Sich in andere hineindenken: Flucht und

Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht
Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung
Thema des Monats | September 2015
Sich in andere
hineindenken:
Flucht und Flüchtlinge
Autorinnen: Jana Mikota, Iris Wolf
Redaktion: buchwolf.com
Zielgruppe: Sekundarstufe I und II
Inhalt:
Einführung (t.1)
Sechs Romane, vier Methoden (t.2)
Literaturtipps und Links (t.3)
Anhang: Leseproben der vorgestellten
Bücher
Sich in andere hineinzuversetzen ist eine Fähigkeit, die sich durch die
Beschäftigung mit Literatur steigern lässt. Und Empathie zu entwickeln ist eine
Möglichkeit, positiv mit den aktuellen Themen Flucht und Flüchtlinge umzugehen
– anstatt mit Abwehr und Hass.
Wir stellen passende Romane und Methoden für Sekundarstufe I und II vor.
www.carlsen.de/lehrer
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Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht
Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 –
»Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer
Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge
Einführung
2
t.1
Die Themen Flucht und Flüchtlinge sind aktuell und seit Monaten in der Presse präsent. Der
gegenwärtige Kinder- und Jugendliteraturmarkt bietet hierzu zahlreiche Romane an, in denen die
Geschichten von Flüchtlingen aus deren Sicht erzählt werden. Damit werden Schülerinnen und
Schülern ohne Fluchterfahrung neue Perspektiven eröffnet.
Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung können zudem die Gelegenheit nutzen, über eigene
Erlebnisse zu sprechen – oder auch zu schweigen. Wichtig ist, dass die Betroffenen ihre persönliche Erfahrung nicht äußern müssen und dass sie nicht unfreiwillig zum Experten in Sachen
Flucht gemacht werden. Wichtig für den Umgang mit traumatischen Ereignissen ist, dass das
Leben »ganz normal« verläuft: in Ruhe aufstehen, essen, zur Schule gehen, am Nachmittag etwas
unternehmen, zur Ruhe kommen, schlafen. Auf dieser Basis kann ein Literaturunterricht, der sich
mit Flucht beschäftigt, zur vorsichtigen und vom Jugendlichen selbst gesteuerten Verarbeitung
seiner Erlebnisse beitragen.
Sechs Romane, vier Methoden
Die sechs hier vorgestellten realistischen Kinder- und Jugendromane eignen sich für das literarische Lernen und greifen Aspekte wie Perspektivenübernahmen, Empathie, subjektive Involviertheit oder Alteritätserfahrung (vgl. Kruse 2012, S. 6 f.) auf. Es ist Literatur, die zum Handeln anregt
(vgl. Thema des Monats August 2011: »Literatur, die zum Handeln anregt« ; k zum Download).
Da es sich um komplexe Romane handelt, die einen hohen Grad an Lesekompetenz verlangen,
dürfen Sie als Lehrkraft das Buch gerne vorlesen. Sie werden überrascht sein, wie viel besser anschließend die Textarbeit gelingt.
Als Einstieg in eine umfangreiche Bearbeitung der Thematik bietet sich
 Zu Hause redet das Gras von Katherine Rundell an.
Will »Wildkatze« Silver ist ein europäisches Mädchen, das frei und wild in Afrika aufgewachsen
ist und das sich gezwungenermaßen im modernen England und als Waise zurechtfinden muss.
Dadurch, dass die Protagonistin durch ihre Herkunft den deutschen Schülern gleicht, werden
die Gefühle von Fremdheit, Verlassenheit, Angst und Wut hiesigen Schülern leicht zugänglich
und können mit wenig Abwehr besetzt wahrgenommen werden. Auch für Schüler mit eigener
Fluchterfahrung bietet das Buch genügend Abstand zur vielleicht noch verletzenden traumatischen Erfahrung.
Die Kinder- und Jugendromane
 Die Zeit der Wunder von Anne-Laure Bondoux
 Vielleicht dürfen wir bleiben von Ingeborg Kringeland Hald
 Der Schrei des Löwen von Ortwin Ramadan
 Der unvergessene Mantel von Frank Cottrell Boyce
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Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 –
»Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge« © Carlsen Verlag Hamburg, www.carlsen.de/lehrer
t.2
Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge
haben dagegen kindlich-jugendliche Protagonisten, die ihr ursprüngliches Zuhause verloren haben oder die auf der Flucht sind. Die ersten beiden erzählen unmittelbar aus der Perspektive
der Geflüchteten, das dritte Buch verschränkt die Perspektiven von Flüchtenden und Einheimischen, das vierte dagegen entfaltet seine Geschichte aus der Sicht einer Schülerin, die sich um zwei
Flüchtlinge kümmert. Die Flüchtlinge in diesen vier Geschichten kommen aus dem Kaukasus,
aus Bosnien, Nigeria und der Mongolei – alles Regionen und Länder, die hierzulande allzu leicht
mit Armut und Primitivität verbunden werden. Dass das nicht der Realität entspricht, lässt sich
durch den Vergleich mit Zu Hause redet das Gras ebenso wie durch die Auseinandersetzung mit
den anderen Hauptpersonen thematisieren. So können sich Vorurteile verändern.
Einmal hier angekommen, wähnen sich viele Flüchtlinge in Sicherheit. Dass das nicht so ist,
erzählt der Roman
 Dreckstück der französischen Autorin Clémentine Beauvais
aus der Perspektive von reichen Pariser Jugendlichen, die ein kleines schwarzes Mädchen entführen und quälen. Die Gründe sind rassistisch motiviert, denn die Jugendlichen geben, obwohl
wohlhabend und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet, Migranten die Schuld an Dingen, die
ihnen nicht gefallen. Leserinnen und Leser können sich im Laufe des Leseprozesses von den Figuren, die nicht sympathisch gezeichnet werden, distanzieren.
Alle sechs Romane nähern sich unterschiedlich, sensibel und authentisch der Thematik Flucht,
Flüchtlinge und dem alltäglichen Rassismus, dem Flüchtlinge ausgesetzt sind. Um mit diesen
Texten Perspektivenübernahmen, Empathie, subjektive Involviertheit oder Alteritätserfahrung zu
ermöglichen, erscheinen folgende Methoden gut geeignet:
 Das Vorlesegespräch (Link zum Thema das Monats Juni 2015)
 Das literarische Gespräch
 Fiktive Interviews (Beispiel: Unterrichtsmodell Was vom Sommer übrig bleibt,
k.34 »Im Zug mit der Autorin«)
 Sprechblasen-Texte
Diese Methoden ermöglichen eine intensive Auseinandersetzung mit den Figuren (vgl. Thema des
Monats Mai 2013: »Literarische Bildung – Figurenanalyse« ; k zum Download).
Sie fördern das Hineindenken und -versetzen in die Lebenswelt der Figuren, also das, was Bettina
Hurrelmann als »emotionale Beteiligung« der Leserinnen und Leser auf die Gegebenheiten der
Textstruktur bezeichnet (Hurrelmann 2003, S. 8). Literarische Figuren eröffnen häufig den Zugang zu einem literarischen Text und können das Interesse sowie die Lesefreude fördern. Das passt
zu der Kompetenz »Literarische Figuren verstehen«: Hier geht es darum, Merkmale von Figuren
zu erkennen, ihre Funktion innerhalb der Handlung nachvollzuziehen, ihre Entwicklung nachzuzeichnen und die Beziehungen der Figuren untereinander zu deuten (vgl. hierzu Becker 2015a,
S. 18). Die Entfaltung des Fremdverstehens ist nach Didaktikern wie Kaspar H. Spinner einer der
wichtigsten Beiträge des Literaturunterrichts.
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Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge
Literaturtipps und Links
®
Clémentine Beauvais
Dreckstück
96 Seiten
Carlsen, Hamburg 2015
Dieser beklemmende, kammerspielartige Roman lässt niemanden unberührt: David, ein Junge aus gutem Hause,
und seine Clique schwänzen wieder einmal die Schule, als
ihnen ein kleines schwarzes Mädchen über den Weg läuft,
das offenbar Läuse hat. Einfach so, aus einer Laune heraus, nehmen sie sie mit, um sie
in der Wohnung eines der verwöhnten Jugendlichen zu entlausen. Doch dann läuft
die Situation immer mehr aus dem Ruder. Der ganze Überdruss, die Arroganz und der
aufgestaute Hass der Jugendlichen entlädt sich nun an diesem kleinen Mädchen – und
niemand hat den Mut, das grausame Spiel zu beenden …
®
Anne-Laure Bondoux
Die Zeit der Wunder
192 Seiten
Carlsen, Hamburg 2011, 2013
k Zum Download des Unterrichtsmodells
»An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre
alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen.
Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto
in meinem Pass wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter
kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und
nahmen mich mit. So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an der Autobahn
A4, als mir klar wurde, dass ich allein im Land der Menschenrechte würde zurechtkommen
müssen.«
Die Geschichte des Jungen Koumaïl, der aus den Kriegswirren des Kaukasus bis nach
Frankreich flieht und nie den Mut und den Glauben an das Glück verliert. Und ein
Buch darüber, wie weit Träume tragen.
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t.3
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5
t.3
®
Frank Cottrell Boyce
Der unvergessene Mantel
112 Seiten
Carlsen, Hamburg 2012, 2015
k Zum Download des Unterrichtsmodells
(ab Februar 2016)
Julie soll sich ein bisschen um den Neuen in ihrer Klasse kümmern: Dschingis, ein
Flüchtlingskind aus der Mongolei. Schließlich hat er keine Ahnung, wie man Fußball
spielt, was man zum Schwimmen mitnimmt, und dass man nicht den ganzen Tag in
einem Fellmantel herumläuft. Dafür weiß Julie bald alles über die Mongolei, dass dort
Riesenblumenbäume wachsen, dass man Adlern dort eine Mütze aufsetzt, um sie zu
beruhigen, und wie warm ein Fellmantel ist. Doch dann, eines Nachts, werden Dschingis
und seine Familie abgeholt ...
®
Ingeborg Kringeland Hald
Vielleicht dürfen wir bleiben
112 Seiten
Carlsen, Hamburg 2015
k Zum Download des Unterrichtsmodells
(ab Dezember 2015)
Obwohl seine Flucht aus Bosnien schon fünf Jahre her ist, kann sich Albin noch genau
an alles erinnern: an die Soldaten vor der Haustür, an das Blut auf dem Küchenfußboden, an den tagelangen Marsch durch den Wald, die Hitze und den Durst. Jetzt ist Albin
elf und lebt in einem sicheren Land, doch wieder ist er auf der Flucht. Um die drohende
Abschiebung seiner Familie zu verhindern, ist er abgehauen und versteckt sich in einem
fremden Auto, das den Großeltern von Amanda und Lisa gehört. Die Vier sind auf dem
Weg in die Ferien …
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Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 –
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Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge
6
t.3
®
Ortwin Ramadan
Der Schrei des Löwen
288 Seiten
Carlsen, Hamburg 2011
k Zum Download des Unterrichtsmodells
Der 16-jährige Yoba und sein kleiner Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria
in Westafrika. Als Yoba einen Auftrag für den örtlichen Gangsterboss erledigt und plötzlich in den Besitz einer Tasche mit Geld gelangt, ist das ihre große Chance: Sie fliehen
und lösen bei einem Menschenschleuser ein Ticket nach Europa. Wie so viele andere
wollen sie es auf eines der Flüchtlingsboote nach Sizilien schaffen. Doch der Weg dorthin ist lang - und viel gefährlicher als gedacht. Der Roman vermittelt in 45 Kapiteln ein
erschütterndes Bild von inhumanen Zuständen und stellt sich den komplexen Fragen
der globalen Verantwortung in der heutigen Zeit, ohne fertige Antworten zu bieten. Im
Nachwort wird durch konkrete Zahlen des UNHCR eine klare Verbindung zwischen
fiktiver Handlung und der Realität hergestellt. Es ist ein Roman über das Prinzip Hoffnung jenseits aller Hoffnungslosigkeit und über die Macht der Bruderliebe. »Der Schrei
des Löwen« ist ein wichtiges und ein ungemütliches Buch.
®
Katherine Rundell
Zu Hause redet das Gras
256 Seiten
Carlsen, Hamburg 2012, 2015
k Zum Download des Unterrichtsmodells
Die Welt von Wilhelmina ist golden, frei und ungebunden. Mit ihrem Vater lebt sie
auf einer Farm in Simbabwe und hat, wie sie selbst sagt, alles. Aber nach dem Tod ihres
Vaters muss Will fort, weil die Farm verkauft werden soll. Sie wird nach England ins
Internat geschickt. Und die Mädchen dort sind schlimmer als Löwen oder Hyänen. Will
möchte am liebsten weglaufen. Und das tut sie auch. Sie versteckt sich im Zoo und trifft
dort auf Daniel. Ihm und seiner resoluten Großmutter vertraut Wilhelmina und lässt
sich am Ende von ihnen überzeugen, doch zurück ins Internat zu gehen und sich dort
ihrem neuen Leben zu stellen.…
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Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge
WEITERFÜHRENDE KINDER- UND JUGENDLITERATUR
Gleitzman, Morris
Einmal
Carlsen 2009, 2013
Keyserlingk, Linde von
Sie nannten sie Wolfskinder
Carlsen 2011
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Becker, Susanne Helene (2015a)
Warum wurdest du eigentlich erfunden?
In: Deutsch: Unterrichtspraxis für die Klassen 5 bis 10, H. 43, S. 16–19
Becker, Susanne Helene (2015b)
Das Potential von Gesprächen für das literarische Lernen
In: Deutsch: Unterrichtspraxis für die Klassen 5 bis 10, H. 43, S. 30–32
Hurrelmann, Bettina (2002)
Literarische Figuren. Wirklichkeit und Konstruktivität
In: Praxis Deutsch, H. 177, S. 4–12
Kruse, Iris (2012)
Realistische Kinderliteratur und literarisches Verstehen
In: Grundschulunterricht: Deutsch. H. 1, S. 4–7
INTERNETLINKS*
http://www.bpb.de/shop/lernen/thema-im-unterricht/36913/methoden-kiste
http://www.friedenspaedagogik.de/themen/gewalt_an_schulen/amoklauf_an_schulen/
umgang_mit_traumatischen_gewalterlebnissen
https://www.duesseldorf.de/schulpsychologie/pdf/trauma.pdf
* letzter Abruf: 17.08.2015
Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung – zusammengestellt im Auftrag des Carlsen Verlags von Iris Wolf
© 2015 Carlsen Verlag GmbH Hamburg
Redaktion: Iris Wolf; buchwolf.com
Layout und Gestaltung: Elke Junker
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t.3
Carlsen in der Schule · Ideen für den Unterricht
Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung
Thema des Monats | September 2015
Sich in andere
hineindenken:
Flucht und Flüchtlinge
Leseproben zum Einstieg in das
Thema »Flucht und Flüchtlinge«
Einführung: Iris Wolf
Zielgruppe: Sekundarstufe I und II
Inhalt:
 Einführung
 Leseproben:
Zu Hause redet das Gras | Die Zeit der
Wunder | Vielleicht dürfen wir bleiben |
Der unvergessene Mantel | Der Schrei des
Löwen | Dreckstück
Hier finden Sie Auszüge aus sechs Romanen, die sich unterschiedlich, sensibel und
authentisch der Thematik Flucht, Flüchtlinge und alltäglicher Rassismus, dem
Flüchtlinge ausgesetzt sind, nähern.
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Thema des Monats: September 2015 – Sich in andere hineindenken: Flucht und Flüchtlinge – Leseproben
Einführung
Die folgenden sechs Romane nähern sich unterschiedlich, sensibel und authentisch der Thematik
Flucht, Flüchtlinge und alltäglicher Rassismus, dem Flüchtlinge ausgesetzt sind. Sie finden hier
jeweils Kapitel eins bzw. Teile anderer Kapitel.
In den folgenden Auszügen werden die Protagonisten der Geschichten, überwiegend Flüchtlinge
und Migranten, vorgestellt:
 Wilhelmina Silver in Zu Hause redet das Gras (Katherine Rundell)
 Blaise Fortune in Die Zeit der Wunder (Anne-Laure Bondoux)
 Albin in Vielleicht dürfen wir bleiben (Ingeborg Kringeland Hald)
 Juli, Dschingis und Nergui in Der unvergessene Mantel (Frank Cottrell Boyce)
 Yoba und Julian in Der Schrei des Löwen (Ortwin Ramadan)
 Florian, Anne-Laure, Gonzague, Élise, David und Elikya in Dreckstück (Clémentine Beauvais)
Zum Einstieg in eine Unterrichtseinheit zum Thema Flucht in der Sekundarstufe I können Beschreibungen der Protagonisten angefertigt werden, auch Collagen oder Bilder könnten entstehen.
Es bietet sich an, die Auszüge vorzulesen, auch als Lehrkraft. Anschließend suchen sich die Schüler
aus, welchen Roman sie gemeinsam oder welche Romane sie allein lesen wollen.
Dabei bildet Dreckstück eine Ausnahme, weil es hier um Rassismus und nicht primär um Flucht
geht. Dieser Titel ist ab Klasse 10 und für die Oberstufe geeignet.
Zu den Romanen gibt es bereits Unterrichtsmodelle, oder sie entstehen gerade. Abonnieren Sie
den Lehrernewsletter des Carlsen Verlags unter https://www.carlsen.de/lehrer, dann erhalten Sie
die entsprechende Nachricht automatisch:
Zu Hause redet das Gras (k zum Download des Unterrichtsmodells)
Die Zeit der Wunder (k zum Download des Unterrichtsmodells)
Vielleicht dürfen wir bleiben (k zum Download des Unterrichtsmodells /ab Dezember 2015)
Der unvergessene Mantel (k zum Download des Unterrichtsmodells /ab Februar 2016)
Der Schrei des Löwen (k zum Download des Unterrichtsmodells)
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Methoden für Deutschunterricht und Leseförderung. Thema des Monats: September 2015 –
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Katherine Rundell
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
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EINS
Manche Häuser hatten Glas in allen Fenstern und Schlösser in den Türen. Das wusste Wilhelmina.
Das Farmhaus, in dem sie lebte, war kein solches Haus.
Wenn es einen Haustürschlüssel gab, hatte sie ihn nie gesehen. Vermutlich war er von den Ziegen gefressen worden, die immer wieder in die Küche kamen. Das Haus
stand am Ende des längsten aller Feldwege in der heißesten Ecke Simbabwes. Wilhelminas Schlafzimmerfenster
war eine quadratische Öffnung in der Wand. Während der
Regenzeit nähte sie Plastiktüten zusammen, die sie in den
Rahmen spannte. Während der Hitzeperiode wehte Staub
herein.
Vor einigen Jahren hatte sich ein Besucher der Farm bei
Wilhelmina nach ihrem Fenster erkundigt.
»Dein Vater kann sich doch bestimmt eine Fensterscheibe leisten.«
»Ich mag Staub und Regen«, hatte sie erwidert. Aus
Staub und Regen wurde Matsch. Und Matsch bot jede
Menge Möglichkeiten.
Dieser rötliche Staub bedeckte all die unbefestigten
Feldwege der Farm, auf denen Captain Browne, der Besit5
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zer, täglich unterwegs war. Ebenso wie William Silver, der
Verwalter der Farm. Und Wilhelmina, sein einziges Kind,
die jeden Tag auf ihnen ausritt.
Wilhelmina war ein besserer Reiter als jeder Junge auf
der Farm. Wenn man das Reiten vor dem Laufen lernte,
war das in etwa so, als würde man unter Wasser aus einer
Colaflasche trinken oder kopfüber in einem Baobab-Baum
hängen – es war verwirrend und berauschend. Das hatte
Wilhelminas Vater immer gewusst, und deshalb huschte
sie von Anfang an unter Pferden durch, rutschte auf Pferdeäpfeln aus, und wenn sie von Pferdebremsen gestochen
wurde, riss sie an ihren langen dunklen Haaren. Die Stallburschen, die am Rande der Farm in den Strohdachhütten
wohnten, weinten nie, wenn sie gestochen wurden, sondern fluchten höchstens lachend und lässig auf Shona:
Ach, booraguma! Wilhelmina war überzeugt, dass sie aus
dem gleichen Holz geschnitzt war wie diese Burschen.
Außerdem war sie schneller als jeder gleichaltrige Junge.
Und sie war noch viel mehr. Wenn die Farmarbeiter abends
über sie sprachen, mussten sie ein »und« an das andere
reihen, um ihr Wesen in Worte zu fassen: Will war dickköpfig, sha, und nervend und ungestüm und ehrlich und
aufrichtig.
Will hockte im Morgenlicht des späten Oktobers auf dem
Fußboden und rührte in einem Topf mit Methylalkohol
und Wasser. Wenn man die Füße mit diesem Gemisch einrieb, wurde die Haut so zäh wie lebendige Schuhsohlen.
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Im großen Wohnzimmer standen sechs bunt zusammengewürfelte Stühle, aber Will saß lieber auf dem Boden.
Dort hatte sie mehr Raum. Zwischen Wills Augen war viel
Raum, und zwischen ihren Zehen war viel Raum. Überhaupt zeichnete sie sich besonders durch Weiträumigkeit
aus. Sie wusste, dass sie auch so sprach – mit ausgedehnten Pausen und so langsam wie an afrikanischen Nachmittagen üblich.
Will hörte Huftritte und hungriges Wiehern. Das war
William Silver, der von seinem frühmorgendlichen Ritt
über die Ländereien der Farm zurückkehrte. In diesem
Teil von Simbabwe standen alle zeitig auf. Die meiste Arbeit musste vor dem Mittag getan sein, und der Oktober
war der heißeste Monat überhaupt. Die Straßen schmolzen zu einer Teersuppe, in der Vögel stecken blieben.
Will spürte, dass die Wohnzimmertür geöffnet wurde,
noch bevor sie dies sah. Das bärtige Gesicht ihres Vaters
erschien. Sie freute sich unbändig über seine Rückkehr
und sprang schnell und geschmeidig und mit einem Satz
auf. Sie warf sich in seine Arme und schlang die Beine um
seine Hüften. »Dad!«
»Guten Morgen, Wildkatze.«
Will drückte ihr Gesicht gegen den Nacken ihres Vaters.
»Guten Morgen, Dad«, sagte sie gedämpft. In Gegenwart
von Männern war Will meist angespannt, weil sie eine
Mischung aus Bewunderung und Argwohn in ihr weckten, und sie hielt immer ein paar Schritte Abstand. Sie gab
fremden Männern ungern die Hand und verabscheute
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es, ihre Haut zu spüren. Aber bei ihrem Dad war das
anders.
»Wolltest du heute nicht einen Ausflug machen?«,
fragte William.
»Ja, bald. Aber ich wollte dich noch sehen, Dad. Ich
habe dich vermisst.« Will hatte die letzte Nacht im Baumhaus verbracht, in der Weite der Nacht und an der frischen
Luft, und bei der Heimkehr ihres Vaters hatte sie schon geschlafen. Manchmal bekamen sie einander tagelang nicht
zu Gesicht, doch sie fand, dass das Wiedersehen dann
noch beglückender und prickelnder war. »Aber jetzt …«
– sie ließ sich fallen – »… jetzt kann ich los, ja. Ich habe
Shumba noch nicht gefüttert, und Simon wartet sicher
schon auf mich.« Sie drehte sich in der Tür noch einmal
um, weil sie etwas sagen wollte, das ausdrückte, wie sehr
sie ihren Vater liebte. Und sie liebte ihn abgöttisch.
»Faranuka, Dad!« Faranuka. Will sprach gut Shona, und
Faranuka hieß so viel wie »sei glücklich«.
Simon wartete tatsächlich schon. Er war Wills bester
Freund, obwohl die beiden eigentlich wie Feuer und Wasser waren: Sie war eine kantige streunerhafte Weiße, er ein
großer und behänder farbiger Junge. Es war keine Liebe
auf den ersten Blick gewesen. Als Simon mit dem Zug
angekommen war, um auf der Farm zu arbeiten, hatte Will
ihn nur einmal angeschaut und mit der Gewissheit einer
Sechsjährigen verkündet, dass sie ihn nicht möge, nein,
denn er sei ein »Waschlappen«. Das lag an Simons großen
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Babyaugen mit den absurd langen Wimpern. Sie wirkten
wie sanfte und vertrauensvolle Teiche voller Tränen, die
nur darauf zu warten schienen, endlich zu fließen.
Aber Will begriff schon bald, dass Simon lebhaft, ungestüm und großartig und alles in allem ein Beweis dafür
war, wie sehr der erste Eindruck täuschen konnte. Ja,
sie wusste inzwischen, dass Simon ein Wirbelwind von
Junge und die Geißel der Ställe war. Sein raues Lachen
war viel zu tief für sein Alter, und er war so langgliederig
und zappelig, dass er immer wieder Tassen oder Teller
zerbrach. Auf Grund seiner Abneigung gegen die Blechbadewanne und seiner Vorliebe für den weichen, sappschenden Matsch Simbabwes roch er unverkennbar. Will
fand, dass er nach Staub, Pflanzensaft und Pökelfleisch
duftete.
Simon wiederum fand, dass Will nach Staub, Pflanzensaft und Pfefferminz duftete.
Weil die beiden so grundlegende Gemeinsamkeiten
hatten – vor allem den Duft nach Pflanzensaft, aber auch
die großen Augen und ungelenken Gliedmaßen –, war
es unvermeidlich, dass sie sich mit sieben sozusagen ineinander verliebten und nach ein paar Jahren nicht nur
enge Freunde, sondern unverbrüchlich miteinander verbunden waren.
Simon hatte Will beigebracht, ihr Pferd noch kurz vor
der Farm zu einem Galopp anzuspornen und zu schreien:
»Hey! Hey-ja! Na los, du Schnecke!« Außerdem hatte er
ihr beigebracht, sich unter den Pferdehals zu schwingen
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und kopfüber zu reiten. Dann waren ihre Haare voller
Staub, und die Wangen drückten gegen ihre Augen.
Sie lehrten einander ihre Sprache. Er lernte Englisch,
wie es in Simbabwe gesprochen wurde, sie die Grundlagen
seines Chikorekore-Shona, wobei sie vor Anstrengung die
Zunge durch die Lippen schob. Sie zeigte ihm, wie man
minutenlang unter Wasser schwimmen konnte. Der Trick
bestand darin, langsam einzuatmen. Man durfte es nicht
hastig tun, sondern geduldig und mit gespitzten Lippen,
als würde man durch einen Strohhalm trinken. Ihre Füße
wurden dunkelbraun und hornig, weil sie immer barfuß
über die Felder lief, und unter den Nägeln saß Dreck.
Simon wohnte seit dem letzten Dezember mit seinem Bruder Tedias in den Lehmziegelhütten am Rand der
Two Tree Hill Farm. Der Name, hatte Captain Browne gesagt, während er mit tabakgrünen Fingern eine Zigarette
gedreht hatte, sei ein schlechter Scherz. Auf dem Two Tree
Hill standen nämlich Hunderte von Bäumen, so viele,
dass man den Hügel kaum noch sah. Genau genommen,
hatte er erklärt, müsse die Farm einfach Tree Farm heißen.
Oder Tree-Tree-Tree-Tree-Tree-Farm.
Ha, ha, Captain Browne.
Aber es gab natürlich auch Lichtungen mit braunem
Gras und schimmernder Hitze und Ameisenhaufen, und
über eine solche lief Will gerade. Sie ließ die Hacken gegen
ihren Hintern knallen und trällerte vor sich hin. Sobald
sie in Rufweite von Simons Lehmziegelhütte war, stieß sie
ihren besten Shona-Ruf aus.
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Anne-Laure Bondoux
Die
n er
Zeitt der Wund
Aus dem Französischen von Maja von Vogel
E ins
Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen
Republik. Das ist die reine Wahrheit.
An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen
fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen, und ich konnte nur immer wieder
diesen einen Satz sagen:
»Ichheißebläsfortünuntichbinbürgaderfranzöschenrepublikdasisdiereinewaheit.«
Ich hatte fast all meine wertvollen Dinge unterwegs verloren. Zum Glück war mein Reisepass noch da. Gloria hatte
ihn an der Tankstelle tief in meine Jackentasche gesteckt. Die
Angaben darin besagten, dass ich am 28. Dezember 1985 in
Mont-Saint-Michel geboren wurde, direkt am Ärmelkanal,
Seite 16 im grünen Atlas. Da stand es, schwarz auf weiß. Das
Problem war mein Foto: Es war herausgerissen und später
wieder eingeklebt worden. Obwohl Monsieur Ha sich alle
Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto
wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich
ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles
erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen
und nahmen mich mit.
So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an
der Autobahn A4, als mir klar wurde, dass Gloria verschwun5
den war und ich im Land der Menschenrechte und Charles
Baudelaires ohne sie würde zurechtkommen müssen.
Danach verbrachte ich einige Zeit in einem Durchgangslager, und dann in einem Erstaufnahmezentrum. Frankreich
war nichts als eine Folge von Mauern, Gittern und Türen.
Ich schlief in Schlafsälen, die mich an den Dachboden des
Matachine erinnerten, nur dass es kein Dachfenster gab, durch
das man die Sterne sehen konnte. Ich war ganz allein auf
der Welt. Trotzdem durfte ich nicht zulassen, dass die Verzweiflung meine Seele zerfraß, bis nichts mehr übrig war.
Außerdem musste ich nach Mont-Saint-Michel, um meine
Mutter zu finden. Das war leicht zu erklären, aber ich k­ onnte
die Sprache nicht. Ich konnte weder vom Schrecklichen Unglück berichten noch von den Widrigkeiten des Lebens, die
mich hierhergeführt hatten. Und nicht davon erzählen zu
können fühlte sich an, als würde ich ersticken.
Heute ist das anders. Im Lauf der Jahre habe ich die Namen
der Dinge gelernt und kann mit Verben, Adjektiven, Konjunktionen und Konjugationen umgehen. In meiner Tasche
steckt ein neuer Reisepass, der den Gesetzen dieser Welt entspricht.
Vor kurzem habe ich einen Brief von der französischen
Botschaft in Tiflis bekommen. Darin stand, sie hätten vielleicht Glorias Spur gefunden. Darum sitze ich jetzt hier in
der Abflughalle des Flughafens Roissy-Charles-de-Gaulle mit
einem Koffer, einem schweren Herzen und der verrückten
Hoffnung, sie endlich wiederzusehen. Aber zuerst muss ich
meine Gedanken ordnen.
Also: Ich heiße Blaise Fortune. Ich bin Bürger der Franzö6
sischen Republik, habe jedoch die ersten zwölf Jahre meines
Lebens im Kaukasus verbracht, zwischen dem Schwarzen
und dem Kaspischen Meer, Seite 78 in meinem grünen Atlas. Damals sprach ich russisch und die Leute nannten mich
Koumaïl. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber eigentlich
ist es ganz einfach. Ich muss nur meine Geschichte erzählen.
Die ganze Geschichte. Und zwar der Reihe nach.
7
Zwei
Meine ältesten Erinnerungen reichen ins Jahr 1992 zurück,
als Gloria und ich mit anderen Flüchtlingsfamilien im Großen Haus wohnen. Ich weiß nicht mehr, wie die Stadt heißt.
Ich bin sieben Jahre alt. Es ist Winter, und wir haben keinen
Strom mehr, auch keine Heizung. Es herrscht Krieg.
Es riecht nach Waschpulver und Essig.
Die Frauen haben sich in der Mitte des Hofes um einen riesigen Blechzuber versammelt, unter dem Holzscheite brennen.
Ihre Arme sind nackt, die Haut bis zu den Ellbogen gerötet.
Sie reden und lachen sehr laut. Eine Dampfwolke steigt auf
und beschlägt die Fensterscheiben des Hauses, während die
Wäsche im Schaum unseres Schmutzes kocht.
Etwas abseits, unter dem Vordach, sitzt der schreckliche
Sergueï und schärft sein Rasiermesser. Ritsch, ratsch.
Er ruft uns, einen nach dem anderen.
»He, du! Komm her!«
Der schreckliche Sergueï kennt unsere Vornamen nicht.
Es gibt zu viele Kinder im Haus, und das Gedächtnis des
Säufers ist müde. Er ruft nur »Du!« und zeigt mit dem Rasiermesser auf einen von uns. Niemand würde wagen, ihm nicht
zu gehorchen, solche Angst macht er uns mit seinem verdrehten Auge und der platten Nase.
Bevor er Friseur wurde, war der schreckliche Sergueï Boxer,
angeblich der beste der ganzen Stadt. Bis zu dem Tag, an dem
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ein nervöser Armenier ihn auf die Bretter schickte. Das war vor
dem Krieg. An diesem Tag hat Sergueï dem Tod ins Auge geblickt, hat Gloria gesagt. Darum ist er anders als die anderen
und verdient unseren Respekt. Also laufe ich schnurstracks unter das Vordach, als er mit seinem Rasiermesser auf mich zeigt.
Ich setze mich auf den dreibeinigen Hocker, mit dem Rücken zu ihm, und neige mit klopfendem Herzen den Kopf
nach hinten. Sergueïs Rasiermesser hinterlässt kalte Furchen
auf meinem Schädel, er bearbeitet ihn systematisch, bis alle
Haare gefallen sind und über die Pflastersteine tanzen. Dann
taucht der schreckliche Sergueï ein Handtuch in das Fass mit
Essig und rubbelt mir damit den Kopf ab. Es brennt. Ich heule. Er schubst mich vom Hocker.
»Lauf zu deiner Mama, Rotznase!«
Ich richte mich auf, geschoren und von einem diffusen
Schmerz erfüllt, laufe zu Gloria und schmiege mich in ihren
Rock. Sie ist nicht meine Mutter, das weiß ich wohl, aber ich
habe nur sie.
»Großartig!«, ruft sie und fährt mir mit ihren schaumigen
Händen über den Kopf.
Ich sehe sie an. Sie beugt sich zu mir hinunter und küsst
mich auf die Wange. Dabei murmelt sie: »Sie sehen wirklich
hervorragend aus, Monsieur Blaise.«
Ich lächle unter Tränen. Ich finde es so schön, wenn sie
mich »Monsieur Blaise« nennt, auf Französisch, so dass es
niemand versteht.
»Geh spielen, Koumaïl«, sagt sie laut. »Ich bin beschäftigt, das siehst du doch.«
Ich wische mir über die Augen und laufe zu den übrigen
geschorenen Kindern, die im Hof spielen.
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Das Waschpulver, das Lachen, das Rasiermesser, der Essig … So verläuft unser ständiger Kampf gegen Läuse, Flöhe
und alle anderen Parasiten, einschließlich den laut Gloria
fürchterlichsten: die Verzweiflung. Dieser Schmarotzer, sagt
sie, ist gerissener und gefährlicher als der Armenier, der Sergueï verprügelt hat. Er ist unsichtbar und schleicht sich überall ein. Wenn du nichts dagegen unternimmst, frisst er deine
Seele auf, bis nichts mehr übrig ist. Das macht mir Sorgen:
Woran merkt man, dass man von Verzweiflung befallen ist,
wenn man sie nicht einmal sehen kann? Was tut man dagegen,
wenn nicht einmal das Rasiermesser hilft? Gloria drückt mich
an ihre Brust. Sie erklärt mir, dass sie ein Gegenmittel hat.
Solange ich in ihrer Nähe bleibe, wird mir nichts Schlimmes
passieren, o. k.?
»O. k.«
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Ich ziehe meine Mütze bis fast über die Augen und den
Reißverschluss der Steppjacke bis übers Kinn. Springe auf
die Straße und strecke den Arm raus. Der Bus hält an.
Äußerlich bin ich ganz cool. Aber vielleicht liegt das auch
daran, dass ich zu lange im frostigen Wald gehockt habe.
Den Fahrer kenne ich zum Glück nicht. Er nimmt meine
Buskarte, sieht sie an und gibt sie mir mit einem Lächeln
zurück, als die Türen hinter mir zugleiten.
Ist er einfach nur nett, oder war das ein hinterhältiges Lächeln? Vielleicht denkt er ja: Bürschchen, ich sehe dir doch
an, dass du abgehauen bist. Warte nur, bis du dich hingesetzt hast. Dann verriegel ich die Türen und ruf die Polizei.
Ich überlege, ob ich sagen soll, dass ich doch lieber wieder aussteigen will, aber der Busfahrer beachtet mich gar
nicht. Er legt den Gang ein und setzt den Blinker. Der Bus
protestiert ächzend, als er Gas gibt, und ich stehe wie festgenagelt auf der Gummimatte im Mittelgang.
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»Bitte setz dich, bevor du fällst und dir wehtust«, sagt er,
ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
Ich schaffe es, meine Füße loszureißen, und torkele
durch den Gang nach hinten, als der Bus auf die Fahrbahn
schwenkt.
Außer mir sitzen noch ein alter Mann und zwei Mädchen
in dem Bus. Ich kenne keinen von ihnen.
Der alte Mann schläft. Seine Augen sind ganz eingesunken in das runzelige Gesicht. Die Mädchen sehen mich an,
als ich vorbeigehe.
Die Jüngere lächelt. Ihr Haar glänzt in der Sonne.
Ich will das Lächeln erwidern, kriege es aber nicht hin.
In meinem Bauch hat sich ein fester Knäuelball gebildet,
der jeden Moment aus meinem Bauch raus durchs Fenster
auf die Straße zu hüpfen droht.
Nicht ich beschließe, mich hinter die Mädchen zu setzen,
sondern der Bus, als er durch ein Schlagloch fährt.
»Hast du dich als Weihnachtsbaum verkleidet? Es ist
doch noch gar nicht Weihnachten.« Die Jüngere versucht,
ihren Kopf durch die Lücke zwischen den Rückenlehnen
zu quetschen.
Als Weihnachtsbaum verkleidet?
So eine blöde Frage.
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Noch kann ich mir vielleicht unauffällig einen anderen
Platz suchen.
Es hat ja jeder gesehen, dass ich unfreiwillig auf ausgerechnet diesen Platz geschleudert wurde.
Das Knäuel in mir will sich einfach nicht lösen, egal wie
tief ich in den Bauch atme.
Mama hat gesagt, man soll tief in den Bauch atmen, wenn
man Angst hat. Und dass man den Bauch kreiselnd massieren soll, gegen den Uhrzeigersinn.
Aber ich kann mir doch hier nicht den Bauch massieren.
Das sähe ja wohl völlig idiotisch aus. Noch idiotischer, als
sich im Oktober als Weihnachtsbaum zu verkleiden.
Ich versuche es mit dem Atmen und knete unauffällig
meinen Bauch, aber der Knoten löst sich nicht.
»Ich frag nur, weil du einen Tannenzweig mit Zapfen an
der Mütze hast.«
Ein Auge wird zwischen den Rückenlehnen sichtbar.
»Ich heiße Lisa und meine Schwester heißt Amanda. Sie
ist zwölf. Ich bin sechs. Wie heißt du? Wir wollen Oma und
Opa besuchen. Wo willst du hin?«
Bevor ich antworten kann, zieht die große Schwester
Lisa zurück auf ihren Platz und faucht sie an.
»Du darfst nicht mit Fremden reden. Oder verraten, wie
wir heißen. Und erst recht nicht, wo wir hinfahren.«
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An meiner Mütze hängt wirklich ein Tannenzweig. Ein
ziemlich großer sogar. Kein Wunder, dass Lisa meint, ich
sähe aus wie ein Weihnachtsbaum. Vielleicht hat der Busfahrer deshalb so gegrinst.
Aber vielleicht auch wegen ganz was anderem.
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Der warme Wind kitzelt mich im Gesicht. Ich galoppiere um den
Hofplatz. Runde um Runde.
Weit entfernt auf der Hauptstraße ist eine Staubwolke zu sehen.
Papa bremst mitten im Galopp ab.
»Hüaaa! Lauf weiter, mein Pferd«, rufe ich.
»Warte kurz, Albin«, sagt das Pferd.
Es legt die Hand über die Augen, um in der grellen Sonne besser
sehen zu können. Die Militärfahrzeuge in der Staubwolke werden
immer kleiner, bis sie ganz verschwunden sind.
Mein Pferd setzt sich langsam wieder in Bewegung. Das Pferd ist
natürlich Papa. Für mich gibt es nichts Schöneres, als auf seine
Schultern klettern zu dürfen und herumzugaloppieren. Wie jetzt.
Papa ist groß und stark wie ein Pferd. Seit er seine Arbeit in der
Fabrik verloren hat, hat er mehr Zeit, Pferd zu spielen.
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Mama steht schon seit dem Frühstück im Gemüsebeet, den Po in
die Luft gestreckt. Sie zupft Unkraut. Alles Gemüse, das bei uns
auf den Tisch kommt, hat sie selber angebaut. Sie richtet sich auf
und winkt Papa und mir zu. Sie ruft etwas. Wir können nicht hören, was sie sagt, aber sie legt eine Hand auf ihren dicken Bauch.
Das Pferd bleibt so abrupt stehen, dass ich um ein Haar runtergefallen wäre.
»Was hast du gesagt«, ruft Papa erschrocken zu ihr rüber.
»Hast du Wehen?«
Mama lacht und schüttelt den Kopf.
»Der Bauch ist beim Unkrautjäten so im Weg«, sagt sie.
Wenn das Pferd still steht, kann man gut hören, was sie sagt.
»Leg dich ein bisschen hin und ruh dich aus«, kommandiert
Papa. »Albin und ich jäten den Rest, wenn wir die Ziege gemolken
haben.«
»Mein Pferd muss nur noch ein bisschen trainiert werden,
Mama«, rufe ich und drücke ihm meine nackten Fersen in die
Seiten.
Wir traben weiter. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis ich großer Bruder werde. Wenn ich mit Mama kuschele und meinen
Kopf auf ihren Bauch lege, spüre ich, wie es sich da drinnen bewegt. Ich freue mich so auf das Baby. Dass ich dann jemanden
zum Spielen habe.
Unser kleines Steinhaus rauscht an mir vorbei. Mein Pferd
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schnauft und prustet, Schweißtropfen laufen aus dem hellen Haar
in den Nacken.
Papa und ich haben genau das gleiche Haar.
Die roten Rosen um die Haustür verströmen einen schönen Duft,
jedes Mal wenn wir dort vorbeikommen.
Den Duft würde ich überall wiedererkennen.
Im Stall wohnen eine Ziege und ein Haufen Kaninchen. Ich finde
es toll, mit den Kaninchenjungen zu spielen. Sie sind so süß mit
ihrem unendlich weichen Fell, den Schnupperschnauzen und den
kugelrunden schwarzen Augen, mit denen sie mich voller Ernst
anschauen.
Als wüssten sie, dass die Spielerei für sie bald ein Ende hat.
Früher oder später werden sie gegessen.
So ist das nun mal.
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D
ieses Foto hab ich seit dem Tag, an dem es aufgenom-
men wurde, nicht mehr gesehen. Bis eben.Trotzdem kann ich
euch alles darüber sagen, was ihr wissen wollt. Der Junge
links ist Shocky. Der rechts ist Duncan, der immer mit
Keksen in den Hosentaschen zur Schule kam. Inzwischen ist
er verheiratet, unerklärlicherweise. Das Mädchen links ist
Mimi Toolan, und die rechts, das bin ich.
In dem Augenblick, als das Bild geknipst wurde, dachte ich
vor allem darüber nach, ob Mimi mich nach der Schule mit
zu sich nach Hause nehmen würde. Ihre Mutter ließ sie
immer mit ihren Schminksachen spielen, was meine Mutter
auf gar keinen Fall erlaubte, obwohl ich doch schon so reif
und erfahren war.
Außerdem dachte ich: ACH.
DU. SCHANDE.
Shocky hat mir die Hand auf die Schulter gelegt! Einmal, kurz
vor Weihnachten, mussten wir im Unterricht eine Partner-
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übung machen, und ich hatte Shocky überreden können. Da
es sich um eine Art Vertrauensspiel handelte, hätte es am
Ende zu einem kurzen Körperkontakt kommen sollen – wobei
sich allerdings herausstellte, dass man Shocky nicht vertrauen
konnte. Und zum Entstehungszeitpunkt dieses Fotos hatte er
es geschafft, zweihundertsiebenunddreißig Tage lang ununterbrochen zu übersehen, dass ich existiere.
Warum ich mich so genau daran erinnere, was mir durch
den Kopf ging? Weil ich in der ersten Hälfte der Sechsten nur
Folgendes im Kopf hatte:
1. Mimi, darf ich mit zu dir?
2. Shocky, beachte mich bitte!
Außerdem wurde das Foto im Sommer aufgenommen, und erinnert sich nicht jeder an den letzten Sommer auf der Grundschule? Das Sportfest. Die Abschlussklassenfahrt. Das Abschlussfoto. Die endlosen Diskussionen, auf welche Schule
man als Nächstes gehen sollte, die Versprechungen, befreundet zu bleiben, obwohl man nicht auf dieselbe Schule ging.
Wie am letzten Nachmittag jeder bei jedem auf dem T-Shirt
unterschrieb. Und an das ständige Gefühl, dass sich mit jedem Tag ein Stückchen mehr eine Tür öffnete, durch die Sonnenlicht hereinfiel, und schon sehr bald würde man durch
diese Tür hinausdürfen, mit Gelächter und Gebrüll, so laut,
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dass man nicht mal mitbekam, wenn sie hinter einem zufiel –
für immer.
Ich kann euch sogar sagen, wann genau das Foto gemacht
wurde. In der zweiten Woche des Sommerquartals. Es war der
Tag, als Mimi in der großen Pause zwei Jungen entdeckte –
einen großen und einen kleinen –, die durch den Schulhofzaun herüberstarrten. Der große hielt den kleinen an der
Hand, der kleine hatte eine Fellmütze auf, und sie trugen die
gleichen Mäntel. Die Dinger sahen verrückt aus, lang wie
Morgenmäntel und von innen mit Pelz gefüttert. Allerdings
hätte jeder Mantel verrückt ausgesehen, denn die Sonne
brannte vom Himmel. Auf dem Schulparkplatz schmolz der
Asphalt. Alle anderen trugen T-Shirts.
Mimi ging zu den beiden rüber und fragte: „Was gibt’s
denn hier zu gucken?“
Der Große brachte sie zum Schweigen, indem er einen
Finger an die Lippen legte. „Gib acht auf deine Lehrerin!“,
sagte er und deutete zu Mrs Spendlove hinüber, die genau
in diesem Moment in ihre Pfeife blies, um die Pause zu beenden – als hätte der Junge es vorausgesehen.
Als wir alle in der Schlange standen, hatte ich die beiden
plötzlich direkt hinter mir. Ich warf einen Blick auf den
Kleinen, dem seine Mütze bis über die Augen gerutscht war.
Es sah so unbequem aus, dass ich sie zurechtrücken wollte –
aber der Große fasste mir unters Kinn und drehte meinen
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Kopf weg. „Schau ihn nicht an“, sagte er. Ganz im Ernst,
damit hatte er sich eigentlich eine Ohrfeige verdient. Aber ehe
ich mich darum kümmern konnte, kam Mrs Spendlove und
ließ uns in den Klassenraum. Die beiden Jungs marschierten
zielstrebig nach hinten, und der Kleine machte es sich auf
dem Platz gemütlich, der sonst eigentlich meiner war.
Ich stellte mich daneben und starrte ihn direkt an, in der Annahme, dass er den Wink kapieren würde. Fehlanzeige.
„Ich möchte, dass ihr gemeinsam mit mir ein neues Gesicht in unserer Klasse begrüßt“, sagte Mrs Spendlove. „Ein
fröhliches neues Gesicht hoffentlich. Darf ich vorstellen:
Dschingis.“
Alle begrüßten ihn, außer mir. „Und der andere, Miss?
Wie heißt der?“, fragte ich.
Sie hatte den Kleinen noch gar nicht bemerkt. „Oh,
Dschingis, dein kleiner Bruder ist leider nicht in dieser Klasse.
Er ist bei Miss Hoyle, ein Stück weiter den Flur runter.“
„Nein“, sagte Dschingis. „Mein kleiner Bruder ist hier in
dieser Klasse. Sehen Sie, er sitzt doch neben mir.“
Alle lachten, außer Mrs Spendlove. „Entschuldigung, mein
Fehler. Ich meine, er gehört in Miss Hoyles Klasse“, sagte sie
und versuchte uns anderen mit Handwedeln zum Schweigen
zu bringen, peinlich berührt, weil sie dachte, dass wir ihn auslachten und es ihre Schuld war. Aber ich stand ja genau neben
den beiden und merkte, dass der Große sich nicht etwa geirrt
hatte. Er schaltete einfach auf stur.
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„Julie, wärst du so nett, Dschingis’ Bruder in Miss Hoyles
Klasse zu bringen?“
Natürlich wäre ich so nett gewesen, zumal ich meinen
Platz wiederhaben wollte. Aber kaum hatte ich mich dem
Kleinen genähert, da hob der Große seine Hand, mir direkt
vors Gesicht, und sagte: „Nein.“
„Wie bitte?“
„Er muss bei mir bleiben. Ich habe die Pflicht, auf ihn aufzupassen. Ihn zu beschützen. Ich muss in seiner Nähe sein.“
„Also, so läuft das nicht, Dschingis. Erstens wird Miss
Hoyle ihn beschützen, wenn er in ihrer Klasse ist. Und
außerdem braucht er doch gar keinen Schutz, weil ...“
Er hörte nicht mal zu, sondern kramte ein paar Stifte und
etwas Papier hervor, um ein bisschen zu zeichnen.
Mrs Spendlove klappte ihren Laptop auf und suchte eine
Weile herum. „Ah“, sagte sie und wandte sich direkt an den
Kleinen. „Du musst in eine andere Klasse gehen, Kub...“ Und
sie begann, diesen unglaublichen Namen Silbe für Silbe zu
buchstabieren. Aber noch ehe sie bei der dritten Silbe angelangt war, hob Dschingis den Kopf und sagte wieder Nein.
„Nein.“ Einfach so.
Das war bereits sein zweites Nein zu Mrs Spendlove. Ein
Mal konnte man ja noch für ein Versehen halten. Mit dem
zweiten stieg man in den Ring. Ganz klar. Vor unseren Augen
spielte sich ein Machtkampf ab.
Mrs Spendlove ging zum Angriff über: „Wie bitte?“
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„Nennen Sie ihn Nergui“, sagte Dschingis. „Das ist einfacher.“ Was ihr gegenüber wirklich eine Frechheit war, weil
er Mrs Spendlove Vorschriften machte und ihr außerdem
mitteilte, dass es sie überforderte, einen Namen richtig auszusprechen.
Mrs Spendlove schmetterte den Angriff ab. „Tja, hier steht
aber etwas anderes“, sagte sie und versuchte erneut den langen
Namen auszusprechen.
Dschingis erhob sich.
Sie blickte ihm in die Augen.
Er sagte: „Bitte.“
Bitte war gut. Bitte bedeutete in gewisser Weise Rückzug.
Auf jeden Fall war Bitte ein Pluspunkt für Mrs Spendlove.
Sie klappte den Laptop ganz, ganz langsam zu. „Na gut“,
sagte sie. „Nur für heute darfst du hier in unserer Klasse
bleiben, Nergui.“
Dschingis bedankte sich und nahm wieder Platz. Es sah
nach einem Sieg für Mrs Spendlove aus. Nur dass dieser Junge
exakt seinen Willen durchgesetzt hatte: Sein kleiner Bruder
saß neben ihm und wurde mit irgendeinem nicht offiziellen
Namen angesprochen. Vielleicht hatte Mrs Spendlove das gespürt. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sie sich für eine
weitere Herausforderung entschied.
„Wenn du dann bitte deine Mütze abnehmen würdest,
Nergui“, sagte sie. „Damit wir anfangen können.“
Weder der Kleine noch Dschingis rührten sich. Die beiden
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saßen einfach nur mit diesem Und was, wenn nicht?-Gesicht
da und taten, als hätten sie nichts verstanden.
Mrs Spendlove versuchte es noch mal. „Es tut mir leid,
aber du musst deine Mütze abnehmen, Nergui.“
„Nein“, sagte Dschingis.
Alle schauten zu Mrs Spendlove.
„Wir können nicht erlauben, dass während des Unterrichts Mützen getragen werden, Dschingis.“
Nun schauten alle zu Dschingis.
Es war wie bei einem superspannenden Tennisspiel.
„Es ist gefährlich, meinem kleinen Bruder die Mütze abzunehmen.“
„Wie kann das denn gefährlich sein? Sitzt sein Kopf etwa
nicht fest auf seinem Hals?“
Dafür erntete sie einen Lacher, der ihr einen gewissen Vorteil verschaffte.
„Nicht gefährlich für ihn. Gefährlich für andere.“
Mrs Spendlove runzelte die Stirn. Wollte er ihr etwa
drohen?
„Wenn ich ihm die Mütze abnehme“, fuhr Dschingis fort,
„könnte er durchdrehen und alle hier umbringen.“
Das war eindeutig eine Drohung. Er drohte uns allen. Mit
seinem kleinen Bruder.
„Dschingis ...“
„Was tust du, damit dein Adler ruhig bleibt?“
„Ich weiß es nicht.“ Mrs Spendlove ließ ihren Blick durch
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die Klasse wandern. Wusste es jemand? Konnte irgendjemand
so etwas wissen?
„Ist doch klar“, sagte er. „Man bedeckt die Augen des
Adlers mit einer Haube. Wenn man möchte, dass er losfliegt
und tötet, nimmt man die Haube ab. Mein Bruder ist mein
Adler. Wenn er seine Haube aufhat, bleibt er schön ruhig.
Ohne seine Haube kann ich nicht wissen, wie er sich verhält.“
Sechste Klasse. Sechs Jahre lang waren wir zur Schule gegangen und bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, wahrscheinlich alles gelernt zu haben, was ich jemals würde lernen
müssen. Ich wusste, wie man das Volumen eines Würfels berechnet. Ich wusste, wer die Sonnenblumen gemalt hatte. Ich
konnte die Geschichte der heiligen Lucia erzählen. Ich kannte
die Gesetze der britischen Thronfolge und die Gesetze der
Symmetrie und wusste, wie wichtig es ist, fünfmal am Tag
Obst zu essen. Aber in meiner gesamten Schulzeit hatte ich
noch keine einzige Unterrichtsstunde zum Thema Adlerberuhigung gehabt. Nicht mal von dem Fach hatte ich etwas
gehört. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass
Menschen möglicherweise die Fähigkeit besitzen mussten,
Adler zu beruhigen.
In diesem Augenblick spürte ich meine Unwissenheit wie
ein Paar Flügel, die sich hinter mir entfalteten, und jede einzelne mir unbekannte Tatsache war eine Feder dieser Flügel.
Ich merkte, wie sie sich in den Luftstrom reckten, begierig,
endlich loszufliegen.
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Ich wollte mich mit dem Neuen unterhalten. Über Adler.
Mimi dagegen schien den ganzen Zwischenfall mit Dschingis
nur als kleine Unterbrechung der weltweiten Diskussion übers
Schminken zu begreifen. Nur die Jungs zeigten Interesse. In
der Mittagspause umringte ein ganzer Pulk von ihnen
Dschingis und Nergui, um zu fragen, ob sie wirklich Adler
besäßen und wie groß die wären und ob Dschingis ein Lügner
war oder nicht.
„Wo kriegt ihr die Adler denn her? Vom Adlerladen?“
„Da wo ich herkomme, hat jeder mehrere Adler.“
„Und wo ist das?“
„In der Mongolei.“
Sie stupsten und piesackten den kleinen Nergui, der seine
Mütze immer noch heruntergezogen hatte, bis über die Augen.
Sie wollten Adlerschreie von ihm hören. Nergui verkroch sich
in seinem Mantel, streckte die Arme aus den Ärmeln hervor
und kreuzte sie über seiner Brust. Beide Ärmel schlackerten,
wodurch er wirklich wie ein Vogel aussah.
Irgendwann entdeckte mich Dschingis hinter den Jungs
und rief: „Du! Du musst kommen und mir helfen!“
Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Aber ich
war absolut begeistert, dass man mich fragte. Ich schob mich
an den Jungs vorbei, dann baute ich mich vor ihnen auf.
„Okay“, sagte ich. „Weitergehen. Habt ihr denn noch nie zwei
mongolische Brüder gesehen?“
„Nein.“
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„Na gut, dann habt ihr’s jetzt. Also geht weiter.“
„Mongolisch, von wegen!“ Das war Shocky. „Warum
sollten sie denn aus der Mongolei hierherkommen? Wahrscheinlich sind sie bloß aus Speke.“
Man einigte sich, dass die Brüder wahrscheinlich aus
Speke kamen, nicht weit entfernt vom Liverpooler Flughafen.
Dann gingen die Jungs wieder Fußball spielen.
„Steh bitte still“, sagte Dschingis. Er schob mich ein
wenig zurück und zog dann etwas aus seiner Tasche, das wie
ein altmodisches Radio aussah. Als er auf einen Knopf
drückte, ertönte ein surrendes Geräusch, die obere Hälfte
öffnete sich und eine Linse schoss hervor.
Heute weiß ich, dass es eine Polaroidkamera war. Aber
damals hielt ich sie für irgend so eine verrückte, glotzende
Kuckucksuhr.
„Ich brauche ein Bild“, sagte er. „Damit ich nicht vergesse,
wer du bist. Du wirst hier unser Guter Ratgeber. Okay?“
Inzwischen war Mimi zu uns rübergekommen – sie hörte
das Geräusch einer Kamera in Aktion auf eine Entfernung von
500 Metern. Wir setzten beide unser charmantestes
Lächeln auf, und im selben Moment erschienen Shocky und
Duncan und schummelten sich ins Bild.
Fast sofort nachdem Dschingis den Auslöser gedrückt
hatte, kam ein Stück Papier vorne aus der Kamera. Dschingis
zog eine Folie ab, wedelte das Stück Papier durch die Luft, und
zum Vorschein kamen wir. Eingefangen für die Ewigkeit. Er
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schrieb etwas auf das Foto, was ich damals allerdings nicht erkennen konnte.
Heute habe ich’s zum ersten Mal gesehen. Unser Guter
Ratgeber, schrieb er.
„Du wirst unser Guter Ratgeber“, erklärte er. „In der
Mongolei sind wir Nomaden. Wenn wir in ein fremdes Land
kommen, brauchen wir jemanden, der uns gute Ratschläge
gibt. Du wirst hier unser Guter Ratgeber sein, einverstanden?“
Klar war ich einverstanden. Nie zuvor hatte jemand mich
gebeten, irgendwas zu sein, auf jeden Fall nichts,
wofür es eine offizielle Bezeichnung gab. Und von diesem
Augenblick an hörte ich auf, über Schminkkram, Lippen oder
Shocky nachzudenken, und lief stattdessen mit dem Gedanken durch die Gegend: Seht her! Ich bin ein Guter Ratgeber!
Ich war entschlossen, ein wirklich guter Ratgeber zu sein.
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Ortwin Ramadan
Der Schrei des Löwen
1.
Yoba lehnte mit dem Rücken an der Betonwand. Er genoss
die Kühle hier unten. Oben würde es schon bald sehr heiß
werden. Der Harmattan fegte seit Tagen über die Stadt und
brachte mit dem Sand auch die Hitze aus der großen Wüste.
Die unterirdische Zisterne war in der Trockenzeit ein wirklich
guter Ort, fand Yoba. Eigentlich grenzte es an ein Wunder,
dass niemand ihnen den Platz bislang streitig gemacht hatte.
Dabei waren gute Schlafplätze fast so selten wie ein voller
Bauch.
Plötzlich begann sein zwölfjähriger Bruder im Halbdunkeln
leise zu wimmern. Er wälzte sich auf seinem Karton hin und
her. Yoba beugte sich über ihn und berührte Chioke sanft an
der Schulter.
»Chi-Chi!«, flüsterte er. »Wach auf! Es ist nur ein Traum!«
Chioke schreckte von seiner Schlafpappe hoch. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er blickte sich ängstlich
um. Yoba fuhr ihm aufmunternd durch die verfilzten Haare.
»Hey, große Ibo-Krieger kennen keine Angst!«, sagte er.
»Außerdem ist heute Freitag, schon vergessen? Tag der Löwenfütterung!«
Yoba kroch auf Knien zur gegenüberliegenden Wand und
fischte seinen kostbarsten Besitz aus einer Spalte zwischen den
Steinen. Das Notizbuch war nagelneu. Als er es vor zwei Tagen
im Müll gefunden hatte, war es noch in Folie eingeschweißt
gewesen. Offenbar handelte es sich um ein achtlos weggewor5
fenes Werbegeschenk, denn auf dem grünen Einband prangte
das Logo eines internationalen Ölkonzerns.
Yoba steckte seinen Schatz in den Bund seiner zerschlissenen Baumwollhose. Danach schlüpfte er in seine ausgeleierten
Plastikschlappen und sprang auf die Füße.
»Na los, hoch mit dir!«
Chioke ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sich widerstandslos hochziehen. Besorgt musterte Yoba die blutigen
Schnitte an den Füßen seines kleinen Bruders. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. Sein Bruder brauchte unbedingt
Schuhe, denn die Straßen der Stadt waren voller Scherben.
Yoba klopfte ihm den Sand von dem Stofffetzen, der einmal
ein gelbes T-Shirt gewesen war.
»Wenn ich in die Bruderschaft aufgenommen werde, kaufe
ich dir weiße Adidas. Versprochen! Und zwar die echten –
keine nachgemachten vom Ariaria-Markt. Na, was sagst du
dazu? Freust du dich?«
Chioke sah ihn teilnahmslos an. Yoba seufzte. Seit der
schrecklichen Nacht im Dorf redete sein Bruder noch weniger als vorher. Er schien in einer anderen Welt gefangen zu
sein und Yoba wusste nicht, wie er ihn von dort zurückholen
konnte. Wenigstens waren die Narben auf der Brust seines
Bruders gut verheilt. Das magische Zeichen würde er jedoch
für immer auf seiner Haut tragen. Es würde ihn stets an die
grauenhafte Zeremonie erinnern. Wütend darüber griff Yoba
nach der in die Wand eingelassenen Metallleiter und kletterte
aus der Zisterne. Chioke blieb unten und wartete.
Trotz der frühen Morgenstunde war die Stadt längst erwacht.
Überfüllte Minibusse, hupende Autos und unzählige knat6
ternde Mopeds verstopften die Kreuzung an der Factory Road
von Aba. Niemand beachtete den schlaksigen sechzehnjährigen Jungen, der auf dem zugemüllten Grundstück neben der
Straße aus einem Loch in der staubigen Erde kroch. Yoba war
das nur recht. Er blinzelte in die dunstige Morgensonne und
sah sich vorsichtig um. Nachdem er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, pfiff er auf zwei Fingern das vereinbarte
Zeichen. Gleichzeitig spuckte er fluchend aus. Der Sand in der
Luft ließ das Atmen schon am frühen Morgen zur Qual werden.
Als Chiokes Kopf in der Öffnung der Zisterne auftauchte,
drängte Yoba seinen Bruder zur Eile. Sein leerer Magen brüllte
vor Hunger. Dass es Chioke nicht viel besser ging, konnte er
an den unnatürlich geweiteten Pupillen ablesen. Kein Wunder,
ihre letzte gemeinsame Mahlzeit lag schon mehr als einen Tag
zurück. Sie hatte lediglich aus einem knochenharten Stück
Fladenbrot bestanden. Jetzt lief ihm allein bei dem Gedanken
an Mama Kambinas köstliche Onugbo-Suppe das Wasser im
Mund zusammen.
Er fasste Chioke an der Hand und nahm am Rand des
Grundstücks Aufstellung. Als in dem lärmenden Strom aus
Mopeds, Autos und qualmenden Lastwagen endlich eine Lücke entstand, ging er zügig los und zog seinen Bruder hinter
sich her über die mehrspurige Straße. Auf der anderen Seite
schlängelten sie sich durch die Stände der kleinen MopedWerkstätten, die ihr Geschäft direkt auf dem ölverschmierten
Bürgersteig betrieben. Dann schlugen sie den Weg zum Gefängnis ein.
7
6.
»Das nervt!« Julian drosch wütend auf die Tastatur seines Laptops ein. Zu spät, seine Spielfigur wurde mal wieder in tausend
Stücke geschossen. Entnervt klappte er den Computer zu und
sah aus dem Autofenster. Die Landstraße wand sich durch die
karge Hügellandschaft, nur hin und wieder säumte ein einsamer
Olivenbaum den Weg. Julian hasste Oliven. Und noch mehr
hasste er Sizilien.
»Warum können wir nicht in der Nähe vom Flughafen bleiben?«, nölte er auf der Rückbank. Dieser gemeinsame Familienurlaub war schon jetzt eine einzige Katastrophe.
»Das frage ich mich auch«, murrte sein Vater, während er im
Schritttempo ein Schlagloch umkurvte. »Sie hätten uns wenigstens ein Auto mit Navi geben können.«
Julians Mutter fuhr mit dem Zeigefinger über die Straßenkarte, die ausgebreitet auf ihren Knien lag. »Wir haben doch die
Karte von der Tankstelle«, murmelte sie. »Wir finden den Weg
schon.«
»Aber der Typ vom Autoverleih hat gesagt, mit der Abkürzung
dauert es bis Capo-Dingsbums höchstens eine halbe Stunde!«,
meldete sich Julians jüngere Schwester zu Wort. »Und ich dachte,
das Hotel liegt am Meer. Ich seh hier überhaupt kein Meer. Hier
gibt’s doch nur Schafe und vertrocknete Bäume!«
Frederike hockte neben ihrem Bruder auf der Rückbank und
tippte auf ihrem Handy herum. Wie immer versteckte sie sich
und ihre Zahnspange hinter einem Vorhang aus dunkelblonden
Haaren.
»Vielleicht liegt das Meer ja in der anderen Richtung«, lästerte
Julian. Wenn es so etwas wie SMS-Sucht gab, dann war seine
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Schwester ganz sicher ein Junkie. »Oder die Hotelfotos im Internet waren ein Fake. Würde mich nicht wundern. Wahrscheinlich
liegt das Hotel direkt neben einer Müllkippe.«
Seine Mutter stieß einen ihrer unübertroffenen WeltklasseSeufzer aus und drehte sich nach hinten: »Die Ferienanlage hat
die besten Bewertungen in ganz Sizilien! Also reißt euch zusammen und wartet einfach ab! Wir haben uns vorgenommen gemeinsam einen schönen Urlaub zu verbringen und das werden
wir auch!«
Ihre zusammengezogenen Augenbrauen ließen keine Widerrede zu. Dabei hätte Julian schreien können. Während seine
Kumpels auf den legendären Partys am Baggersee ihren Spaß
hatten, war er dazu verdammt, sich mit seinen Eltern zu Tode zu
langweilen. Und garantiert würde Katja wieder mit dem Typen
aus der Oberstufe rummachen.
»Nicht einmal eine anständige Klimaanlage hat diese Schrottkiste!«, schimpfte sein Vater.
Er drehte die Klimaanlage hoch, woraufhin seine Mutter sie
sofort wieder nach unten regulierte. Sie vertrat die Ansicht, zu
viel kalte Luft schade dem freien Fluss der Körperenergie.
»Da an der Kreuzung müssen wir links!« Seine Mutter deutete
durch die staubige Windschutzscheibe. »Wenn die Karte stimmt,
müsste man gleich das Meer sehen!«
Julians Vater folgte der Anweisung mit einem vernehmbaren
Grunzen, aber vom Meer fehlte weiterhin jede Spur. Stattdessen
durchquerten sie ein Dorf mit weiß getünchten Häusern. Abgesehen von den streunenden Hunden und den schwarz verhüllten
Frauen, die ihnen misstrauische Blicke zuwarfen, schien die abschüssige Dorfstraße in der flimmernden Mittagshitze wie ausgestorben.
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Julian fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare. »Mann, hier
sieht es echt aus wie in einem Mafiafilm!«, stellte er fest.
»Du solltest dich schämen!«, schalt ihn seine Mutter. Sie sah
ihn im Rückspiegel an. »Sizilien besteht nicht nur aus der Mafia.
So etwas nennt man ein Klischee. Eigentlich müsstest du alt genug sein, um das zu wissen!«
Frederike hörte auf zu tippen. »Cool! Übernachten wir wirklich
in einem Mafiahotel?« Sie hob den Kopf. »Ich wollte schon immer von einem richtigen Gangster entjungfert werden!«
»Was!?« Ihr Vater drehte sich kurz um, dann stieg er mit beiden Füßen auf die Bremse. »Scheiße!«
Ein Hund überquerte in aller Seelenruhe die Dorfstraße.
Julians Mutter legte seinem Vater die Hand auf den Oberschenkel. »Klaus, du hast mir doch versprochen die Arbeit zu
vergessen und dich zu entspannen!« Anschließend erschien ihr
Kopf wieder zwischen den Vordersitzen. »Und ihr da hinten gebt
endlich Ruhe! Wir sind hier, um uns zu erholen! Also tut mir den
Gefallen und erholt euch gefälligst!«
Julian verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Es hatte sowieso keinen Sinn. Mit oder ohne Meer – dieser ganze Urlaub
war völlig bescheuert.
Nach einer weiteren Stunde Irrfahrt durch das sizilianische Hinterland fanden seine Eltern endlich die Ferienanlage. Das »Palm
Beach Resort« lag versteckt in einer malerischen Bucht und gehörte eindeutig zu den besseren Familienhotels. Die einzelnen
Gebäude lagen in einem weitläufigen, gepflegten Garten und der
hoteleigene, mit akkuraten Sonnenschirmreihen gespickte Strand
strahlte vor dem Hintergrund des azurblauen Meeres in einem
makellosen Weiß.
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Sein Vater parkte den Wagen, und als sie die klimatisierte Hotellobby betraten, eilte sofort der Empfangschef auf sie zu.
»Signorina! Signore! Buongiorno!«, begrüßte er die neu eingetroffenen Gäste. Er verbeugte sich artig und führte Julians
Eltern an einen modern gestylten Tresen aus poliertem Walnussholz.
»Dürfte ich Ihre Namen erfahren, Signore?« Er sah auf den
Bildschirm des Hotelcomputers.
»Wegmann. Klaus Wegmann.«
»Mit Familie«, fügte Julians Mutter hinzu.
»Ah, Dottore Wegmann!« Der Empfangschef scrollte den Bildschirm herunter, bis er den gesuchten Eintrag gefunden hatte.
»Wir haben Sie drei Stunden früher erwartet.« Er drehte sich um
und nahm einen der bunten Zimmerschlüssel vom Haken. »Wir
hätten Sie auch vom Flughafen abholen können. Unseren Gästen
steht ein kostenloser Shuttleservice zur Verfügung. Und einen
Wagen hätten Sie ebenfalls bei uns im Hotel mieten können. Das
wäre sogar günstiger gewesen.«
Julians Vater warf seiner Frau einen Blick zu, den sie geflissentlich übersah. Der Empfangschef winkte einen uniformierten Pagen herbei und teilte ihm die Zimmernummer mit. Dann übergab
er Julians Vater den Zimmerschlüssel mit einem geübten Lächeln.
»Signore! Willkommen im Paradies!«
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c l é m e n t i n e b e a u va i s
Aus dem Französischen
von Annette von der Weppen
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ich habe die anderen gegenüber
vom café getroffen, wo sie sich gerade
eine Zigarette ansteckten, morgens um acht, die erste.
Die Straße schimmerte nassgrau nach dem Unwetter
in der vergangenen Nacht. In den Pfützen sah man
die Häuser.
»Wo ist Marguerite?«
»Die sitzt in Levallois fest, wegen des Streiks.«
An diesem Morgen standen Florian, Anne-Laure,
Gonzague, Élise und ich vor dem Café. Das Wetter
war scheußlich, kalt und trüb, wir unterhielten uns
in einer Wolke aus Zigarettenqualm und kondensierter Atemluft.
Ich sage das noch mal ganz deutlich: Marguerite hatte nichts mit dieser Sache zu tun, wegen des
Streiks. Wäre sie dabei gewesen, wäre vielleicht alles
ganz anders gekommen. Wer weiß das schon. Wenn
Mathieu dabei gewesen wäre, natürlich auch, aber
Mathieu war nicht mehr dabei.
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»Seht euch diesen Wichser an«, meinte Gonzague
und wies mit dem Kinn die Straße hinunter.
Es war François, der eine halbe Stunde zu früh zur
Schule kam, in seinen hässlichen Klamotten und den
gelben Turnschuhen. Er lief auf uns zu, den Blick
starr auf den Fußweg gerichtet. Er wusste, dass wir
ihn beobachteten. Er hat ein Problem mit Anne-­
Laure, die immer ätzende Sprüche macht und ihn mit
ihren hochhackigen Hirschleder-Stiefeln um einen
ganzen Kopf überragt.
»Lass ihn in Ruhe, der will bestimmt nur wieder
in irgendeinem Winkel der Bibliothek eine Lehrerin
vernaschen«, erwiderte Anne-Laure.
François hatte im vorigen Schuljahr mit Madame
Bonnot, der Französischlehrerin, geschlafen. Fünfzehn Jahre Altersunterschied. Seine Eltern hatten
Anzeige erstattet und Bonnot wurde gefeuert. Seitdem lebt sie in Mexiko, weshalb ich manchmal denke, sie hätte das alles schon so geplant. Sie hat zwei
Kinder, aber der Vater hat das Sorgerecht bekommen,
ich weiß nicht, ob sie die beiden noch sieht.
Gonzague sagte:
»Ich habe so was von keinen Bock auf Schule!«
So fängt das jedes Mal an – sobald auch nur einer von
uns das sagt, ist das wie ein Gähnen, es steckt alle an.
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»Aber echt, ich auch nicht«, sagte Anne-Laure.
Élise will dann immer noch verhandeln. »Ach
kommt, wenigstens heute Vormittag gehen wir noch
hin.«
»Mach, was du willst«, meinte Florian, »aber ich
habe die Schnauze voll. David?«
»Ich bin dabei«, sagte ich. »Oder meinst du, ich
habe Lust, eine Geo-Arbeit zu schreiben?«
Anne-Laure ließ ihre Kippe, von Lippenstift gesäumt, auf den Boden fallen. Ein Tritt mit dem Absatz
und die watteartige Füllung quoll zu beiden Seiten
des Filters heraus.
»Wir gehen zu dir«, sagte sie zu Florian.
»Nein, mein Vater ist zu Hause.«
»Wieso denn das?«
»Der sitzt hier fest. Wegen des Streiks.«
Anne-Laure fluchte laut. Sie flucht immer mit ganz
viel Luft in der Stimme. Florian wohnt gleich um die
Ecke, in einer 300-qm-Wohnung mit Terrasse und
Whirlpool. Wir anderen wohnen alle etwas weiter
weg. Anne-Laure lässt sich jeden Morgen von ihrer
Mutter bringen, die einen Aston Martin fährt und
sie immer direkt vor der Schule absetzt, weil sie ihr
nicht traut; sie hat Angst, dass Anne-Laure die Schule schwänzt – zu Recht.
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Es fing an zu nieseln. Ganz feine Tropfen, die an
unseren warmen Gesichtern abperlten. Anne-Laure
und Élise hatten überall welche in den Haaren, wie
Kristalle.
»Wir schreiben erst noch die Geo-Arbeit«, schlug
Élise vor, »und dann hauen wir ab.«
»Keine Chance«, antwortete Florian unerbittlich.
Und so gingen wir los in Richtung Avenue de
Tourville, ohne ein bestimmtes Ziel, untermalt vom
Klackern der Absätze von Anne-Laure. Eine alte
Frau führte ihren Hund spazieren. In diesem Viertel
sehen die alle gleich aus, derselbe Pelzmantel, die­
selbe blonde Föhnfrisur, dieselbe Lederleine, derselbe Hund: eine Fell-Explosion. Die Sonne ging jetzt
auf, aber erst so gerade eben – das Licht war immer
noch h
­ ellgrau, und als wir die Avenue erreichten,
­schalteten sich mit leisem Klicken die ­Straßenlaternen
ab.
Was danach passiert ist, haben wir nicht besonders
geplant, auch wenn das hinterher viele Leute behauptet haben – die Journalisten halten immer alles für
überlegt, organisiert und erprobt, aber wir sind keine
Terroristen. Das war alles ganz anders. Die Leute wollen immer wissen, warum, warum, warum – aber es
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gibt kein Warum, ist euch das noch nie passiert, dass
es kein Warum gibt? So wie bei François und Madame
Bonnot – manchmal gibt es einfach kein Warum.
Wir sind keine Terroristen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Élise.
Niemand antwortete. Es tropfte uns in den Kragen, weil wir direkt unter den Dachvorsprüngen der
­Häuser entlanggingen. Eine Schar Kinder lief hüpfend an uns vorbei zur Schule, in Begleitung ihrer
Eltern, aber zu dem Zeitpunkt haben wir nicht sonderlich darauf geachtet, noch nicht. Es blieben noch
gut zwanzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn.
Ein kleines Mädchen kam dicht an mir vorbei und
ich sah, wie eine hellgraue Laus in ihren schwarzen
­Haaren herumspazierte, mal über, mal unter den
Strähnen hindurch. Mir kam der Magen hoch, und
ich rülpste einen Luftschwall aus, der nach Zigaretten, Milch und Cornflakes schmeckte.
»Diese Gören widern mich an«, sagte ich.
Wir betraten einen kleinen Park und setzten uns
auf eine Bank. Wenige Meter von uns entfernt, neben einem Mülleimer, lag ein Obdachloser auf dem
Boden und schnarchte. Seine roten, schorfigen Hände
ragten aus einer dunkelblauen Jacke hervor, die mit
Schmutzflecken und Essensresten übersät war.
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»Mit diesem Viertel geht es echt bergab«, bemerkte Gonzague.
»Stimmt«, seufzte Anne-Laure. »Diese Penner
über­all, die sind wirklich furchtbar.«
»Die sind wirklich furchtbar«, wiederholte ich mit
hoher Stimme.
»Du findest dich wohl besonders lustig, was?«,
entgegnete sie, die Augenbrauen erhoben und die
Nasenflügel gebläht.
War einen Versuch wert.
Das Wetter war wirklich schäbig an jenem Tag,
auch wenn das keine Entschuldigung ist. Es war das
schlimmste Wetter, das man in Paris haben kann, der
Himmel hing steingrau über den Gründerzeithäusern,
keine Wolken, keine Sonne, und die krallenbewehrten Bäume tröpfelten auf unsere Kapuzen herab, der
Kies auf den Wegen knirschte unter unseren Schuhen,
und im feuchten Dreck lagen zerknüllte Metrotickets,
Zigarettenstummel und Kronkorken herum. Ein Klon
der alten Frau mit Hund kam vorbei und ließ den
Köter an eine der Bänke pinkeln, wo sein dampfender
Strahl von der Erde verschluckt wurde.
»Wir könnten zu mir gehen«, schlug Gonzague
vor.
»Das ist doch winzig!«, nörgelte Florian.
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»Nett von dir, Alter, aber hast du eine bessere
Idee?«
»Okay, wir gehen zu Gonz«, sagte Anne-Laure
und stand auf. »Und auf dem Weg dahin holen wir
uns was vom Chinesen.«
»Wie kann man um diese Zeit schon Appetit auf
chinesisches Essen haben?«
»Das wärmen wir uns dann später auf.«
Die Eltern von Gonzague leben in einem Herrenhaus an der Dordogne, deshalb haben sie hier im
Viertel eine kleine Wohnung für ihn gemietet, damit
er in Paris aufs Gymnasium gehen kann. Wir folgten
Anne-Laure und verließen den Park durch das quietschende Tor.
Und dann ist was total Bescheuertes passiert: Gonzague wollte die Straße überqueren, er ist einfach losgelaufen, ohne nach rechts oder links zu schauen, und
wir hörten ein Hupen. Ein gelber Motorroller kam in
voller Fahrt auf ihn zu, und die Straße war rutschig.
Ein lang gezogenes Kreischen der Bremsen – und im
letzten Moment machte der Roller einen Schlenker
und wich Gonzague aus.
Der Rollerfahrer trug einen Helm, aber sein Hals
und seine Hände waren zu sehen, und Gonzague hat
ihm den Stinkefinger gezeigt:
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»Kannst du nicht aufpassen, du dreckiger Gorilla?«
»So ein Arschloch!«, brüllte Florian, als der Roller
schon um die nächste Ecke bog.
Dann haben wir alle die Straße überquert, und
Anne-Laure ist auf Gonzague zugerannt:
»Alles okay, Gonz? Mann, hab ich mich erschrocken!«
Gonzague schüttelte den Kopf, er biss sich auf die
Lippen und seine Hände zitterten. Er sagte:
»Geht schon. Mir würde es allerdings noch besser
gehen, wenn hier nicht so viele dreckige Neger unterwegs wären, die alle nicht fahren können.«
Ich musste kurz schlucken, denn das war typisch
für Gonzague, der sagt ständig solche Sachen, die
man eigentlich nicht sagen darf.
»Aber du bist doch auch einfach rübergerannt«,
sagte Élise.
»Na und? Habe ich in meinem Land etwa nicht das
Recht, über die Straße zu gehen, wo ich will?«
Er kochte vor Wut. Seine austerngrauen Augen
schimmerten feucht, er hatte seine Stirn in Falten gelegt, wodurch sich ein weißlicher Strich über seiner
Nase bildete.
»He, jetzt mal ganz ruhig«, sagte ich. »Das ist doch
kein Grund, diesem Typen die Schuld zu geben.«
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»Ach halt’s Maul, David«, erwiderte Florian. »Immer musst du alle in Schutz nehmen. Du bist echt ein
Weichei.«
Auch später hat man mich in dieser Sache immer
als den Harmlosen dargestellt, den Sensibelsten der
Truppe. Man hat gesagt, wenn ich mehr Einfluss auf
die anderen gehabt hätte, wäre das alles nicht passiert, aber das stimmt, glaube ich, nicht. Hätte ich
mehr Einfluss gehabt, hätte ich trotzdem genau das
Gleiche gemacht.
»Nur wegen solcher Typen wie dir trauen sich
diese Schweine immer noch, hier wie die Irren durch
die Gegend zu heizen«, sagte Anne-Laure und blickte
mich starr an.
»Wow, ist ja wieder eine super Stimmung«, meldete sich Élise zu Wort. »Ich weiß echt nicht, warum ich mich noch mit euch abgebe, ihr seid immer
nur schlecht drauf und schreit euch an. Ich gehe zur
Schule zurück. Ihr kotzt mich an.«
Sie wandte sich zum Gehen und ihre winzigen
weißen Turnschuhe platschten in eine Pfütze. Sie
fluchte, und dann drehte sie sich wieder um, und in
ihren Augen schimmerten Tränen.
»Ihr kotzt mich an«, wiederholte sie.
Anne-Laure steckte sich wieder eine Zigarette
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an, mit gespielter Ruhe, doch die kleine Flamme am
­Feuerzeug zitterte. Ich ging zu Élise. Sie sah auf ihre
Schuhe hinunter, die von dem schlammigen Wasser
in der Pfütze blassbraun gesprenkelt waren. Die
Gummispitze glänzte, und sie beugte sich nachdenklich vor und drückte mit einem Finger darauf herum,
als wollte sie fühlen, wo ihr großer Zeh war.
»Na los«, habe ich gesagt und ihr den Arm um
die Schultern gelegt. »Komm mit, wir gehen zu Gon­
zague.«
Sie hat nichts gesagt, nur die Augen verdreht, und
dann haben wir uns auf den Weg zum Chinesen gemachte. Wir hatten alle einen Kloß im Hals. Der gelbe
Roller, das Bremsmanöver. Erinnerungen kamen zurück – Bilder.
Das ist keine Entschuldigung, ich weiß.
Beim Chinesen haben wir uns dann ein paar Gerichte geholt, Hühnchen in klebriger Ingwersoße, gebratenen Reis, Nudeln mit Gemüse, Schweinefleisch
mit Zitrone. Der Verkäufer wog die leeren Schachteln
ab, bevor er sie füllte, damit wir nicht auch noch
die zwanzig Gramm Plastik bezahlen mussten. Das
hat mich echt fertiggemacht, diese Anständigkeit, als
wollte er uns eine Lehre erteilen. Ich habe ihm dann
ein völlig übertriebenes Trinkgeld hingelegt, und
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Florian hat mich vor allen ausgelacht. Am Ausgang
haben wir uns Papierservietten und Essstäbchen geholt, die wir mit einem Knacken auseinanderbrachen,
und dann sind wir die ganze Straße runtergegangen
und haben den Takt getrommelt wie eine Gruppe
Schlagzeuger. Anne-Laure hat als Einzige nicht mitgemacht. Sie war nachdenklich. Ihr Blick verweilte
auf den Auslagen der Geschäfte, sie betrachtete lauter
Sachen, die sie gar nicht interessierten.
Und dann roch es auf einmal nach Chlor. Wir kamen am städtischen Hallenbad vorbei, und durch die
Gitter des Luftschachts stieg der Geruch zu uns auf.
Ich hielt mir meine Plastiktüte unter die Nase, um
stattdessen an dem Ingwerhühnchen zu riechen, aber
keine Chance, der Schwimmbadgeruch drang mir in
die Nasenlöcher, und mich überkam ein Anflug von
Übelkeit, gemischt mit ein bisschen Schwermut, die
mich in der Grundschule oft ergriff, wenn ich meine
nassen und kalten Arme in den Umkleideräumen
dieses Hallenbads abtrocknete.
»Oh Scheiße! Mein Absatz hängt fest«, rief AnneLaure.
Wir schauten alle hin – ihr Absatz steckte in dem
Metallgitter des Luftschachts fest – und brachen in
schallendes Gelächter aus, so unerwartet und lustig
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war der Anblick, wie sie da mit dem Absatz im Gitter festhing. Sie lachte noch lauter als alle anderen,
während sie den Fuß mit ihrem Stiefel hin- und herdrehte, um den Absatz zu lockern, aber je mehr sie
drehte, desto mehr verkeilte er sich im Gitter. Élise
lachte, bis ihr die Tränen kamen, sie bückte sich, um
an dem Absatz zu ziehen, der sich dann so plötzlich
löste, dass Anne-Laure fast hingefallen wäre. Ich fing
die beiden Mädchen auf, und wir hielten uns die
Seiten; die beiden anderen Jungs wischten sich die
Wangen ab. Allen tat der Bauch weh. Gonzague rief
immer wieder:
»Oh nein, echt! Wie bescheuert ist das denn. Ah!
Ah! Ich kann nicht mehr.«
Wir wollten gerade weitergehen, als wir anderes
Gelächter hinter uns hörten, ein paar Oktaven höher.
Es kam von einer Gruppe Kinder, die mit ihrem Lehrer und einer Begleiterin ins Hallenbad gingen. Eine
ganze Woge von Köpfen zog vorbei, alle warm eingemummelt. Wir drückten uns mit dem Rücken an die
Wand, um sie vorbeizulassen; der Chlorgeruch war
verschwunden, vielleicht hatten wir uns auch nur
schon daran gewöhnt. Während sie an uns vorüberzogen, stellte ich mir all diese mageren kleinen Körper
in Badesachen vor, wie sie im Wasser herumzappel18
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ten. Was für eine Tortur, so ein Hallenbad. Allein
schon dieses lauwarme Fußbad, in dem man sich bloß
Warzen holt, statt saubere Füße zu bekommen.
Und dann habe ich diesen Kopf wiedergesehen,
ich bin sicher, dass es der gleiche war, er kam direkt auf Höhe meines Oberkörpers vorbei, und als
ich hinschaute, entdeckte ich wieder eine Laus in
dem schwarzen Haar. Das kleine Mädchen hing ein
Stück hinter den anderen her, wir haben nie genau
erfahren, warum, ich glaube, sie hat gesagt, sie hätte
etwas verloren, das war jedenfalls ihre Erklärung.
Vielleicht war sie auch bloß langsam. Nichts wäre
passiert, hätte Florian neben mir nicht ebenfalls den
Blick gesenkt und genau dasselbe gesehen wie ich.
Aber mein Motto ist schließlich auch »Leben und
leben lassen«, seins nicht.
Er packte das Mädchen am Schal und wirbelte es
mit einem Ruck zu sich herum, wie einen Fisch an der
Harpune, und sagte:
»Du kleines Dreckstück! Du bist ja völlig verlaust.«
Gonzague und Anne-Laure traten näher, Élise und
ich hielten uns eher im Hintergrund. Die Kleine sagte
nichts, starrte Florian nur aus ihren tiefschwarzen
Augen an – während er seine Hand immer noch fest
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um den roten Schal geschlossen hielt, aus dem ihr
kleines, braunes Gesicht hervorsah.
»Dreckstück«, zischte Florian. »Du widerst uns
alle an.«
Die anderen waren schon im Hallenbad verschwunden. Es war niemand mehr da, niemand
kümmerte sich um die Kleine, das war schon echt
verrückt, solche Knirpse lässt man doch nicht allein.
Gonzague stieg gleich drauf ein:
»Du ekelst uns an, mit deinen Parasiten. Verstehst
du, was ich sage? Du sprechen Französisch? Du bist
dreckig. Hast du das verstanden?«
Das Mädchen nickte. Über ihrer Stirn tauchte
eine Laus immer wieder zwischen den sorgfältig geflochtenen Zöpfchen auf und ab. Die Kleine war sechs
Jahre alt, aber das wussten wir zu dem Zeitpunkt
noch nicht. Seit einem Monat in der Grundschule. Sie
hat nicht geweint, sie hatte eher diese merkwürdig
lautlose Angst.
»Wie heißt du?«, fragte Anne-Laure, die sorgsam
Abstand hielt, um sich keine Läuse einzufangen.
Mit einer jungen Frau zu sprechen, schien die
Kleine ein wenig zu beruhigen, trotz des Blicks von
Anne-Laure, der von kupferfarbener Kälte war. Sie
murmelte:
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»Elikya.«
Anne-Laure zog eine weitere Zigarette hervor. Sie
ließ sich Zeit beim Anstecken, schnalzte gereizt mit
der Zunge, wandte den Blick ab. Dann nahm sie ein,
zwei Züge und erklärte:
»Das ist doch kein Vorname.«
»Da, wo sie herkommt, schon«, spottete Gonzague,
und dann rief er mit einem starken Akzent, »Elikya!
Elikya! Komm und rupf dieses fette Huhn!«
Florian hielt die Kleine immer noch am Schal fest.
Sie schaute nach rechts, nach links, es war niemand da.
»Lass sie los, wir kriegen sonst Ärger«, sagte ich.
»Wir kriegen Ärger, Flo, ihr Lehrer kommt bestimmt
gleich wieder raus.«
Élise streckte geistesabwesend die Hand aus, um
der Kleinen die Laus von der Stirn zu pflücken, die
dort Delfin spielte. Das Insekt ruderte hysterisch mit
den Beinchen. Élise hielt es zwischen ihren perlmuttfarbenen Fingernägeln in der Zange. Wir traten neugierig näher. Die Laus trat ins Leere, krümmte sich.
Ihr Kopf war zwischen Élises Fingernägeln versteckt.
Ihr Körper war fett und voller Blut. Im nächsten Moment trennte Elise den Kopf vom Körper. Die Laus
hörte auf zu strampeln, und Élise warf sie auf die
Erde, durchs Gitter. Und dann sagte sie:
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»Die anderen müssen wir ihr auch noch entfernen.«
Und Florian, als hätte er nur darauf gewartet, zog
das Mädchen am Schal und wir setzten uns wieder
in Bewegung.
–
Ja, es war Élise, die das gesagt hat, ich weiß, dass
manchmal anderes erzählt wurde, aber das hier ist
die Wahrheit. Was nicht heißen soll, dass die Idee
allein von ihr gewesen wäre oder dass sie bei dem
Rest die Führung übernommen hätte. Außerdem sind
wir ja auch alle mitgegangen. Ich selber habe anfangs
gedacht, das ist alles nur ein Spaß und gleich kehren
wir wieder um, aber als wir dann um die nächste
Ecke bogen, wurde mir klar, dass ich wohl falschlag.
Und da bekam ich dann richtige Beklemmungen –
so ein Gefühl, als säße mein Kopf plötzlich auf einem
viel zu großen Körper, und es dauerte zehn Sekunden, bis ich mich wieder an meine Augen gewöhnt
hatte, an das Dröhnen in meinen Ohren, an diese von
Abgasen erfüllte Stadt. Man hat mich gefragt, wa22
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