SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Von der Förderschule zum

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Von der Förderschule zum beruflichen Gymnasium
Eine Schulkarriere
AutorIn:
Ellinor Krogmann
Redaktion:
Ellinor Krogmann
Sendung:
Donnerstag, 07.04.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
Autorin:
Sein Weg ist außergewöhnlich und beeindruckend, denn seine Startbedingungen waren
schlecht. Der Vater dauerhaft abwesend, die Mutter allein erziehend mit wenig Geld. Ein
Unterschichten-Kind, sagt Marcel Labs.
Labs OT 1
Im Kindergarten gabs oft Prügeleien oder oft Streitigkeiten mit anderen Kindern und ich
war halt der Außenseiter. Ich hatte keine Freunde im Kindergarten. Ich war halt anders,
viel größer und da haben mich die anderen viel älter eingeschätzt und mich hat auch
keiner verstanden.
Autorin:
Marcel hatte schwere Sprachfehler, Wortwahl, Satzbau, Merkfähigkeit, Artikulation vieles stimmte nicht. Er litt an einer audititiven Wahrnehmungsstörung, so der
Fachbegriff. Er konnte sich sprachlichen Input nicht merken. Aber die Tragweite seiner
sprachlichen Beeinträchtigung wurde zunächst nicht erkannt. Und so blieb Marcel Labs
ein Kind, das sich nicht verständlich machen konnte.
Labs OT 2
Man hat mich fast gar nicht verstanden, selbst meine Familie hat mich fast gar nicht
verstanden und ich habe Wörter vertauscht. Z.B. wenn ich gesagt habe: die Kirsche war
lecker, habe ich gesagt: die Kirche war lecker. Wörter die sich sehr ähnlich waren, habe
ich vertauscht. Aber ich selber habe es nicht mitbekommen, dass ich falsch gesprochen
habe. Ich habe mich genau so gehört, wie andere, die normal gesprochen haben, sich
gehört haben.
Autorin:
Wie er tatsächlich gesprochen hat, wird er erst Jahre später begreifen, als man ihn im
Rahmen einer sprachheilpädagogischen Behandlung auf Band aufnimmt. Noch heute ist
ein kleiner Rest von seiner früheren Behinderung zu hören, aber sie ist minimal zu dem,
wie er in Kindertagen gesprochen hat.
Damals konnte er einen Haupt – mit Nebensatz nicht speichern. Im Gedächtnis blieb nur
der Hauptsatz. Das differenzierte Hören von Lauten war gestört. Dr. Anja Theisel von
der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik erklärt ein schulisches Gutachten,
das ein paar Jahre später über Marcel Labs erstellt wurde.
Theisel OT 3
Also wenn man das hier von ihm hört oder liest, dann ist das vermutlich ein Kind das
schon im Kindergartenbereich ganz große Probleme hatte, Sprache zu verarbeiten, d.h.
wenn der was gesagt gekriegt hat, hat er sich davon nur ein Bruchteil davon gemerkt,
hat vielleicht nur einen Teil gehört und ist dadurch wahrscheinlich in seinem Verhalten
auffällig gewesen. Das hat man ganz häufig, dass möglicherweise Kinder
Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die ihre Verursachung aber woanders haben können.
Also es kann natürlich sein, dass es im Elternhaus, dass es da Probleme gab, dass das
zusammenspielt und dann dazu kommt diese massive Wahrnehmungsproblematik, die
der hatte. Und er sich einfach Dinge nicht gemerkt hat oder einfach nicht gehört hat im
wahrsten Sinne des Wortes, was noch nicht mal bösartig war, sondern weil er es
wirklich nicht gehört und nicht gemerkt hat.
Autorin:
Weil auch die Artikulation nicht stimmte, er nuschelte und verwaschen sprach,
misslangen auch häufig seine Versuche, Kontakt mit anderen Kindern aufzunehmen
und er geriet in körperliche Auseinandersetzungen. Er eckte so sehr an, dass er drei
Mal den Kindergarten wechseln musste. Deshalb stand auch sein Verhalten im Fokus
der pädagogischen Aufmerksamkeit und er wurde mit sechs Jahren nicht in eine
normale Grundschule geschickt, sondern in eine Förderschule für verhaltensauffällige,
schwer erziehbare Kinder. Seine Mutter wollte das nicht, sie habe sich allerdings nicht
gegen die Einschätzung der Pädagogen wehren können, sagt Marcel Labs. Er sei aber
nicht schwer erziehbar gewesen, er habe weder Bänke umgeworfen, noch die Lehrer
bespuckt. Allerdings gab es auch auf der Förderschule für Schwererziehbare – in der
Soderpädagogik spricht man von einer Schule für sozial-emotionale Entwicklung –
Prügeleien.
Labs OT 4
Ich wollte Freunde finden. Jeder hat ein paar Freunde mit denen er in der Schule mal
Zeit verbringt und ich wollte damals auch meine Freunde haben. Außerhalb der Schule
hatte ich ein, zwei Freunde, aber auch nicht viele, was mit mir zu tun haben wollten. Ich
hätte einen schlechten Ruf, ich war halt anders. Das war halt so und die anderen haben
gedacht, mit dem halt nicht und die Eltern haben es auch verboten. Ich wollte anerkannt
werden und meine Freunde finden und keiner wollte mit mir Zeit verbringen, von daher
war ich das Opfer in der Schule. Ich war halt auch anders, weil ich schon ziemlich früh,
älter und reifer aussah als andere in meinem Alter und größer auch.
Autorin:
Die anderen Kinder hänseln ihn als „Riesenbaby“. Marcel ist sich seiner Kraft nicht
bewusst und gerät regelmäßig in eine Opferrolle. Das wird in einem schulischen
Gutachten festgehalten:
Weiterhin Außenseiterposition in der Klasse, wird von Mitschülern wegen sprachlichen
und motorischen Auffälligkeiten sowie noch immer häufig unangemessener
Zugehensweise auf andere als Spielpartner abgelehnt. M. sucht Kontakt zu Kindern, die
„cool“ erscheinen und versucht ihnen zu imponieren, trotz massiver körperlicher
Auseinandersetzungen keine Verhaltensänderung. Innerhalb der Klasse hilfsbereit und
freundlich, übernimmt freiwillig und zuverlässig Dienste, hält Schul-und Klassenregeln
ein.
Sein allgemeiner schulischer Leistungsstand wird gelobt.
Gute Arbeitshaltung, interessiert und offen für neue Inhalte, meist gute Konzentration,
selbständig und ausdauernd, zügig und fleißig, Hausaufgaben und Material vollständig.
Gleichzeitig erlebt Marcel zu Hause immer wieder belastende und schockierende
Situationen. Seine Mutter hat einen gewalttätigen Freund.
Labs OT 5
Ich habe gesehen, als ich zu Hause angekommen bin nach der Schule oder gerade
abends, dass der Freund von meiner Mutter gerne auf meine Mutter eingeprügelt hat.
Ich konnte meiner Mutter nicht helfen. Ich bin zu meiner Oma gegangen und habe sie
darauf angesprochen oder meinen Opa, was zu Hause abläuft. Ein paar Jahre ging das
auf jeden Fall. Wie ich auch auf der Förderschule war für Schwererziehbare.
Autorin:
Um der häuslichen Misere zu entgehen, verbringt er nach der Schule immer mehr Zeit
bei den Großeltern, die in der Nähe wohnen.
Labs OT 6
Ich war gerne bei meiner Oma, da gab es immer Essen, da konnte ich mit Lego spielen,
ich hatte meinen eigenen Dachboden für mich selber. Ich bin gerne mit meinem Opa
schwimmen gegangen oder Fahrrad fahren. Mein Opa war ja auch wie mein Papa.
Autorin:
Sein Großvater wird der Ersatzvater und die Großeltern bieten ihm die Stabilität, die er
braucht. Neben der Schule besucht er eine heilpädagogische Tagesstätte, aber seine
Sprachbehinderung führt dennoch dazu, dass Marcel kaum lesen und schreiben lernt.
Als ihm nach drei Jahren der Wechsel auf eine Sprachförderschule gelingt, kann er nur
„Marcel“ und „Mutter“ schreiben. Ein typisches Phänomen, Kinder, die nicht richtig
sprechen können, bekommen in der Folge auch ein Problem mit dem Schreiben-Lernen.
Und das kann viele Ursachen haben, auch familiäre, sagt die Sprachheilpädagogin Anja
Theisel.
Theisel OT 7
Da ist es auch häufig so, dass es Familien gibt – manchmal spricht man von einer
sogenannten familiären Sprachgestaltungsschwäche, d.h. es ist nicht so dass die
Familie durch ihre Erziehung oder sonst irgendetwas, was falsch gemacht hätte,
sondern es gibt auch Anteile, die da vererbt werden. D.h. Kinder, die aus Familien
kommen, wo auch schon die Eltern in irgendeiner Weise ein Problem in der
Sprachverarbeitung, in der Schriftsprache hatten. Die uns auch oft erzählen, ach das
Problem, das kenne ich, das hatte ich auch schon, ich konnte auch immer keinen
Aufsatz schreiben. Usw. Also das heißt, man kann da unheimlich schwierig jetzt sagen,
die Eltern oder das soziale Umfeld des Kindes ist nicht unterstützend genug, sondern es
ist oft ein Zusammenwirken von mehreren Faktoren.
Autorin:
Auf der Sprachförderschule fühlt sich Marcel Labs wohler, denn „wir hatten ja alle
dasselbe Problem“ sagt er, „die Sprache“. Ein IQ-Test wird durchgeführt und der ergibt
knapp über 100 Punkte. Damit liegt Marcel im Durchschnitt. Wie bei vielen
sprachbehinderten Kindern wird seine große Stärke die Mathematik.
Labs OT 8
In Mathematik war ich sehr sicher und das konnte ich richtig gut, meiner Meinung nach.
Ich habe auch gerne mit Lego gespielt und habe eigene Häuser gebaut, eigene
Straßen, also wie ein Ingenieur kann man sagen, oder ein Architekt. Aber dann hatte ich
vielleicht mal Wörter zu schreiben. Acht. Wie schreibt man eine acht? Wie schreibt man
die sechs? Sechs war eh so ein Wort was man nicht konnte. S. Mit s hat das
angefangen, war ein Laut den ich nicht gut aussprechen konnte und cs war da noch
dabei, wie hat man sechs geschrieben oder 26 oder Hundertdreißig. Nachdem
Mathematik mit der deutschen Sprache verbunden war, hatte ich keine eins mehr in
Mathematik sondern nur noch eine zwei, weil ich die Wörter nicht aufschreiben konnte.
Aber Mathematik lag mir gut, die ganzen anderen Fächer war ich halt nicht prima. Wie
man an meinem Notenstand auch sieht. Mathematik hatte ich eine zwei und die ganzen
anderen Fächer hatte ich ne vier oder ne drei.
Autorin:
Textaufgaben in der Mathematik sind schwierig für ihn, denn er schreibt nicht sicher
genug. Trotzdem geht es voran.
Labs OT 9
In der siebten Klasse habe ich einen neuen Lehrer bekommen, der hat es erkannt, dass
ich gut bin und nicht auf eine Förderschule gehöre. Von dem habe ich mich sehr
gefördert gefühlt, weil er sich für mich eingesetzt hat, er hat auf Schulen angerufen und
gefragt ob ich eine Probeunterricht oder Probewoche machen kann, für mich. Und das
ging auch. Ich war ein halbes Jahr dann auf der Gesamtschule. Wenn ich gut war,
könnte ich bleiben. Was ich auch war und bin, wäre ich schlecht gewesen, wäre ich
zurückgekommen auf die Förderschule. Insgesamt war ich neun Jahre ein
Förderschüler. Dass man das erst nach neun Jahren feststellt, finde ich sehr kritisch.
Obwohl die Lehrer auch Sonderpädagogen sind und das Fach studiert haben.
Autorin:
Neben diesem Lehrer, der es möglich machte, dass Marcel Labs zunächst probehalber
und dann fest auf die Gesamtschule gehen konnte, war es vor allem er selbst, der für
seine Entwicklung sorgte. So sieht er das. Ausgelöst wurde die positive Entwicklung von
einem traurigen Ereignis. Sein Großvater wurde schwer krank und Marcel wollte ihm inspiriert von einer Fernseh-Serie - helfen.
Labs OT 10
Ich wollte meinem Opa Kraft geben. Er lag immer länger im Krankenhaus und ich habe
mir damals schon Sendungen wie Grainwood angeguckt. Also die Freunde konnten sich
gegenseitig die Kraft geben. Ich habe trainiert mit Hanteln, die ich ein paar Jahre davor
von meiner Mutter geschenkt bekommen habe. Ich habe gedacht, wenn ich trainiere,
kriege ich mehr Kraft. Die habe ich auch bekommen. Und die Kraft kann ich meinem
Opa geben, damit er wieder gesund wird oder damit es ihm besser geht. Leider hat es
nicht geklappt. Aber ich wurde stärker, selbstbewusster und auch besser.
Autorin:
Sein Großvater ist gestorben, aber Marcel bekam mit dem Training ein neues, positives
Verhältnis zu seinem Körper und seiner Kraft.
Labs OT 11
Früher war ich nicht gerade attraktiv, ich war eher dick, habe gerne Kakao z. B.
getrunken, war nicht selbstbewusst und hatte auch viele Pickel. Hatte Hosengröße 42
als Mann. Heute habe ich 36, also ich war überhaupt nicht glücklich. Als ich angefangen
habe zu trainieren für meinen Opa, mit 13, da war ich 12, 13 Jahre alt, habe ich einen
großen Schritt gemacht. Ich wurde in der Schule viel besser, wurde selbstbewusster.
Die ersten Mädchen haben mich angegrinst und angelächelt. Da hat man sich natürlich
gefreut als Kind und man hat immer weitergemacht, weil man den Erfolg gespürt hat.
Labs OT 12
Ein Jahr später ca. war ich mit meiner Mutter bei REAL. Ich habe ein Sex-Buch gekauft.
Das hat mir sehr, sehr geholfen. Das hat nur 3 Euro gekostet oder 3 Euro 50 und das
hatte über 350 Seiten, die ich mit Leidenschaft gelesen habe. Ich habe so viele neue
Fremdwörter kennen gelernt wie paradox, primitiv, explizieren und andere Wörter, die
ich nachgeschlagen habe. Und meine deutsche Sprache wurde enorm besser, mein
Satzbau, mein Ausdruck. Ich habe eine vier bekommen für die deutsche Sprache, die
ich davor nie gehabt habe. Ich habe natürlich davor Bücher gelesen, aber die Bücher
haben mich nie interessiert.
Autorin:
Jetzt verschlingt er Sex-Ratgeber und Fachbücher in Sachen Erotik. In Sachen
deutscher Sprache geht es bergauf und seinen Plan, in der Schule immer besser zu
werden, verfolgt er nun beharrlich.
Labs OT 13
Damals habe ich mich selber gefördert. Ich habe mir Ziele gesetzt und Träume gesetzt.
Damals hatte ich den Traum, als ich auf der Gesamtschule war, da habe ich gemerkt, so
ab der achten, neunten Klasse, da habe ich auch mal ein Praktikum an der Universität
gemacht, für Medizin. Damals wollte ich Geschichte schreiben. Ich wollte der erste von
der Sonderschule sein, der Medizin studiert. Das war damals mein Ziel. Dazu habe ich
Referate gehalten, weil ich wusste, was ich später werden möchte. Ich hatte ein klares
Ziel vor meinen Augen und das war ein sehr schönes Gefühl. Immer morgens
aufstehen, zur Schule zu gehen und zu merken, Hey ich kann was und ich gehe nicht
ohne Grund zur Schule.
Autorin:
Seine Lieblingsfächer sind die Naturwissenschaften: Chemie, Biologie, Technik, Physik
und Mathematik. Englisch ist eine Zeit lang ein Problem. Das ist typisch für Kinder, die
es schwer hatten, ihre Muttersprache zu lernen. Auf einer Berufsfachschule,
Fachrichtung Elektrotechnik macht er den Realschulabschluss mit
Oberstufenqualifikation. Den Plan Medizin zu studieren, hat er mittlerweile aufgegeben,
den Numerus Clausus von 1,0 oder 1,2 würde er nicht schaffen, meint er heute. Eine
Ausbildung zum Chemiekanten hätte er bereits anfangen können. Einen Vertrag hatte er
schon in der Tasche, aber dann hat er doch abgesagt. Marcel Labs will das Abitur
machen.
Labs OT 14
Meine Mutter findet es schade, dass ich die Ausbildung als Chemikant gekündigt habe,
weil sie mich finanziell weiter fördern muss. Was sie auch macht, dafür bin ich ihr auch
sehr dankbar. Aber für sie ist es schade, meine Mutter muss z.B. für ein Auto
aufkommen, weil ich ein eigenes Auto habe oder Essen und Trinken, kann ich nix
beisteuern.
Autorin:
Stattdessen geht er Tag für Tag auf die Theodor-König-Gesamtschule in Duisburg,
gymnasiale Oberstufe. Deutsch ist immer noch nicht seine Stärke und dennoch lernt er
das besonders intensiv.
Labs OT 15
Ich bin im Deutsch-Leistungskurs, ich bin auch nicht freiwillig, ich hätte lieber Geschichte
genommen, leider ist der Geschichte-LK nicht zustande gekommen, aber mit Deutsch
komme ich gut zurecht. Natürlich mache ich manchmal noch meine Rechtschreibfehler.
Wenn man mal einen Text schreiben musste, der über fünf Seiten geht, kann man nicht
mehr kontrollieren, wo man Flüchtigkeitsfehler macht oder auch Satzbaufehler, die
mache ich auch noch heute, aber nicht so oft, vielleicht auf einer Seite zwei Mal.
Autorin:
In den letzten Monaten hat Marcel Labs Vorträge an seinen alten Schulen gehalten. Er
sei der Beweis dafür, dass man -auch wenn man von ganz unten kommt – mehr
erreichen kann, als es das Schulsystem vorsieht.
Labs OT 16
Durch meine eigenen Erfahrungen setze ich mich dafür ein, dass vielleicht noch mehr
Kinder den Weg nach oben schaffen. Weil wir haben ja ne Förderschule, die
Sprachförderschule ist eine harmlose Förderschule, da kriegt man ja noch den
Hauptschulabschluss im Endeffekt. Aber auf anderen Förderschulen, da kriegt man
einen Gutschein: man war da und im Nachhinein kann man in einer
Behindertenwerkstatt arbeiten für ein paar hundert Euro nur. Eine Frau, Kinder,
Hobbies, kann man vergessen. Man hat keine Zukunft, die man vielleicht mal leben
kann. Das finde ich sehr traurig.
Autorin:
Sonderschulen müssten abgeschafft oder zumindest so reformiert werden, dass man
dort einen guten Abschluss machen kann, meint Marcel Labs. Inklusion findet er richtig.
Er ist immer noch wütend, dass er so lange in die Förderschule gehen musste, er wäre
lieber schon früher in eine allgemeine Schule gegangen.
Aber wäre es Marcel Labs besser ergangen, wenn er inklusiv beschult worden wäre?
Anja Theisel ist Lehrerin an der Lindenparkschule in Heilbronn, einem Staatlichen
Sonderpädagogischen Bildungs-und Beratungszentrum. Dort arbeitet sie mit
Hörgeschädigten und Sprachbehinderten in der Sekundarstufe.
Theisel OT 17
Die Gemeinschaftsschulen sind oft durch diese offenen Lernformen für
sprachbehinderte Kinder nicht so günstig. Sprachbehinderte Kinder sind oft in ihrer
Strukturierungsfähigkeit betroffen. Sie brauchen viel Visualisierung, verstehen
Arbeitsanweisungen nicht so gut, sind im selbstständigen Erlesen nicht so gut und wenn
ich dann eben alleine mit meinem Arbeitsauftrag zu Rande kommen muss, dann haben
die da oft Probleme.
Autorin:
Marcel Labs schmerzt es noch heute, dass er die ersten drei Schuljahre in einer
Förderschule für Schwererziehbare verbringen musste. Und das hat auch etwas
Tragisches.
Theisel OT 18
Viele Forschungsprojekte zeigen, dass die Rate der Verhaltensprobleme bei
Sprachbehinderten höher ist als bei sprachlich normal entwickelten Kindern. Was damit
zusammenhängt, dass die Kinder oft nicht in Kommunikation gehen, dass sie – weil sie
merken sie verstehen die Hälfte nicht – einfach mal ihr Ding machen, wo Eltern oft
sagen: ich habs Gefühl ich sag was und es kommt gar nicht an. Das sind oft Hinweise
wo man merkt, da scheint was dahinter zu stecken. Und wenn die Eltern dem dann nicht
nachgehen, weil sie es nicht wissen oder sie keine Hinweise bekommen, dann zieht sich
das halt und dann kann es durchaus sein, dass so ein Kind in der Schule für sozialemotionale Entwicklung landet, aber dahinter steckt eine andere Problematik. Das kann
durchaus sein.
Autorin:
Wenn nicht erkannt wird, dass hinter dem aggressiven körperlichen Ausdruck eines
Kindes die Frustration steckt, nicht verstanden zu werden, kann die Sonderschule für
Schwererziehbare die logische Konsequenz sein, wo doch eigentlich die Förderung der
Sprachentwicklung im Vordergrund stehen sollte.
Marcel Labs hat es dennoch geschafft und er ist stolz darauf. Mit dem Abitur in der
Tasche will der heute 21- Jährige die Schule im nächsten Jahr verlassen. Und dann?
Labs OT 19
So richtig an die Universität und ein Studium anzufangen, das möchte ich eigentlich
nicht. Vielleicht eine Ausbildung parallel machen, also ein duales Studium. Da bin ich an
der Universität und parallel in einem Betrieb, das würde mich auch noch reizen. Aber
Medizin zu studieren oder Jura, das auf keinen Fall. Das dauert mir zu lange und ob ich
das dann schaffe und packe, das ist noch eine Frage. Weil sechs Jahre zu studieren,
das ist eine enorme Zeit. Auch wenn man schon weit gekommen ist im Leben.