„Dumme“ Rohre – „Intelligente“ Netze. Sind unsere Rohre wirklich

FACHBERICHTE Rohrnetz
„Dumme“ Rohre – „Intelligente“
Netze. Sind unsere Rohre wirklich
dumm? (Teil 1)
Holger Brauer, Susanne Höhler und Hossein Karbasian
Rohrnetz, Pipeline, Stahlrohr, Biegung, Tragfähigkeit, Beulen, Überwachung, Leckage
Trotz aller Vorschriften und Spezifikationen kommt es immer wieder zu Unfällen beim Betrieb von druckführenden
Medienleitungen. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein. Ziel der Rohrleitungsbetreiber muss es daher sein, rund
um die Uhr und vollständig über den Zustand der Leitung und Umgebung informiert zu sein. Welche Strategien und
Methoden es in Bezug auf die Überwachung der Rohrleitung gibt wird im vorliegenden Artikel übersichtlich beleuchtet. Dieser konzentriert sich hierbei vor allem auf die Überwachung von Verschiebungen bzw. Verformungen der Leitungen und auf die Detektion von Leckagen mittels Fasermaterialien.
"Smart" Pipes - "Intelligent" Grids.
How can steel tubes be smartened?
Despite regulations and specifications for pressure pipelines accidents cannot be completely avoided. Various reasons
may cause accidents. Pipeline operators therefore target to have an around-the-clock-information about the condition
of the pipeline and its surroundings. The present article states several strategies and methods to monitor a pipeline. It
focuses mainly on the detection of displacements and deformations as well as leakage with fibre materials.
1. Einleitung
In einer Zeit eines immer mehr ansteigenden Umweltund Sicherheitsbewusstseins erhält der zuverlässige und
sichere Betrieb von Stahlrohrleitungen zum Transport
von Öl, Gas oder Wasser einen wachsenden Stellenwert
für die Akzeptanz von Rohrleitungen und -projekten. In
diesem Zusammenhang genügt es oft nicht mehr, die
dem Rohr vom Rohrleitungsdesigner und dem Hersteller
der Stahlrohre mitgegebenen Eigenschaften für die jeweilige Auslegung der Leitung mit entsprechenden Sicherheitsfaktoren einzuhalten. So schreiben immer mehr
Normen und Gesetze die Verwendung von Techniken zur
Leitungsüberwachung vor [1]. Diese Leak Detection Systeme (LDS) dienen der kontinuierlichen Überwachung
des einwandfreien Zustands der Leitungen und erlauben
eine frühzeitige Reaktion auf ungewöhnliche Betriebszustände oder Ereignisse. Hierdurch kann der Eintritt eines
Schadens verhindert oder zumindest die Auswirkung eines Schadens minimiert werden.
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Mittlerweile existieren auf dem Markt eine fast unzählige Fülle von Lösungsansätzen und Methoden zur Überwachung, die es dem Leitungsplaner und -betreiber
nicht einfach machen, die richtigen Methoden für den
jeweiligen Anwendungsfall auszuwählen. Jede Technik
hat ihre spezifischen Stärken und Schwächen, so dass
vermehrt der gleichzeitige Einsatz unterschiedlicher Methoden verlangt wird, wobei sich diese im physikalischen
Prinzip unterscheiden müssen.
2. Notwendigkeit der Überwachung
Beim Betrieb einer Rohrleitung aus Stahl sind grundsätzlich vier Betriebszustände der Leitung zu berücksichtigen:
1. Betrieb der Leitung wie geplant
2. Verformung der Leitung oder Abtrag der Wanddicke: Betrieb der Leitung weiterhin möglich (eventuell unter Berücksichtigung reduzierter Auslastung)
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3. unzulässige Verformung der Leitung oder Abtrag der
Wanddicke: Betrieb der Leitung nicht mehr möglich
(z. B. Knicken, Beulen, Kollaps, Korrosion, Verschleiß)
4. Versagen der Leitung (Leck, Bruch)
Dabei ist die Erhöhung der Spannung oder Dehnung in
der Rohrwand immer Auslöser eines Schadens. Hervorgerufen wird dies durch interne oder externe Beanspruchungen, die zu verschiedenen Lastfällen führen können.
In Bild 1 sind diese schematisch aufgeführt. Sie führen zu
einer Form- oder Lageänderung des Rohres bzw. der
Rohrleitung wie beispielsweise der Zunahme des Umfangs, einer Stauchung der Wanddicke, einer Querkontraktion oder -expansion (Längenausdehnung), einer Biegung des Rohres, oder auch einer Überlagerung einiger
oder fast aller Verformungen.
Die Ursachen für entsprechende Verformungen der
Leitung können vielfältig sein. Natürliche Ursachen sind
beispielsweise Verformungen oder Verschiebungen
durch Verlegung (Bild 2), Erdrutsch (Bild 3), Erdbewegung, Temperaturänderungen oder Frosthebung. Die
größte Anzahl an Leitungsdefekten in Europa mit einem
Austritt des transportierten Mediums sind und waren jedoch Beschädigungen durch Dritte, z. B. bei Bauarbeiten
[4],[5]. Allerdings ist ein Rückgang von z. B. größeren
Ölaustritten in den letzten Jahren von 1,1 auf etwa 0,5 Ereignisse pro 1000 km Leitungslänge in 2013 zu verzeichnen. Was jedoch als immer häufigeres Phänomen in Erscheinung tritt, ist die deutliche Zunahme von terroristischen Anschlägen und dem Diebstahl des transportierten
Mediums.
In Wechselwirkung mit den mechanisch-technologischen Eigenschaften der Rohre wie Streckgrenze, Zugfestigkeit, Duktilität oder Zähigkeit, dem geometrischen Zustand wie Wanddicke(nschwächung), Ovalität oder Exzentrizität der Wanddicke und dem herrschenden
Betriebszustand (Innendruck, Außendruck, Temperatur,
etc.) kann eine entsprechend hohe Belastung zu einer
unzulässigen Verformung (z. B. Kollaps unter Außendruck,
Bild 4), oder zu einem Versagen durch Leckage (Bild 5)
oder Bersten des Rohres (Bild 6) führen. Hierbei können
auch kleine Schäden, oft verstärkt durch sekundäre Ereignisse wie Entzündung des austretenden Mediums, weitreichende Folgen nach sich ziehen.
Bild 1: Beanspruchung von Rohren (schematisch)
Bild 2: Verlegung der OPAL-Pipeline in Norddeutschland [2]
3. Verhalten von Rohren unter Belastung
Stahlrohre können sich aber gegen äußere Einflüsse wie
eine Kraft oder eine Dehnung wehren. Diese Möglichkeit
wird Ihnen vom Stahl- und Rohrwerk sozusagen in die
Wiege gelegt. Bei der Planung der Rohrleitung kann und
sollte dies im Design-Konzept Berücksichtigung finden,
sei es bei der Auslegung gegen anliegende Kräfte (Stress-
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Bild 3: Erdrutsch an einer Tagebaugrube in Yallourn, Australien [3]
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Bild 4: Kollapsversuch und Simulation an der Salzgitter Mannesmann Forschung, Duisburg (SZMF)
Bild 5: Innendruckversuch an der SZMF mit künstlich eingebrachtem Fehler in der
Bild 6: Berstversuch mit duktiler Rissausbreitung an der SZMF
Rohrwand
Based Design), oder von außen aufgebrachte Dehnungen bzw. Verschiebungen (Strain-Based Design). So reagieren die Rohre bei Anlegen einer Kraft, z. B. generiert
aus dem Innendruck, zwar mit einer geringfügigen Verringerung der Wanddicke. Gleichzeitig steigt jedoch die
für weitere Verformungen notwendige Kraft immer weiter an. Wird den Rohren eine Verformung aufgezwungen,
z. B. bei einem Erdrutsch, so können diese mit ihrer hohen
gleichmäßigen Verformungsfähigkeit dem Ereignis entgegen wirken ohne zu versagen. Gleichzeitig besitzen
Stahlrohre gewissermaßen eingebaute finale Notmechanismen, die den Betreiber einer Rohrleitung, sollte er alle
anderen Warnsignale des Rohres wie die hohe Verformung missachtet haben, sichtbar aber endgültig auf eine
unzulässige Belastung hinweisen. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Biegung näher beleuchtet.
Eine lokale Verschiebung der Pipeline in horizontaler
oder vertikaler Richtung (z. B. Bodenbewegungen) verursacht Biegebeanspruchungen. Hierdurch ändert sich der
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Deformationszustand im Rohr und die dehnungsbasierte
Bemessungsgrundlage (Strain-Based Design) kommt
zum Tragen. Während der zunehmenden Biegebelastung steigt die Leitungskrümmung im elastischen Bereich zunächst linear an. Ab dem Beginn der Plastifizierung des Rohrmaterials steigt das Biegemoment weiter
an, weil die Wirkung der Materialverfestigung größer als
der Einfluss der Querschnittsdeformation auf die Rohrsteifigkeit ist. Wird das maximale Biegemoment erreicht tritt
Beulenbildung ein. Durch die hierbei eintretende geometrische Instabilität sinkt das erforderliche Biegemoment
für eine weitere Verformung. Somit ist die kritische Beuldehnung ein entscheidendes Kriterium bei der dehnungsbasierten Leitungsauslegung, welche eine zulässige Deformation ohne Beulenbildung definiert.
Eine Full-Scale Prüfung am Rohr kann beispielsweise
im 4-Punkt-Biegeversuch auf dem Versuchsstand „LiSA“
(„Limit State Analyzer“) der Salzgitter Mannesmann Forschung GmbH (SZMF) erfolgen (Bild 7) [6]. Diese Prüfart
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Bild 7: Beulen unter 4-Punkt-Biegung und FEM-Simulation (SZMF)
Bild 8: Plastische Versagenszustände bei
Einwirkung von Belastungen, hier: Beulen
unter Innendruck
weist gegenüber anderen Biegeprüfverfahren die Vorteile geringerer lokaler Querkräfte und ein homogeneres
Biegemoment ohne Querkraft im Messbereich auf [7],[8].
Finite-Element Simulationen können die Prüfung unterstützen. Analytische Modelle können genutzt werden,
um die Versagensart unter den gegebenen Bedingungen
vorherzusagen [9], [10]. Hierbei ist für den späteren Versagensfall wichtig, ob es unter Biegebelastung des Rohres
entweder zu einem Versagen in der Druckzone (Beulen)
kommt, und damit „nur“ zu einer unzulässigen Verfor-
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mung, oder zu einem Versagen in der Zugzone (Riss), und
damit zu einem ausströmenden Medium (Bild 8). So lässt
sich beispielsweise für den mehrachsialen Beanspruchungszustand einer Biegung unter Innendruck das Verhalten ermitteln. Als Beispiel wurden HFI-geschweißte
Rohre von MLP der Güte API X65 mit Außendurchmesser
406 mm und einer Wanddicke von 9,5 mm betrachtet.
Der Innendruck wurde zu 60 % der Mindeststreckgrenze
(SMYS) der Rohrgüte gewählt. Weiterhin wurden die
Rohrzustände „roh-schwarz“ (AR) und „beschichtet“ (PE)
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Bild 9: Vergleich der kritischen Zustände auf der Zug- und Druckseite des Rohres unter Einwirken einer Biegung bei gleichzeitigem
Innendruck und Veränderung der Beuldehnungen durch den Materialzustand im analytischen Modell
miteinander verglichen. Beim Vergleich der Dehnungen
auf der Zugseite (Bild 9, links) und auf der Druckseite
(Bild 9, rechts) zeigte sich, dass auf der Druckseite die kritische Beuldehnung eher erreicht ist (4,4 % bzw. 6,4 %) als
die kritische Dehnung auf der Zugseite (Gleichmaßdehnung Ag mit 10,4 % bzw. 12,1 %), bei der es zu einem
Aufreißen des Rohres und damit zu einem Leck käme.
Zusätzlich ist zu erkennen, dass sowohl die kritische
Beuldehnung (6,4 % vs. 4,4 %) als auch die kritische Beulspannung (1038 kNm vs. 848 kNm) für das beschichtete
Material höher liegt als für den rohschwarzen Zustand.
Damit sind die Eigenschaften des beschichteten Materials
für diesen Belastungsfall der zu bevorzugende Zustand.
[8]
Fonzo A., Ferino J. and Spinelli C. M.: Pipeline Strain-Based Design Approach: FEM through Full-Scale Bending Tests. Proceedings of the 22nd International Offshore and Polar Engineering
Conference, ISOPE 2012, S. 497/503.
[9]
Höhler, S. und Brauer, H.: Structural behaviour of High-FrequencyInduction (HFI) welded line pipe subject to external bending
loads. The Twenty-third (2013) International Offshore and Polar
Engineering Conference, ISOPE 2013, Anchorage, USA (Proc. Conf.)
[10] Höhler, S. und Brauer, H.: Assessment of HFI line pipe for StrainBased Design via Full-Scale Testing. 3R international special issue 2 (2014), S. 16/21
Teil 2 folgt in Ausgabe 2/2016
Autoren
Literatur
50
[1]
RFL - Technische Regeln für Rohrfernleitungsanlagen. VdTÜV 2011
[2]
http://frank.geekheim.de/?s=einige&feed=rss2 (10.11.2015)
[3]
http://blogs.agu.org/landslideblog/2012/02/15/backgroundto-the-tumbi-quarry-landslide-so-how-can-a-quarry-cause-alandslide/ (10.11.2015)
[4]
Davis, P.M.; Diaz, J.-M.; Gambardella, F.; Sanchez-Garcia, A.; Spence,
M. und Larivé, J.F.: CONCAWE: Performance of European Cross
Country Oil Pipelines, Statistical Summary of reported spillages in
2013 and since 1971. Concawe Oil Pipelines Management Group’s
Special Task Force on oil pipeline spillages (OP/STF-1), 2015
[5]
Przygodda, J.: Beitrag zur differenzierten sicherheitstechnischen
Bewertung und Gestaltung moderner Rohrfernleitungsanlagen
auf der Grundlage eines spezifischen Risikokonzeptes. Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2003
[6]
Karbasian, H.; Höhler, S.; Kalwa, C. und Löbbe, H.: Bauteilversuche
bei kombinierten Belastungen: Rohre unter Biegung und Innendruck. IRO 2014 (Proc. Conf.)
[7]
Shitamoto H., Hamada M., Takahashi N. and Nishi Y.: Effect of Full
Scale Pipe Bending Test Method on Deformability Results of
SAW Pipes. Proceedings of the 22nd International Offshore and
Polar Engineering Conference, ISOPE 2012, S. 557/63.
Dr.-Ing. Holger Brauer
Salzgitter Mannesmann Line Pipe GmbH |
Siegen |
Tel.: +49 2381 420 447 |
E-Mail: [email protected]
Dr.-Ing. Susanne Höhler
Salzgitter Mannesmann Forschung GmbH |
Duisburg |
Tel.: +49 203 999 3192 |
E-Mail: [email protected]
Dr.-Ing. Hossein Karbasian
Salzgitter Mannesmann Forschung GmbH |
Duisburg |
Tel.: +49 203 999 3206 |
E-Mail: [email protected]
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