von Engeln und Ungeheuern 16 Geschichten von Gianna Schläpfer April 2016 1 Inhalt Lemon tree .............................................................................. 3 Hoffnung und Träume ............................................................ 9 Schwampf! ............................................................................. 23 Das Geschenk.........................................................................26 Flügelschlag ...........................................................................30 C’est la vie ..............................................................................43 Eva ..........................................................................................45 Eden .......................................................................................50 Märchenritter ........................................................................ 52 Nachtleben ............................................................................58 Anders ................................................................................... 64 Man nehme eine Flasche Wein… ......................................... 73 Rom ........................................................................................76 Der Sturm............................................................................... 81 Das Duell ................................................................................85 Eine Weihnachtsgeschichte ................................................. 89 2 Lemon tree „Tu mir das nicht an!“ Flehend sitze ich im Wohnzimmer an die Wand gelehnt und wiege meinen sterbenden Freund in den Armen. Er schweigt. Vor fünf Monaten hatte ich den Kaktus von meiner Schwester geschenkt bekommen. In Gedanken höre ich sie noch hämisch grinsend sagen: „Wetten, dass du dich nicht mal um den kümmern kannst?“ Wenn sie das jetzt sehen könnte, sie würde in schallendes Gelächter ausbrechen. Ich habe den stachligen Kerl nicht ein einziges Mal gegossen. Er hat einfach still in der Ecke gestanden und ist langsam eingegangen. Ein Kaktus! Während ich zum Kompost gehe, um das vertrocknete Häufchen Elend seiner letzten Ruhestätte zu übergeben, fasse ich einen Entschluss. Gleich am nächsten Tag fahre ich in die Gärtnerei und lege mir eine neue Pflanze zu. Diesmal aber keinen Kaktus, nein. Ein Zitronenbäumchen. Jawohl, ich gehe eine Stufe höher! Um zu demonstrieren, dass ich es diesmal ernst meine, gebe ich ihm sogar einen Namen. Mein Zitronenbäumchen heisst jetzt Ben. Zuversichtlich nehme ich ihn mit nach Hause. Diesmal werde ich alles richtig machen! Ich werde dieses Zitronenbäumchen keine Sekunde mehr aus den Augen lassen! Zehn Minuten später steht Ben die Topfpflanze alleine auf der Veranda. Ich bin auf dem Weg zurück in die Gärtnerei um eine Schaufel zu kaufen. 3 Hinterher pflanze ich Ben an den sonnigsten Fleck in meinem ganzen Garten. Das ist schwieriger, als es sich anhört. Zuerst muss ich eine ganze Weile suchen, bis ich den perfekten Sonneneinstrahlungswinkel gefunden habe und dann muss erst mal das Unkraut weg. Nach stundenlangem Buddeln steht Ben endlich in meinem Garten. Und das sogar einigermassen gerade. Ich bin mächtig stolz! Da ich ein guter Vater sein will, befrage ich den besten Pflanzenspezialisten, den ich kenne. Das Internet spuckt zum Thema Erziehung von Zitronenbäumchen 3060 Links aus. Auf einer Seite finde ich einen interessanten Artikel, der behauptet, dass Pflanzen besser gedeihen, wenn man mit ihnen spricht und ihnen Musik vorspielt. Gut, denke ich, das lässt sich machen. Ich beginne also mit Ben zu sprechen. Wenn ich ihm dreimal am Tag sein Wasser bringe, erzähle ich von meiner Arbeit und allem, was mir gerade einfällt. Mit der Zeit entwickeln sich richtige Dialoge zwischen uns. Ich frage ihn, wie sein Tag war, Ben sagt nichts. Ich mache eine Bemerkung zum Wetter, Ben sagt nichts. Ich sage ihm, wie gross er über Nacht geworden ist, Ben sagt nichts. Ausserdem beschliesse ich nach ein paar Tagen, für Ben ein Kinderbuch zu kaufen und ihm jeden Abend daraus eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Das fühlt sich zuerst bescheuert an, doch mit der Zeit macht es mir richtig Spass und ich kann mir kaum noch vorstellen, ohne das allabendliche Vorlesen einzuschlafen. Das mit der Musik ist schwieriger. Nach tagelanger Beobachtung wage ich erstmals zu behaupten, dass Ben Popmusik mag. Solange ich nicht zu Hause bin, 4 steht nun immer mein Radio im Garten und dudelt vor sich hin. Kürzlich ist es etwas kälter geworden. Der Wetterfrosch behauptet, das werde bald wieder besser, aber ich will nicht riskieren, dass sich Ben erkältet. Also decke ich ihn ab jetzt jeden Abend mit einer dicken Jacke zu. Die Passanten, die an meinem Garten vorbei gehen, mustern mich belustigt. Lachend sehen sie dem jungen Mann zu, der seinen Zitronenbaum so überfürsorglich hegt und pflegt. Das macht mir nichts aus. Meine Nachbarin, Frau Meier, schenkt mir einen Blick, den ich seltsamerweise sehr oft von ihr bekomme. Es ist eine Mischung aus Besorgnis und Fremdschämen. Ich nenne es den Jetzt-hat-er-tatsächlich-den-Verstandverloren-Blick. Von all dem lasse ich mich nicht beirren. Ich habe ein Ziel, nein, eine Bestimmung gefunden. Diese Pflanze wird überleben! Es ist kurz vor sechs, als ich an diesem Abend nach Hause komme. Ich bin bestens gelaunt und gehe sofort, mit Giesskanne bewaffnet, in den Garten zu Ben. Lächelnd setze ich mich neben ihn und prüfe den Boden, ober er noch nicht zu trocken ist. Und dann, wie aus heiterem Himmel, obwohl der heute eher bewölkt ist, bricht mir Ben das Herz. Ohne Vorwarnung lässt er mir ein Blatt vor die Füsse fallen. Ich erschrecke. „Bist du etwa krank?“, frage ich ängstlich und versuche, das Blatt zu untersuchen. „Frierst du vielleicht?“ Vorsichtig versuche ich ihn mit meiner Jacke zuzudecken. Ben wehrt sich und wirft mir diesmal gleich drei Blätter zu. „Das kannst du mir 5 nicht antun!“, rufe ich jammernd. Ich kann es nicht fassen. All meine Liebe habe ich in diese dumme Pflanze gesteckt und dann lässt sie mich einfach im Stich. „Wir sind doch Freunde“, wimmere ich und kann gerade noch eine Träne unterdrücken. 6 „Meine Güte, heul doch!“ „Klappe“, schnauze ich und sehe auf, in der Erwartung, einen vorlauten, belustigten Nachbarsjungen zu erblicken. Doch da ist niemand. „Hier unten, du Idiot!“ „Ben…?“, Ich bin verwirrt. Die Stimme kommt tatsächlich von meinem Zitronenbäumchen. „Da staunst du, was?“, sagt Ben schnippisch. Ich kann es nicht fassen. Entweder bin ich jetzt total verrückt geworden… oder Ben hat gerade gesprochen. Vor Staunen bleibt mir der Mund offen stehen. „Mach den Mund zu“, ruft Ben, „wenn du auf mich drauf sabberst, dann schrei ich!“ Ich mache den Mund zu. „Du kannst nicht reden“, flüstere ich verdattert, „du bist ein….“ „Ein was? Ein Baum?“, ruft Ben dazwischen. „Da hast du verdammt recht. Bäume reden nicht. Das liegt daran, dass Menschen Pflanzen keine Geschichten erzählen. Hast du eine Ahnung, wie sehr dein Geplapper nervt?“ Ich will etwas sagen, aber Ben lässt mich nicht zu Wort kommen. „Und erst diese Überfürsorge. Eine Jacke, ernsthaft? Ich war bereit, mit dir zu leben, mein Zuhause mit dir zu teilen, aber ich werde nicht weiter schweigen!“ „Also eigentlich“, murmle ich eingeschüchtert, „ist das mein Garten…“ „Jetzt halt doch mal den Mund. Immer dieses Geplapper, ich kann’s nicht mehr hören. Junge, du hast 7 echt ne Macke. Such dir eine Freundin oder ein Hobby, mir egal, aber verschon mich mit deinen Geschichten.“ Jetzt bin ich wirklich eingeschüchtert. Mit hängenden Schultern gehe ich zum Haus zurück. Im Vorbeigehen nehme ich das Radio mit. „Warte!“, ruft Ben. Ich drehe mich um. „Kannst du…“, Ben zögert, „kannst du das Radio da lassen? Ich mag Musik eigentlich ganz gern.“ Ich lächle und stelle das Radio wieder hin. Wenigstens etwas. Ich weiss bis heute nicht, ob Ben tatsächlich gesprochen hat oder nicht. Nüchtern betrachtet ist es wohl wahrscheinlicher, dass ich total verrückt geworden bin. Ich weiss nur, dass mein Zitronenbaum mittlerweile vier Jahre alt ist und mir nie wieder das Herz gebrochen hat. Er ist der schönste Baum, den ich je gesehen habe und immer, wenn meine Schwester zu Besuch kommt, gebe ich herzlich damit an. 8 Hoffnung und Träume Ein kühler Windstoss verirrte sich in den abzweigenden Stollen. Er vermischte sich mit der heissen und kaum noch atembaren Luft der Gänge und gab den Arbeitern ein Zeichen, dass der Feierabend näher rückte. In den unterirdischen Höhlen arbeiteten seit Tagesanbruch Kinder wie Erwachsene, stachen mit Schaufeln und Spaten auf die dreckigen Wände ein und wirbelten immer mehr Staub auf, der sich dann in ihren Lungen wiederfand. Unzählbar viele Gestalten verdienten sich hier ihr Brot und hofften auf einen Fund, der ihr Leben verbessern würde. Dabei setzten sie sich nicht nur den scheinbar endlosen Torturen wie der verpesteten Luft und der schrecklichen Hitze aus, sondern auch der ständigen Gefahr, dass die Decke über ihnen einstürzen könnte. Wenn ein Ort auf Erden den Namen Hölle verdiente, dann war es dieser. Hier war der Platz für diejenigen, die keine Zukunft hatten, für die Entbehrlichen, primitiven Arbeiter, für Menschen wie ihn. In irgendeiner Ecke der unendlichen Gänge hackte ein Junge im schwachen Schein der elektrischen Lampen unerbittlich auf die harten Wände ein. Er war noch sehr jung, viel zu jung für diesen freudlosen Ort. Schweissperlen liefen ihm über die Stirn, er war völlig verdreckt und zerschrammt. Der Junge war in den Höhlen aufgewachsen, seit Jahren arbeitete er hier von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Sein Dorf hatte 9 er zuletzt bei Tageslicht gesehen, als er vor einigen Monaten hohes Fieber hatte und einen Tag im Bett geblieben war. Obwohl er bislang noch nie wirklich etwas entdeckt hatte, hoffte er noch immer auf einen grossen Fund, wie alle hier, die noch nicht den Mut verloren hatten. Aus dem Gang hinter ihm ertönte ein Lachen. Es klang müde und erleichtert, Manche Menschen hielten inne, drehten sich um und lauschten. Hier wurde nur aus einem Grund gelacht: wenn jemand einen Stein gefunden hatte. Die Wände um die Schürfer herum waren voller Edelsteine und Kristalle, die jedoch schwer zu finden waren. Es war pures Glück, auf einen zu stossen, doch wenn man es tat, konnte man ihn teuer verkaufen. Als das Lachen verstummte, drehten sich die Arbeiter um und hackten mit neuer Kraft weiter. Dass jemand anderes einen Fund gemacht hatte, steigerte zwar ihre eigenen Chancen nicht, dafür aber ihre Zuversicht. Darüber dachte der Junge nach, während er seine Kollegen gedankenverloren beobachtete. Er war eigentlich sehr klug, hätte er eine Schule besuchen können, wäre bestimmt einmal etwas aus ihm geworden. Doch dies stand nicht zur Debatte. Er strich sich über die Stirn. Die harte Arbeit hatte ihn schon oft an den Rand seiner Kräfte gebracht, doch heute war es besonders schlimm. Mühsam setzte er zum nächsten Schlag an, als er hinter sich schon wieder einen Laut 10 vernahm. Diesmal war es Geschrei. Vorsichtig drehte er sich um. Ihm gegenüber stand ein grossgewachsener, dünner Mann, der wütend auf ein am Boden liegendes Fellknäuel einschlug. „Wirst du wohl verschwinden, du hässlicher Wicht!“, rief er und trat auf das jammernde Ding ein. Der Junge drehte sich wieder um. Was da am Boden lag, war ein Höhlentroll. Niemand konnte die kleinen, haarigen Wesen leiden, die in den Gängen herumschnüffelten und Arbeiter nervten. Dabei taten sie das gar nicht absichtlich, dies hier war ihr freier Lebensraum. Wahrscheinlich lösten sie aber bei den Menschen eine Art Eifersucht aus, da sie frei waren und keinerlei Arbeit zu verrichten hatten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jedenfalls waren sie verhasst und wurden nur deshalb geduldet, weil sie in gewisser Weise die Kanarienvögel ersetzten. Da die kleinen Wichte ihren Lebensraum bestens kannten, und schon weit im Voraus das Einbrechen eines Ganges erahnen konnten, wurden die Arbeiter durch ihr Flüchten manchmal früh genug gewarnt, um den Stollen ebenfalls verlassen zu können. Manchmal. Der Junge wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Hinter ihm hörte er die klagenden Laute des Trolls. War es falsch, ein bisschen Mitgefühl zu haben? Warum hörte der Mann nicht mit den Schlägen auf? Er musste sehr verbittert sein. In diesem Moment flackerte das Licht. Normalerweise wäre dies Grund zur Besorgnis 11 gewesen, da man gleich Gefahr lief, im Dunkeln zu stehen, doch zu dieser Tageszeit hatte das Signal eine andere Bedeutung: Feierabend. Innerhalb weniger Sekunden leerten sich die Gänge. Nur er blieb zurück und starrte weiterhin die Wand an. Gewissensbisse plagten ihn. Er hätte dem Fellknäuel helfen sollen. Am Boden hörte er den Kleinen keuchen. Wenn er sich jetzt umgedreht hätte, hätte er ihm in die Augen sehen müssen, doch das konnte er nicht verkraften. Lieber wollte er warten, bis sich der Wicht verzogen hatte. Er lauschte den Lauten hinter sich. Als sie langsam leiser wurden, wandte er sich endlich zum Gehen. Doch der Höhlentroll war immer noch da. Mist! Nun blieb dem Jungen nichts anderes übrig, sein Gewissen verlangte, dass er zu ihm hinging und es auf ernsthafte Verletzungen untersuchte. Der Troll war ernsthaft verletzt. Von Blutergüssen und Schrammen abgesehen war das eine Bein mit Sicherheit gebrochen. Der kleine war noch ein Kind, von der winzigen Grösse her zu urteilen höchstens drei Jahre alt. Er würde hier liegen bleiben bis morgen, wenn die Arbeiter zurückkehrten und dann totgetreten werden. Während er aus riesigen Augen heraus beobachtet wurde, fasste der Junge einen Entschluss. Er packte den Troll beim Kragen und liess ihn unter seinem Hemd verschwinden. Zuerst protestierte der und versuchte sich mutig zu wehren, doch dann begriff er schnell, dass von dem Jungen keine Gefahr ausging, und er wurde ruhig. Vielleicht hatte ihn das 12 verschwitzte und stinkende Hemd aber auch nur in Ohnmacht versetzt. Vorsichtig bewegte sich der Junge hinüber zu den Essräumen. Obwohl die Minenarbeit eine freiwillige und eigennützige Arbeit war, spendeten die Patrons jedem, der hier den Tag durch arbeitete, ein spärliches Abendessen, gegen ein Entgelt von fünfzig Prozent aller Funde. Beim Essen wurde nicht viel geredet. Die meisten Menschen waren so erschöpft, dass sie täglich kaum ein Wort sagten. Manche schliefen sogar regelmässig bei der Mahlzeit ein. Das einzige, was hier besprochen wurde, waren die Gänge, die an diesem Tag eingestürzt waren. Dieses Thema gefiel keinem, denn jeder von ihnen versuchte, so gut wie möglich seine Lage zu verdrängen. Andererseits hörte man hier auch von den Menschen, die Glück gehabt hatten. Wenn man mitbekam, wie jemand im selben Stollen einen Stein fand, verhalf einem das zu neuem Mut. Für die Edelsteine und Erze, die in dieser Hölle durch Zufall gefunden wurden, gab es eifrige Käufer. Ein einzelner Stein konnte einem Arbeiter ein Jahresgehalt sichern. Wofür sie gebraucht wurden, war reine Spekulation. Manche erzählte sich, dass Zauberer sie für ihre Kräfte nutzten. Das war natürlich Blödsinn, die Steine waren einfach nur wertvoll und beliebt bei Goldschmieden. Eigentlich war es dem Jungen aber 13 auch egal, er würde sowieso nie etwas anderes sehen als diese Höhlen. Eine Frau klatschte ihm den kohlenhydrathaltigen Brei auf den Teller. Ihre Figur war klein und dürr und ihre Augen lagen so tief in den Augenhöhlen, dass sie beinahe zu verschwinden schienen. Der Junge setzte sich hin und ass. Unter seinem Hemd klammerte sich der Troll zitternd an seinen Bauch, doch er verhielt sich ruhig. Nach dem er die Schüssel geleert hatte, ging der Junge nach Hause. Den ganzen Weg sagte er kein Wort und wagte erst wieder vom Boden aufzusehen, als er nach einer halben Stunde sein Dorf erreicht hatte. Mit einem markerschütternden Quietschen liess sich die Tür zu seiner Hütte öffnen. Dahinter lag ein kleiner Raum mit spartanischer Einrichtung. Müde liess sich der Junge aufs Bett fallen und schloss die Augen. Unter seinem Hemd kroch neugierig der Höhlentroll hervor. „Mach‘s dir gemütlich“, murmelte der Junge, ohne die Augen zu öffnen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuvor einen Gast in seinem Zuhause gehabt hatte. Das machte der Minenstaub, der langsam immer mehr von seinem Gedächtnis frass. Seine Kindheit, wenn er denn je eine gehabt hatte, war schon gänzlich ausgelöscht. Ebenso seine Erinnerung an Verwandte. Sogar seine Eltern hatte er, bis auf einige verschwommene Erinnerungen an seine Mutter, vergessen. Vielleicht war es besser so. Er wollte gar 14 nicht wissen, was er schon verloren hatte und warum er alleine war. Unterdessen hatte sich der Troll in einer Ecke zusammengerollt und schnarchte leise vor sich hin. Der Junge lächelte. Über ihm sah er durch das offene Fenster die Sterne. Manchmal sah er abends in den Himmel, wenn er noch genug Kraft besass, um die Augen einen Moment offen zu halten, und dachte über die Welt nach. Er hätte zu gerne gewusst, was da draussen war. Dann träumte er davon zu reisen, Welten zu sehen, die keiner aus seinem Dorf je hätte erträumen können. Am nächsten Morgen erwachte er durch die Weckrufe vor seinem Fenster. Diejenigen, die sich einen Wecker leisten konnten, weckten die anderen auf dem Weg zur Arbeit. Innerhalb einer Minute stand der Junge fertig für die Arbeit in der Tür. Er sah noch einmal zurück, der Höhlentroll schlief noch immer selig vor sich hin. Einen Moment zögerte er. Konnte er den Kleinen hier alleine lassen? Leider hatte er keine Wahl. Seufzend schloss er hinter sich die Tür. Er würde es verstehen und viel konnte hier nicht kaputt gehen. An diesem Tag war alles anders. Die Hitze, die Luft und die harte Arbeit waren nicht weniger schlimm als sonst, doch diesmal hatte er einen Grund, um sich all dem auszusetzen. Diesmal war es wichtig, dass er sich sein Abendessen verdiente und heil nach Hause kam, denn diesmal hatte er jemanden, der auf ihn wartete. 15 Er hatte auch heute nicht mehr Glück als in all den Jahren zuvor und die Zeit schien ihm noch langsamer zu verstreichen als sonst schon, doch er hielt durch und hatte am Abend zum ersten Mal in seinem Leben noch genug Kraft, um nach Hause zu rennen. Der Troll hatte schon auf ihn gewartet und als der Junge die Tür aufstiess, sprang er ihm direkt in die Arme. Der Junge freute sich und kraulte ihn hinter den Ohren wie ein Hund, worauf der Höhlentroll beinahe zu schnurren begann. Während er seinen neuen Freund beobachtet, ertappte sich der Junge dabei, wie er sich einen Namen für ihn überlegte. Das war nicht gut, ein Name würde es nur viel schlimmer machen, wenn er ihn irgendwann wieder aussetzen musste. Ein Name machte Distanzierung unmöglich. Er hatte ja nicht einmal selbst einen Namen. Oder hatte er einmal einen gehabt? Wenn er sich nur hätte erinnern können! Frustriert warf er sich aufs Bett und versuchte zu schlafen. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken, doch seine Gedanken suchten noch immer nach einem Namen. Einige Tage später war das Bein des Trolls geheilt. Also nahm ihn der Junge wieder zur den Mienen mit. Unter seinem Hemd trug er ihn den ganzen Weg zurück, durch die Gänge bis er einen Stollen erreicht hatte in dem sie allein waren. Dort setzte er ihn auf den Boden. Der Kleine schnüffelte umher und sah ihn mit grossen 16 Augen an, wie er es immer tat, wenn er etwas nicht verstand. „Du musst jetzt gehen“, versuchte der Junge ihn sanft zu ermutigen, „irgendwo hast du doch bestimmt eine Familie.“ Der Troll bewegte sich nicht. So sehr ihn der Junge auch ermutigte, er wollte ihn nicht verlassen. „Gut“, meinte der Junge, wenn jemand kommt und wieder nach dir tritt, dann wirst du schon rennen“, und wandte sich seiner Arbeit zu. Er hob die Hacke über den Kopf und wollte schon zuschlagen, als ihn der Kleine an den Beinen zog. „Lass das!“, rief der Junge und schüttelte ihn ab. Doch der Höhlentroll gab nicht nach. Er rannte zu einer Stelle der gegenüberliegenden Wände, fuhr mit seinen feingliedrigen Fingerspitzen darüber und quiekte aufgeregt. Dann kam er wieder zurückgerannt, zog an den Beinen des Jungen und quiekte weiter. Das tat er so lange, bis sich der Junge endlich ergab und mit ihm ging. Der Troll kauerte vor der Wand und strich noch einmal über die raue Oberfläche, bevor er auf eine ganz bestimmte Stelle zeigte. „Hier unten?“, fragte der Junge leise und bückte sich zu seinem Freund. Vorsichtig sah er sich um, von hier aus konnte man bis in den übernächsten Stollen sehen. Also würde es nicht lange dauern, bis ihn jemand mit dem verhassten Höhlentroll sehen würde. Doch dieser hörte noch immer nicht auf, angespannt auf und ab zu hüpfen. Also holte er erneut aus und fing endlich an zu hacken. Der Troll schaute erwartungsvoll zu, beobachtete jeden Schlag und wies seinen Freund immer gleich 17 quiekend darauf hin, wenn er neben die Stelle geschlagen hatte, die er ihm immer wieder anzeigte. Es dauerte nicht lange, bis das Gesicht des Jungen leicht rot erleuchtet wurde. Das Licht schien aus der Wand vor ihm zu kommen. Also hatte der Höhlentroll Recht? War hier tatsächlich etwas zu finden? Aufgeregt hackte der Junge weiter, immer schneller und schneller stach er in die raue Oberfläche ein und immer mehr Steine bröckelten ab und landeten vor seinen Knien. Seine Arme und Finger begannen zu schmerzen, sein Rücken und die Knie taten weh vom ewigen am Boden kauern, doch er nahm sich nicht einmal die Zeit, sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen, so erwartungsvoll wie er war. Auf einmal, als er schon ein beträchtliches Loch in die Wand gehackt hatte, sah er zuhinterst etwas zwischen den Steinen hervorleuchten. Er schmiss die Hacke zur Seite, wobei er beinahe seinen Freund getroffen hätte und riss mit blossen Händen die Kiesel und Steine aus der Wand. Tatsächlich: Weit hinten sah er einen Stein. Er war gross und rot, wunderschön. Der Junge hätte nicht gedacht, dass die Steine leuchten können, doch dieser hier verteilte sein Licht an ihm vorbei im ganzen Stollen. Auf einmal wurde der Höhlentroll unruhig. Er begann zu kreischen und versuchte den Jungen auf sich aufmerksam zu machen. Als der Junge seinen Kopf wieder aus dem Loch streckte, sah er, wie zwei andere 18 Höhlentrolle gerade den Stollen Richtung Oberfläche verliessen. „Oh nein!“, rief er, „nicht jetzt. Ich bin so kurz davor.“ Er streckte seine Arme zurück in das gebuddelte Loch und zog an dem Stein, so fest er konnte. Doch der Edelstein gab nicht nach. Unter ihm begann der Boden zu zittern. Von den Wänden bröckelten Steine ab und der Höhlentroll neben ihm schrie ihm angsterfüllt ins Ohr. „Lauf! ich komme gleich nach“, schrie der Junge und hob noch einmal die Spitzhacke auf. Der Troll verstummte, doch sein Verstand drängte ihn weiterhin zur Flucht. Nach ein paar harten Schlägen auf die Wand gab der Stein endlich nach und er konnte ihn aus der Wand ziehen. Währenddessen waren die ersten grossen Steine aus der Wand gebrochen, die ganze Höhle zitterte und bebte. Trotzdem sass der Höhlentroll immer noch wartend neben seinem Freund und erst als der Junge aufsprang, setzte auch er sich in Bewegung. So schnell ihn seine schmerzenden Füsse tragen konnten, rannte er den Gang entlang hinter dem Troll her, der trotz der Tatsache, dass er kaum halb so gross war wie der Junge, ein ordentliches Tempo drauf hatte. Es regnete Fels und Staub. Da, am Ende des zentralen Stollens schien ihnen das Licht der Sonne entgegen. Der Junge keuchte. Der Staub brannte ihm in Lunge und Augen, er konnte kaum noch sehen. Blind stolperte er in Richtung Freiheit, sah den Stein vor ihm nicht und fiel. Wahrscheinlich wäre er einfach liegen geblieben, hätte gewartet bis der Berg ihn 19 verschlang, doch der Troll liess ihn nicht. Er kam zurückgerannt, schubste ihn vorwärts, ermutigte ihn, bis er aufstand und weiterrannte. Schritt für Schritt kämpft er sich zum Ausgang, bis er endlich nach draussen gelangte. Endlich! Sonne! Licht! Luft! Er liess sich auf den Boden fallen und schloss die Augen, als hinter ihnen der ganze Gang tosend in sich zusammenbrach. Hustend rappelte der Junge sich auf. Er hatte Glück gehabt, ein angeknackster Fuss war nichts im Vergleich zu dem, was ihm hätte zustossen können, wenn er die Höhle auch nur eine Sekunde später verlassen hätte. In den Händen hielt er immer noch den Edelstein. Er war gross wie eine Faust und leuchtete nach wie vor feuerrot. Stolz zeigte er ihn dem Höhlentroll. Sein Freund sah sich den Stein mit grossen Augen an. Dann, bevor der Junge überhaupt reagieren konnte, griff er danach und stopfte ihn sich in den Mund. Genüsslich kauend sah der in das verdatterte Gesicht des Jungen. „Das“, stotterte er, „das isst du? Einfach so?“ Der Junge war total perplex. Dafür hatte er sein Leben riskiert? Der Troll grinste. Als er aber sah, wie niedergeschlagen sein Freund aussah, hörte er auf zu grinsen und spuckte in seine Hände. Entschuldigend hielt der dem Jungen den Stein wieder hin, der nun noch etwa so gross war wie ein Fingernagel. 20 Der Junge stiess einen Seufzer aus. Nun gut, den Stein hätte er ohne seine Hilfe sowieso nie gefunden. Irgendwas musste wohl auch ein Bergtroll essen. Er schaute auf den kleinen Kiesel, der von seinem Fund übrig geblieben war. Er hatte seinen Glanz nicht verloren und leuchtete noch immer mit derselben Kraft. Bestimmt war er noch eine Menge wert. Der Junge beschloss, seinen Fund nicht zu melden. Die Minenbesitzer kümmerten sich einen Dreck um das Leben ihrer Arbeiter, sie zu bestehlen würde bei ihm keine Reuegefühle auslösen. Die Arbeiter, an denen sie vorbei gingen, beachteten die beiden nicht. Wenige sahen dem Höhlentroll missbilligend nach, doch niemand machte sich die Mühe, etwas zu sagen. Auf dem Weg nach Hause machte sich der Junge Gedanken darüber, was sie als nächstes tun sollten. In seinem Dorf gab es einen Goldschmied, bei dem würden sie für den Stein bestimmt genug Geld für drei Wochen Überleben bekommen. Drei Wochen. Dafür, dass er fast gestorben wäre. Und danach? In diesem Moment fasste er einen Entschluss. Er wollte nicht mehr nur überleben. Schon viel zu lange hatte er sich abgerackert, für ein Leben, von dem er dann doch nichts hatte. Er würde das Geld nehmen und seinen Freund, und dann würde er einfach fort gehen. Für drei Wochen konnte er endlich tun, was er schon immer wollte: Er konnte die Welt sehen. Am Ende der Zeit 21 würde er sich eine neue Arbeit suchen, irgendwo brauchte immer jemand Hilfe. Es war ein wunderschöner Tag und das warme Wetter liess ihn über die trostlose Landschaft hinwegsehen. Lachend blinzelte der Junge in die Sonne. Er hatte schon ganz vergessen, wie toll sich das anfühlte. Endlich, das war der Beginn seines Lebens! 22 Schwampf! Draussen regnet es. Schon wieder. Am Schreibtisch sitzt Lynn und kritzelt in ein kleines Buch. „Hast du meinen IPod gesehen?“, frage ich. „Nö“, sagt meine Schwester. „Ich warne dich“, sage ich, „wenn du ihn schon wieder genommen hast, kannst du was erleben!“ „Sei still, ich muss mich konzentrieren“, murmelt Lynn genervt. „Was schreibst du da?“, will ich wissen. „Ich habe mich dazu entschlossen, meine einzigartigen und unübertroffenen Gedanken der Nachwelt mittels eines Tagebuches zu vermachen.“ „Aha“, staune ich, „Man muss nicht besonders tiefgründig sein, um deine Gedanken zu erraten.“ „Ach ja?“, fragt meine Schwester, „was denk ich denn gerade?“ Du fragst dich, wann es Essen gibt.“ Sie sieht auf. „Zufall!“ Ich lache. „Darf ich mal sehen?“ „Natürlich nicht!“, faucht sie mich an, „das ist ein Tagebuch.“ Sie steht auf, legt das Buch in die oberste Schreibtischschublade und geht aus dem Zimmer. Ich schüttle den Kopf. Draussen regnet es noch immer. Ich sehe zum Schreibtisch, dann zur Tür, wieder zum Schreibtisch. Ich kann mich nicht zurückhalten, also stehe ich auf und gehe rüber. Ich öffne die Schreibtischschublade. Sie ist nicht verschlossen. Spätestens da sollten bei mir die Alarmglocken klingeln, doch stattdessen wundere ich mich über die Naivität meiner Schwester und ziehe das Buch heraus. Es ist ein ganz normales Schulheft, und als ich es aufschlage steht da in rosaroter Farbe geschrieben: Hallo Tagebuch. Ich habe nie begriffen, warum jemand mit einem Buch reden sollte, indem er in es hineinschreibt. Ich 23 habe beschlossen, mich nicht diesem bescheuerten Gruppenzwang zu beugen und deshalb wirst du dieses „Hallo Tagebuch“ auch nur ein einziges Mal hören. Gerade habe ich vergessen, was mich dazu gebracht hat, Tagebuch zu schreiben. Vielleicht war’s Langeweile. Mir persönlich ist der Gedanke unerträglich, dass sich eine ältere Ausgabe meiner selbst mit längst veralteten idiotischen Gedanken rumschlagen soll. Aber nun gut: Letzte Woche hatte ich eine bahnbrechende Idee zum Thema Weltfrieden. Praktisch über Nacht entwickelte ich einen Plan zur Unterbindung aller gegenwärtiger und zukünftiger Kriege und Einigung aller Religionen und Weltanschauungen, für den mich die Hippies dieser Welt wahrscheinlich auf ewig feiern würden. Nur blöd, dass ich da noch kein Tagebuch geführt habe! Heute Morgen kam mir der Gedanke, dass in allen Irrenhäusern unbedingt mal jemand Nachforschungen anstellen sollte. Am Ende sagt einer von denen die Wahrheit und ist tatsächlich Gott oder so. Überleg mal, wo würde Gott früher oder später landen, wenn er versehentlich oder gewollt auf der Erde landen sollte? In der Klapse natürlich! Irgendwie traurig. Ausserdem bin ich der Ansicht, dass oft wiederkehrende Ereignisse zur Vermeidung von Missverständnissen und für das Sparen von Zeit einen Namen erhalten sollten. Jemand sollte zum Beispiel mal die Aussage „schlechte Laune durch regnerisches Wetter“ zu einem Wort zusammenfassen. Das wäre es schon wert, ich jedenfalls würde solch ein Wort oft benutzen. 24 Ende der Leseprobe von: von Engeln und Ungeheuern Gianna Schläpfer Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1oYyR0t
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