Suizid und Suizidalität | S C H W E R P U N K T Suizid als Akt der Freiheit oder Ausdruck einer Notlage? Berufsethische Überlegungen zu Suizid und Umgang mit suizidalen KlientInnen Text: Sonja Hug Die Suizidalität von KlientInnen konfrontiert Sozialarbeitende mit schwierigen Fragen. Wie viel Verantwortung trage ich? Welche Intervention ist angemessen? Nicht zuletzt stellen sich Fragen zum Wert des Lebens an sich. Berufsethische Orientierung hilft, mit der Belastung umzugehen. Das Bundesgereicht hat, mit Verweis auf die EMRK Art. 1 Ziff. 1, 2006 festgestellt, dass zum Recht auf Leben auch das Recht gehört, über dessen Beendigung zu bestimmen. Es gehört zur individuellen Freiheit, seinem Leben ein Ende setzen zu können (Bundesgerichtsurteil 2A.48/2006). Auch Jean Améry sieht in seinem viel beachteten Essay «Hand an sich legen» den Suizid als letzten Akt der Freiheit. Wer aber Suizid ausschliesslich als Ausdruck von Selbstbestim mung sieht, verdrängt die Tatsache, dass Menschen in aller Regel aus einer Notlage heraus Suizidgedanken und Suizid handlungen entwickeln. Dabei stehen psychische Erkran kungen, aber auch soziales Leiden wie Vereinsamung, mangelnde Integration und Lebensperspektiven im Vor dergrund. Die erschreckend hohe Zahl von 1037 Suiziden Die erschreckend hohe Zahl von 1037 Suiziden im Jahr 2012 in der Schweiz ist nicht primär ein Ausdruck grosser Freiheit, sondern grosser Not im Jahr 2012 in der Schweiz ist nicht primär ein Ausdruck grosser Freiheit, sondern grosser Not. Der Anstieg der Sui zidrate in Griechenland in den letzten Jahren lässt nicht darauf schliessen, dass sich die Selbstbestimmung der GriechInnen speziell erhöht hätte, sondern ist ein erschüt ternder Beleg für die Verwerfungen, die eine rigorose Spar politik anrichtet. Die Soziale Arbeit als Profession hat sich in ihren ethischen Richtlinien dazu verpflichtet, Men schen nicht nur in ihrer individuellen Freiheit zu stärken, sondern macht deutlich, dass Menschen, um ein gutes Le ben leben zu können, auf Anerkennung durch andere und auf gerechte Sozialstrukturen angewiesen sind (Berufs kodex Soziale Arbeit Schweiz 4.2). Soziale Arbeit soll, so der Sonja Hug ist Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW mit Schwerpunkt Ethik sowie klinische Sozialarbeit und Leiterin MAS ethische Entscheidungsfindung in Organisation und Gesellschaft. Kodex, aufmerksam sein gegenüber sozialer Benachteili gung. Sozialarbeitende sind bei der Konfrontation mit Sui zidalität von KlientInnen immer dazu aufgefordert, das dahinter stehende Leiden zu ergründen und soweit dies möglich ist zu lindern. Suizid ist aus sozialarbeiterischer Sicht nicht nur als Akt individueller Freiheit zu verstehen, sondern auch als Ausdruck psychischer und sozialer Not. Im Dilemma zwischen Recht auf Autonomie und Fürsorge Der Berufskodex betont die Bedeutung der Selbstbestim mung von KlientInnen. Gleichzeitig sieht er eine mögliche Beschränkung der Selbstbestimmung im Falle einer Fremdoder Selbstgefährdung vor (Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz 8.5). Das Selbstbestimmungsrecht kann in diesem Fall gegen andere Werte, wie die des Lebensschutzes, abge wogen werden. Die Suizidalität von KlientInnen führt Sozialarbeitende so an das prototypische Dilemma zwi schen dem Recht auf Autonomie der KlientInnen und der Notwendigkeit der Übernahme von Fürsorge durch die Sozialarbeitenden (Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz 6.3). Ist der schwer traumatisierte Klient in der Lage, in der Krisensituation die Verantwortung für sich selber zu über nehmen oder ist eine stationäre psychiatrische Betreuung zu seinem Schutz, und möglicherweise gegen seinen Wil len, notwendig? Wie tief geht die Verzweiflung der Jugend lichen mit ihrem Liebeskummer und dem damit verbun denen Selbstwertverlust? Ist die Überweisung in eine Kri seninterventionseinrichtung zum Schutz notwendig oder reicht es, einen nächsten Besprechungstermin zu verein baren? SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind oft die ersten Fachpersonen, die mit der Suizidalität der KlientInnen konfrontiert werden. Ihre Verantwortung ist es, mögliche Suizidalität wahrzunehmen und mit den K lientInnen zusammen nach Entlastung zu suchen. Bei der Beurteilung solcher Situationen sind diagnostische und auch beratungsmethodische Fachkenntnisse zwin gend notwendig. Es geht dabei darum, die Situation auf der Basis wissenschaftsbasierten Wissens einzuschätzen und mit den KlientInnen adäquat über ihre Suizidgedanken zu sprechen. Verantwortung übernehmen bedeutet, die Situa tion bewusst zu gestalten. Ebenso bedeutet Verantwortung im professionellen Kontext, die für solche Situationen erfor derlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln und aufrechtzuerhalten (ethische Richtlinien IFSW Punkt 5). Das Dilemma zwischen Achtung vor der Autonomie und der Verpflichtung zur Fürsorge, mit der damit allenfalls verbundenen Verletzung der Selbstbestimmung, bedingt eine ethische Reflexion. Es gehört zum Dilemma, dass eine Entscheidung, die beide Werte gleichwertig berücksich tigt, nicht möglich ist. Die ethische Reflexion muss die Fak ten des konkreten Einzelfalles, wie Risikoabschätzung, der Nr. 5_Mai 2015 | SozialAktuell 15 S C H W E R P U N K T | Suizid und Suizidalität Grad der Urteilsfähigkeit, die vorhandenen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten sowie die auf dem Spiel stehenden Werte, wie Recht auf Selbstbestimmung, Ver pflichtung zum Schutz vor Selbstschädigung etc. zueinan der in Bezug setzen. Urteilsbildung in diesen Situationen wird nicht gänzlich unabhängig von eigenen Einstellun gen zu Suizidhandlungen geschehen. Es gilt aber in jedem Fall: Die eigene Haltung kann nicht der einzige Massstab sein, berufsethische Überlegungen sind zentral miteinzu beziehen. Die Ohnmachts- und Allmachtsfalle Die Konfrontation mit Suizidalität ist für Angehörige, aber auch für Fachpersonen eine äusserst belastende Situation. Es stellen sich existenzielle Fragen nach dem Wert des Le bens an sich, nach der ganz persönlichen Verantwortung. Auf die Frage «Wie viel kann ich, muss ich tun, und wo hört meine Verantwortung auf?» gibt es nicht eine richtige Ant wort. Vielmehr geht es darum, im Einzelfall nach bestem Wissen und Gewissen die Abwägung vorzunehmen. Eink und Haltenhof beschreiben in diesem Zusammenhang zwei Haltungen, die eine adäquate Verantwortungsüber nahme behindern. Sie sprechen von der Ohnmachts- und der Allmachtsfalle (vgl. Eink/Haltenhof 2012 S. 18–19). Unter der Ohnmachtsfalle subsumieren sie jene Einstel lungen, die besagen, dass es nicht darauf ankommt, was die Helfenden tun, KlientInnen werden so oder so ihren Entschluss umsetzen oder es auch lassen. Die eigene pro fessionelle Intervention spielt keine Rolle. Diese Haltung blendet die Verantwortung und die Möglichkeiten der pro INSERAT 16 SozialAktuell | Nr. 5_Mai 2015 fessionellen Bezugspersonen gänzlich aus. Die Allmachts falle bezeichnet die Überzeugung, dass eine adäquate pro fessionelle Intervention einen Suizid in jedem Fall abwen den kann. Wer dieser Überzeugung ist, lädt sich zu viel Verantwortung auf. Beide Haltungen sind empirisch wie derlegt. Es ist sehr wohl möglich, durch einen professionel len Kontakt mit einer entsprechenden Intervention die Suizidalität zu reduzieren, gleichzeitig gibt es keine abso lute Sicherheit, und viele Suizide bleiben einsam Ent scheide oder Impulshandlungen, die nicht durch Dritte beeinflusst werden konnten. Der Ausweg aus der Ohn Suizid und Suizidalität | S C H W E R P U N K T machts- und der Allmachtsfalle besteht darin, Verantwor tung zu übernehmen, wofür man Verantwortung über nehmen kann: für die eigenen Handlungen, Interventio nen, nicht aber für das Leben der KlientInnen (Nida-Rüme lin 2011 S. 19–38). Der Tod einer KlientIn durch Suizid ist immer eine grosse Belastung, zu wissen, dass man wohler wogen das getan oder unterlassen hat, was unter den gege benen Umständen möglich und fachlich sowie ethisch adäquat erschien, hilft, mit der Situation umzugehen. Sonderfall assistierter Suizid? Die Thematik des assistierten Suizides wirft verschiedene, ethisch komplexe, Fragen auf. Hier soll ausschliesslich auf die Haltung und die Verantwortung von Sozialarbeiten den kurz eingegangen werden. SozialarbeiterInnen kom men im Kontext der klinischen Sozialarbeit mit der The matik in Kontakt. Menschen mit schweren, z. B. progre dient verlaufenden Erkrankungen, bringen in Beratungs gesprächen das Thema auf, überlegen sich den Schritt, brauchen GesprächspartnerInnen. In aller Regel erfolgt der Schritt zum assistierten Suizid wohlüberlegt und rational begründet. Rationale Begründung bedeutet dabei nicht, dass kein grosser Leidendruck besteht. (vgl. Rippe 1998 S. 20). Wie eingangs dargelegt, sollen SozialarbeiterInnen Auszug aus «Darüber reden»: Perspektiven nach Suizid Poetisches aus meiner Sicht – aus seiner Sicht Aus meiner Sicht Will erzählen von den dunklen Jahrringen im Holz meiner Seele Weil Dein Ton mir fehlt Bin aus dem Takt geraten suche Gleichgewicht Die Trauer um das Ungelebte die nicht gespielten Töne in unserem gemeinsamen Konzert füllt ganze Konzertreihen Nur der Applaus fehlt Deine Hände die oft gestreichelt mich sanft brachten dir den Tod Antworten sind keine zur Hand nichts ist mehr wie es war Ausgebrochen bist du aus Deinem Leben aufgebrochen bin ich zu mir selbst eingebrochen bin ich zuerst zerbrochen das Gemeinsame pflege Umbruch Bruchstellen Habe überlebt nehme das Leben im Hier und jetzt wo lebst du? Stehe am Anfang will mich besser verstehen stehe mir nahe Die Tage füllen mit leeren Händen und schwerem Herzen in den Nächten mit Antworten ein Feuer entfachen abwarten den Morgen Tau den Mut damit tränken Wenn meine Trauer Gekochtes wäre gliche sie einem Eintopfgericht welches niemand mag dessen Zutaten schlecht zueinander passen Aus seiner Sicht Ich kann nicht mehr so meine letzten Worte an Euch Fragende dort Meine Lebenskraft verbraucht erschöpft am Ende Tod ist immer so bei Suizidwünschen von KlientInnen nach den Möglich keiten fragen, wie das Leiden anders gelindert werden könnte. Dies gilt durchaus auch beim Wunsch nach assis tiertem Suizid. Sind alle palliativen Möglichkeiten ausge schöpft? Gibt es Möglichkeiten, die Isolation einer KlientIn zu durchbrechen und wird so allenfalls wieder Lebenssinn möglich? In dieser Beziehung besteht bezüglich der Bera tungshaltung kein wesentlicher Unterschied zum Um gang mit Suizidalität an sich. Es soll nicht zu schnell und ausschliesslich auf den Aspekt der Freiheit fokussiert wer den. Im Falle eines lang anhaltenden, konsistenten Wun sches nach assistiertem Suizid kann allerdings davon aus gegangen werden, dass nicht kurzfristige Verzweiflung oder eine schwere vorübergehende Krise die Ursachen sind. Es bestehen also weit weniger gewichtige Gründe, die KlientInnen vor sich selber zu schützen. «Das Anrecht der Menschen, im Hinblick auf ihr Wohlbefinden ihre eigene Wahl zu treffen» (Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz 8.5) tritt in den Vordergrund. Um die eigene Wahl treffen zu können, benötigen die KlientInnen Informationen und Ge sprächspartnerInnen. Die Verantwortung in der sozial arbeiterischen Beratung von Menschen, die sich mit der Möglichkeit des assistierten Suizides auseinandersetzen, liegt darin, sicherzustellen, dass die KlientInnen umfas send über Alternativen aufgeklärt sind. Gleichzeitig gilt es, die Entscheidung als Ausdruck persönlicher Freiheit zu re spektieren. Die Frage des assistierten Suizides tangiert zen trale weltanschauliche und religiöse Fragen. Sozialarbei tende tragen nicht nur die Verantwortung für ihre Inter ventionen, sondern sind aufgefordert, ihre eigenen Gren zen zu achten (Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz 11.1). Wer angesichts von Wünschen nach assistiertem Suizid von KlientInnen in Gewissenskonflikte gerät, die er oder sie nicht mehr lösen kann, darf auch in den Ausstand tre ten. Die Beratung der KlientInnen ist dann durch eine Be rufskollegIn sicherzustellen, und die eigene Situation ist der KlientIn transparent zu machen. Auch hier gilt, Verant wortung für sich und andere übernehmen bedeutet, die Situation bewusst gestalten, wohlüberlegte und begrün detet Entscheidungen treffen. Literatur Améry, Jean (2012): Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart. 14. Auflage. Erstausgabe 1976. Fenner, Dagmar (2008): Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit? Eine medizinethische Untersuchung. Freiburg/München. Eink, Michael/ Haltenhof, Horst (2012): Umgang mit suizidgefährdeten Menschen. Bonn. Nida-Rümelin, Julian (2011). Verantwortung. Stuttgart. Rippe, Klaus Peter (1998): Das Recht auf Suizid. Sammlung Folia B ioethica Heft 21. Genève. Teismann, Tobias/ Dormann, Wolfram (2014): Suizidalität. Göttingen. Links www.avenirsocial.ch/cm_data/Do_Berufskodex_Web_D_gesch.pdf www.ifsw.org/policies/statement-of-ethical-principles/ www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung/themen/ethik Silvia Blaser Wieder fassungslos Schmerzwellen überrollen schleifen Edelstein Jörg Weisshaupt (Hrsg): «Darüber r eden». P erspektiven nach Suizid: Lyrik und Prosa von Hinterb liebenen. Verlag Johannes P etri Basel. 2013. ISBN 978-3-03784-036-8 Nr. 5_Mai 2015 | SozialAktuell 17
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