Rede von Professor Sönke Neitzel anlässlich des

Sehr geehrter Herrn Staatssekretäre, Exzellenzen, lieber Herr Meckel, meine sehr geehrten
Damen und Herren,
meinen ersten Kriegsgräberfriedhof besuchte ich zusammen mit Onkel Erwin. Im Juni 1984,
wenige Tage nach dem großen Rummel des Reagan-Besuchs in der Normandie standen wir in
Marigny, westlich von Saint Lo, am Grabe seines Kompaniechefs. Onkel Erwin blickte still und
nachdenklich auf die schlichte Grabplatte. Ich war damals 15 Jahre alt und fragte ihn nach
einer Weile, woran er nun denke. Onkel Erwin sagte: „Er hat sich um uns 18-jährige Bengel
wie ein Vater gekümmert. Er war lange an der Ostfront und beruhigte uns, wenn ein
amerikanischer Angriff bevorstand“. Wir standen noch eine ganze Weile schweigend an dem
Grab.
Onkel Erwin wurde am 17. Juli 1944 schwer verwundet worden. Wir haben auf unserer Reise
in die Normandie noch die halb zugeschüttete Stellung gefunden, in der ihm Granatsplitter
den Bauch aufrissen. Er überlebte knapp und wusste sich später mit der ihm eigenen
Gerissenheit einem weiteren Fronteinsatz zu entziehen.
Nur wenige Wochen zuvor, im Mai 1984 hatte Helmut Kohl mit Ronald Reagan den
Soldatenfriedhof Bitburg besucht. Die Empörung war damals groß, weil unter den 2000 dort
begrabenen Soldaten auch 59 Angehörige der Waffen-SS lagen, vor allem von der 17. SSDivision „Götz von Berlichingen“, in der auch Onkel Erwin und sein Kompaniechef kämpften.
Damals habe ich die Komplexität der Dinge nicht wirklich verstanden, die Dimensionen des
Zweiten Weltkrieges, vor allem auch die Rolle, die Waffen-SS und Wehrmacht im
Vernichtungskrieg spielten. Heute, mehr als 30 Jahre später, ist das natürlich anders. Über die
Waffen-SS als Institution haben wir mittlerweile ein sehr genaues Bild und wissen, dass sie
sich sehr wohl von der Wehrmacht unterschied, etwa im Hinblick auf die Ideologisierung ihrer
Offiziere und Unteroffiziere. Längst wissen wir aber auch, dass die Wehrmacht ein wichtiger
Teil des NS-Vernichtungskriegs gewesen ist. Ihre 17 Millionen Mitglieder bildeten die ganze
Bandbreite der deutschen Gesellschaft ab: fanatische Mitglieder der Allgemeinen SS wie
Theodor Habicht finden sich hier ebenso, wie kritische Geister. Man denke etwa an Alfred
Andersch, nach dem Krieg einer der wichtigsten Angehörigen der Gruppe 47. Die Bandbreite
deutet schon an, dass man die Wehrmachtsoldaten bei allem Wissen nicht nur auf Verbrechen
reduzieren kann.
Eine große soziale Bandbreite gab es aber auch in der Waffen-SS, in der Mörderfiguren wie
Theodor Eicke ebenso dienten wie ein Günter Grass. Das Rahmenpersonal der 17. SS-Division
bestand aus altgedienten SS-Männern, Ostfrontveteranen der Division „Das Reich“ wie sein
Kompaniechef, während die Mannschaften ganz junge Soldaten waren, meist Jahrgang 1925,
so wie Onkel Erwin. Heute wissen wir, dass die Division Kriegsverbrechen in der Normandie
beging und insgesamt wohl radikaler kämpfte als die Wehrmachtdivisionen. Genaueres ist vor
allem von zwei Kriegsverbrechen bekannt, einem an französischen Zivilisten im Juli 1944 und
einem an amerikanischen Gefangenen ganz zu Beginn der Schlacht in der Normandie. Es gibt
Indizien, dass es wohl noch mehr Verbrechen gab und wir nur die sprichwörtliche Spitze des
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Eisberges kennen. Freilich: Was tausende Gefallenen der Division, die heute weit verstreut auf
Friedhöfen in Frankreich und Deutschland liegen, im Einzelnen taten, dachten, erlebten ist
heute praktisch nicht mehr zu rekonstruieren. Meist kennen wir von ihnen nur die
Lebensdaten. Die allermeisten von ihnen haben wohl noch nicht einmal im Kampf einen
Menschen getötet.
Wir können es uns mit unserem Erbe also nicht zu leicht machen. Böse Waffen-SS, gute
Wehrmacht funktioniert ebenso wenig wie: dies waren alle Nazis und wir sind heute keine
Nazis mehr, auch das ist allzu einfach. Das Handeln „ganz normaler Männer“ im Zweiten
Weltkrieg weist in seiner Handlungslogik etliche Parallelen zu unserer heutigen Zeit auf. Und
es ist wohl eine Illusion zu glauben, dass wir heute per se bessere Menschen geworden seien.
Es gibt viele Faktoren, die erklären warum Menschen tun, was sie tun – damals wie heute.
Rassismus und Antisemitismus sind gewiss nicht unterschätzen. Ob jemand tötete, gar zum
Mörder wurde, hatte meist aber ganz andere Gründe. Dieser Komplexität müssen wir uns
stellen, wir dürfen davor nicht die Augen verschließen, so wie das im Alltag von
Erinnerungskultur und Politik gerne gemacht wird, um kontaminierte Themen zu umschiffen.
Angela Merkel und Gerhard Schröder besuchten auf ihren Normandiereisen 2004 bzw. 2014
ganz bewusst nicht La Cambe, den größten deutschen Friedhof dort, auf dem unter 22.000
Gefallenen auch der Hauptverantwortliche des Massakers von Oradour liegt. Sie besuchten
lieber Ranville, wo 2.200 Gefallene der Commonwealth-Staaten liegen und 322
Wehrmachtsoldaten. Die Wahl fiel wohl auf Ranville, weil es keine Erkenntnisse über dort
ruhende SS-Männer gab. Inzwischen wissen wir, dass auch dort SS-Angehörige liegen, wie auf
fast allen deutschen Kriegsgräberstätten. Freilich sagt dies nichts darüber aus, ob wir dort
Kriegsverbrecher vorfinden oder nicht. Wir wissen es schlicht nicht, ob dort Deutsche liegen,
die sich Untaten haben zu Schulde kommen lassen. Im Übrigen: auch auf den alliierten
Friedhöfen liegen wohl etliche amerikanische, kanadische, britische Soldaten, die Gefangene
ermordeten, Frauen vergewaltigten. Diese Dimension ist in der Forschung zwar schon
thematisiert, in der Erinnerungspolitik der Amerikaner und der Commonwealth-Staaten aber
noch nicht angekommen.
Ich würde jedem deutschen Politiker empfehlen, sich ganz bewusst allen Seiten der deutschen
Geschichte zu stellen und die Soldatenfriedhöfe sind dazu sehr gut geeignet. Der Volksbund
versucht mit der Überarbeitung der Ausstellungen und Texttafeln seiner Friedhöfe – in enger
Abstimmung mit dem wissenschaftlichen Beirat – diesen Weg zu gehen. Es kann nicht die
Lösung sein, Friedhöfe mit missliebigen Toten zu meiden oder gar ihre Gräber zu entfernen.
Im Gegenteil es muss auf deren Taten hingewiesen werden, es gilt diese in den Kontext von
Krieg und Diktatur zu stellen.
Das Problem ist natürlich, dass es bei der Geschichtspolitik ja nicht um Geschichte, sondern
um Politik geht. Es geht um positive Identitäten, es geht darum, politische Botschaften zu
senden, die möglichst nicht missverstanden werden sollen. Geschichte ist dabei eine Art
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Wühltisch. Man sucht so lange darin herum, bis sich etwas Passendes findet. Für einen
Wissenschaftler ist das immer unbefriedigend, weil wir uns ja gerade um die Komplexität
bemühen, das Herausarbeiten der Grautöne. Diese Grautöne zu vermitteln, nicht nur in
Täter/Opfer-Gegensätzen zu argumentieren, und letztlich zu erklären, wie Menschen im Krieg
handelten, dies bleibt die große Aufgabe von uns allen.
Der Volksbund kann und wird dabei eine prominente Rolle spielen. Die von ihm betreuten
Friedhöfe sind oftmals die letzten sichtbaren Spuren des Zeitalters der Extreme. Es sind
Lernorte, auf denen sich die Geschichte von Krieg und Gewalt wie kaum an einem zweiten Ort
erfahren lässt, weil sich dort die persönlichen Dimensionen der Weltkriege offenbaren. Und
dies nicht nur von deutschen Soldaten, sondern auch von Soldaten anderer kriegführender
Mächte, von Zwangsarbeitern, Deserteuren, Kriegsgefangenen, Zivilsten, Vertriebenen, Toten
aus den sowjetischen Speziallagern – Gräber all dieser Gruppen sind auf den Friedhöfen des
Volksbundes zu finden.
Ich sage es noch einmal: An kaum einem anderen Ort lässt sich die komplexe Geschichte des
Krieges so gut erfahren wie hier. Beeindruckend war für mich etwa der Besuch des Friedhofs
in Halbe, vor den Toren Berlins, ein Besuch, den ich Ihnen allen – so sie noch nicht dort
gewesen sind – nur empfehlen kann. Gerade hier ist der Wahnsinn der Kämpfe am Ende des
Krieges gut zu erfassen, auch weil dort eine extreme Vielfalt unterschiedlicher Biographien zu
finden ist und jedes Jahr einige Hundert neue Gefallene zugebettet werden. Ein lebender
Friedhof, wenn man so will, über 70 Jahre nach Kriegsende.
Unser aller Aufgabe ist es, den Volksbund in seiner wichtigen Arbeit zu unterstützen. Ihm
gebührt unser Dank für die Pflege der Gräber, die erhalten werden sollen als Mahnung an das,
was im Zeitalter der Weltkriege geschah. Erhalten und gepflegt, wie das Grab meines
Großvaters, Obergefreiter Herbert Klingenberg, gefallen im April 1944 bei einem
amerikanischen Luftangriff auf Belgrad, aber eben auch wie jenes des SS-Hauptsturmführers
und Kompaniechefs von Onkel Erwin.
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