literatur und kunst - Neue Zürcher Zeitung

LITERATUR UND KUNST
9lcue<;3iinf)cr<;3citimf}
Lew Tolstoj und Henri Frederic Amiel
schen Höhepunkt erreicht und ihre formalen
Eine rezeptionsgeschichtliche Skizze
Von Felix Philipp Ingold
Zu den frühesten Teilübersetzungen aus
Amiels Tagebuch, das in den Jahren 1883/1884,
kurz nach dem Tod des Autors, unter dem Titel
«Fragments d'un Journal intime» erstmals in
grösseren Auszügen erschienen war,1 gehörte
neben einer englischen und einer schwedischen
Edition
eine rund hundert Seiten umfassende
Textauswahl «Aus dem Tagebuch Amiels» in
russischer Sprache. Der schmale Reader war
von Lew Tolstoj zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen worden; für die Uebersetzung aus dem Französischen zeichnete die
Tochter des Herausgebers, Marija Tolstaja, ver-
antwortlich.2
Tolstojs Beschäftigung mit Amiel begann
eher zufällig
im Spätherbst 1892, zu einer
Zeit, da der «Graf im Bauernkittel» fast ausschliesslich mit kunst- und moralphilosophischen Problemen und Projekten beschäftigt
war, deren Dringlichkeit sich für ihn gerade damals durch die von Max Nordau und Dmitrij
Mereschkowskij eröffnete «Dekadenz»-Debatte zur unaufschiebbaren Notwendigkeit verschärft hatte.
Am 1. Oktober hielt Tolstoj, mit kritischer
Anspielung auf die «dekadente» Aesthetik des
l'art pour l'art, in seinem Tagebuch fest:
«Schönheit, Freude, nur als Freude, unabhängig vom Guten, ist abscheulich. Das habe ich erfahren und verworfen. Das Gute ohne Schönheit
ist qualvoll. Erst die Vereinigung von beidem, und
nicht die Vereinigung, sondern die Schönheit als
Krönung des Guten. So konnte die Wahrheit lauten. Lese Amiel, nicht schlecht.»
Mag sein, dass Tolstoj bei Amiel, der das
wir beau bloss als eine Vorstufe zum voir juste
anerkannte und dessen asketische Aesthetik im
übrigen primär an Kriterien wie Nützlichkeit,
Aufrichtigkeit, Reinheit orientiert war, eine unerwartete Bestätigung für jene Thesen fand
(oder zu finden glaubte), die er selbst seit 1889
in zahlreichen kunst- und literaturtheoretischen
Entwürfen vorformuliert hatte, um sie später in
seine berühmt gewordene Streitschrift zur Frage
«Was ist Kunst?» (1897/1898) einzubringen; jedenfalls notierte er bereits am 7. Oktober 1892,
eine knappe Woche nach der ersten beiläufigen
Erwähnung von Amiels Namen, dass das
«Journal intime» nicht, nur «sehr schön», sondern auch von seinem philosophischen Gehalt
her bedeutsam genug sei, um ins Russische
Obersetzt zu werden. «Ich war», schrieb Tolstoj
rückblickend im Vorwort zu seiner Textauswahl
von 1894, «frappiert von der Bedeutsamkeit
und Tiefe des Inhalts, von der Schönheit der
Darlegung und, vor allem, von der Aufrichtigkeit dieses Buches.»
Aufrichtigkeit (iskrennost1) ist bekanntlich,
neben formaler Einfachheit und allgemeiner
Verständlichkeit, eines der zentralen Postulate
von Tolstojs utilitaristischer Kunstlehre, und es
erstaunt deshalb nicht, dass er Amiel kurzerhand unterstellt, als Verfasser des «Journal intime» lediglich «mit sich selbst» gesprochen und
dabei überhaupt «nicht an die Form gedacht»
zu haben; die «Form» wäre also, in diesem Verständnis, nicht kalkuliert, sondern allein durch
ihren «Inhalt» konditioniert.
Mehrfach hebt Tolstoj in der Folge Amiels
«Aufrichtigkeit» hervor, welcher das «Journal
intime» seine «Lebensfülle, seine Weisheit,
seine Lehrhaftigkeit, seinen Trost», aber auch
seinen festen Platz h der Reihe jener «schönsten Bücher» verdanke, «die uns Menschen wie
Mark Aurel, Pascal und Epiktet unverhofft beschert haben»
«... das unverhoffte, unwirkliche [sie] Werk
Amiels, sein Tagebuch, wird für immer ein lebendiges, ein für die Menschen notwendiges und befruchtend auf sie einwirkendes Buch bleiben.
Denn der Schriftsteller ist uns teuer und notwendig nur in dem Masse, wie er uns die innere Arbeit
seiner Seele eröffnet, wofern diese Arbeit, das versteht sich von selbst, neu ist und nicht bereits früher geleistet wurde. Was auch immer er geschrieben haben mag: ein Drama, eine gelehrte Abhandlung, eine Novelle, ein philosophisches Traktat,
ein lyrisches Gedicht, eine Kritik, eine Satire
uns ist im Werke des Schriftstellere allein die innere Arbeit seiner Seele wichtig, und nicht jener
architektonische Bau, auf n
d e er zum grössten
Teil, meines Erachtens sogar immer, seine Gedanken und Gefühle verwendet, wobei er sie entstellt.»
Auch den «zutiefst christlichen» Gefühlen
und Gedanken Amiels bescheinigt Tolstoj eine
zugleich bescheidene und kühne «Aufrichtigkeit», zu der man erst im Rückgriff auf Blaise
Pascal eine gleichwertige Parallele finden könne:
«Weder sich selbst noch den andern sagt
Amiel:
bin im Besitze der Wahrheit, höret
nun auf michi" Im Gegenteil, ihm will scheinen
(wie es auch dem eigentümlich ist, der aufrichtig
die Wahrheit sucht), dass je mehr er in Erfahrung
bringt, desto mehr wissen muss, und unablässig tut
er alles, was er nur tun kann, um der Wahrheit
stets näher zu kommen, und daher fühlt er auch
beständig sein Unwissen.»
Diese leidvolle Suche, die Suche
en gimis
richtigkeit
und Ernsthaftigkeit solch schmerzlichen Suchens sei der ganze Amiel
auch dort,
wo sein Stil äusserst kunstvoll, wenngleich in
durchdrungen:
keiner Weise künstlich wirke
«Im Verlauf der gesamten dreissig Jahre seines
Tagebuches fühlt er [Amiel] das, was
wir alle zu
vergessen bestrebt sind
dass nämlich wir alle
zum Tode verurteilt sind und unsere Hinrichtung
lediglich aufgeschoben ist. Und deshalb gerade
ist
dieses Buch so aufrichtig, ernsthaft und nützlich.»
Weder Tolstojs pädagogisches Pathos noch
sein moralischer Rigorismus kann darüber hinwegtäuschen, dass seine spontane Hinwendung
und die darauffolgende, während Jahren andauernde Zuneigung zum Autor der «Fragments d'un Journal intime» weniger durch
Übereinstimmungen im ethischen als vielmehr
im ästhetischen Bereich bedingt waren.
Seit den späten siebziger Jahren
nachdem
er mit «Anna Karenina» (1873/1877) die kritisch-realistische «Analyse des Seelenlebens» literarisch so weit vervollkommnet hatte, dass er
«die Notwendigkeit verspürte, einen anderen
Weg einzuschlagen»
war Tolstoj bemüht,
seine Schreibweise nicht mehr, im Sinn des Realismus, den von ihm dargestellten Gegenständlichkeiten und Ideen anzupassen, n
s o n d e r sie
als unmittelbaren Ausdruck seiner
des Aujeweiligen Befindlichkeit gewissermastors
sen eigendynamisch sich entfalten zu lassen: als
«sichtbaren, äusseren Ausdruck des innersten
verborgenen Lebens des Geistes», denn «in literarisch-künstlerischen Werken gibt es etwas fast
oder auch vollkommen Unbewusstes, Tiefes,
das mit erstaunlicher Deutlichkeit gerade in
äusserlichen Verfahren zum Ausdruck kommt,
im allgemeinen Fluss der Rede, in ihrem Rhythmus, in der Wortwahl selbst».5
Tolstoj ging es nun nicht mehr darum, das
Leben in «realistische» Fiktionen zu transponieren, es anhand von «typischen» Wirklichkeitsausschnitten «kritisch» zu spiegeln, sondern darum, das Leben selbst als Kunstwerk zu
verwirklichen, «es vor jedwedem Schaden zu
behüten und in all seiner Schönheit hervorzubringen».
Durch manch eine Notiz aus dem
Amielschen «Journal intime» dürfte sich Tolstoj in seiner Suche nach neuen, literarisch noch
nicht kanonisierten, der Forderung nach Authentizität und Aufrichtigkeit entsprechenden
Ausdrucksformen bestärkt gefühlt haben; als
Beleg dafür sei hier eine einschlägige Aufzeichnung Amiels vom 6. Februar 1857 angeführt:
«Je sentais augmenter en moi ia perception
poetique, et Ia sympathie pour Ia vie universelle
remplacer ('abstraction de Ia science. Tous les
bruits, toutes les formes, toutes les couleurs, tous
les mouvements faisaient le concert unique, j'etais
lyre eolienne, je reproduisais en moi cette nature.
C'etait bien doux.»
Wie ein fernes, aber durchaus adäquates
Echo auf diese oder ähnliche poetologische Tagebucheintragungen von Amiel wirken zahlreiche schriftliche und mündliche Aeusseningen
Tolstojs aus den frühen neunziger Jahren, der
Zeit also, da er mit der Herausgabe und Kommentierung des «Journal intime» beschäftigt
war; gegenüber Tschertkow etwa
und dieser
eine Hinweis mag hier genügen
formulierte
Tolstoj im Jahre 1894 sein Konzept einer Lebens-Kunst (einer Kunst, die aus dem Leben
hervorgehen und zugleich dem Leben dienlich
sein sollte) wie folgt:
«In jedem belletristischen Werk ist das Wichtigste, Wertvollste und für den Leser Ueberzeugendste die eigene Einstellung des Autore
zum Leben und all das, was er in seinem Werk zu dieser
Einstellung geschrieben hat. Die Ganzheitlichkeit
eines belletristischen Werks beruht nicht auf der
einheitlichen Grundidee, nicht auf der Gestaltung
der handelnden Personen und dergleichen, sondern auf der Klarheit und Bestimmtheit eben jener
Einstellung des Autore m
z u Leben, die das Werk
durchdringt. In bestimmten Jahren darf ein
Schriftsteller bis zu einem gewissen Grade sogar
preisgeben;
die Form
sobald seine Einstellung zu
dem, was er schreibt, klar und zwingend zum Ausdruck kommt, kann das Werk sein Ziel erreichen.»
Es versteht sich, dass Tolstojs eigene Prosawerke
namentlich die grossen Romane und
Erzählungen der sechziger und siebziger Jahre,
die er nunmehr als volksfremde «Herren»Kunst (oder «Kunst»-Kunst) verwerfen zu müssen glaubte
solchen Ansprüchen nicht genügen konnten und dass sie ihm als «Schöpfungen
künstlerischer Fiktion zuwider» sein mussten.
«Ich war», schrieb er in einem selbstkritischen
Brief an Lesskow, «im Begriff, eine belletristische
Arbeit fortzusetzen, doch ob Sie es glauben oder
nicht, ich schämte mich, von Menschen zu schreiben, die nicht gelebt und nichts Derartiges getan
haben. Irgendwie ist das nicht das Richtige. Hat
diese künstlerische Form sich vielleicht überlebt,
geht die Zeit der Erzählungen
geht
oder
Sumstag/Sonnlug. 9./I0. Mai 1981
es
viel-
leicht mit mir zu Ende?»
Tolstoj war damals, 1893, keineswegs am
Ende; am Ende war vielmehr, nach einem halben Jahrhundert der Prädominanz, die Literatur
des kritischen Realismus, eine vorrangig durch
sant
nach Gott deutet Tolstoj, bei Amiel wie den «sozialen Auftrag» bestimmte, durchweg
bei Pascal, als eine Art von «Gottesdienst», vom «Sündenfall des Psychologisierens» (Adoraber auch von Nächstenliebe, denn «durch die no), des demagogischen Politisierens und IdeoLeiden des Suchens wird anderen der Weg zu logisierens bedrohte Gebrauchsliteratur, die beGott geebnet und geöffnet».
Von der Auf- reits in den siebziger Jahren ihren künstleri-
Möglichkeiten weitgehend erschöpft hatte.
Zwar liess Tolstoj noch um 1900 einen in konventioneller Manier verfassten sozialkritischen
Roman erscheinen («Auferstehung», 1899),
doch hatte er inzwischen
«neben der Kunst»
dokumentarische und epistolarische, autobiographische und publizistische Text- und Diskurstypen (darunter auch das Tagebuch) literaturfähig gemacht, die auf die Fiktionalisierung
der dargestellten Wirklichkeit verzichteten und
statt dessen, nach dem Vorbild von Amiels
«Journal intime», die Dinge selber
und das
sprechen Hesheisst: die Dinge für sich selbst
sen. In einem Gespräch mit Goldenwejser,
1905, umriss der alte Tolstoj seinen neuen Literaturbegriff mit den folgenden Worten:
«Mit der Zeit wird man wohl überhaupt aufhören, sich belletristische Werke auszudenken. Man
wird sich schämen, etwas über einen imaginären
Iwan Iwanowitsch oder eine imaginäre Marija Petrowna zusammenzudichten. Die Schriftsteller,
falls es sie dann noch gibt, werden nichts erdichten, sondern lediglich von den bedeutsamen und
interessanten Dingen erzählen, die sie in der Wirklichkeit beobachten konnten.»
Obwohl Tolstoj bis kurz vor seinem Tod
(1910) in unterschiedlichsten Zusammenhängen
stets von neuem auf Amiel zurückgekommen ist
beziehungsweise auf ihn zurückgegriffen hat,
und obwohl noch 1905 die russische Teilübersetzung aus dem «Journal intime» in zweiter
Auflage erscheinen konnte, ist Amiel in Russ-
land weitgehend unbekannt, ja unerkannt geblieben; weder die «modernistischen» Vertreter
des literarischen Impressionismus und Symbolismus noch die Vertreter des vorrevolutionären
religionsphilosophischen und ästhetologischen
Denkens scheinen Amiel
dessen Rezeption
in Polen immerhin mit derjenigen Nietzsches
(bei Brzozowski), in der Tschechoslowakei mit
derjenigen des westeuropäischen künstlerischen
«Synthetismus» (bei Saida) verbunden war
ernst- oder auch nur wahrgenommen zu haben.
Amielsche Spurenelemente sind einzig im essayistischen Werk Innokentij Annenskijs sowie, in
etwas stärkerer Dosierung, bei Wassili Rosanow
nachzuweisen. Letzterer hat übrigens, mit direktem Bezug auf Tolstojs Vermittlungsbemühungen, eine eindrückliche Kurzcharakteristik von
Amiels literarischem Phänotyp in die frühe
Textsammlung «Religion und Kultur» (1899)
aufgenommen:
Nr.
106
67
demzufolge im Autor selbst angelegter
Emotionen.
Graf Tolstoj hat es mit dem Buche Mark Aurels
verglichen, doch ist dies keineswegs,
wie er wohl
meint, ein Lob. Das eine wie das andere dieser
Werke sind gleichermassen Werke des Verdämmerns, der Herbstzeit
Werke aus jener Jahreszeit, da die Säfte in den Menschen-Gewächsen
nicht nach oben stürzen und sie also nicht aufrichten, sondern abwärts streben, zur Erde, in die
Erde.
Bei Amiel gibt es abgründige Intelligenz
und ebensolche Kritik, jedoch kein Schöpfertum.
Es ist dies der Wohlgeruch des Todes. Nach der
Lektüre einer jeden Seite möchte man fragen: wie
viele Tage hatte er wohl noch zu leben?»4
Auch als Amiel im Zusammenhang mit seinem 100. Geburtstag (1921) wieder auf erhöhtes
Interesse zu stossen begann und seine Rezeption zumindest vorübergehend durch namhafte
Kritiker wie Albert Thibaudet (1924; 1929) und
Fritz Ernst (1930) gefördert wurde, blieb er
nach der Oktoberrevolution in Russland eine
weithin unbekannte Grösse. Zwar fand Amiel in
der ersten Ausgabe der Grossen Sowjetenzyklopädie (1926 ff.) nochmals
unter Hinweis auf
Tolstoj
kurze Erwähnung als «schweizerischer Dichter und Moralist», der als typischer
Repräsentant «der nach dem Scheitern
der Re-
volution von 1848 enttäuschten europäischen
Intelligenz» zu gelten habe,
doch wurde er in
den späteren Editionen derselben Enzyklopädie
(1950 ff.; 1970 ff.) nicht
einmal mehr dem Namen nach erwähnt; selbst in den beiden mehrbändigen sowjetischen
Literaturlexika (1929 ff.;
1962 ff.) ist kein Artikel über Amiel zu finden.
Abschliessend ist also festzuhalten, dass die
Rezeption Amiels in Russland
im wesentlichen
auf Tolstojs Vermittlungsversuch beschränkt geblieben ist und dass folglich von der Geschichte
dieser Rezeption nach wie vor nicht in grös-
serem Umfang gehandelt werden kann.
H. F. Amiel: Fragments d'un Journal intime, I ,I I mit
einer Vorrede von Edmond Scherer, Paris 1883 -1884; bereits
1887 (5. Aufl.) betrug die Gesamtauflage des Journal intime
30 000 Exemplare; die von Scherer in Zusammenarbeit mit
Fanny Mercier getroffene Textauswahl
umfasste 567 Druckseiten aus dem rund 16 900 Seiten starken handschriftlichen
1
Konvolut des Tagebuchs.
1
h dnevnika Amielja, St. Petersburg 1894; 2., neu durchAufl. (erschienen in der Reihe «Bemerkenswerte
Denker der alten und der neuen Welt»), Moskau 1905. Nach
der 2. Aufl. wird nachfolgend abersetzt und zitiert. Eine deutsche Übersetzung (von Rosa Schapire) erschien
gesehene
1905: «Tagebacher», Manchen und Leipzig.
erstmals
Vgl. dazu Konstantin Leontjew: Analyse, Stil
und Tendenz (Analiz, Stil' i vejanie). Reprint der Ausgabe von 1912,
>;
«Amiels so duftiges, delikates, tiefes und gar so
edles
weist einen schlimmen, bisher
nicht bemerkten Mangel auf: seine furchtbare Passivität
das Fehlen leidenschaftlicher, tätiger und
<;j.!
itmima
...
Providence 1965, S. 16 ff.
4
W.W. Rosanow: Religion und Kultur (Religija i
kul'tura), St Petersburg 1899, S. 240.
Liebesgedicht
'Das
,|'.'/ älteste romanische
9ih ni
'<;)
V o Gerold
n
(d.h. stell dich blind und suche nicht zu
Vor tausend Jahren trug ein unbekannter
Schreiber in eine Handschrift der Benediktinerabtei Fleury-sur-Loire in der Nähe von Orleans
ein eigenartiges Gedicht ein. Die Handschrift
war im 8. oder spätestens zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Fleury selbst entstanden und enthielt drei Werke des spätlateinischen Dichters
Fulgentius (um 500 n. Chr.) sowie drei Listen
von sogenannten Notae juris. Am Ende dieses
Rechtstextes war eine halbe Seite frei geblieben.
Auf sie wurde, wohl gegen Ende des 10. Jahrhunderts, das uns interessierende Gedicht geschrieben, begleitet von Neumen, mittelalterlichen Noten, welche die zum Gedicht gehörige
Melodie andeuten. Der Text lautet:
Phebi claro nondum orto iubare,
fert aurora lumen terris tenue.
Spiculator pigris clamat: surgite!
L'alba par, iime mar, atra sol.
Poy pas, a bigil, mira dar tenebras.
Hilty
sehen, was du im Licht der Morgendämmerung
sehen könntest: meine Begegnung mit dem
Freund)
Siehe, die Nachstellungen der Feinde brennen
darauf,
die Unachtsamen und in Trägheit Erstarrten abzufangen;
sie ermahnt der Warner mit lautem Ruf, aufzustehen.
Die Morgenröte erscheint . .
Vom Arcturus trennt sich der Polarstern,
die Sterne am Himmel verbergen ihre Strahlen,
das Siebengestirn strebt dem Osten zu.
Die Morgenröte erscheint
. .
Aus den Neumen zu schliessen, besteht musikalisch ein scharfer Gegensatz zwischen Gedichtkörper und Refrain. Die langen lateinischen Verse werden alle zur selben Weise gesungen, die so in jeder Strophe dreimal wiederholt
wird. Der ganze Refrain hingegen weist eine
einzige durchgehende Melodie auf.
Er klingt
lebhaft und erregt, während die Strophen, selbst
wenn sie Gefahr ausmalen, gleichmütig und gemessen sind.
En incautos ostium insidie
torpentesque gliscunt intercipere,
quos suadet prccc clamans surgere.
L'alba part, ume mar, atra sol.
Poy pas, a bigil, mira dar tenebras.
Ab arcturo disgregatur aquilo,
poli suos condunt astra radios,
orienti tenditur septentrio.
L'alba part, ume mar, atra sol.
Poy pas, a bigil.
Das Gedicht besteht aus drei lateinischen
Strophen, mit je dem gleichen Refrain, wobei
nach der dritten Strophe der Text mitten im
Refrain (nach dem Wort bigil) abbricht. Die
Sprache des Refrains ist umstritten. Man hat
darin schon Ladinisch sehen wollen, jene mit
unserem Bündnerromanisch eng verwandte, vor
tausend Jahren sicher in grösserem Umfang als
heute am nordöstlichen Rand von Oberitalien
lebendige Sprachform. Andere Forscher haben
den Text als verballhorntes Latein gedeutet. Die
meisten sind jedoch der Ansicht, es handle sich
um Altprovenzalisch. Dies steht für mich fest,
und ich glaube auch, dass sich der überlieferte
Text ohne korrigierende Eingriffe einleuchtend
n
erklären lässt. Für die lateinischen Strophe
übernehme ich die Uebertragung von Philipp
August Becker.
Vor dem Aufgang des hellen Gestirns des Phoebus
strömt die Morgenröte ein schwaches Licht Ober
die Erde.
Der Wachter ruft den Trägen zu: Stehet aufl
Die Morgenröte erscheint. Oh Mutter!
Er (d. h. der Freund) nähert sich allein.
Da ich zu ihm hingehe, ach Wächter,
betrachte die Helligkeit als Dunkelheit!
Seit das Gedicht vor genau hundert Jahren
entdeckt worden ist, haben sich viele Forscher
nicht nur um das Verständnis des Refrains bemüht und dabei weit über ein Dutzend verschiedene Deutungsvorschläge gemacht; auch das
Wesen des ganzen Gedichts hat Anlass zu grossen Meinungsverschiedenheiten gegeben. Wie
wenig man sich einig geworden ist, zeigt das folgende Zitat aus dem 1979 erschienen Faszikel
des neuen «Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters». In bezug auf unser Gedicht fragt sich Dietmar Rieger: «. . . handelt es
h
rein volkssprachige
sich um eine ursprünglic
weltliche Alba, die bereits von heimlich Liebenden handelt, welche sich vor dem
der Feinde" hüten sollen und vom Wächter zum
Aufstehen ermahnt werden (J. Schmidt), um
den halb ins Lateinische übertragenen provenzalischen Morgenruf eines Wächters ohne Bezug zur Tageliedsituation (E. Stengel), um einen
lateinischen geistlichen Morgenhymnus mit
h
volkssprachigem
volkstümlichem, ursprünglic
Refrain (L. Laistner) oder um ein geistliches
Morgenlied, dessen Refrain den verballhornten
Rest eines lateinischen Turmwächterlieds darstellt (Ph. A. Becker)?»
Drei dieser vier Möglichkeiten sind auszuschliessen. Wenn meine Deutung des Refrains
angenommen wird, ist dieser weder «der halb
ins Lateinische übertragene provenzalische
Neue Zürcher Zeitung vom 09.05.1981
68
SamtUg/Sonntag, 9./10.
Mtl
1981
Nr. 106
Morgenruf eines Wächters» noch «der verballhornte Rest eines lateinischen Turmwächterlieds». Das ganze Gedicht kann auch nicht eine
ursprünglich rein volkssprachliche weltliche
Alba sein. Wer dies annimmt, projiziert eine
spätere altprovenzalische Dichtungsform in unser Gedicht hinein. In der altprovenzalischen
Literatur gibt es die sogenannte alba, die ihren
Namen von der Bezeichnung der Morgenröte
nimmt. Die Morgenröte, als Zeichen des Tagesanbruchs, spielt nämlich in der im Gedicht geschilderten Grundsituation eine zentrale Rolle:
die Dame ist verheiratet
zwei Liebende
gemeinsam verbrachten
müssen sich nach einer
Liebesnacht bei Anbruch des Tages, der ihnen
durch einen Wächter angekündigt wird, aus
Furcht vor dem Entdecktwerden ihrer heimlinicht zuletzt durch
chen Liebesbeziehungen
den eifersüchtigen Ehemann der Geliebten
trennen. Die Grundkonstanten dieser Dichtungsgattung sind in unserem Gedicht nicht
vorhanden. «Die Feinde, die aus ihrem Hinterhalt hervorstürzen, sind sicher nicht eine Schar
eifersüchtiger Ehemänner; die Vorstellung, dass
,
sie um eine Art maison close herumspionieren
die voll träger und unbedachter Liebhaber ist,
wie Peter Dronke zu Recht sagt
würde»
«das Lied zu einer Farce herabwürdigen.»
Die vierte Auffassung, wonach es sich um
einen geistlichen Morgenhymnus mit volkstümlichem Refrain handelt, weist den richtigen
Weg. Wir müssen zuerst einmal nur die lateinischen Strophen betrachten. Sie stehen wirklich
in der bekannten Tradition des christlichen
Morgenhymnus, einer Tradition, die an Ostern
des Jahres 386 in Mailand ihren Anfang nahm.
Um die Uebernahme der Basilica Portiana
durch den arianischen Gegenbischof zu verhindern, durchwachte der Bischof Ambrosius mit
der katholischen Gemeinde die Nacht in der
Kirche. Bei dieser Gelegenheit führte er den bis
dahin unbekannten Hymnengesang ein, den er
im Wechselgesang vortragen liess. Zu den ersten
Hymnen, die er zu diesem Zweck dichtete, gehören jene Morgenlieder, die den Keim der
ganzen späteren Entwicklung in sich tragen.
Diese Entwicklung ist durch folgende Konstanten gekennzeichnet: Das anbrechende Licht
des Tages wird als Abglanz der Herrlichkeit
Gottes begrüsst, wobei Christus als Lichtspender gesehen wird. In dieser symbolischen Deutung der Naturvorgänge wird die Nacht zum
Sinnbild der Sünde, der Schlaf zum Sinnbild
des Todes, die Träume werden zu Einflüsterungen und Versuchungen des Bösen. Die Flucht
der Dämonen bei Tagesgrauen ist Hinweis auf
die Ankunft des Herrn. Der Tag wird angekündigt durch den Ruf des Hahnes, der die geistige
Schläfrigkeit verscheuchen soll und an den
kommenden Weltenrichter erinnert.
In der von Ambrosius, geschaffenen Tradii
tion steht als nächster Dichter Prudentius, der
am Uebergang vom 4. zum S. Jahrhundert
christliches und antikes Gedankengut zu einer
vollendeten Einheit verschmolzen hat. Ein
Hymnus dieses Dichters beginnt so:
,
Der geflügelte AnkOnder des Tages zeigt das Nahen der Helligkeit an; uns ruft Christus, der Welcker der Seelen, zum Leben. Fort, ruft er, mit den
Betten, die für Kranke, Schläfrige und Müssiggänger gut sind, haltet euch wach in Keuschheit,
Rechtlichkeit und Enthaltsamkeit; denn mein
Kommen ist nahe . . . Dieser Ruf . . . ermahnt die,
die in schaurige Finsternis gehüllt sind und trag
unter den Decken stecken, sich aufzuraffen, da es
schon Tag werden will, damit die Morgenröte,
wenn sie den Himmel mit ihren flammenden Ausstrahlungen überzieht, allen mit Mühe und Arbeit
geplagten Menschen in der Erwartung des Tages
neuen Mut einflössen kann.
Neben klassischer Bildung fliessen in späterer, karolingischer, Zeit vor allem auch astronomische und naturkundliche Kenntnisse in die
Tradition ein. So heisst ein anonymer Hymnus
aus dieser Epoche:
Gott, der Du das Licht des Himmels bist und der
Erschaffer des Lichts, der Du, vom Arm des Vaters gestützt, mit erleuchteter Hand den Himmel
ausbreitest; schon verdeckt die Morgenröte die
Sterne und zieht die rot bestrahlte Meerestiefe empor, mittels feuchter Winde die Erde mit Taugüssen beträufelnd. Schon verlangt der Morgenstern
die Wagen mit den feurigen Speichen und Radkränzen, denn der Aufstieg zum Scheitel des Himmels duldet keinen Aufschub. Schon wird der
Schauen der Nacht verscheucht, die Dunkelheit
weicht vom Himmel und der Morgenstern, das
Sinnbild Christi, weckt den schlummernden Tag
auf. Du Heiliger, bist der Tag der Tage, bist selbst
die Klarheit des Lichts, der Du über alles Macht
hast, einträchtig allmächtige Dreieinigkeit.
Es springt in die Augen, dass die drei lateinischen Strophen unseres Gedichts ganz in dieser
Tradition des Morgenhymnus stehen. Noch ei-
nige besondere Hinweise zum Text:
lubat Phoebi (Glanz des Phoebus) als Umschreibung für die Sonne verrät den Humanisten. Speculator (Späher, Wächter) wird in der
Vulgata schon der Prophet Ezechiel genannt,
der das Haus Israel warnen soll, und der älteste
unter den christlichen Schriftstellern römischer
Zunge, Minucius Felix (um 200 n. Chr.), verwendet das Wort zur Bezeichnung für Gott, der
alles sieht und vor dem nichts verborgen bleiben
kann. Schliesslich sagt der bereits genannte Prudentius in einem Morgenhymnus:
Ein Wächter (speculator) steht über uns, der uns
und unsere Taten Tag für Tag beaufsichtigt, vom
frühen Morgen bis zum Abend. Er ist Zeuge und
ist auch Richter, er sieht alles, was der Menschen
Sinn ausdenkt; niemand kann ihn als Richter täuschen.
LITERATUR UND KUNST
Der praeco (Herold) in der zweiten Strophe
nimmt den gleichen Gedanken auf, anknüpfend
an die Tradition des Hahns, der mit seinem
Schrei das Licht des Tages ankündigt und des-
diese Tradition zunutze gemacht, um eine komplizierte zweisprachige Dichtungsform zu bilden. In der Verbindung mit arabischer Kunst-
dichtung hat die mozarabische Volkspoesie ihre
halb schon bei Prudentius als praeco lucis (He- ursprüngliche Reinheit und Natürlichkeit
rold des Lichts) bezeichnet wird. In unserem selbstverständlich nicht voll bewahren können.
Gedicht meint das Wort nicht mehr den krähen- Was wir in den Hargas überliefert haben, gibt
den Vogel, sondern den himmlischen Warner, uns nur indirekt Kunde von der ursprünglichen
dessen Sinnbild der Hahn war.
frühromanischen Lyrik Südspaniens. Es reicht
aus, dass wir uns von dieser Lyrik
Dass die Schläfrigen und Schlafenden den aber dafür
m a c h e können: Rund vier
Versuchungen des Satans, der Beeinflussung ein ungefähres Bild n
Hargas werden durch die
Fünftel
der
erhaltenen
ausgesetzt
sind, wissen wir,
durch böse Geister
Strophe
Schlussund das Wirken dieser daemones wird in der letzte jungen vor dem romanischen gelegt.
refrain
Mädchen
häufig
Es
in den Mund
Metaphern
Tradition
mit militärischen
ist,
klar,
beschrieben, wobei nicht nur
in zahlreichen ist liegt dass dies literarische Konvention
zugrunde,
aber etwas Tieferes
das
der Ausdruck hostes (Feinde) vor- Ihr
Fällen
kommt, sondern auch einmal, in einem Hymnus durch den Inhalt der Hargas bestätigt wird: Die
Lyrik ist Frauenlyrik, die romaniaus dem Kloster Murbach, das Wort insidiantes mozarabische
(die hinterhältig Auflauernden) verwendet wird, schen Lieder, welche die arabischen Dichter ursprünglich
als Ausgangspunkt für ihre Kunstgedas direkt mit unseren insidiae zusammenklingt.
verwendeten, waren Frauenlieder, LieDurch das Aufstehen entgeht man diesen Fein- dichte
der,
denen
ein Mädchen Liebesfreud und vor
zweimalige
in
Aufforderung
den ; deshalb die
aufallem Liebesleid ausdrückt, über das Fernsein
zustehen (surgere).
des Geliebten klagt, Kummer und Schmerz
In der dritten Strophe tritt vor allem natur- Ausdruck verleiht, Mutter und Schwestern um
kundlich-astronomisches Wissen in Erschei- Rat fragt und weder ein noch aus weiss in seiner
nung. Dazu führt Philipp August Becker aus:
Liebe.
«Arcturus, der bunt flackernde Hauptstern des
Wir kehren zurück zu unserem Gedicht.
Bootes, liegt auf dem gleichen Meridian wie der
Frühlingspunkt, aber auf der entgegengesetzten Seine strukturelle Verwandtschaft mit den andalusischen
(hier
Aquilo)
MuwaSäahas springt in die Augen. Es
Himmels;
Seite des
der Polarstern
handelt sich grundsätzlich um eine zweisprasteht zwischen beiden. Wenn nun die Sonne bei chige
Dichtung, schriftsprachliche Strophen mit
der Frühlings-Tagundnachtgleiche im Osten volkssprachlichem
Refrain, wobei allerdings bei
aufgeht, dann ist Arcturus im Westen im Verunserem Gedicht auf jede Strophe der
immer
schwinden begriffen, während der Polarstern, in gleiche
unbewegt
romanische
Refrain folgt, während in
schneiden,
dem sich alle Meridiane
Muwasäahas nur der Refrain der letzten
an seiner Stelle verharrt. Auf halber Höhe zwi- den
Strophe romanisch ist. In bezug auf den Refrain
schen Arcturus und Polaris, aber ihrer Verbindungslinie östlich voraus, schreitet der Wagen selbst ergeben sich ebenfalls enge Verbindungen:
oder der Grosse Bär, der zu den zirkumpolaren
Sternbildern gehört. Er sinkt für uns nie unter
Das Motiv der Morgenröte, der alba. kommt
den Horizont. Am Morgen des ersten Frühlingsauch in der mozarabischen Lyrik vor, und zwar
tages erlebt man also das Schauspiel, dass der in der gleichen Form wie in
unserem Refrain.
Arcturus untergeht, das heisst vom sichtbaren Die Morgenröte ist nicht etwa
wie in späteHimmel verschwindet, während der Polarstern ren provenzalischen albas
der Augenblick,
disgregatur
(ab
aquilo);
bleibt
Arcturo
und dass da sich die Liebenden nach gemeinsam verder Wagen tief unten am Himmel seinen Weg brachter Nacht trennen müssen. Vielmehr ist die
nach Osten nimmt, ohne unterzutauchen (orienli alba die Zeit des Wiedererwachens der Lebenstenditur septentrio). Unsere alba versetzt uns und Liebesgeister, die Zeit der Liebe, der Freualso mit ihrer dritten Strophe in die frühe Mor- de, der Begegnung. So heisst eine Harga:
genstunde des ersten Frühlingstages, in jene
Morgenröte meines Glanzes
Stunde, die Gott seinerzeit wählte, um die Welt
Seele meiner Freude!
zu erschaffen, und in der es ihm beliebte, als die
Da der Wachter diese Nacht nicht da ist,
verlange ich nach Liebe.
Zeit erfüllt war, durch die Verkündung des Engels sein Los mit der Menschheit zu verbinWie
das Beispiel zeigt, wird das Mädchen für
den.»
gewöhnlich bewacht. Die Figur des
Wächters
Man mag diese Deutung für gesucht halten
wird
Bedeutung
aquilo
(Nordprimäre
wie in unserem provenzalischen Reund
seine
wind) geben. Dann sagt der erste Vers der drit- frain
in fünf der erhaltenen mozarabischen
Hargas ausdrücklich genannt.
ten Strophe, dass sich bei Tagesanbruch vom
Arktur her der Nordwind erhebe. Das ändert
Ebenfalls in Uebereinstimmung mit dem
nichts Grundsätzliches am Gehalt dar. Strophe, Refrain unseres lateinisch-provenzalischen GeBeschreibung
Natur,*
welche die
der
wie sie zu dichts spricht das Mädchen in rund einem VierBeginn der ersten Strophe anklingt, wieder auf- tel der erhaltenen niozarabischen Hargas
die
nimmt und die selbstverständliche Ordnung der Mutter an, als Vertraute und als Ratgeberin.
kosmischen Bewegungen den Anfechtungen
Tradition,
Die
in
welcher
der
Refrain
unseund Gefahren des irdischen Lebens gegenüber- res Gedichts steht, scheint mir in diesem
Sinne
stellt.
absolut deutlich sichtbar. Es ist eine Tradition
Bogen,
Trotz diesem
der so von der dritten frühromanischer Frauenlieder. Die Tradition
Strophe zum Anfang des Gedichts zurückge- war sicher verhältnismässig weit verbreitet. Aus
schlagen wird, kann man sich fragen, ob nicht ihr stammen
neben den mozarabischen ijardas natürliche Ende eines geistlichen Morgen- gas
die altportugiesischen Cantigas de amigo
hymnus durch die Anrufung Gottes im Gebe
allerdings in verhältnismässig später
und
t
spanische und französische
hätte gebildet werden müssen. Da unser Text Ueberlieferung
mitten im Refrain der dritten Strophe abbricht volkstümliche Gedichte (villancicos und reobwohl die Handschrift noch mehr Raum frains).
zur Niederschrift geboten hätte , ist es denkWie konnte es nun aber dazu kommen, dass
bar, dass das Gedicht unvollständig überliefert
Tradition von Liebesliedern
ist und wir sein Ende nicht kennen. Was wir vor diese volkstümliche
sich mit der kirchlich-gebildeten Tradition des
uns haben, genügt aber vollauf, um dieses Ge- geistlichen
Morgenhymnus verbunden hat?
dicht richtig einordnen zu können.
Dass im 10. und 1 . Jahrhundert die Tendenz zu
zweisprachigen Dichtungsformen
bestanden
Nun werden aber die lateinischen Strophen hat, wird deutlich durch die südspanischen Mudurch einen romanischen Refrain voneinander waSsahas gezeigt. Wie eng die Beziehungen wagetrennt. Dieser Refrain steht auch in einer Traren zwischen der Pyrenäenhalbinsel und den
dition, jedoch in einer ganz anderen, nämlich in westfranzösischen
Kulturzentren der Zeit
der einer volkstümlichen Liebeslyrik. Wenn wir wobei neben Fleury-sur-Loire vor allem Saintvon unserem Text absehen, finden sich die älte- Martial de Limoges zu nennen ist , ist im einsten Spuren dieser Lyrik im mittelalterlichen zelnen kaum zu bestimmen. Sicher ist aber, dass
Spanien, und zwar in ganz besonderer Form.
Beziehungen bestanden haben. Es ist
deshalb
Zu Beginn des 10. Jahrhunderts entstand in nicht auszuschliessen, dass die zweisprachige
der andalusischen Stadt Cabra eine neue arabi- hispanoarabische Dichtung als strukturelles
gewisse Ausstrahlung bis nach
sche Dichtungsform, der MuwaSäab. Es handelt Modell eine
sich um ein komplexes Strophengedicht. In der Frankreich gehabt hat. Sicher ist ebenfalls, dass
Mehrzahl der Fälle beginnt es mit einem Prälu- im 11. Jahrhundert gerade in Saint-Martial de
dium, das am häufigsten vier Verse aufweist, die Limoges zwei zweisprachige Werke in eine
durch verschiedene Reimschemata miteinander Handschrift eingetragen wurden: ein Annunziaverbunden sein können. Darauf folgen meist tionslied zu Ehren der Jungfrau Maria, das aus
im Wechsel damit
fünf Strophen von drei oder mehr Versen mit je acht lateinischen und
einheitlichem Reim. Nach jeder Strophe steht elf romanischen Strophen besteht, und ein liturgisches Drama von den fünf klugen
und den
ein Refrain, der die metrische Struktur, nicht
Jungfrauen,
in dem lateinische
aber den Text des Präludiums (oder des ersten fünf törichten
Refrains, sofern das Gedicht «kahl», das heisst und romanische Strophen ebenfalls abwechseln.
präludiumslos, ist) aufnimmt. Der Refrain nach Im ersten Fall ist es sicher, im zweiten nicht ausder letzten Strophe heisst Harga (Ausgang) oder geschlossen, dass der lateinische Text ursprüngMarkaz (Stütze, Grundlage). Aus Darlegungen lich allein existierte und der romanische später
eingeschoben wurde.
arabischer Dichtungstheoretiker wissen wir,
dass die Harga grundsätzlich vor den übrigen
Dieser Vorgang hat sich ohne
Teilen des Gedichts existierte und nicht schrift- bei unserem Gedicht vollzogen. Zweifel auch
Zwischen die
arabisch, sondern umgangssprachlich, volks- Strophen
eines lateinischen Hymnus wurde ein
sprachlich zu sein hatte. Nun waren die beiden
Liebeslied eingeschoben. Man mag
Volkssprachen, welche um 900 in Südspanien romanisches
fragen,
heterogene
warum so
Teile miteingesprochen wurden, das Vulgärarabische und sich
ander verbunden worden sind. Dazu ist einerdas Mozarabische, das heisst die romanische
sagen, dass auch in den hispanoarabiSprache der christlichen Bevölkerung, die nach seits zu
schen Muwaääabas die Verbindung zwischen
dem Arabereinfall von 711 unter arabischer Gedichtkörper
und Schlussrefrain thematisch
Herrschaft weiter in Südspanien lebte.
zum Teil sehr lose ist und dass offenbar gerade
Die Theorie wird durch die Ueberlieferung durch den gemeinsamen inhaltlichen und
bestätigt: Es sind heute rund 50 Muwaääabas sprachlichen Gegensatz
eine artistische Wirbekannt, welche eine romanische, mozarabische kung angestrebt wurde. Auch in dem erwähnten
Harga enthalten und Zeugnis davon ablegen, Annunziationslied
entsteht keine wirkliche EinSüdspanien
dass vor 711 in
eine volkstümliche heit zwischen den lateinischen und den romaniLyrik bestand. Arabische Dichter haben sich schen Strophen; offenbar
machte gerade auch
1
Neue Zürcher Zeitung vom 09.05.1981
Sicut Mntfcc 3tU\m<;\
Charles Baudelaire:
Die Einladung zu der Reise
Meine Schwester, mein Kind,
weiche Seligkeit, du
wenn wir dort beieinander sind!
Vergessend uns lieben
und liebend vergehn
in dem fernen Land, das dir gleicht!
Die feuchten Sonnen
aus nebligen Höhn,
sie betören den Sinn mir so leicht,
so von Zauber erfüllt
wie dein leuchtendes Auge,
das ein Tränenschleier enthüllt.
Alles ist Regel dort, alles ist schön,
Lust und Behagen und Ruh.
Geräte, vom Schimmer
der Jahre verklärt,
sie schmückten uns
dort das Zimmer;
von Blüten der Hauch,
er müsste verwehn
in den schwebenden Bernsteinrauch;
die reichen Decken,
der spiegelnde Grund,
des Ostens strahlender Glanz,
sie raunten der Seele
Verstohlenes zu
aus geliebtem, vertrautem Mund.
Alles ist Regel dort, alles ist schön,
Lust und Behagen und Ruh.
Auf den Kanälen
die Schiffe, sie schlafen
und träumen von stürmischen Weiten;
doch deinen Befehlen
zu folgen, sie gleiten
vom Ende der Welt dir zu.
Die sinkenden Sonnen,
sie kleiden das Land
und die Stadt und das Wasser ein
in Purpur, in Gold;
die Welt will vergehn
im warmen, dämmernden Schein.
Alles ist Regel dort, alles ist schön,
Lust und Behagen und Ruh.
Deutich von Hg.
der Wechsel, vielleicht durch Wechselgesang
unterstrichen, den Reiz des Liedes aus. Anderseits ist aber auch darauf hinzuweisen, dass in
unserem Fall doch ganz klare Berührungspunkte zwischen dem geistlichen Morgenhymnus und dem'darrtrt verbundenen Frauenlied bestehen.
Verbindendes Element ist einmal das Erlebnis des Morgens, des Tagesanbruchs. In beiden
Fällen
und dies eben im Gegensatz zur späteren provenzalischen Alba, sofern diese nicht religiösen Charakter hat
trägt dieser Zeitpunkt
positive Züge, als Ueberwindung der Dunkelheit und der Sünde im einen, als Erwachen zu
neuem Leben und neuer Liebe im anderen Fall.
Die Gestalt des Wächters ist ein weiteres verbindendes Element. Freilich steht er in verschiedenen Zusammenhängen: Im geistlichen Morgenhymnus warnt und bewahrt er vor Sünde,
im
Frauenlied sucht er die Reinheit, die Keuschheit
des jungen Mädchens zu bewahren. Es ist nochmals zu unterstreichen, dass der Wächter in der
hier vorliegenden Tradition der Frauenlyrik
nicht die Aufgabe hat, die Entdeckung sündhafter erfüllter Liebe zu verhindern. Die Liebe, die
sich in dem Grossteil der mozarabischen Hargas und dann auch in den portugiesischen Cantigas de amigo ausspricht, ist die (noch) unerfüllte Liebe eines jungen Mädchens.
So sind klare Berührungspunkte zwischen
den beiden Teilen unseres Gedichts vorhanden.
Sie genügen, um die auf den ersten Blick erstaunliche Verknüpfung zu erklären. Aber natürlich genügen sie nicht, um eine wirkliche
Einheit zu schaffen. Dies wurde aber sicher
nicht angestrebt. Der Reiz liegt auch hier im
Gegensatz, im Gegensätzlichen der beiden verwendeten Sprachen, im Gegensätzlichen der
beiden Melodien. Und schliesslich hat dieser
Gegensatz wohl gerade eine besondere Funktion. Er soll Hinweis sein auf den Gegensatz
zwischen göttlicher und menschlicher Liebe.
Das zweisprachige Gedicht, das uns hier beschäftigt hat, ist wohl gegen Ende des 10.
Jahrhunderts niedergeschrieben worden. Sein Refrain ist damit das älteste erhaltene romanische
Liebesgedicht, denn die Ueberlieferung
der
mozarabischen Hargas beginnt erst rund ein
halbes Jahrhundert später. Erst ein volles Jahrbeginnt
hundert später
der provenzalische
Minnegesang. In unserem Gedicht
stehen offizielle Kultur der klassischen Bildung und der
christlichen Kirche einerseits, volkstümliche Lyrik anderseits nicht allzu eng verbunden nebeneinander, wobei der Gegensatz durch den
Wechsel der Sprachen unterstrichen wird. In
der altprovenzalischen Lyrik suchen sich die
beiden Welten zu einer Einheit zu verbinden,
sowohl inhaltlich als auch formal. Damit entSchriftsprasteht eine neue
romanische
che, und damit beginnt auch eine jener kulturellen Blütezeiten, die wir immer dort beobachten
können, wo eine in der Ueberlieferung erstarrte
Kultur bereit ist, sich wieder auf das spontane
und lebendige Empfinden des einfachen .Volkes
einzulassen.
Rektoratirede, gehalten an der
Universität Zürich am 29. April.
148.
Stiftungsfeier der