhig bleibt?“ „Ich weiß es nicht.“ Mrs Spendlove ließ ihren Blick durch 13 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 13 24.08.14 13:07 die Klasse wandern. Wusste es jemand? Konnte irgendjemand so etwas wissen? „Ist doch klar“, sagte er. „Man bedeckt die Augen des Adlers mit einer Haube. Wenn man möchte, dass er losfliegt und tötet, nimmt man die Haube ab. Mein Bruder ist mein Adler. Wenn er seine Haube aufhat, bleibt er schön ruhig. Ohne seine Haube kann ich nicht wissen, wie er sich verhält.“ Sechste Klasse. Sechs Jahre lang waren wir zur Schule gegangen und bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, wahrscheinlich alles gelernt zu haben, was ich jemals würde lernen müssen. Ich wusste, wie man das Volumen eines Würfels berechnet. Ich wusste, wer die Sonnenblumen gemalt hatte. Ich konnte die Geschichte der heiligen Lucia erzählen. Ich kannte die Gesetze der britischen Thronfolge und die Gesetze der Symmetrie und wusste, wie wichtig es ist, fünfmal am Tag Obst zu essen. Aber in meiner gesamten Schulzeit hatte ich noch keine einzige Unterrichtsstunde zum Thema Adlerberuhigung gehabt. Nicht mal von dem Fach hatte ich etwas gehört. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass Menschen möglicherweise die Fähigkeit besitzen mussten, Adler zu beruhigen. In diesem Augenblick spürte ich meine Unwissenheit wie ein Paar Flügel, die sich hinter mir entfalteten, und jede einzelne mir unbekannte Tatsache war eine Feder dieser Flügel. Ich merkte, wie sie sich in den Luftstrom reckten, begierig, endlich loszufliegen. 14 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 14 24.08.14 13:07 Ich wollte mich mit dem Neuen unterhalten. Über Adler. Mimi dagegen schien den ganzen Zwischenfall mit Dschingis nur als kleine Unterbrechung der weltweiten Diskussion übers Schminken zu begreifen. Nur die Jungs zeigten Interesse. In der Mittagspause umringte ein ganzer Pulk von ihnen Dschingis und Nergui, um zu fragen, ob sie wirklich Adler besäßen und wie groß die wären und ob Dschingis ein Lügner war oder nicht. „Wo kriegt ihr die Adler denn her? Vom Adlerladen?“ „Da wo ich herkomme, hat jeder mehrere Adler.“ „Und wo ist das?“ „In der Mongolei.“ Sie stupsten und piesackten den kleinen Nergui, der seine Mütze immer noch heruntergezogen hatte, bis über die Augen. Sie wollten Adlerschreie von ihm hören. Nergui verkroch sich in seinem Mantel, streckte die Arme aus den Ärmeln hervor und kreuzte sie über seiner Brust. Beide Ärmel schlackerten, wodurch er wirklich wie ein Vogel aussah. Irgendwann entdeckte mich Dschingis hinter den Jungs und rief: „Du! Du musst kommen und mir helfen!“ Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Aber ich war absolut begeistert, dass man mich fragte. Ich schob mich an den Jungs vorbei, dann baute ich mich vor ihnen auf. „Okay“, sagte ich. „Weitergehen. Habt ihr denn noch nie zwei mongolische Brüder gesehen?“ „Nein.“ 15 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 15 24.08.14 13:07 „Na gut, dann habt ihr’s jetzt. Also geht weiter.“ „Mongolisch, von wegen!“ Das war Shocky. „Warum sollten sie denn aus der Mongolei hierherkommen? Wahrscheinlich sind sie bloß aus Speke.“ Man einigte sich, dass die Brüder wahrscheinlich aus Speke kamen, nicht weit entfernt vom Liverpooler Flughafen. Dann gingen die Jungs wieder Fußball spielen. „Steh bitte still“, sagte Dschingis. Er schob mich ein wenig zurück und zog dann etwas aus seiner Tasche, das wie ein altmodisches Radio aussah. Als er auf einen Knopf drückte, ertönte ein surrendes Geräusch, die obere Hälfte öffnete sich und eine Linse schoss hervor. Heute weiß ich, dass es eine Polaroidkamera war. Aber damals hielt ich sie für irgend so eine verrückte, glotzende Kuckucksuhr. „Ich brauche ein Bild“, sagte er. „Damit ich nicht vergesse, wer du bist. Du wirst hier unser Guter Ratgeber. Okay?“ Inzwischen war Mimi zu uns rübergekommen – sie hörte das Geräusch einer Kamera in Aktion auf eine Entfernung von 500 Metern. Wir setzten beide unser charmantestes Lächeln auf, und im selben Moment erschienen Shocky und Duncan und schummelten sich ins Bild. Fast sofort nachdem Dschingis den Auslöser gedrückt hatte, kam ein Stück Papier vorne aus der Kamera. Dschingis zog eine Folie ab, wedelte das Stück Papier durch die Luft, und zum Vorschein kamen wir. Eingefangen für die Ewigkeit. Er 16 OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 16 24.08.14 13:07 schrieb etwas auf das Foto, was ich damals allerdings nicht erkennen konnte. Heute habe ich’s zum ersten Mal gesehen. Unser Guter Ratgeber, schrieb er. „Du wirst unser Guter Ratgeber“, erklärte er. „In der Mongolei sind wir Nomaden. Wenn wir in ein fremdes Land kommen, brauchen wir jemanden, der uns gute Ratschläge gibt. Du wirst hier unser Guter Ratgeber sein, einverstanden?“ Klar war ich einverstanden. Nie zuvor hatte jemand mich gebeten, irgendwas zu sein, auf jeden Fall nichts, wofür es eine offizielle Bezeichnung gab. Und von diesem Augenblick an hörte ich auf, über Schminkkram, Lippen oder Shocky nachzudenken, und lief stattdessen mit dem Gedanken durch die Gegend: Seht her! Ich bin ein Guter Ratgeber! Ich war entschlossen, ein wirklich guter Ratgeber zu sein. OD_9783551555946-Der-unvergessene-Mantel_Inh_A02.indd 17 24.08.14 13:07 Ortwin Ramadan Der Schrei des Löwen 1. Yoba lehnte mit dem Rücken an der Betonwand. Er genoss die Kühle hier unten. Oben würde es schon bald sehr heiß werden. Der Harmattan fegte seit Tagen über die Stadt und brachte mit dem Sand auch die Hitze aus der großen Wüste. Die unterirdische Zisterne war in der Trockenzeit ein wirklich guter Ort, fand Yoba. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass niemand ihnen den Platz bislang streitig gemacht hatte. Dabei waren gute Schlafplätze fast so selten wie ein voller Bauch. Plötzlich begann sein zwölfjähriger Bruder im Halbdunkeln leise zu wimmern. Er wälzte sich auf seinem Karton hin und her. Yoba beugte sich über ihn und berührte Chioke sanft an der Schulter. »Chi-Chi!«, flüsterte er. »Wach auf! Es ist nur ein Traum!« Chioke schreckte von seiner Schlafpappe hoch. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er blickte sich ängstlich um. Yoba fuhr ihm aufmunternd durch die verfilzten Haare. »Hey, große Ibo-Krieger kennen keine Angst!«, sagte er. »Außerdem ist heute Freitag, schon vergessen? Tag der Löwenfütterung!« Yoba kroch auf Knien zur gegenüberliegenden Wand und fischte seinen kostbarsten Besitz aus einer Spalte zwischen den Steinen. Das Notizbuch war nagelneu. Als er es vor zwei Tagen im Müll gefunden hatte, war es noch in Folie eingeschweißt gewesen. Offenbar handelte es sich um ein achtlos weggewor5 fenes Werbegeschenk, denn auf dem grünen Einband prangte das Logo eines internationalen Ölkonzerns. Yoba steckte seinen Schatz in den Bund seiner zerschlissenen Baumwollhose. Danach schlüpfte er in seine ausgeleierten Plastikschlappen und sprang auf die Füße. »Na los, hoch mit dir!« Chioke ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sich widerstandslos hochziehen. Besorgt musterte Yoba die blutigen Schnitte an den Füßen seines kleinen Bruders. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. Sein Bruder brauchte unbedingt Schuhe, denn die Straßen der Stadt waren voller Scherben. Yoba klopfte ihm den Sand von dem Stofffetzen, der einmal ein gelbes T-Shirt gewesen war. »Wenn ich in die Bruderschaft aufgenommen werde, kaufe ich dir weiße Adidas. Versprochen! Und zwar die echten – keine nachgemachten vom Ariaria-Markt. Na, was sagst du dazu? Freust du dich?« Chioke sah ihn teilnahmslos an. Yoba seufzte. Seit der schrecklichen Nacht im Dorf redete sein Bruder noch weniger als vorher. Er schien in einer anderen Welt gefangen zu sein und Yoba wusste nicht, wie er ihn von dort zurückholen konnte. Wenigstens waren die Narben auf der Brust seines Bruders gut verheilt. Das magische Zeichen würde er jedoch für immer auf seiner Haut tragen. Es würde ihn stets an die grauenhafte Zeremonie erinnern. Wütend darüber griff Yoba nach der in die Wand eingelassenen Metallleiter und kletterte aus der Zisterne. Chioke blieb unten und wartete. Trotz der frühen Morgenstunde war die Stadt längst erwacht. Überfüllte Minibusse, hupende Autos und unzählige knat6 ternde Mopeds verstopften die Kreuzung an der Factory Road von Aba. Niemand beachtete den schlaksigen sechzehnjährigen Jungen, der auf dem zugemüllten Grundstück neben der Straße aus einem Loch in der staubigen Erde kroch. Yoba war das nur recht. Er blinzelte in die dunstige Morgensonne und sah sich vorsichtig um. Nachdem er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, pfiff er auf zwei Fingern das vereinbarte Zeichen. Gleichzeitig spuckte er fluchend aus. Der Sand in der Luft ließ das Atmen schon am frühen Morgen zur Qual werden. Als Chiokes Kopf in der Öffnung der Zisterne auftauchte, drängte Yoba seinen Bruder zur Eile. Sein leerer Magen brüllte vor Hunger. Dass es Chioke nicht viel besser ging, konnte er an den unnatürlich geweiteten Pupillen ablesen. Kein Wunder, ihre letzte gemeinsame Mahlzeit lag schon mehr als einen Tag zurück. Sie hatte lediglich aus einem knochenharten Stück Fladenbrot bestanden. Jetzt lief ihm allein bei dem Gedanken an Mama Kambinas köstliche Onugbo-Suppe das Wasser im Mund zusammen. Er fasste Chioke an der Hand und nahm am Rand des Grundstücks Aufstellung. Als in dem lärmenden Strom aus Mopeds, Autos und qualmenden Lastwagen endlich eine Lücke entstand, ging er zügig los und zog seinen Bruder hinter sich her über die mehrspurige Straße. Auf der anderen Seite schlängelten sie sich durch die Stände der kleinen MopedWerkstätten, die ihr Geschäft direkt auf dem ölverschmierten Bürgersteig betrieben. Dann schlugen sie den Weg zum Gefängnis ein. 7 6. »Das nervt!« Julian drosch wütend auf die Tastatur seines Laptops ein. Zu spät, seine Spielfigur wurde mal wieder in tausend Stücke geschossen. Entnervt klappte er den Computer zu und sah aus dem Autofenster. Die Landstraße wand sich durch die karge Hügellandschaft, nur hin und wieder säumte ein einsamer Olivenbaum den Weg. Julian hasste Oliven. Und noch mehr hasste er Sizilien. »Warum können wir nicht in der Nähe vom Flughafen bleiben?«, nölte er auf der Rückbank. Dieser gemeinsame Familienurlaub war schon jetzt eine einzige Katastrophe. »Das frage ich mich auch«, murrte sein Vater, während er im Schritttempo ein Schlagloch umkurvte. »Sie hätten uns wenigstens ein Auto mit Navi geben können.« Julians Mutter fuhr mit dem Zeigefinger über die Straßenkarte, die ausgebreitet auf ihren Knien lag. »Wir haben doch die Karte von der Tankstelle«, murmelte sie. »Wir finden den Weg schon.« »Aber der Typ vom Autoverleih hat gesagt, mit der Abkürzung dauert es bis Capo-Dingsbums höchstens eine halbe Stunde!«, meldete sich Julians jüngere Schwester zu Wort. »Und ich dachte, das Hotel liegt am Meer. Ich seh hier überhaupt kein Meer. Hier gibt’s doch nur Schafe und vertrocknete Bäume!« Frederike hockte neben ihrem Bruder auf der Rückbank und tippte auf ihrem Handy herum. Wie immer versteckte sie sich und ihre Zahnspange hinter einem Vorhang aus dunkelblonden Haaren. »Vielleicht liegt das Meer ja in der anderen Richtung«, lästerte Julian. Wenn es so etwas wie SMS-Sucht gab, dann war seine 38 Schwester ganz sicher ein Junkie. »Oder die Hotelfotos im Internet waren ein Fake. Würde mich nicht wundern. Wahrscheinlich liegt das Hotel direkt neben einer Müllkippe.« Seine Mutter stieß einen ihrer unübertroffenen WeltklasseSeufzer aus und drehte sich nach hinten: »Die Ferienanlage hat die besten Bewertungen in ganz Sizilien! Also reißt euch zusammen und wartet einfach ab! Wir haben uns vorgenommen gemeinsam einen schönen Urlaub zu verbringen und das werden wir auch!« Ihre zusammengezogenen Augenbrauen ließen keine Widerrede zu. Dabei hätte Julian schreien können. Während seine Kumpels auf den legendären Partys am Baggersee ihren Spaß hatten, war er dazu verdammt, sich mit seinen Eltern zu Tode zu langweilen. Und garantiert würde Katja wieder mit dem Typen aus der Oberstufe rummachen. »Nicht einmal eine anständige Klimaanlage hat diese Schrottkiste!«, schimpfte sein Vater. Er drehte die Klimaanlage hoch, woraufhin seine Mutter sie sofort wieder nach unten regulierte. Sie vertrat die Ansicht, zu viel kalte Luft schade dem freien Fluss der Körperenergie. »Da an der Kreuzung müssen wir links!« Seine Mutter deutete durch die staubige Windschutzscheibe. »Wenn die Karte stimmt, müsste man gleich das Meer sehen!« Julians Vater folgte der Anweisung mit einem vernehmbaren Grunzen, aber vom Meer fehlte weiterhin jede Spur. Stattdessen durchquerten sie ein Dorf mit weiß getünchten Häusern. Abgesehen von den streunenden Hunden und den schwarz verhüllten Frauen, die ihnen misstrauische Blicke zuwarfen, schien die abschüssige Dorfstraße in der flimmernden Mittagshitze wie ausgestorben. 39 Julian fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare. »Mann, hier sieht es echt aus wie in einem Mafiafilm!«, stellte er fest. »Du solltest dich schämen!«, schalt ihn seine Mutter. Sie sah ihn im Rückspiegel an. »Sizilien besteht nicht nur aus der Mafia. So etwas nennt man ein Klischee. Eigentlich müsstest du alt genug sein, um das zu wissen!« Frederike hörte auf zu tippen. »Cool! Übernachten wir wirklich in einem Mafiahotel?« Sie hob den Kopf. »Ich wollte schon immer von einem richtigen Gangster entjungfert werden!« »Was!?« Ihr Vater drehte sich kurz um, dann stieg er mit beiden Füßen auf die Bremse. »Scheiße!« Ein Hund überquerte in aller Seelenruhe die Dorfstraße. Julians Mutter legte seinem Vater die Hand auf den Oberschenkel. »Klaus, du hast mir doch versprochen die Arbeit zu vergessen und dich zu entspannen!« Anschließend erschien ihr Kopf wieder zwischen den Vordersitzen. »Und ihr da hinten gebt endlich Ruhe! Wir sind hier, um uns zu erholen! Also tut mir den Gefallen und erholt euch gefälligst!« Julian verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Es hatte sowieso keinen Sinn. Mit oder ohne Meer – dieser ganze Urlaub war völlig bescheuert. Nach einer weiteren Stunde Irrfahrt durch das sizilianische Hinterland fanden seine Eltern endlich die Ferienanlage. Das »Palm Beach Resort« lag versteckt in einer malerischen Bucht und gehörte eindeutig zu den besseren Familienhotels. Die einzelnen Gebäude lagen in einem weitläufigen, gepflegten Garten und der hoteleigene, mit akkuraten Sonnenschirmreihen gespickte Strand strahlte vor dem Hintergrund des azurblauen Meeres in einem makellosen Weiß. 40 Sein Vater parkte den Wagen, und als sie die klimatisierte Hotellobby betraten, eilte sofort der Empfangschef auf sie zu. »Signorina! Signore! Buongiorno!«, begrüßte er die neu eingetroffenen Gäste. Er verbeugte sich artig und führte Julians Eltern an einen modern gestylten Tresen aus poliertem Walnussholz. »Dürfte ich Ihre Namen erfahren, Signore?« Er sah auf den Bildschirm des Hotelcomputers. »Wegmann. Klaus Wegmann.« »Mit Familie«, fügte Julians Mutter hinzu. »Ah, Dottore Wegmann!« Der Empfangschef scrollte den Bildschirm herunter, bis er den gesuchten Eintrag gefunden hatte. »Wir haben Sie drei Stunden früher erwartet.« Er drehte sich um und nahm einen der bunten Zimmerschlüssel vom Haken. »Wir hätten Sie auch vom Flughafen abholen können. Unseren Gästen steht ein kostenloser Shuttleservice zur Verfügung. Und einen Wagen hätten Sie ebenfalls bei uns im Hotel mieten können. Das wäre sogar günstiger gewesen.« Julians Vater warf seiner Frau einen Blick zu, den sie geflissentlich übersah. Der Empfangschef winkte einen uniformierten Pagen herbei und teilte ihm die Zimmernummer mit. Dann übergab er Julians Vater den Zimmerschlüssel mit einem geübten Lächeln. »Signore! Willkommen im Paradies!« 41 c l é m e n t i n e b e a u va i s Aus dem Französischen von Annette von der Weppen 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 3 21.05.2015 12:07:02 ich habe die anderen gegenüber vom café getroffen, wo sie sich gerade eine Zigarette ansteckten, morgens um acht, die erste. Die Straße schimmerte nassgrau nach dem Unwetter in der vergangenen Nacht. In den Pfützen sah man die Häuser. »Wo ist Marguerite?« »Die sitzt in Levallois fest, wegen des Streiks.« An diesem Morgen standen Florian, Anne-Laure, Gonzague, Élise und ich vor dem Café. Das Wetter war scheußlich, kalt und trüb, wir unterhielten uns in einer Wolke aus Zigarettenqualm und kondensierter Atemluft. Ich sage das noch mal ganz deutlich: Marguerite hatte nichts mit dieser Sache zu tun, wegen des Streiks. Wäre sie dabei gewesen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Wer weiß das schon. Wenn Mathieu dabei gewesen wäre, natürlich auch, aber Mathieu war nicht mehr dabei. 7 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 7 21.05.2015 12:07:02 »Seht euch diesen Wichser an«, meinte Gonzague und wies mit dem Kinn die Straße hinunter. Es war François, der eine halbe Stunde zu früh zur Schule kam, in seinen hässlichen Klamotten und den gelben Turnschuhen. Er lief auf uns zu, den Blick starr auf den Fußweg gerichtet. Er wusste, dass wir ihn beobachteten. Er hat ein Problem mit Anne- Laure, die immer ätzende Sprüche macht und ihn mit ihren hochhackigen Hirschleder-Stiefeln um einen ganzen Kopf überragt. »Lass ihn in Ruhe, der will bestimmt nur wieder in irgendeinem Winkel der Bibliothek eine Lehrerin vernaschen«, erwiderte Anne-Laure. François hatte im vorigen Schuljahr mit Madame Bonnot, der Französischlehrerin, geschlafen. Fünfzehn Jahre Altersunterschied. Seine Eltern hatten Anzeige erstattet und Bonnot wurde gefeuert. Seitdem lebt sie in Mexiko, weshalb ich manchmal denke, sie hätte das alles schon so geplant. Sie hat zwei Kinder, aber der Vater hat das Sorgerecht bekommen, ich weiß nicht, ob sie die beiden noch sieht. Gonzague sagte: »Ich habe so was von keinen Bock auf Schule!« So fängt das jedes Mal an – sobald auch nur einer von uns das sagt, ist das wie ein Gähnen, es steckt alle an. 8 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 8 21.05.2015 12:07:02 »Aber echt, ich auch nicht«, sagte Anne-Laure. Élise will dann immer noch verhandeln. »Ach kommt, wenigstens heute Vormittag gehen wir noch hin.« »Mach, was du willst«, meinte Florian, »aber ich habe die Schnauze voll. David?« »Ich bin dabei«, sagte ich. »Oder meinst du, ich habe Lust, eine Geo-Arbeit zu schreiben?« Anne-Laure ließ ihre Kippe, von Lippenstift gesäumt, auf den Boden fallen. Ein Tritt mit dem Absatz und die watteartige Füllung quoll zu beiden Seiten des Filters heraus. »Wir gehen zu dir«, sagte sie zu Florian. »Nein, mein Vater ist zu Hause.« »Wieso denn das?« »Der sitzt hier fest. Wegen des Streiks.« Anne-Laure fluchte laut. Sie flucht immer mit ganz viel Luft in der Stimme. Florian wohnt gleich um die Ecke, in einer 300-qm-Wohnung mit Terrasse und Whirlpool. Wir anderen wohnen alle etwas weiter weg. Anne-Laure lässt sich jeden Morgen von ihrer Mutter bringen, die einen Aston Martin fährt und sie immer direkt vor der Schule absetzt, weil sie ihr nicht traut; sie hat Angst, dass Anne-Laure die Schule schwänzt – zu Recht. 9 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 9 21.05.2015 12:07:02 Es fing an zu nieseln. Ganz feine Tropfen, die an unseren warmen Gesichtern abperlten. Anne-Laure und Élise hatten überall welche in den Haaren, wie Kristalle. »Wir schreiben erst noch die Geo-Arbeit«, schlug Élise vor, »und dann hauen wir ab.« »Keine Chance«, antwortete Florian unerbittlich. Und so gingen wir los in Richtung Avenue de Tourville, ohne ein bestimmtes Ziel, untermalt vom Klackern der Absätze von Anne-Laure. Eine alte Frau führte ihren Hund spazieren. In diesem Viertel sehen die alle gleich aus, derselbe Pelzmantel, die selbe blonde Föhnfrisur, dieselbe Lederleine, derselbe Hund: eine Fell-Explosion. Die Sonne ging jetzt auf, aber erst so gerade eben – das Licht war immer noch h ellgrau, und als wir die Avenue erreichten, schalteten sich mit leisem Klicken die Straßenlaternen ab. Was danach passiert ist, haben wir nicht besonders geplant, auch wenn das hinterher viele Leute behauptet haben – die Journalisten halten immer alles für überlegt, organisiert und erprobt, aber wir sind keine Terroristen. Das war alles ganz anders. Die Leute wollen immer wissen, warum, warum, warum – aber es 10 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 10 21.05.2015 12:07:02 gibt kein Warum, ist euch das noch nie passiert, dass es kein Warum gibt? So wie bei François und Madame Bonnot – manchmal gibt es einfach kein Warum. Wir sind keine Terroristen. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Élise. Niemand antwortete. Es tropfte uns in den Kragen, weil wir direkt unter den Dachvorsprüngen der Häuser entlanggingen. Eine Schar Kinder lief hüpfend an uns vorbei zur Schule, in Begleitung ihrer Eltern, aber zu dem Zeitpunkt haben wir nicht sonderlich darauf geachtet, noch nicht. Es blieben noch gut zwanzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Ein kleines Mädchen kam dicht an mir vorbei und ich sah, wie eine hellgraue Laus in ihren schwarzen Haaren herumspazierte, mal über, mal unter den Strähnen hindurch. Mir kam der Magen hoch, und ich rülpste einen Luftschwall aus, der nach Zigaretten, Milch und Cornflakes schmeckte. »Diese Gören widern mich an«, sagte ich. Wir betraten einen kleinen Park und setzten uns auf eine Bank. Wenige Meter von uns entfernt, neben einem Mülleimer, lag ein Obdachloser auf dem Boden und schnarchte. Seine roten, schorfigen Hände ragten aus einer dunkelblauen Jacke hervor, die mit Schmutzflecken und Essensresten übersät war. 11 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 11 21.05.2015 12:07:03 »Mit diesem Viertel geht es echt bergab«, bemerkte Gonzague. »Stimmt«, seufzte Anne-Laure. »Diese Penner überall, die sind wirklich furchtbar.« »Die sind wirklich furchtbar«, wiederholte ich mit hoher Stimme. »Du findest dich wohl besonders lustig, was?«, entgegnete sie, die Augenbrauen erhoben und die Nasenflügel gebläht. War einen Versuch wert. Das Wetter war wirklich schäbig an jenem Tag, auch wenn das keine Entschuldigung ist. Es war das schlimmste Wetter, das man in Paris haben kann, der Himmel hing steingrau über den Gründerzeithäusern, keine Wolken, keine Sonne, und die krallenbewehrten Bäume tröpfelten auf unsere Kapuzen herab, der Kies auf den Wegen knirschte unter unseren Schuhen, und im feuchten Dreck lagen zerknüllte Metrotickets, Zigarettenstummel und Kronkorken herum. Ein Klon der alten Frau mit Hund kam vorbei und ließ den Köter an eine der Bänke pinkeln, wo sein dampfender Strahl von der Erde verschluckt wurde. »Wir könnten zu mir gehen«, schlug Gonzague vor. »Das ist doch winzig!«, nörgelte Florian. 12 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 12 21.05.2015 12:07:03 »Nett von dir, Alter, aber hast du eine bessere Idee?« »Okay, wir gehen zu Gonz«, sagte Anne-Laure und stand auf. »Und auf dem Weg dahin holen wir uns was vom Chinesen.« »Wie kann man um diese Zeit schon Appetit auf chinesisches Essen haben?« »Das wärmen wir uns dann später auf.« Die Eltern von Gonzague leben in einem Herrenhaus an der Dordogne, deshalb haben sie hier im Viertel eine kleine Wohnung für ihn gemietet, damit er in Paris aufs Gymnasium gehen kann. Wir folgten Anne-Laure und verließen den Park durch das quietschende Tor. Und dann ist was total Bescheuertes passiert: Gonzague wollte die Straße überqueren, er ist einfach losgelaufen, ohne nach rechts oder links zu schauen, und wir hörten ein Hupen. Ein gelber Motorroller kam in voller Fahrt auf ihn zu, und die Straße war rutschig. Ein lang gezogenes Kreischen der Bremsen – und im letzten Moment machte der Roller einen Schlenker und wich Gonzague aus. Der Rollerfahrer trug einen Helm, aber sein Hals und seine Hände waren zu sehen, und Gonzague hat ihm den Stinkefinger gezeigt: 13 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 13 21.05.2015 12:07:03 »Kannst du nicht aufpassen, du dreckiger Gorilla?« »So ein Arschloch!«, brüllte Florian, als der Roller schon um die nächste Ecke bog. Dann haben wir alle die Straße überquert, und Anne-Laure ist auf Gonzague zugerannt: »Alles okay, Gonz? Mann, hab ich mich erschrocken!« Gonzague schüttelte den Kopf, er biss sich auf die Lippen und seine Hände zitterten. Er sagte: »Geht schon. Mir würde es allerdings noch besser gehen, wenn hier nicht so viele dreckige Neger unterwegs wären, die alle nicht fahren können.« Ich musste kurz schlucken, denn das war typisch für Gonzague, der sagt ständig solche Sachen, die man eigentlich nicht sagen darf. »Aber du bist doch auch einfach rübergerannt«, sagte Élise. »Na und? Habe ich in meinem Land etwa nicht das Recht, über die Straße zu gehen, wo ich will?« Er kochte vor Wut. Seine austerngrauen Augen schimmerten feucht, er hatte seine Stirn in Falten gelegt, wodurch sich ein weißlicher Strich über seiner Nase bildete. »He, jetzt mal ganz ruhig«, sagte ich. »Das ist doch kein Grund, diesem Typen die Schuld zu geben.« 14 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 14 21.05.2015 12:07:03 »Ach halt’s Maul, David«, erwiderte Florian. »Immer musst du alle in Schutz nehmen. Du bist echt ein Weichei.« Auch später hat man mich in dieser Sache immer als den Harmlosen dargestellt, den Sensibelsten der Truppe. Man hat gesagt, wenn ich mehr Einfluss auf die anderen gehabt hätte, wäre das alles nicht passiert, aber das stimmt, glaube ich, nicht. Hätte ich mehr Einfluss gehabt, hätte ich trotzdem genau das Gleiche gemacht. »Nur wegen solcher Typen wie dir trauen sich diese Schweine immer noch, hier wie die Irren durch die Gegend zu heizen«, sagte Anne-Laure und blickte mich starr an. »Wow, ist ja wieder eine super Stimmung«, meldete sich Élise zu Wort. »Ich weiß echt nicht, warum ich mich noch mit euch abgebe, ihr seid immer nur schlecht drauf und schreit euch an. Ich gehe zur Schule zurück. Ihr kotzt mich an.« Sie wandte sich zum Gehen und ihre winzigen weißen Turnschuhe platschten in eine Pfütze. Sie fluchte, und dann drehte sie sich wieder um, und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ihr kotzt mich an«, wiederholte sie. Anne-Laure steckte sich wieder eine Zigarette 15 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 15 21.05.2015 12:07:03 an, mit gespielter Ruhe, doch die kleine Flamme am Feuerzeug zitterte. Ich ging zu Élise. Sie sah auf ihre Schuhe hinunter, die von dem schlammigen Wasser in der Pfütze blassbraun gesprenkelt waren. Die Gummispitze glänzte, und sie beugte sich nachdenklich vor und drückte mit einem Finger darauf herum, als wollte sie fühlen, wo ihr großer Zeh war. »Na los«, habe ich gesagt und ihr den Arm um die Schultern gelegt. »Komm mit, wir gehen zu Gon zague.« Sie hat nichts gesagt, nur die Augen verdreht, und dann haben wir uns auf den Weg zum Chinesen gemachte. Wir hatten alle einen Kloß im Hals. Der gelbe Roller, das Bremsmanöver. Erinnerungen kamen zurück – Bilder. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß. Beim Chinesen haben wir uns dann ein paar Gerichte geholt, Hühnchen in klebriger Ingwersoße, gebratenen Reis, Nudeln mit Gemüse, Schweinefleisch mit Zitrone. Der Verkäufer wog die leeren Schachteln ab, bevor er sie füllte, damit wir nicht auch noch die zwanzig Gramm Plastik bezahlen mussten. Das hat mich echt fertiggemacht, diese Anständigkeit, als wollte er uns eine Lehre erteilen. Ich habe ihm dann ein völlig übertriebenes Trinkgeld hingelegt, und 16 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 16 21.05.2015 12:07:03 Florian hat mich vor allen ausgelacht. Am Ausgang haben wir uns Papierservietten und Essstäbchen geholt, die wir mit einem Knacken auseinanderbrachen, und dann sind wir die ganze Straße runtergegangen und haben den Takt getrommelt wie eine Gruppe Schlagzeuger. Anne-Laure hat als Einzige nicht mitgemacht. Sie war nachdenklich. Ihr Blick verweilte auf den Auslagen der Geschäfte, sie betrachtete lauter Sachen, die sie gar nicht interessierten. Und dann roch es auf einmal nach Chlor. Wir kamen am städtischen Hallenbad vorbei, und durch die Gitter des Luftschachts stieg der Geruch zu uns auf. Ich hielt mir meine Plastiktüte unter die Nase, um stattdessen an dem Ingwerhühnchen zu riechen, aber keine Chance, der Schwimmbadgeruch drang mir in die Nasenlöcher, und mich überkam ein Anflug von Übelkeit, gemischt mit ein bisschen Schwermut, die mich in der Grundschule oft ergriff, wenn ich meine nassen und kalten Arme in den Umkleideräumen dieses Hallenbads abtrocknete. »Oh Scheiße! Mein Absatz hängt fest«, rief AnneLaure. Wir schauten alle hin – ihr Absatz steckte in dem Metallgitter des Luftschachts fest – und brachen in schallendes Gelächter aus, so unerwartet und lustig 17 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 17 21.05.2015 12:07:03 war der Anblick, wie sie da mit dem Absatz im Gitter festhing. Sie lachte noch lauter als alle anderen, während sie den Fuß mit ihrem Stiefel hin- und herdrehte, um den Absatz zu lockern, aber je mehr sie drehte, desto mehr verkeilte er sich im Gitter. Élise lachte, bis ihr die Tränen kamen, sie bückte sich, um an dem Absatz zu ziehen, der sich dann so plötzlich löste, dass Anne-Laure fast hingefallen wäre. Ich fing die beiden Mädchen auf, und wir hielten uns die Seiten; die beiden anderen Jungs wischten sich die Wangen ab. Allen tat der Bauch weh. Gonzague rief immer wieder: »Oh nein, echt! Wie bescheuert ist das denn. Ah! Ah! Ich kann nicht mehr.« Wir wollten gerade weitergehen, als wir anderes Gelächter hinter uns hörten, ein paar Oktaven höher. Es kam von einer Gruppe Kinder, die mit ihrem Lehrer und einer Begleiterin ins Hallenbad gingen. Eine ganze Woge von Köpfen zog vorbei, alle warm eingemummelt. Wir drückten uns mit dem Rücken an die Wand, um sie vorbeizulassen; der Chlorgeruch war verschwunden, vielleicht hatten wir uns auch nur schon daran gewöhnt. Während sie an uns vorüberzogen, stellte ich mir all diese mageren kleinen Körper in Badesachen vor, wie sie im Wasser herumzappel18 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 18 21.05.2015 12:07:03 ten. Was für eine Tortur, so ein Hallenbad. Allein schon dieses lauwarme Fußbad, in dem man sich bloß Warzen holt, statt saubere Füße zu bekommen. Und dann habe ich diesen Kopf wiedergesehen, ich bin sicher, dass es der gleiche war, er kam direkt auf Höhe meines Oberkörpers vorbei, und als ich hinschaute, entdeckte ich wieder eine Laus in dem schwarzen Haar. Das kleine Mädchen hing ein Stück hinter den anderen her, wir haben nie genau erfahren, warum, ich glaube, sie hat gesagt, sie hätte etwas verloren, das war jedenfalls ihre Erklärung. Vielleicht war sie auch bloß langsam. Nichts wäre passiert, hätte Florian neben mir nicht ebenfalls den Blick gesenkt und genau dasselbe gesehen wie ich. Aber mein Motto ist schließlich auch »Leben und leben lassen«, seins nicht. Er packte das Mädchen am Schal und wirbelte es mit einem Ruck zu sich herum, wie einen Fisch an der Harpune, und sagte: »Du kleines Dreckstück! Du bist ja völlig verlaust.« Gonzague und Anne-Laure traten näher, Élise und ich hielten uns eher im Hintergrund. Die Kleine sagte nichts, starrte Florian nur aus ihren tiefschwarzen Augen an – während er seine Hand immer noch fest 19 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 19 21.05.2015 12:07:03 um den roten Schal geschlossen hielt, aus dem ihr kleines, braunes Gesicht hervorsah. »Dreckstück«, zischte Florian. »Du widerst uns alle an.« Die anderen waren schon im Hallenbad verschwunden. Es war niemand mehr da, niemand kümmerte sich um die Kleine, das war schon echt verrückt, solche Knirpse lässt man doch nicht allein. Gonzague stieg gleich drauf ein: »Du ekelst uns an, mit deinen Parasiten. Verstehst du, was ich sage? Du sprechen Französisch? Du bist dreckig. Hast du das verstanden?« Das Mädchen nickte. Über ihrer Stirn tauchte eine Laus immer wieder zwischen den sorgfältig geflochtenen Zöpfchen auf und ab. Die Kleine war sechs Jahre alt, aber das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Seit einem Monat in der Grundschule. Sie hat nicht geweint, sie hatte eher diese merkwürdig lautlose Angst. »Wie heißt du?«, fragte Anne-Laure, die sorgsam Abstand hielt, um sich keine Läuse einzufangen. Mit einer jungen Frau zu sprechen, schien die Kleine ein wenig zu beruhigen, trotz des Blicks von Anne-Laure, der von kupferfarbener Kälte war. Sie murmelte: 20 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 20 21.05.2015 12:07:03 »Elikya.« Anne-Laure zog eine weitere Zigarette hervor. Sie ließ sich Zeit beim Anstecken, schnalzte gereizt mit der Zunge, wandte den Blick ab. Dann nahm sie ein, zwei Züge und erklärte: »Das ist doch kein Vorname.« »Da, wo sie herkommt, schon«, spottete Gonzague, und dann rief er mit einem starken Akzent, »Elikya! Elikya! Komm und rupf dieses fette Huhn!« Florian hielt die Kleine immer noch am Schal fest. Sie schaute nach rechts, nach links, es war niemand da. »Lass sie los, wir kriegen sonst Ärger«, sagte ich. »Wir kriegen Ärger, Flo, ihr Lehrer kommt bestimmt gleich wieder raus.« Élise streckte geistesabwesend die Hand aus, um der Kleinen die Laus von der Stirn zu pflücken, die dort Delfin spielte. Das Insekt ruderte hysterisch mit den Beinchen. Élise hielt es zwischen ihren perlmuttfarbenen Fingernägeln in der Zange. Wir traten neugierig näher. Die Laus trat ins Leere, krümmte sich. Ihr Kopf war zwischen Élises Fingernägeln versteckt. Ihr Körper war fett und voller Blut. Im nächsten Moment trennte Elise den Kopf vom Körper. Die Laus hörte auf zu strampeln, und Élise warf sie auf die Erde, durchs Gitter. Und dann sagte sie: 21 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 21 21.05.2015 12:07:03 »Die anderen müssen wir ihr auch noch entfernen.« Und Florian, als hätte er nur darauf gewartet, zog das Mädchen am Schal und wir setzten uns wieder in Bewegung. – Ja, es war Élise, die das gesagt hat, ich weiß, dass manchmal anderes erzählt wurde, aber das hier ist die Wahrheit. Was nicht heißen soll, dass die Idee allein von ihr gewesen wäre oder dass sie bei dem Rest die Führung übernommen hätte. Außerdem sind wir ja auch alle mitgegangen. Ich selber habe anfangs gedacht, das ist alles nur ein Spaß und gleich kehren wir wieder um, aber als wir dann um die nächste Ecke bogen, wurde mir klar, dass ich wohl falschlag. Und da bekam ich dann richtige Beklemmungen – so ein Gefühl, als säße mein Kopf plötzlich auf einem viel zu großen Körper, und es dauerte zehn Sekunden, bis ich mich wieder an meine Augen gewöhnt hatte, an das Dröhnen in meinen Ohren, an diese von Abgasen erfüllte Stadt. Man hat mich gefragt, wa22 210515_AD_9783551583376_Dreckstueck_Inh_A01.indd 22 21.05.2015 12:07:03
© Copyright 2024 ExpyDoc