Christiane Tietz Wer ist Jesus Christus für uns heute? Eine

Christiane Tietz
Wer ist Jesus Christus für uns heute?
Eine theologische Skizze im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer
- „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, … wer Christus heute für uns eigentlich ist“
(Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke [DBW], Bd. 8,
1998, 402). Gilt das auch für die heutige Theologie und Kirche? Oder gibt es eine „Christusvergessenheit“?
1. Probleme mit der Rede von Jesus Christus heute
- In den westlichen Bundesländern ist die Rede von Religion wieder en vogue. In dieser Lage
scheint die Rede von Jesus Christus störend. Ist es nicht besser, hier mit Wilhelm Gräb allgemeiner davon zu sprechen, dass da „eine unbedingt gute Vorgabe [ist]… Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins“, und den Glauben zu beschreiben als den Versuch, „[s]ein Leben
von einer unbedingten Vorgabe her zu verstehen“ (Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche, 202,
343)?
- Angesichts der Konfessionslosigkeit in den östlichen Bundesländern scheint eine Fokussierung der Kirche auf Jesus Christus noch weniger hilfreich. Wie soll man hier überhaupt den
Glauben an Jesus Christus ins Gespräch bringen, wenn Menschen keinerlei Bedürfnis nach
religiöser Orientierung mehr entwickeln?
- Die Kirchen melden sich in ethischen Debatten in unserer Gesellschaft zu Wort. Anschlussfähig sind hier allgemeine schöpfungstheologische Aussagen, nicht christologische Figuren
(wie bspw. das des Paulus, dass nur der Christ Gottes Ebenbild ist). Auch im interreligiösen
Dialog scheint der Glaube an Jesus Christus nur zu stören.
- Auch innerchristlich löst die klassische Lehre von Jesus Christus Proteste aus. Eine Orientierung am Kreuzestod Jesu erscheint lebensverneinend und den Menschen klein machend.
Die Auferstehung Jesu Christi und das Gottsein Jesu sind für den modernen Menschen nur
noch ein Mythos.
- Besonders fraglich ist, wie eine Brücke zwischen uns heute und dem historischen Menschen
Jesus damals und dem damals geglaubten Christus hergestellt werden kann. Für den modernen Menschen „wird … aus dem inkarnierten Gottmenschen, wie er in den neutestamentlichen Evangelien und der theologischen Lehrtradition beschrieben wird, ein Mensch aus einer
fremden, längst vergangenen Zeit, der gestorben und damit unwiederbringlich vergangen ist.“
„Die Inhalte des Glaubens haben den Status von Selbstbeschreibungen des Glaubensaktes und
seiner Gewissheit. Sie beziehen sich auf den reflexiven Glaubensakt, der sich selbst in seinen
Glaubensinhalten ausspricht“. Das „Christusbild“ steht dafür gut, dass der Glaube sich über
„die Bindung menschlichen Sich-Verstehens an die Geschichte, die Notwendigkeit des individuellen Selbstvollzugs des Glaubens sowie die Unableitbarkeit dieses Geschehens aus der
2
Geschichte oder dem eigenen Lebensvollzug [auf]klärt“. „Der Bezug auf die Person Jesus von
Nazareth, also auf ein extra nos, bringt das Eingebundensein jeder Deutung der Geschichte in
eine konkrete, inhaltlich bestimmte Geschichte zum Ausdruck. Der geglaubte Christus symbolisiert das Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in seiner Geschichtlichkeit.“ (Christian Danz, Grundprobleme der Christologie, 2013, 2. 203ff.)
2. Die zentrale Bedeutung Jesu Christi für christliche Theologie und Kirche
- Es gibt nur „zwei Möglichkeiten …, wenn man Gott und Mensch zusammen denken will.
Verdienst heißt die Eine – Gnade heißt die Andere. Mit anderen Worten: Die eine Linie führt
vom Menschen zu Gott hinauf, die andere führt von Gott zum Menschen herab und beide
schließen einander aus – und gehören doch zusammen.“ (Bonhoeffer, DBW 10, 456) „Nicht
Religion macht uns gut vor Gott, sondern Gott allein macht uns gut; seine Tat ist’s, auf die es
ankommt. Vor der aller unser Anspruch versinkt. … Nicht unsere ausgereckte Bettlerhand,
sondern das, womit sie Gott füllt, darauf kommt’s an; und das heißt eben überhaupt zunächst
nicht wir und unser Tun, sondern zunächst Gott und Gottes Tun.“ (AaO., 458)
- „Alles, was wir mit Recht von Gott erwarten, erbitten dürfen, ist in Jesus Christus zu finden.
Was ein Gott, so wie wir ihn uns denken, alles tun müßte und könnte, damit hat der Gott Jesu
Christi nichts zu tun. Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben,
Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt
und was er erfüllt. Gewiß ist, daß wir immer in der Nähe und unter der Gegenwart Gottes leben dürfen und daß dieses Leben für uns ein ganz neues Leben ist; daß es für uns nichts Unmögliches mehr gibt, weil es für Gott nichts Unmögliches gibt; daß keine irdische Macht uns
anrühren kann ohne Gottes Willen, und daß Gefahr und Not uns nur näher zu Gott treibt; gewiß ist, daß wir nichts zu beanspruchen haben und doch alles erbitten dürfen; gewiß ist, daß
im Leiden unsere Freude, im Sterben unser Leben verborgen ist; gewiß ist, daß wir in dem
allen in einer Gemeinschaft stehen, die uns trägt. Zu all dem hat Gott in Jesus Ja und Amen
gesagt. Dieses Ja und Amen ist der feste Boden, auf dem wir stehen.“ (DBW 8, 573)
- Religiös zu sein ist keine Vorbedingung dafür, um auf die Botschaft von Jesus Christus ansprechbar zu sein. In Bonhoeffers Augen hat Gott die Religionslosigkeit der Welt bereits am
Kreuz bejaht: „Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz.“ (DBW 8, 534) Der
nicht-religiöse Mensch, der nicht erst von einer falschen Gottesvorstellung befreit werden
muss, ist dem christlichen Gott näher: „Die mündige Welt ist Gott-loser und darum vielleicht
gerade Gott-näher als die unmündige Welt.“ (DBW 8, 537)
- Der Anweg zu Gott ist nicht über die religiöse Bedürftigkeit des Menschen zu gehen, sondern über die Entfaltung des positiven Inhaltes des Glaubens an Jesus Christus.
3
3. Der Glaube an Jesus von Nazareth als Christus
- Zentral für den christlichen Glauben ist für Bonhoeffer die Einzigartigkeit der historischen
Person Jesus. Bonhoeffer ist überzeugt, dass dieser Jesus, weil er der Christus ist, auch Menschen heute noch anzusprechen vermag. In Bonhoeffers Überzeugung spricht dieser Jesus
Christus heute in der Kirche, in Predigt und Sakrament und christlicher Gemeinschaft. Hier
begegnet Menschen auch heute noch Christus selbst. Diese Begegnung ist echtes Extra nos,
das den Menschen aus sich selbst herausreißt.
- Im Kreuzestod Jesu begegnet Gott als „ohnmächtig und schwach in der Welt“ (DBW 8,
534). Dadurch, dass Gott selbst Leid und Gottverlassenheit erlebt, wird das menschliche Leid
und die menschliche Gottverlassenheit neu qualifiziert: Das Leid, die Gottverlassenheit bekommen ihren Ort in Gott. Damit trennt den Menschen sein eigenes Leid und erst recht seine
eigene Gottverlassenheit nicht mehr von Gott. Die unter uns übliche Bewertung, dass jemand
der leidet, von Gott verlassen ist, wird am Kreuz auf den Kopf gestellt.
- Weil Gott Jesus mit seinem Leben hat selbstständig zurechtkommen lassen, muss auch der
Mensch selbstständig mit seinem Leben zurechtkommen. Durch das Kreuzesgeschehen gibt
uns „Gott … zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig
werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der
uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd
stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ (DBW 8, 533f.) Das Kreuz, so verstanden,
befreit zu einem Leben in dieser Welt.
- Versteht man die Auferstehung Jesu als Mythos, dann muss man auch die Auferstehung der
Toten als Mythos begreifen. Was hat die Kirche dann noch am Grab eines Menschen zu sagen? Die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten speiste sich für die ersten Christen aus der
Begegnung mit dem Auferstandenen und für uns aus der Begegnung mit dem gegenwärtigen
Christus in Wort, Sakrament und Gemeinde. „Das Diesseits darf nicht vorzeitig [!] aufgehoben werden.“ (DBW 8, 501)
- Was geht verloren, wenn man auf das Gottsein Jesu verzichtet? Zunächst ist christliche Theologie ohne einen gewissen „mythologischen Rest“ (Rudolf Bultmann, Neues Testament und
Mythologie, 1988, 63) nicht zu haben.
- „… wenn ich das gleube / das allein die menschliche natur fur mich gelidden hat / so ist mir
der Christus ein schlechter heiland / so bedarff er wol selbs eines heilands …“ (Martin Luther, WA 26, 319) Wenn am Kreuz nur ein Mensch und nicht Gott selbst gelitten hat, dann hat
das Kreuz keine soteriologische, keine mein Leid und meinen Tod in Gott verortende Bedeutung. „In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen.“ (DBW 6, 39)
4
4. Jesus Christus in ethischen Debatten und interreligiösen Dialogen
- „Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit
Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen“ (DBW 6, 34). Schließt sich eine solche, christologische Ethik-Konzeption von vornherein aus den ethischen Debatten in unserer Gesellschaft
aus?
- Die zentralen Werte im weltanschaulich neutralen, säkularen Staat sind „begründungsoffen“
(Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 32006,
311). Sie lassen sich nichtreligiös und religiös begründen.
- Religiöse Akteure sollten ihre Positionen im öffentlichen Raum aber nicht autoritativ, sondern argumentativ vertreten. Dies sollte auch bei einer christologischen Ethik möglich sein,
denn in Jesus Christus zeigt sich Gott als ein menschenfreundlicher Gott, der für diese Welt
da ist. „Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für diese Welt da sein …“ (DBW
8, 415) Dieses Für-die-Welt christlicher ethischer Positionen sollte sich plausibel machen
lassen.
- Der Glaube an Jesus Christus kann auch im interreligiösen Dialog einen Ort haben. Denn
dieser zielt nicht notwendig auf die Feststellung der Gleichartigkeit aller Religionen, sondern
kann auch das Ziel haben, den anderen Glaubenden in seiner religiösen Eigenart zu verstehen
und mich selbst mit meiner einzubringen, zu der eben als Christin auch mein Christusglaube
gehört.
- Mir als Christin hat sich Christus als Wahrheit über Gott, die Welt und mich selbst erschlossen. Aber wieso kann ich daraus ableiten, dass sich dem anderen nicht auf anderem Wege die
Wahrheit über Gott, die Welt und sich selbst erschlossen haben kann? Die strikte Korrespondenz von Glaube und Gotteserkenntnis, von der der christliche Glaube ausgeht, gilt doch auch
hier und verbietet mir, nur weil sich mir nicht der andere Gott als wahr erschlossen hat, daraus
auch abzuleiten, dass es auch für den anderen so ist.