1 Freitag, 08.04.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

Freitag, 08.04.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Doris Blaich
Esprit, Leidenschaft und Ernsthaftigkeit
„Conversations“
Ensemble Nevermind
Quartette von Jean-Baptiste Quentin und Louis-Gabriel Guillemain
ALPHA 235
Sprudelnde Energie
Robert Schumann:
Cellokonzert a-Moll op. 129
Klaviertrio Nr. 1 d-Moll op. 63
Jean-Guihen Queyras, Violoncello
Isabelle Faust, Violine
Alexander Melnikov, Fortepiano
Freiburger Barockorchester
Pablo Heras-Casado
HMC 902197
Großer Atembogen
Johann Sebastian Bach:
Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl BWV 198
Tilge, Höchster, meine Sünden BWV 1083
Bach Collegium Japan
Leitung: Masaaki Suzuki
BIS 2181
Unglaubliche Virtuosität
Philipp Scharwenka:
Werke für Violine und Klaiver
Sonate h-Moll op. 110
Sonate e-Moll op. 114
Suite op. 99 für Violine und Klavier
Natalia Prischepenko, Violine
Oliver Triendl, Klavier
TYX Art 16075
Freude und Sorgfalt am Detail
Antonín Dvořák:
Sinfonien Nr. 7 und 8
Houston Symphony
Andrés Orozco-Estrada
PENTATONE PTC 5186 578
Signet Treffpunkt Klassik – neue CDs ... mit Doris Blaich, herzlich willkommen!
Ein Befreiungschlag! – sagt der Cellist Jean-Guihen Queyras über sein Erlebnis, das
Cellokonzert von Robert Schumann zusammen mit einem Orchester zu spielen, das auf
historischen Instrumenten musiziert. Plötzlich lösen sich alle Schwerfälligkeiten wie von
selbst. Die CD mit Queyras und dem Freiburger Barockorchester erscheint nächste Woche,
heute können Sie hier schon mal reinhören.
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Und ich habe noch vier weitere CDs dabei: Barocke Kammermusik aus Frankreich, die von
der Idee einer geistreichen und kultivierten Unterhaltung lebt – eine Art musikalischer
Gesprächsknigge also; dann Bachs Trauerode auf die sächsische Kurfürstin Christiane
Eberhardine, aufgenommen vom Bach-Collegium Japan und Masaaki Suzuki,
Violinsonaten von Philipp Scharwenka, ein Komponist der Romantik, den heute praktisch
keiner mehr kennt, der aber eine Entdeckung lohnt. – Und Dvořák: die 7. und 8. Sinfonie,
Andrés Orozco-Estrada hat sie mit dem Houston Symphony Orchestra eingespielt. Er ist
einer der shooting stars in der jüngeren Dirigentengeneration und übernimmt in der nächsten
Zeit einige Dirigate für den verstorbenen Nikolaus Harnoncourt, das macht natürlich
neugierig ...
Los geht’s mit dem Gesprächsknigge. „Conversations“ – Unterhaltungen – heißt die CD des
jungen französischen Barockensembles Nevermind. Sie enthält Quartette von Jean-Baptiste
Quentin und Louis-Gabriel Guillemain; beide Musiker spielten in den Salons der Pariser High
Society, u. a. bei Madame Pompadour und beim König höchstpersönlich. Und in ihrer Musik
spiegeln sie das Ideal der Konversation, die damals in den Salons herrschte: ein geistreicher
Austausch unterschiedlicher Gedanken; Grobheiten sind tabu, dagegen darf man umso
lieber mit Witz, eleganter Schlagfertigkeit und Originalität glänzen. – Hören wir als erste
Kostprobe ein Allegro von Jean-Baptiste Quentin.
Jean-Baptiste Quentin: Sonate op. 15 Nr. 3, Allegro
2’05
Jean-Baptiste Quentin: Allegro aus der Sonate op. 15 Nr. 3, gespielt vom Ensemble
Nevermind. Das sind vier junge Musiker aus Frankreich, gemeinsam grade mal 100 Jahre
alt, also frisch vom Konservatorium. Der Name Nevermind lockt hier vielleicht auf die falsche
Fährte: Never mind, das heißt so viel wie: Mach dir nichts draus, oder „Das ist ganz egal“.
Aber Gleichgültigkeit oder Wurschtigkeit ist gerade das Gegenteil von dem, wie diese jungen
Musiker Musik machen: Das hat alles sehr viel Esprit, Leidenschaft und auch Ernsthaftigkeit.
Das Zusammenspiel dieses Ensembles ist wunderbar – nämlich: genau, aber an den
entscheidenden Stellen eben auch frei –, die vielen kleinen Ornamente, von denen die
französische Musik lebt, wirken spontan, sind aber äußerst kunstvoll und grade richtig in
ihrer Gewichtung (die kein Gramm zu schwer sein darf, denn sonst fällt die ganze filigrane
Linie in sich zusammen wie ein missratenes Soufflé). Auf ihrer Website schreiben die vier,
dass sie miteinander befreundet sind, und ich finde, das hört man auf dieser CD, diese
musikalischen Konversationen sind einfach mühelos und erfrischend in ihrer Herzlichkeit.
Hören wir noch zwei Sätze aus einer Sonate von Louis-Gabriel Guillemain. Er war einer der
populärsten und bestbezahlten Hofmusiker von Ludwig dem Fünfzehnten, dem Erben des
Sonnenkönigs. In Paris und ganz Frankreich liebte man seine Musik und staunte über sein
atemberaubendes Geigenspiel. Seine Violin-Rivalen sollen beschämt die Instrumente
weggepackt haben, wenn er seine Geige aus dem Kasten holte. Leider haben
Schüchternheit und Lampenfieber Guillemain so blockiert, dass er sich fast nur im OrchesterVersteck mit der Geige an die Öffentlichkeit wagte. Und offensichtlich konnte er überhaupt
nicht mit Geld umgehen: Trotz seiner üppigen Einkünfte schob er einen ständig wachsenden
Schuldenberg vor sich her. In den letzten Jahren seines Lebens versuchte er, seine Sorgen
im Alkohol zu ertränken. Im Oktober 1770, auf einer Fahrt von Paris nach Versailles, beging
er Selbstmord – eine Quelle berichtet von 14 Messerstichen (man fragt sich, wie das rein
technisch möglich war). Die Leiche wurde noch am selben Tag begraben.
Guillemains Opus 12 (gedruckt im Jahr 1743) trägt den blumigen Titel „Six Sonates en
quatuors ou Conversations galantes et amusantes“. Die Konversation im Titel, das galante
und amüsante Gespräch, ist eine Mode der Zeit: Damals erscheinen etliche Werke, die im
Titel die Gesprächskultur der Pariser Salons beschwören. Bei Guillemain prägt die Idee der
Konversation auch die musikalische Struktur: auffallend kleingliedrige und oft witzige kurze
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Wendungen, mit denen die drei Melodie-Instrumente (Geige, Flöte und Gambe) fast
gleichberechtigt miteinander ‚reden‘.
Louis-Gabriel Guillemain: Quartett d-Moll op. 12, zwei Sätze
8‘45
Louis-Gabriel Guillemain: zwei Sätze aus dem Quartett d-Moll; Untertitel: Galante und
amüsante Konversationen. Und „Conversations“ ist auch der Titel dieser CD mit dem jungen
französischen Barockensemble Nevermind – das sind: Anna Besson (Flöte), Louis Creac’h
(Geige), Robin Pharo (Gambe) und Jean Rondeau (Cembalo). Die CD ist bei ALPHA
erschienen.
Eine Tournée mit einem Klaviertrio von Schumann war der Auslöser für die nächste CD, die
ich Ihnen vorstellen möchte: Die Geigerin Isabelle Faust, der Cellist Jean-Guihen Queyras
und der Pianist Alexander Melnikov sind vor ein paar Jahren mit diesem Stück herumgereist.
Alle drei hatten Lust auf mehr Schumann, am liebsten in Kombination mit den Solokonzerten
und gespielt mit Instrumenten aus Schumanns Zeit: das heißt mit einem historischen
Hammerflügel, die Streicher spielen auf Darmsaiten und mit etwas leichteren Bögen als den
modernen, und mit alten Blasinstrumenten, die zwar weniger Hightech haben, dafür einen
direkteren, runderen Klang. Als Traumpartner schwebten den Dreien das Freiburger
Barockorchester vor und der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado. Der Wunsch ist in
Erfüllung gegangen: Erst gab es eine Reihe von gemeinsamen Konzerten, und nach und
nach sind drei CDs entstanden: Sie enthalten die drei Solokonzerte von Schumann (für
Geige, Cello und Klavier) und die drei Klaviertrios. Am Freitag in einer Woche erscheint die
letzte Folge dieser Trilogie bei harmonia mundi (mit dem Cellokonzert), das Label hat mir die
CD gerade noch rechtzeitig zugeschickt, ich wollte sie unbedingt vor der Sendung noch
anhören – und nach ein paar Takten war mir klar, dass sie unbedingt rein muss in die
Sendung!
„Ich möchte lachen vor Todesschmerz“ sagte Schumann, als der Vater seiner geliebten
Clara seinen Heiratsantrag ablehnte. Das Cellokonzert entstand 1850 – da war Schumann
40 Jahre alt und Clara längst seine Frau. Aber die widerstreitenden extremen Gefühle haben
ihn nie losgelassen. In seiner Musik kann man sie hören – auch in seinem Cellokonzert, das
ständig zwischen Licht und Schatten changiert und einen merkwürdig düsteren Glanz
ausstrahlt.
Schumanns Cellokonzert ist kein Showpiece, bei dem der Solist virtuose Zirkusnummern
präsentiert und das Orchester mit ein paar wirkungsvollen Tuschs zur Seite steht. Schumann
stellt ganz die gesangliche Seele des Cellos ins Zentrum; es gibt trotzdem ein paar
schwindelerregend virtuose Stellen, aber die sind eher Beiwerk als Selbstzweck. Schumanns
schnelle Läufe und die unglaublich großen Sprünge liegen nicht gut in der Hand, sind sperrig
und wirklich schwer für den Cellisten. Schumanns Zeitgenossen wollten deshalb
umfangreiche Änderungen; Schumann hat sie allesamt ignoriert und seine Kollegen damit
gründlich verprellt. Schumanns Instrumentation macht das Konzert für den Cellisten nicht
einfacher – Mstislaw Rostropowitsch war damit so unzufrieden, dass er sich bei
Schostakowitsch eine komplett neue Instrumentierung bestellte.
Wenn das Orchester auf historischen Instrumenten spielt, wie hier das Freiburger
Barockorchester, mit Darmsaiten und dunkler grundierten Bläsern, dann sind die
Balanceprobleme längst nicht mehr so gravierend. Für den Cellisten Jean-Guihen Queyras
war dieses Zusammenspiel ein „Befreiungsschlag“, wie er sagt. „Man muss die klangliche
Dichte der modernen Orchester auflockern, sonst können die Dynamik, die Energie und auch
die Magie der Werke nicht wirklich entstehen.“ Er selbst spielt in dieser Aufnahme sein
übliches Cello, ein italienisches Instrument von Goffredo Cappa aus dem Jahr 1696; er hat
es aber mit Darmsaiten bezogen. Und er orientiert sich in der klaren, sprechenden
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Phrasierung, der Leichtigkeit der Bogenhand und der differenzierten Behandlung des
Vibratos stark an der historischen Aufführungspraxis. Ich finde, Queyras trifft ganz
wunderbar die vielen Stimmungen, die in diesem Konzert stecken: das sehnsuchtsvolle
Drängen, die Euphorie und die erschütternden Abgründe, die rauen, aber auch die süßen
Seiten, die ungebändigte Leidenschaft. „Nicht zu schnell“ ist der erste Satz überschrieben –
und manchmal scheint hier tatsächlich die Zeit still zu stehen; was für eine Wohltat, dass
diese Stellen nicht mit Geschäftigkeit übertüncht werden!
Robert Schumann: Cellokonzert a-Moll, 1. Satz, Übergang zum 2. Satz
11‘00
Der erste Satz und ein Teil des zweiten aus dem Cellokonzert von Robert Schumann, in
einer neuen Einspielung mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras, dem Freiburger
Barockorchester und dem Dirigenten Pablo Heras-Casado. Die Aufnahme bildet den
Abschluss einer Dreierserie mit Schumanns Konzerten für Geige, Klavier und Cello; jedes
Konzert ist kombiniert mit einem Klaviertrio; gespielt von Isabelle Faust, Jean-Guihen
Queyras und Alexander Melnikow (also dieselben, die auch die Soli in den Konzerten
spielen).
Nach dem Cellokonzert gibt es auf dieser neuen CD Schumanns erstes Klaviertrio op. 63 in
d-Moll. Schumann hat es 1847 komponiert, drei Jahre vor dem Cellokonzert, „in einer Zeit
düsterer Stimmungen“ und es seiner Frau Clara zum Geburtstag geschenkt. Sie schrieb
nach dem ersten Durchspielen in ihr Tagebuch: „Es klingt wie von einem, von dem noch
Vieles zu erwarten steht, so jugendfrisch und kräftig, dabei doch in der Ausführung so
meisterhaft ...“
Herrlichste Musik, von den drei Musikern mit ganzer Seele gespielt und hier sehr direkt
aufgenommen, deshalb hört man auch mal, dass die Instrumente aus Holz sind und die
Saiten der Streicher aus Darm – aber ich finde, gerade dieser direkte Klang passt perfekt
zum aufgewühlten Charakter der Musik. Hier ist der zweite Satz daraus, überschrieben ist er
„Lebhaft, doch nicht zu rasch“:
Robert Schumann: Klaviertrio d-Moll op. 63, 2. Satz
4‘55
„Herzkammermusik“ so heißt ein Theaterstück über Robert Schumanns Leben, der Titel
passt auch perfekt zu diesem Klaviertrio, das kommt direkt aus der Herzkammer und fließt
auch wieder mittenrein zurück – besonders, wenn man es mit solch einer sprudelnden
Energie und Leidenschaft spielt wie hier Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras und
Alexander Melnikow. Sie merken, ich kann nur schwärmen über diese CD, sie enthält neben
dem Klaviertrio auch eine herrliche Aufnahme von Schumanns Cellokonzert, da wird JeanGuihen Queyras begleitet vom Freiburger Barockorchester unter Leitung von Pablo HerasCasado. Am 15. April wird sie veröffentlicht beim Label harmonia mundi, und als Bonus gibt
es einen Mitschnitt des Cellokonzerts auf DVD dazu.
Queyras kommt im Mai übrigens zu den Schwetzinger SWR Festspielen, und zwar gleich
zwei Mal: Am 1. Mai spielt er ein Soloprogramm, bei dem er Bachs Cellosuiten mit modernen
Stücken kombiniert. Und am 3. Mai spielt er mit seinem Arcanto-Quartett und dem Cellisten
Maximilian Hornung ein spätes Beethoven-Quartett und Schuberts Streichquintett.
Wenn Fürsten heiraten oder Geburtstag feiern, muss in der Barockzeit eine Festmusik her.
Manchmal reichen auch vergleichsweise banale Anlässe wie eine Jagd oder die Rückkehr
vom Landsitz ins Stadtpalais für eine pompöse Willkommensmusik – Henry Purcell hat
einige seiner schönsten Werke für solche Anlässe geschrieben; oder auch Johann Sebastian
Bach. „Gelegenheitsmusiken“ ist der Sammelbegriff für solche Werke, eben weil sie direkt
auf eine bestimmte Gelegenheit gemünzt sind. Auch Trauermusiken zählen dazu, von Bach
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unter anderem die Kantate „Lass Fürstin, lass noch einen Strahl“, die er 1727 komponierte,
für den akademischen Trauerfestakt der sächsischen Kurfürstin Christiane Eberhardine. Drei
große Chorsätze enthält diese Kantate, dazwischen Arien und kunstvoll gestaltete
Accompagnato-Rezitative. Schade, dass man die Musik nur bei diesem einzigen Anlass
aufführen und hören konnte! Das fand auch Bach, er hat einige Stücke daraus später mit
gänzlich neuen Texten in einer Passionsmusik wiederverwertet, in der „Markus-Passion“;
deren Partitur ist heute verschollen, aber man kann anhand der Textbücher rekonstruieren,
dass Bach dafür die Musik der Trauerode verwendet hat. Mangels passender
Aufführungsgelegenheiten kennt man die Trauerode heute kaum – die Kantaten lassen sich
sonntags im Gottesdienst musizieren oder im Radio, aber wann ist schon der passende
Anlass für einen Chor mit diesen Text:
„Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl
Aus Salems Sterngewölben schießen
Und sieh, mit wie viel Tränengüssen
Umringen wir dein Ehrenmal.“
Der Text stammt übrigens von Gottsched, aber das macht ihn für uns heute nicht weniger
fremd.
Masaaki Suzuki hat die Trauerode jetzt mit dem Bach-Kollegium Japan eingespielt, die
Kirchenkantaten hat er ja in den letzten Jahren komplett eingespielt, auf 55 CDs, jetzt ist also
Gelegenheit für die Stücke, die sonst nirgendwohin passen. Und die möchte ich auch in
dieser Sendung nutzen: Hier ist der Beginn von Bachs Trauerode – und man kann mal
wieder staunen über Suzukis Kunst, Spannung mit anderen Mitteln zu erzeugen als mit
Lautstärke, nämlich mit einem großen Atembogen.
Die Harmonien schlagen in dieser Musik oft ungewohnte Haken, münden in Trugschlüsse
und in unerwartete Dissonanzen. Die große Gefahr – und viele Ensembles erliegen ihr – ist
es, hier jedesmal einen Akzent zu setzen. Aber dann wird die Musik schnell exaltiert und
gerät aus dem Fluss. Bei Suzuki merkt man, dass jeder Musiker die besonderen Wendungen
mit Bewusstheit spielt, aber ohne sie herausknallen zu lassen. Vielleicht ist das eine
japanische Spezialität, eine ganz besondere Ästhetik, die melodische Linie niemals zu
überfrachten, sondern sie immer schwingen und atmen zu lassen. Dazu kommt ein absolut
homogener Chor, aus dem sich keiner auch nur eine Silbe lang in den Vordergrund singt.
Johann Sebastian Bach: Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl, Beginn
10‘55
Der Beginn von Johann Sebastian Bachs Trauerode für die sächsische Kurfürstin Christiane
Eberhardine, musiziert vom Bach Collegium Japan unter Leitung von Masaaki Suzuki.
Die Sopranistin in Rezitativ und Arie war Joanne Lunn. Außerdem ist auf der CD eine
wunderschöne Alt-Arie, die lange Bach zugeschrieben wurde, aber vermutlich von seinem
Zeitgenossen Georg Melchior Hoffmann stammt und – noch ein Fremdkörper im BachWerkeverzeichnis: Bachs Bearbeitung des Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi. Da
ist der katholische Text über Marias Schmerzen, als sie am Kreuz Christi steht und den Tod
ihres Sohnes beklagt, kurzerhand ausgetauscht gegen eine barock-überquellende
Nachdichtung von Psalm 51, die auch für Protestanten genießbar war – statt Stabat Mater
Dolorosa, juxta crucem lacrimosa, dum pendebat filius“ heißt es jetzt „Tilge höchster, meine
Sünden, Deinen Eifer lass verschwinden, lass mich deine Huld erfreun“. Die Musik von
Pergolesi musste Bach nur hier und da ein kleines bisschen zurecht schmirgeln.
Carolyn Sampson und Robin Blaze sind die Solisten, Mazakii Suzuki dirigiert das Bach
Collegium Japan.
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Giovanni Battista Pergolesi / Johann Sebastian Bach:
„Tilge höchster, meine Sünden“ nach dem „Stabat Mater“
4’20
Das Stabat Mater von Pergolesi, mit einem deutschen Text versehen – der Verfasser ist
unbekannt – und an einigen Stellen musikalisch passend gemacht von Johann Sebastian
Bach – deshalb hat diese Kantate auch eine Nummer im Bach-Werke Verzeichnis, das ist
die 1083. Carolyn Sampson und Robin Blaze waren die Solisten, Masaaki Suzuki leitet das
Bach Collegium Japan in dieser neuen SACD. Sie ist beim Schwedischen Label BIS
erschienen.
Philipp Scharwenka – wenn Sie den Namen noch nie gehört haben, dann geht es Ihnen wie
mir; erst vor kurzem bin ich auf ein Klavierquintett von diesem Komponisten gestoßen, jetzt
war auf meinem Neuerscheinungsstapel eine CD mit sehr reizvoller Musik für Geige und
Klavier von Philipp Scharwenka. 1847 ist er in Samter geboren, das liegt heute in Polen, in
der Nähe von Posen. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Xaver Scharwenka studierte er
in Berlin Musiktheorie und arbeitete bald schon als Lehrer für Theorie und Komposition, in
einer eigenen Musikhochschule in Berlin, die dann mit der Klavierschule von Karl Klindworth
fusionierte und in Berlin eine der wichtigen Hochschulen war. Bis zu seinem Tod 1917 wirkte
er dort als Direktor. Scharwenka stand im Austausch mit Reger und Brahms, mit dem
Cellisten Julius Klengel und dem Dirigenten Arthur Nikisch. Zu seinen Schülern zählt Otto
Klemperer.
Auf zeitgenössischen Fotos entdeckt man nicht die Spur eines Lächelns hinter seinem
Zwicker und dem rauschendem Brahms-Bart, kühl wirkt er da und ausgesprochen
diszipliniert. Disziplin hatte er auf jeden Fall nötig, denn neben dem Job als
Konservatoriumsdirektor und Lehrer fand er genug Zeit, einen riesigen Berg an Musik zu
komponieren. Weit über 100 Werke sind überliefert: Sinfonien, ein Violinkonzert, Chorwerke,
eine große Oper und jede Menge Kammermusik. Die Geigerin Natalia Prischepenko hat jetzt
einige seiner Stücke für Geige und Klavier aufgenommen; sie war 18 Jahre lang Primaria
des Artemis-Quartetts, inzwischen hat sie ihren Schwerpunkt mehr aufs Unterrichten
verlagert (sie ist Professorin an der Dresdner Musikhochschule) und spielt solistisch. Auf
dieser CD spielt sie gemeinsam mit dem Pianisten Oliver Triendl. Hier sind die beiden mit
dem ersten Satz aus der Sonate h-Moll op. 110 von Philipp Scharwenka.
Philipp Scharwenka: Violinsonate h-Moll op. 110, 1. Satz
8‘20
Der erste Satz, Allegro, aus der Violinsonate h-Moll op. 110 von Philipp Scharwenka. Zwei
Sonaten und eine Suite von Philipp Scharwenka sind auf dieser neuen CD enthalten,
natürlich bewegen sich nicht alle Sätze auf der selben Hochgeschwindigkeitsspur wie dieser,
ich habe ihn ausgewählt, weil ich finde, dass die Geigerin Natalia Prischepenko und der
Pianist Oliver Triendl diese Musik einfach atemberaubend gut spielen – mit einer
unglaublichen Virtuosität, perfekter Bogentechnik, idealem Timing – und obwohl das alles mit
fast maschinenhafter Genauigkeit gespielt ist, spürt man doch eine nervöse Unruhe und eine
beinahe gespenstische Intensität des Ausdrucks. Die CD ist beim Label TYXart erschienen,
als Kooperation mit dem Edition Joachim Wollenweber, ein Notenverlag aus Regensburg,
der immer wieder vergessene Schätze ans Licht holt.
Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik mit neuen CDs.
Und wir biegen ein in die Schlusskurve mit Sinfonien von Antonín Dvořák, dirigiert von dem
jungen Kolumbianischen Dirigenten Andrés Orozco-Estrada. Er ist seit Herbst 2014
Chefdirigent beim hr-Sinfonieorchester in Frankfurt und außerdem Chef beim Houston
Symphony Orchestra. Er arbeitet nach und nach mit den großen amerikanischen und
europäischen Orchestern, und im Juli dirigiert er bei den Salzburger Festspielen und bei der
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Styriarte in Graz Beethovens neunte Sinfonie – für Nikolaus Harnoncourt, der letzten Monat
gestorben ist. Das alles lässt aufhorchen.
Und seine neue Dvořák-CD mit dem Houstoner Orchester auch. Die ist voll feuriger Energie,
fein gearbeitet in den Details, wunderbar ausbalanciert, spannungsreich und – das vielleicht
wichtigste bei Dvořák: mit musikantischer Freude gespielt. – Hören wir rein in den dritten
Satz der achten Sinfonie, einen melancholischen Walzer, Allegretto grazioso überschrieben,
also relativ zügig und mit Grazie. Ich habe ein paar verschiedene andere Aufnahmen zum
Vergleich mitgebracht. Zuerst ein paar Takte mit Orozco-Estrada und dem Houston
Symphony.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz (Ausschnitt)
Houston Symphony, Andrés Orozco-Estrada
0‘25
Und hier gleich eine zweite Version: Herbert von Karajan mit den Wiener Philharmonikern
etwas schneller im Tempo, mit wesentlich mehr Schmalz in den Streichern (verursacht durch
schleifende Glissandi und heftiges Vibrato); und die Akzente, die Dvořák in jedem zweiten
Takt in den Geigen vorschreibt, sind hier viel deutlicher herausgearbeitet.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz (Ausschnitt)
Wiener Philharmoniker, Herbert von Karajan
0‘25
Herbert von Karajan 1985 mit den Wiener Philharmonikern und dem Beginn des Walzers aus
Dvořáks 8. Sinfonie. Karajan ist auf dem Cover dieser CD mit einem schwergewichtigen
Motorrad abgebildet, und das ist auch beim Hören dieses Walzers mein Eindruck: Motor
aufheulen lassen und mit voller Kraft durch. Aber ist das dann noch „grazioso“, wie Dvořák in
der Satzüberschrift verlangt?
Hier kommt noch Version 3: Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern, die die drei
Sechzehntel Auftakt zu Beginn genüsslich dehnen und alles dafür tun, diese Musik mit einem
Goldglanz zu überziehen.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz (Ausschnitt)
Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado
0‘25
Claudio Abbado, 1994 in Berlin; hier sind vielleicht die kleinen Details in den Bläsern am
deutlichsten zu hören und die Akzente in den Streichern wesentlich diskreter zugunsten
einer großen melodischen Linie. Das Schwelgerisch-Melancholische, finde ich, gelingt in
allen drei Aufnahmen – erstaunlich mit welch unterschiedlicher Energie man das gestalten
kann.
Dieser Walzer lebt von der genau richtigen Dosis an Schmalz; wenn man ihn zu nüchtern
spielt, geht der Charme verloren; wenn man den Schmalzfaktor übertreibt, bekommt man
Diabetes Typ 2 in den Gehörgängen. Aber wodurch entsteht dieser Schmalz – oder vielleicht
kann man ihn auch als eine unbestimmte Sehnsucht nach Innigkeit, Behaglichkeit und
Schwelgen bezeichnen? Das Glissando in den Streichern ist sicher eines der Mittel, wir
haben es schon in unterschiedlicher Ausprägung gehört; dann die Dosierung des Vibratos,
am besten nicht starr durchgewackelt, sondern bewusst, differenziert und wie eine
Verzierung eingesetzt. Ganz wesentlich ist auch der Umgang mit feinen
Temposchwankungen, dem Rubato. „Rubato“ heißt geraubt, also geraubte Zeit, die durch
die Verzögerung verlorengeht. Viele ältere Quellen verlangen, dass das Geraubte wieder
zurückgegeben muss. Aber womit? Sicher nicht mit Beschleunigung, sondern mit einem
Energiegewinn, der durch die Staupause entsteht und sich dann in den nächsten Takten
entlädt.
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Hören wir im Vergleich eine dieser Rubato-Stellen aus dem Mittelteil des Walzers, zunächst
in der Aufnahme mit Abbado und den Berliner Philharmonikern. Langsam, in zwei großen
Steigerungswellen blüht dieses wiegende Thema auf, die Streicher lassen es bis zum
Fortissimo anschwellen, dann geht die Dynamik ganz zurück – und gleichzeitig baut Abbado
einen Tempo-Stau ein; erst mit dem nächsten Holzbläsereinsatz balanciert die Musik ins alte
Tempo zurück.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz (Ausschnitt)
Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado
0‘50
Rubato als Genussmittel: Das war die Aufnahme mit Abbado und den Berliner
Philharmonikern, hier zum Vergleich die neue mit Andrés Oroszco-Estrada und dem Houston
Symphony.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz (Ausschnitt)
Houston Symphony, Andrés Orozco-Estrada
0‘50
Das Rubato ist hier nicht so schwelgerisch ausgekostet wie bei Abbado und den Berlinern,
überhaupt marschiert Orozco-Estrada mit seinem Houstoner Orchester wesentlich
geradliniger durch die Partitur und erlaubt sich viel weniger metrische Freiheiten. Dafür legt
er hier größeren Wert auf die rhythmische Präzision, hier hört man noch deutlicher die
Konturen dieses punktierten Themas und vor allem auch, was sich da alles an zusätzlichen
Rhythmen im Untergrund abspielt: tropfende Sechzehntel in den Celli und als weitere
Schicht ein ostinater Paukenrhythmus, kombiniert mit einem zweiten Ostinato in den Bässen,
mal gegen den Taktschwerpunkt, mal mit ihm. Diese Durchsichtigkeit und die Freude und
Sorgfalt am Detail gefällt mir ausgesprochen gut an dieser Aufnahme. Hören wir zum
Abschluss der Sendung den Walzer ganz, Andrés Orozco-Estrada dirigiert das Houston
Symphony Orchestra.
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8, 3. Satz
Houston Symphony, Andrés Orozco-Estrada
6’05
Der dritte Satz – „Allegretto grazioso“ aus der achten Sinfonie von Antonín Dvořák in einer
neuen Aufnahme mit dem Houston Symphony Orchestra unter Leitung von Andrés OrozcoEstrada. Dvořáks siebte und achte Sinfonie sind auf dieser SACD, sie ist beim Label
PENTATONE
Die genauen Daten und Bestellnummern finden Sie auf unserer Internetseite swr2.de, dort
steht die Sendung auch eine Woche lang zum Nachhören. – Hier geht es gleich weiter mit
den Infos vom SWR2 Kulturservice, um12 gibt es dann Nachrichten und Aktuelles. – Einen
guten Freitagnachmittag wünscht Ihnen Doris Blaich.
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