Rede Bechtolf - Land Salzburg

Festrede
Festakt 200 Jahre
Salzburg bei Österreich
14. April 2016
Impressum
Medieninhaber: Land Salzburg | Herausgeber: Landes-Medienzentrum, Chefredakteur Mag. Franz Wieser, MBA | Grafik: Land Salzburg | Druck: Hausdruckerei des Landes Salzburg | Alle Postfach 527, 5010 Salzburg | April 2016
Foto: © Salzburger Festspiele / Luigi Caputo
Biografie
Sven-Eric Bechtolf
wurde 1957 in Darmstadt geboren
und erhielt seine Ausbildung am
Salzburger Mozarteum. Engagements
als Schauspieler führten ihn u.a. an
das Zürcher Schauspielhaus, an das
Schauspielhaus Bochum, das Hamburger Thalia Theater und an das
Wiener Burgtheater. Vielfach war
er in den Jahren zwischen 1993 und
2008 als Schauspieler auch bei den
Salzburger Festspielen zu sehen.
Für seine Darstellung des Friedrich
Hofreiter in „Das weite Land“ von
Arthur Schnitzler (Regie: Andrea
Breth) in Salzburg erhielt er 2002
zum zweiten Mal in Folge den Nestroy-Theaterpreis als bester Darsteller des Jahres. 2010 wurde ihm
der Albin-Skoda-Ring verliehen. Sein
Buch „Vorabend“ kam 2006 anlässlich seiner Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ an der
Staatsoper in Wien heraus. Für die
Salzburger Festspiele erarbeitete
Bechtolf als Regisseur und Autor im
Jahre 2012 die Urfassung der „Ariadne auf Naxos“, in den Jahren 2013,
2014 und 2015 führte er Regie bei
den drei Mozart/Da Ponte-Opern
„Don Giovanni“, „Così fan tutte“
und „Le nozze di Figaro“, die er im
Jahr 2016 wiederaufnehmen wird.
Ebenfalls im Jahr 2015 inszenierte
er für die Salzburger Festspiele gemeinsam mit „Jedermann“-Regisseur Julian Crouch „Mackie Messer Eine Salzburger Dreigroschenoper. “
Im Festspielsommer 2016 wird SvenEric Bechtolf in der Rolle des Doktors
in Thomas Bernhards „Der Ignorant
und der Wahnsinnige“ zu erleben
sein. Seit 2012 ist Sven-Eric Bechtolf
Leiter des Schauspiels bei den Salzburger Festspielen. Seit Herbst 2014
hat er die künstlerische Gesamtplanung inne und wird nach dem Sommer 2016 seine Arbeit für die Festspiele beenden.
Festrede
Sven-Eric Bechtolf
Künstlerischer Leiter
der Salzburger Festspiele
Meine sehr geehrten
Damen und Herren,
es ist eine große Ehre für mich, heute, anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Zugehörigkeit
Salzburgs zu Österreich, zu Ihnen
sprechen zu dürfen.
Leicht wiegt diese Ehre freilich nicht,
immerhin gilt es, auf zwei Jahrhunderte zurückzuschauen, eine – je
nach Perspektive – sehr kurze oder
sehr lange Zeit.
Historiker haben ihre Schlüsse, Bewertungen und Analysen dieser an
grundstürzenden Ereignissen mehr
als reichen Jahrhunderte vorgenommen und werden es auch weiterhin
tun. Ich hingegen habe vor allem
Fragen; und zu allem Überfluss gelten sie mehr dem Begriff, den wir
uns von Geschichte oder von der Geschichtsschreibung machen, als den
in Rede stehenden Epochen. Diese
Fragen werden allerdings keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sie befinden sich im Bereich des
Widerlogischen und stellen sich nur
mit geschlossenen Augen, im Halbschlaf sozusagen, ein.
Einige dieser obskuren Überlegungen
lauten zum Beispiel:
Was wiegt die verstrichene Zeit?
Geht alles Gewesene in dünne Luft
auf? Oder nicht einmal in Luft?
Besteht Geschichte aus einer Art
Häuten, oder besser, aus abgefallenen Schleiern, vorsätzlich und willkürlich gewirkten, die von den noch
lebenswarmen Schultern hinsinkender Generationen gleiten, herab zu
ihren Vorgängerinnen, wo sie sich
zu Türmen aufstapeln, verklumpen
und verhornen und so ein gewaltiges
Fundament bilden, auf dem wir, in
verdienstloser Höhe thronend, in unsere Zeit hineinragen, die Stirne in
die Zukunft gereckt? Wartet dort ein
zu erreichendes Ziel?
Oder ist sie im Gegenteil eine ununterbrochen fortschreitende, wildbunte Prozession, die spiralförmig
auf schiefer Ebene, unter Spiel und
Tanz, einer Art Ausguss zuwandert;
darüber schwebend ein mittelalterlicher Tod mit siegreichem Banner?
Wie viele Steine sind gewälzt und
aufgerichtet worden, deren Anhäufungen wir noch heute bestaunen,
und wohin ist wohl das Wehklagen
derer verhallt, die sie aufeinander
schichteten zu Kirchen, Burgen und
Reichshauptstädten? Kann die Geschichte ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen?
Sind uns die historischen Kriege
wirklich mehr als nur wesenlose Daten, Kalendererscheinungen, Eintra-
gungen auf Landkarten, in denen gewundene und gezackte Grenzlinien
immer neu gezogen und behauptet
wurden?
Wie konkretisiert Geschichte sich?
Doch wohl nur durch uns, die wir sie
erinnern. Aber unser Erinnern folgt
unserer Bereitschaft und unsere Bereitschaft unseren vitalen Interessen. Wir interpretieren Geschichte,
bündeln sie zu Mythen und Sagen,
selektieren und verdammen sie zu
ewigem Vergessen oder zur Unsterblichkeit, als wären wir zu spät geborene Götter.
Natürlich haben wir, eine Zeitlang
wenigstens, das Materialisierte als
unabweisbaren Anhaltspunkt. Die
Festung, den Dom. Aber auch bemalte Leinwände und Holztafeln, Noten
und Bücher, Geburtsregister und
Grabsteine, Bibliotheken, Instrumente, Möbel und Waffen.
Sie scheinen zu uns zu sprechen.
Aber sind nicht wir es, die sie zum
Leben erwecken wie Bauchredner
ihre Puppen? Wir betrachten in den
Museen umhegte, kostbare, in ihrem Firniss über Jahrhunderte sich
verdunkelnde, aufgesprengte und
mit überschminkten Narben übersäte Zeugnisse mit ungeschicktem Interesse oder geübter Kennerschaft,
aber können wir das Bildnis einer
Madonna überhaupt verstehen, wenn
wir nicht wissen, ob der Maler hungerte oder satt war?
Und dennoch öffnet uns, wenn überhaupt irgendjemand oder irgendetwas dazu im Stande ist, die Kunst ein
Fenster in die Zeit. Beispielsweise
Vermeers 1660 gemaltes Bild einer
Dienstmagd in der Küche: Versunken
in ihre Tätigkeit sehen wir bekanntlich eine junge Frau Milch aus einem
Krug in eine Schale gießen. Jedes De-
tail ist von fotografischer Genauigkeit und stofflicher Materialität und
scheint doch zugleich nur aus Licht
zu bestehen. Eine kurz aufleuchtende Sekunde Alltäglichkeit ist in ihrer flüchtigen Schönheit unsterblich
gemacht worden. Der dünne Milchstrahl fließt und fließt doch nicht,
der Krug leert sich und bleibt doch
immer voll. Die Zeit ist in Lebendigkeit angehalten wie man den Atem
anhält.
Im Museum wird es vor diesem kleinen Rahmen still. Die Stille teilen
sich das Bild und seine Betrachter,
und Vermeer lässt uns hoffen, dass
der Rest der Welt, also alles um diesen 45 cm hohen und 41 cm breiten
Ausschnitt herum, ebenfalls noch
existiert, irgendwo in der Obhut eines Gottes - oder göttlichen Malers
wenigstens.
Wenn die Geschichte, oder genauer,
wenn das Vergangene aber – entgegen dieser naiven Mutmaßungen
– in Wahrheit doch wesenlos ist und
nur in unserer kollektiven Nacherzählung existiert, also in sterbliche
Aminosäuren gebettet ist, sind dann
nicht alle Ereignisse und Epochen in
ein gemeinsames und gleichzeitiges
Nichts komprimiert, das nur durch
unsere Bewertung plastische Gestalt, scheinbar räumliche und zeitliche Ausmessung erhält? Ist Geschichte nur eine Idee? Eine Interpretation?
Und Geschichtsschreibung letztlich
das Werk von Dichtern, das dem Ziel
dient, ihr einen Sinn zu implizieren?
Ähnlich wie wir es mit unserem eigenen individuellen Leben halten,
das wir als Entwicklung betrachten
wollen, also als fortschreitenden
Prozess von außen nach innen, hin zu
dem Eigentlichen unserer Existenz?
Würden wir ewig leben, wie erschie-
ne uns das Mittelalter in unserer persönlichen Erinnerung? Als eine Art
gotteswahnsinnige Pubertät?
Und wie die Mitte des 19. Jahrhunderts? Als die prosperierende Zeit
unserer ersten Firmengründung? Der
Kolonialismus als grausame Bubentat, deren Früchte wir zwar genießen, deren Schuld wir aber nicht
mehr zu sühnen brauchen, einfach
weil wir damals noch nicht strafmündig waren? Und hörte mit dem
Holocaust nicht diese Idee von Entwicklung überhaupt auf? Würden wir –
viele tausende Jahre alt, doch ewig
jung – danach noch immer berechtigt
sein, eine Entwicklung hin zu unserer Selbstvollendung zu denken, oder
diese Vorstellung angesichts Millionen Ermordeter verwerfen müssen
und mit Shakespeare sagen:
„Life is a tale, told by an idiot, full of
sound and fury signifying: nothing!“
Geschichte ist uns eine von fremder
Hand dargebotene Chimäre. Lehrer
haben uns davon erzählt, aber die
großen historischen Persönlichkeiten
sind uns in unserer Jugend dürre Gespenster und die helle Gegenwart ist
wunderbar herrschsüchtig.
Erst älter geworden wenden wir uns
zurück und starren angestrengt in die
von allen Seiten näher rückende Dunkelheit, um ihr eine Kontur abzugewinnen, einen schimmernden Reflex
auf den Umrissen des Gewesenen
und des Kommenden. Wo sind wir?
Wer sind wir? Wer waren wir? Wer
werden wir sein?
In der Seefahrt gibt es eine Navigationsmethode, die als Kreuzpeilung
bekannt ist und die nicht einem abzusteckenden Kurs ins Unbekannte
gilt, sondern nur der Positionsbestimmung, wobei dies „nur“ eine
absurde Untertreibung vorstellt,
denn es bedingt alles Folgende. Zur
Kreuzpeilung braucht es allerdings
zwei Standlinien, die nur von fest
stehenden Landmarken aus gezogen werden können und an deren
Schnittpunkt wir uns befinden. Die
Linien sind aus der Perspektive des
Navigierenden zu ziehen, er bestimmt die Winkel der sich über ihm
kreuzenden Bahnen. Aber nicht einmal mit diesen festen Marken können wir operieren. Wir müssen sie
erfinden.
Wir ziehen eine Linie hin zu einem vage begriffenen geschichtlichen Ereignis und eine andere
zu einem zukünftigen Ziel und
wähnen uns in diesem Dreiecksverhältnis am Schnittpunkt.
Gewiss aber befinden wir uns, wie
alle, die vor uns waren und alle,
die nach uns kommen, unter der Tyrannei des immer andauernden und
blinden JETZT. Dieses Immerjetzt
strecken wir zu einer Zeitspanne,
die man später eine Epoche nennen
wird und richten uns darin ein.
So wie wir der Geschichte Sinn zu
geben versuchen, um von ihr Sinn zu
erfahren, so wie wir eine Persönlichkeit ausbilden, um der inneren und
äußeren Welt zu begegnen, so geben
wir zu diesem Zweck auch einem
bestimmten Raum Vorrang über alle
anderen möglichen Räume und nennen ihn Heimat.
Heimat ist der seltsame Versuch, das
Andere zu erfassen, indem man es
exkludiert.
Sie ist im besten Fall die Abgrenzung, ohne die keine sinnvolle Wahrnehmung möglich ist. Sie ist eine
Abbreviatur, in der die Welt in der
Nussschale begriffen werden kann,
bevor sie uns ergreift. Das Wort Hei-
mat ist in Verruf geraten, aber ihre
Wirksamkeit macht sie faktisch. Die
Heimat ist das Haus der Eltern, die
Landschaft, die Schule, die Freunde,
die Sprache, unsere Toten und – ihre
Geschichte. Es ist der Ort, den wir
gestalten und der uns gestaltet hat.
Treten wir über die Schwelle der
Heimat hinaus, an die wir uns klammern und von der wir uns abstoßen,
kümmert das die Welt wenig. Tritt
aber die Welt zu uns ein, ängstigt sie
uns meist. 1816 war ein Jahr solcher
Heimsuchungen:
Im April 1815 brach auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan
Tambora mit einer gewaltigen Explosion aus. Nie zuvor war eine solche
Eruption dokumentiert worden. Der
Ausbruch des Tambora entsprach der
170.000-fachen Zerstörungskraft der
Atombombe von Hiroshima, die Detonationen waren im 2.500 Kilometer entfernten Sumatra zu hören und
die atmosphärischen Druckwellen
wurden noch 15.000 Kilometer entfernt registriert. Keiner der 12.000
Einwohner Sumbawas überlebte. Ein
ungeheurer Staubnebel aus Asche
und Schwefelsäure-Aerosolen breitete sich in der Atmosphäre aus und
ließ weltweit die Temperatur um
durchschnittlich drei Grad sinken.
Chaotische Wetterverhältnisse, Missernten und Hungersnöte, vor allem
in Nordamerika und Europa, waren
die Folge. Das Jahr 1816 ging als
das Jahr ohne Sommer oder als das
Jahr Achzehnhundertunderfroren in
die Geschichte ein. An den Folgen
des Ausbruches starben mindestens
70.000 Menschen in Amerika und in
Europa. Diese gewaltige Explosion,
die uns wie ein beleidigend sinnloses, aber furchtbar triumphierendes
Ausrufezeichen erscheinen mag, das
die Natur hinter das Dröhnen des Kanonendonners der napoleonischen
Kriege setzte, hatte vielfältigste und
tiefgreifende Folgen auf die Weltgeschichte: nicht nur augenfällige wie
Massenmigrationen, Aufruhr, soziale Verwerfungen, sondern auch subtilste:
Die spektakulären Sonnenauf- und
-untergänge des Biedermeiers in
ihren unnatürlichen Orange- und
Rottönen, die Maler wie Caspar David Friedrich oder William Turner auf
die Leinwand brachten und die das
Seelenklima einer Generation mitprägten, sind Ergebnis der aus dem
Vulkan geschleuderten Feinstaubpartikel. Erschaudernd vor der farbenprächtigen Allgewalt der Natur
zog sich der von der Aufklärung zur
Mündigkeit verurteilte, von der französischen Revolution ins Rampenlicht der Herrschaft gezerrte, von
Napoleons Gewalttaten zermürbte
und von Metternich misstrauisch
beäugte und gegängelte Bürger ins
Private zurück. Seinen Herrgott hatte er ins Pfandhaus der Vernunft
gebracht und suchte verschämt, ihn
wieder auszulösen. Die Spätromantik
betrauert seinen Verlust und setzt
dem kommenden Rauch der Fabrikschlote noch einmal den zauberhaften Glast der verlorengehenden Natur entgegen.
In London regnet es in diesem Sommer 1816, der kein Sommer ist,
ausdauernd. Gewitter von nie gewesener Heftigkeit und Dramatik
erschüttern den englischen Himmel
und das englische Gemüt.
Mary Godwin, ihr zukünftiger Ehemann Percy Shelley, Lord Byron und
dessen Arzt John Polidori fliehen vor
dem Klima an den Genfer See. Doch
auch dort sind die Auswirkungen des
Tambora spürbar. Das Wetter hält
die Reisenden im Haus und es entstehen zwei literarische Gestalten von
ikonographischer
Wirkungsmacht:
Mary Shelley schreibt ihren „Frankenstein“, John Polidori den Roman
„Der Vampir“. Shelley zieht eine
prophetische Verbindung zwischen
galvanischer Elektrizität, die bis dato
nur vor staunendem Publikum die
Schenkel toter Frösche zucken ließ,
hin zum Sündenfall eines Prometheus der Neuzeit. Polidori steigt tief
in die Seele seiner Leser hinab und
schreckt sie mit dem Archetypus des
Wiedergängers und Blutsaugers, dem
nur die entmachtete Kirche Einhalt
gebieten könnte. Beide literarischen
Fantasiegebilde erahnen geheime
Unter- oder Gegenströmungen ihrer
Zeit, auf verstörend unheimliche
Weise, erscheinen aber gegenüber
der Wirklichkeit geradezu rational:
Der Tugendterror Robespierres hatte
die vor begeisterter Vernunftgläubigkeit glühenden Ideale der Revolution
in ein Blutbad überführt, das an düsterer Alptraumhaftigkeit den Visionen Goyas in nichts nachsteht.
Nicht minder hatte der ehemalige
General der Revolution, Bonaparte,
durch seine Selbstkrönung zum Kaiser
und durch die sinnlosen Opfer seiner
Kriege - man spricht von 3.500.000 allen Idealen der Aufklärung, gleichgültig mit welcher Absicht, zuwider
gehandelt. Es triumphiert die Restauration.
Wie aber muss diese grauenhafte Ironie den kritischen Zeitgenossen erschienen sein? Als sinnvolle Entwicklung gewiss nicht.
Länder werden nun getauscht wie
im Kartenspiel. Österreich erhält die
Lombardei und Venetien. Es tritt Belgien an die Niederlande ab und über-
lässt den Breisgau Baden und Württemberg. Es erhält zurück: Tirol,
Vorarlberg, Kärnten, Krain, Triest,
Galizien, das Innviertel und - Salzburg! Grenzen und Nationalitäten
sind vorläufig und der Gier der Sieger unterworfen, die revolutionären
Errungenschaften werden zurückgenommen, die Monarchien neu gestärkt, die Freiheit beschnitten. Die
Uhren Europas werden auf die vornapoleonische Zeit zurückgestellt, der
Tyrann selbst sitzt auf der Insel St.
Helena und trägt den Wellen seinen
Traum von Europa vor. Sein Name ist
zum Synonym eines zu einem bengalischen Trugblitz verkommenen
Meteors geworden, und Metternich
nennt man den Kutscher Europas.
Gerechterweise muss hinzugefügt
werden, dass Historiker die Politik
Metternichs inzwischen vielfach als
Garantie für die langen Friedensjahre bewerten und die Restauration
nicht als Rückschritt in die alte Ordnung, sondern als beispiellose und
durchaus liberale Neuordnung begreifen. Dies mag realpolitisch betrachtet vernünftig sein, dass aber
die Hoffnung auf eine freiheitliche
bürgerliche Gesellschaft zerbrochen
war, steht wohl außer Frage.
Das geplünderte Salzburg jedenfalls
liegt am Boden. An Invasionskosten
hatte das besetzte Land die enorme
Summe von 15 Millionen Livree an
die Franzosen zu entrichten. Der Rupertigau mit 40.000 Einwohnern ist
an Bayern gefallen. Das Erzbistum
existiert nicht mehr, der Erzbischof
Colloredo hatte 1800 Salzburg verlassen müssen, im Jahre 1803 wird er
als Fürsterzbischof abgesetzt. Salzburg ist endgültig säkularisiert und
wird von Linz aus regiert.
Fünfmal hatte es von 1800 bis 1816
den Besitzer gewechselt. Wie verlässlich mögen den Zeitgenossen
Grenzen und Nationalitätszugehörigkeiten erschienen sein?
Tiefe Armut, der Verlust vieler junger Männer in den fremden, aufgezwungenen Kriegen, Entwurzelung
und Perspektivlosigkeit führten zu
einer kollektiven wirtschaftlichen
und seelischen Depression in Stadt
und Land, von der sich Salzburg erst
Jahrzehnte später erholt.
Die Welt aber dreht sich weiter. Ich
lese in der Daten-Enzyklopädie: 1816
bombardieren die Engländer Algier,
1816 überquert das erste Dampfschiff
namens „Elise“ den Ärmelkanal, 1816
wird die Österreichische Nationalbank gegründet, 1816 wird der Stirlingmotor erfunden, 1816 wird der
„Barbier von Sevilla“ uraufgeführt
und 1816 läuft die Fregatte „Meduse“
vor Westafrika auf Grund. Besonders
dieses Ereignis ist symbolhaft für die
Übermittlung von geschichtlichen
Ereignissen: England erstattete 1816
den Franzosen eine ihrer Kolonien,
den Senegal, zurück. Frankreich entsandte darauf vier Fregatten dorthin, mit Soldaten, Forschern und Beamten an Bord. Eines der Schiffe ist
die „Meduse“. Auf ihr befindet sich
auch der zukünftige Gouverneur des
Senegal, ein treuer und mit dieser
Aufgabe belohnter Royalist, ebenso
wie der Kapitän des Schiffes, der auf
Grund seiner Gesinnungstreue im Exil
und nicht durch seemännische Erfahrung Karriere gemacht hatte. Dem
Kommando nicht gewachsen navigiert er das Schiff auf ein Riff und befiehlt daraufhin den Bau eines Floßes
von beeindruckenden Ausmaßen, da
es zu wenig Boote für die Menschen
an Bord gibt. Etwa 50 Passagiere,
Soldaten und Seeleute werden auf
dieses Ungetüm verbracht, die Rettungsboote sollen es ziehen.
Da es den Besatzungen der Boote
unmöglich ist, mit dieser Last selbst
zu überleben, kappen sie die Seile,
das Floß treibt auf die hohe See.
Unzureichend mit Proviant versorgt,
bricht nach einiger Zeit Kannibalismus aus. Nur 15 Menschen können
gerettet werden, unter ihnen der
zukünftige Gouverneur des Senegal.
1819 zeigt der Maler Théodore Géricault seine heroische Version der
Katastrophe im Pariser Salon und
sorgt zunächst für einen Skandal,
denn man erinnert sich ungerne an
die Vorfälle. Immerhin trägt das Floß
von Géricault am Mast ein Segel,
während es sich in der Wirklichkeit
um zum Dörren aufgehängte Streifen von Menschenfleisch gehandelt
hatte. Unter der Hand wandelte sich
die Bedeutung des Werkes. War es
zunächst noch als Kritik an der Unfähigkeit der alten und wieder neuen royalistischen Eliten verstanden
worden, wurde es in der Republik
zur nationalen Ikone, zu der es ja
auch alle Zutaten bereithält:
Kampf gegen eine feindliche Natur,
tapferer Überlebenswille der Kolonialisten, Humanität und Heldenmut,
realistisch gemalt, aber in so völliger
Verzerrung der Realität, dass es zu
einem Teil der französischen kulturellen Identität werden konnte. Es
gehört, wie man so sagt, zu „ihrer
Geschichte“, bzw. es hat Geschichte
geschrieben.
Und der Senegal? 1960, vor 56 Jahren, erhielt er seine Unabhängigkeit
nach 500 Jahren der Ausplünderung
zurück.
Ist auch das Europäische Geschichte?
Oder wird sie es erst noch?
„Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an, bis die Zukunft
verbraucht und das Ganze vergangen ist.“ Sagt Augustinus. Einmal
wird also die Vergangenheit die Gegenwart verdrängt haben und die
Zukunft aufbrauchen wie eine verbliebene Notration. Auch wenn Augustinus nicht die Geschichte, sondern die Zeit gemeint hat, drängt
uns sein Satz das Bild einer von Taten
und Wirkungen verstellten Zukunft
auf. Wie viel Gestaltungsraum uns
wohl verblieben ist?
Sie werden vielleicht aus solcherlei
Fragen schließen, dass mich eine
gewisse – an diesem Jubeltage nicht
statthafte – Skepsis beherrscht und
ich gebe es zu: Insbesondere in Anbetracht des 20. Jahrhunderts habe ich
meine Zweifel, ob man die Entwicklung der letzten 200 Jahre später
einmal als Progress begreifen wird.
Ich würde eher denken, dass die Geschichte sich mit furioser Dynamik
blind fortgeschrieben hat. Und ich
fürchte, dass wir Heutigen nur wenig
hellsehender geworden sind. Oft erscheint mir daher, dass wir unserer
Blindheit Rechnung tragen sollten.
Ein hilfloser Gedanke vielleicht.
Von Politikern verlangen wir richtungsweisendes, effizientes, ethisch
wertvolles und vor allem schnelles
Handeln. Aber könnte nicht auch Innehalten eine Tugend sein?
Manchmal wäre es schön, inmitten
all der Meinungsgewissheiten und des
unerschrockenen Gestaltungsdranges
ein: „Ich weiß es nicht.“ zu hören.
Aber vielleicht ist dies nur ein neobiedermeierlicher Reflex, die Befürchtung, dass unsere Lösungen von heute
unsere Probleme von morgen sind.
Aber nun wirklich genug mit dem
zaudernden Pessimismus und zurück
zum Anlass dieser Rede – der meine
Skepsis ja Lügen straft:
Salzburg gehört zu Österreich, wider
alle historische Wahrscheinlichkeit
ist es dabei geblieben, zweihundert
Jahre lang! – Wenn man die Jahre
zwischen 1938 und 1945 überspringen möchte.
Vom Nationalismus geheilt, fühlen
wir uns nicht nur unserem Heimatland, sondern zugleich auch Europa
zugehörig. Und speziell als Mitteleuropäer gehören wir Heutigen wohl
zu den privilegiertesten Menschen,
die jemals auf diesem Planeten gelebt haben. Wir genießen einen noch
vor zweihundert Jahren unvorstellbaren allgemeinen Wohlstand, wir
haben seit Jahrzehnten keinen Krieg
geführt, wir werden gesünder älter
als alle Generationen vor uns. Noch
dazu leben wir in einer der schönsten Landschaften der Welt, umgeben von einzigartiger Architektur,
Museen, Theatern, Konzertsälen und
Bibliotheken. Wir haben Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und
Ausbildungsplätze wie kaum ein anderes Staatsgebilde auf dieser Erde,
aber wir spüren, dass wir weniger
stolz als dankbar sein müssen, denn,
ob dieses junge und zerbrechliche
Glück allein unser Verdienst ist, ist
fraglich, und, ob wir es guten Gewissens in Zukunft noch genießen dürfen, auch.
Dunkel schwant uns, dass wir unser
Leben in einer Atempause führen
durften.
Die in den neunziger Jahren populäre
These des Politikwissenschaftlers
Francis Fukoyama vom Ende der Geschichte lässt sich jedenfalls kaum
länger aufrechterhalten.
Fukoyama vertrat die Auffassung,
dass es zu einer Auflösung aller
weltpolitischen Widersprüche durch
den Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion käme, und wir
in absehbarer Zeit den von Hegel
definierten Zustand der „Synthese“
erreichen würden, in dem Demokratie und freie soziale Marktwirtschaft
sich überall auf der Welt durchsetzten, und somit der Anlass für Konflikte oder Thesen und Antithesen von
historischen Dimensionen verschwinden würden.
Wir alle wissen aber, dass wir u.a.
durch das globale Gefälle zwischen
Arm und Reich, durch religiösen Fanatismus, Klimawandel und Raubbau
an den Ressourcen unserer Erde von
der Geschichte wenigstens wieder
erfasst wurden und dass wir sie, trotz
aller Zweifel an unseren Fähigkeiten,
gestalten müssen – und werden, ob
wir wollen oder nicht.
Wir alle, die wir so einzigartig begünstigt in Europa leben dürfen,
hätten die besten Voraussetzungen
dafür und werden sie hoffentlich umsichtig und verantwortlich nutzen.
Ob wir es getan haben, werden wir
selbst allerdings nicht beurteilen können. Die Geschichte wird es weisen.
Aber selbstverständlich bin ich weder dazu eingeladen noch dazu in
der Lage, eine Vorausschau auf die
Salzburger, die Österreichische oder
gar die Europäische Geschichte vorzunehmen, sondern stehe hier vor
allem als Vertreter der Salzburger
Festspiele, die nun fast 100 Jahre mit
der Geschichte Salzburgs eng verbunden sind. Diese so lange Existenz der
Festspiele dokumentiert eindrucksvoll das Bekenntnis der Salzburger
in Stadt und Land zu einer geistigen
Welt, die die übermächtige Faktizität der Gegenwart einer „idealen“
Sphäre unterordnet.
Dieses Bekenntnis ist umso eindrucksvoller, als es sich um eine
Sphäre handelt, die nicht durchwegs
heiter und optimistisch ist, sondern
ihrem innersten Wesen nach zweifelnd raunt. Im Theater und in der
Oper erträumt sich der Mensch, verherrlicht und verdammt sich, gibt
sich Rechenschaft über sein Tun
und warnt seit der Antike vor seiner
Selbstermächtigung gegenüber den
Göttern.
Zugleich aber feiert die Kunst durch
ihre bloße Existenz paradoxerweise das fürchterliche Wesen, das sie
erdacht hat, und gibt uns Anlass zu
glauben, dass sie die wertvollste
Äußerung unserer Spezies darstellt.
Nicht die stolzen Manifestationen
von Staat, Verwaltung, Militär, Industrie, Wissenschaft und Wirtschaft,
sondern der flüchtige Ausdruck der
Verzweiflung und Freude in und an
unserer Existenz, in Musik, Gebärde
und Stimme übertrifft an Kostbarkeit
alle anderen Güter. Und doch ist die
Kunst zu nichts nutze. Jedenfalls ist
ihr Nutzen nicht in Geld fassbar. Im
Gegenteil:
In der wirtschaftlichen Unvernunft
liegt ein Teil des Zaubers einer Theater-, Opern- und Konzertaufführung.
Die Umwidmung des Geldes vom
Uneigentlichen zum Eigentlichen,
vom Zweck zum Mittel, die Großzügigkeit und ja, die Verschwendung,
sind wesentliche Bestandteile eines
Unterfangens, wie die Festspiele es
sind, denn sie verdanken sich dem
Glauben, dass das Wichtigste, das
Wesentliche sich dort verborgen
hält, wo es dem Tagesinteresse, der
Wirtschaftlichkeit, der Berechenbarkeit, der Logik, der Vernunft, der
Analyse, ja der Wahrscheinlichkeit
widerspricht.
Novalis schrieb: „Wie der wesenlose
Regenbogen, so spannt sich unsere
Seele über den unaufhaltsamen Sturz
unseres Daseins.“ Ich stelle mir vor,
dass die Kunst gewissermaßen die
Seele der Geschichte ist und sich
sinngebend über die schon Gestürzten und uns – die unaufhaltsam noch
Stürzenden – ausspannt. Das wundersame Salzburg ist in diesem Sinne
ein wahrhaft beseelter Ort, der viel
seiner Einmaligkeit und Besonderheit
seiner Kultur, und damit auch seinen
Festspielen, verdankt. Umgekehrt
gilt dies freilich auch. Daher will ich
mich heute für das Bekenntnis der
Salzburger zu ihren Festspielen bedanken.
Noch zwei Sätze in eigener Sache:
Immer wieder hat mein Leben mich
nach Salzburg und von Salzburg wieder zurück in die Welt geführt. Ich
war als Student hier auf dem Mozarteum und habe danach in vielen
Städten gespielt und inszeniert, bis
ich wieder in Salzburg auftreten
durfte, in der Felsenreitschule, im
Landestheater, auf dem Domplatz,
und die Atmosphäre in Salzburg bei
den Festspielen gehört zu den einzigartigsten Erlebnissen meines Berufslebens.
Last not least habe ich hier viele
gute, ja die besten Freunde getroffen. Fast 40 Jahre dauert diese schöne Verbindung schon zwischen mir
und dieser für mich so bedeutsamen
Stadt, deshalb darf ich sagen, ich bin
Salzburger Lokalpatriot.
Als solcher gratuliere ich, jenseits
all meiner skeptischen Fragen, den
Festspielen, Ihnen und Österreich zu
unserer Zugehörigkeit zu Salzburg.