Einsicht 15 Bulletin des Fritz Bauer Instituts , Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung des Holocaust Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 Mit Beiträgen von Rolf Hosfeld, Andreas Meier und Rainer Huhle 06.04. — 01.06.2016 Bildungsstätte Anne Frank Ein kleines in Bächlein Beispiel Um »Es sind noch zu viele Fragen offen…« * Um ein triviales Beispiel zu nehmepn, von uns unterzieht sich Verhandlungen über den NSU-Komplex Aber wer hat irgend ein Recht einen Menskkchen zu tadeln, der die Entscheidung trifft, eine Freude zum Die Copy warnte das Blindtextchen, da, wo Ausstellung & Veranstaltungen Weitere Informationen: bs-anne-frank.de/nsu & boell-hessen.de Weit hinten, hinter dendass Wortbergen, frn der Länder Vokalin und Konsonandt Öffnungszeiten: Dienstag – Freitag: 12.30 — 17 Uhr, Sonntag: 12 — 18 Uhr. tien lebe n die Blin Ort: Bildungsstätte Anne Frank, Hansaallee 150, Frankfurt/Main. Semantik, eines Es packte Gefördert u.a. vom Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt. h sein Initial in deni Ge ürtel seinund * Gamze Kubasik, Tochter des achten Mordopfers, Mehmet Kubasik, zitiert nach SZ-Magazin 10/2013 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, 1915/16 fielen im Osmanischen Reich Hunderttausende Armenier systematischen Vertreibungen und organisierten Massakern zum Opfer. Ihre genaue Zahl lässt sich nicht mehr ermitteln, die Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen Toten. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten vermutlich etwa zwei Millionen Armenier im Osmanischen Reich gelebt. Zahlreiche Staaten erkennen mittlerweile an, dass es sich hierbei um einen geplanten Genozid gehandelt hatte. Ende April 2015 sprachen mit Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert erstmals auch hochrangige Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland bei offiziellen Veranstaltungen unmissverständlich von einem Völkermord. In der Türkei wird dieser bis heute von staatlicher Seite bestritten. Es werden bis zu 300.000 Opfer eingestanden, die im Zuge von Deportationen ums Leben gekommen seien, die zum Schutz des Staates notwendig gewesen seien. Wer anderes behauptet, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. In einem 2011 bestätigten Urteil etwa war mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ein führender türkischer Intellektueller zu einer (geringen) Geldstrafe verurteilt worden, weil er 2005 in einem Interview von der Ermordung von einer Million Armeniern und 30.000 Kurden gesprochen hatte. Diese Ausgabe der Einsicht widmet sich »Aghet«, der »Katastrophe«, wie Armenier heute den Massenmord während des Ersten Weltkriegs bezeichnen. Dabei geht es nicht um Fragen der vergleichenden Genozidforschung. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf ereignis- und gedächtnisgeschichtliche Verbindungslinien zwischen den Morden an den Armeniern und den von Deutschen im Nationalsozialismus begangenen Massenverbrechen. Rolf Hosfeld befasst sich mit den Ereignissen im Osmanischen Reich selbst. Er skizziert die Vorgeschichte, die politische und militärische Entwicklung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und dem daraus resultierenden Entschluss zur Deportation der armenischen Minderheit sowie dessen Umsetzung. Besonderes Augenmerk widmet er der Haltung deutscher Diplomaten und Offiziere im Osmanischen Reich, das ein enger Verbündeter des Deutschen Kaiserreichs gewesen war. Zum Zeugen des Massenmords war 1915/16 auch der promovierte Jurist Armin T. Wegner geworden, der als Angehöriger einer deutschen Sanitätseinheit vorübergehend im Osmanischen Reich Einsicht 15 Frühjahr 2016 Dienst geleistet hatte. In seinen Tagebüchern und mit dem Fotoapparat hielt er das Schicksal der Armenier fest. Andreas Meier schildert, wie neben Wegner auch Franz Werfel plante, den Massenmord in einem Roman zu verarbeiten. Während Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh schließlich zu einem Welterfolg wurde, vollendete Wegner, der als Pazifist 1933/34 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert worden war, sein Werk nicht. Rainer Huhle befasst sich mit der Entstehung und Entwicklung des Begriffs »Genozid« bzw. »Völkermord«. Dieser geht auf den jüdisch-polnischen Juristen Raphael Lemkin zurück, der in seinem 1943 im amerikanischen Exil entstandenen Buch über die NS-Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg ein Kapitel mit »Genozid« überschrieben hatte. Darin skizzierte er nicht allein das Schicksal der europäischen Juden, sondern jenes zahlreicher nationaler und ethnischer Gruppen. Lemkin war nach dem Zweiten Weltkrieg – nach eigener Aussage nicht nur geprägt vom Völkermord an der europäischen Judenheit, sondern auch vom Massenmord an den Armeniern – maßgeblich an der Formulierung der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen von 1948 beteiligt. Unser Gastprofessor im Wintersemester 2015/16, Nicolas Berg, dem wir noch einmal herzlich für sein Wirken im und für das Institut danken möchten, befasst sich in seinem Beitrag mit »Anna Seghers und Victor Klemperer in der frühen DDR«. Beide Intellektuelle handelten nach 1945 mit sich selbst das Verhältnis ihrer deutschen und jüdischen Identität neu aus. Dies taten sie aber, wie Berg zeigt, nicht in ihren Hauptwerken, sondern vielmehr in Briefen, Tagebuchnotizen und anderen nicht für die Öffentlichkeit gedachten Schriften. Werner Renz ist ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts der ersten Stunde. Seit 1995 war er nicht nur als Leiter des Archivs und der Bibliothek eine zentrale Säule des Hauses, sondern er trug mit seinen zahlreichen und pointierten Beiträgen vor allem zur Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und zu Fritz Bauers Werk und Wirken entschieden zur inhaltlichen Profilierung des Instituts bei. Am 31. März 2016 ist Werner Renz in den Ruhestand getreten. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts möchten ihm für seine Arbeit ganz herzlichen Dank sagen und hoffen sehr, dass er uns nicht nur mit seiner Expertise, sondern auch in der Projektarbeit weiter eng verbunden bleibt. Wir möchten Sie gerne auch auf zwei Neuerscheinungen in unserer Wissenschaftlichen Reihe aufmerksam machen. Im Juni erscheint Isabell Trommers Studie Rechtfertigung und Entlastung, die sich mit »Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland« befasst. Und im September wird die Dissertation unserer Kollegin Jenny Hestermann zum Thema »Inszenierte Versöhnung. Diplomatische Reisen und die Entwicklung deutsch-israelischer Beziehungen in den Jahren 1957 bis 1984« in den Buchhandel kommen. apl. Prof. Dr. Werner Konitzer und Dr. Jörg Osterloh Frankfurt am Main, im März 2016 Abb. oben: Werner Konitzer, unten: Jörg Osterloh Fotos: Werner Lott 1 Inhalt Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts 12 12 13 Isabell Trommer: Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland Jenny Hestermann: Inszenierte Versöhnung. Diplomatische Reisen und die Entwicklung deutsch-israelischer Beziehungen in den Jahren 1957 bis 1984 Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.): Zeugnisformen. Berichte, Künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation 95 96 96 96 97 Einsicht Forschung und Vermittlung Fritz Bauer Institut Im Überblick 4 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien 14 22 Veranstaltungen Halbjahresvorschau 6 7 8 8 8 9 10 10 11 11 11 2 Lehrveranstaltungen Festakt: Nur die Spitze des Eisbergs. Einweihung des Fritz Bauer-Denkmals von Tamara Grcic Vortrag von Susanne Heim: Die Judenverfolgung in Deutschland 1938 und die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian Vortrag von Marianne Leuzinger-Bohleber: Psychoanalytische Überlegungen zum Projekt Step-by-Step in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Darmstadt Buchvorstellung: Raul Hilberg, Anatomie des Holocaust – Essays und Erinnerungen 7. Blickwinkel-Tagung: Kommunikation. Latenzen – Projektionen – Handlungsfelder Fortbildungstag: Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Archivpädagogische Zugänge mit Dokumenten aus dem International Tracing Service (ITS), Bad Arolsen Symposium: Generations and Transfer of Knowledge. German History and Literature between Israel and Germany Vortrag von Joachim Tauber: Holocaust in Litauen. Historisches Geschehen und der schwierige Umgang mit der Vergangenheit Ausstellung in Mainz: Legalisierter Raub Ausstellung in Köln: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt 30 38 Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 Unter den Augen der Weltöffentlichkeit Der Völkermord an den Armeniern / Rolf Hosfeld Aghet. Wie der armenische Völkermord zum Romanstoff wurde / Andreas Meier Völkermord. Kurze Geschichte eines unglücklichen Begriffs / Rainer Huhle Das Ich im Wir. Anna Seghers und Victor Klemperer in der frühen DDR / Nicolas Berg Rezensionen Buchkritiken 50 52 Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher Rezensionen: Aktuelle Publikationen zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 98 99 100 101 102 104 Aus dem Institut Neuausgabe: Erste Fritz-Bauer-Biografie wieder verfügbar Wilhelm Leuschner-Medaille 2015: Jutta Ebeling German Design Award: Fritz-Bauer-Ausstellung In ehrendem Gedenken: Iwa Deutsch sel. A. 105 Aus dem Förderverein Berufungsverfahren: Neue Holocaust-Professur und Direktion des Fritz Bauer Instituts 107 Aus Kultur und Wissenschaft Micha Brumlik: Buber-Rosenzweig-Medaille 2016 Micha Brumlik: Franz-Rosenzweig-Gastprofessur 2016 Tom Segev: Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung 2015 Eine Ausnahme: Überleben. Freundschaft. Widerstand Wiedereröffnung: Museum Judengasse Jubiläumsjahr 2015: Zwei Publikationen zum deutschisraelischen Jugendaustausch 94 Inhalt Angebote und Kontakt Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Erste Erfahrungen mit Besuchergruppen Neueröffnung des Museums Judengasse. Pädagogische Angebote zur neuen Dauerausstellung 106 107 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz. Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht Publikationen des Fritz Bauer Instituts 108 Jahrbuch / Wissenschaftliche Reihe / Schriftenreihe u.a. 112 Impressum Ein Dokument der Zeitgeschichte 2015 wurde der frühere SS-Mann Oskar Gröning vom Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Die letzten Zeugen dokumentiert d den Prozess Tag für Tag: die Aussagen des Angeklagten, die Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenklägern und Verteidigern und die Aussagen der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen. Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main 92 92 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Instituts Paperback Hrsg. von Peter Huth 277 S. · 8 Abb. · € 12,95 ISBN 978-3-15-011057-7 Hrsg. von Peter Huth 277 S. · 8 Abb. · € 4,80 ISBN 978-3-15-017088-5 Schulausgabe www.reclam.de Einsicht 15 Frühjahr 2016 Reclam 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick Mitarbeiter und Arbeitsbereiche Kommissarischer Direktor apl. Prof. Dr. Werner Konitzer Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung/Digital- und Printmedien) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements) Das Fritz Bauer Institut Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, unabhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und ist seinem Andenken verpflichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechtssystems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben gerufen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Westend in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Bereiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung. Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wissenschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Christoph Dieckmann (Zeitgeschichtsforschung) Dr. des. Jenny Hestermann (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) Bibliothek, Archiv und Dokumentation N.N. (Archiv und Dokumentation) N.N. (Bibliothek) Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main Dr. Türkân Kanbıçak Gottfried Kößler (stellv. Direktor) Manfred Levy Dr. Martin Liepach Sophie Schmidt Wissenschaftliche Hilfskräfte Maximilian Eigner Laura S. Tittel Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Projekten Dr. des Irene Aue-Ben-David, Dr. Kata Bohus, Rolf Erdorf, Dr. Lena Folianty, Dr. Wolfgang Geiger, Dr. Iwona Guść, Dr. David Johst, Monica Kingreen, Dagi Knellessen, Dr. Sharon Livne, Ursula Ludz, Dr. Ingeborg Nordmann, David Palme, Werner Renz, Dr. Katharina Stengel, Diane Webb, Dr. Gerben Zaagsma Rat der Überlebenden des Holocaust Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin) Siegmund Freund, Inge Kahn, Dora Skala Stiftungsrat Wissenschaftlicher Beirat Für das Land Hessen: Volker Bouffier Ministerpräsident Boris Rhein Minister für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Joachim Rückert Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Moritz Epple Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Wolfgang Benz Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin Prof. Dr. Dan Diner Hebrew University of Jerusalem Prof. Dr. Atina Grossmann The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Prof. Dr. Walter H. Pehle Verlagslektor und Historiker, Dreieich-Buchschlag Prof. Dr. Peter Steinbach Universität Mannheim Für die Stadt Frankfurt am Main: Peter Feldmann Oberbürgermeister Prof. Dr. Felix Semmelroth Dezernent für Kultur und Wissenschaft Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Jutta Ebeling Vorsitzende Herbert Mai 2. Vertreter des Fördervereins Abb.: Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main, im Vordergrund das IG Farben-Haus. Dort hat das Fritz Bauer Institut seinen Sitz im 5. Obergeschoss des 3. Querriegels von links. Foto: Goethe-Universität Frankfurt am Main Wir trauern um unser Ratsmitglied Dr. Siegmund Kalinski sel. A. (geboren am 21. März 1927 in Krakau, gestorben am 10. Dezember 2015 in Frankfurt am Main) Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. Birgitta Wolff Universitätspräsidentin Prof. Dr. Susanne Schröter Dekanin, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften 4 Fritz Bauer Institut Einsicht 15 Frühjahr 2016 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau Lehrveranstaltung Lehrveranstaltung Festakt Jüdische Geschichte im Schulbuch Gedenkstätte Buchenwald – viertägige Exkursion Pädagogische Angebote für Haupt- und Realschüler Nur die Spitze des Eisbergs Einweihung des Fritz-BauerDenkmals von Tamara Grcic Dr. Martin Liepach, Übung, Donnerstag, 16.00–18.00 Uhr (14. April bis 14. Juli 2016), Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 4.401 Lehrveranstaltung Hitlers Weltanschauung Dr. Jörg Osterloh, Übung, Blockseminar, einführende Sitzung Mittwoch, 13. April 2016, 14.00–16.00 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401 Quellen befassen sich mit den zentralen Aspekten seiner Weltanschauung, vor allem »Volk«, »Blut«, »Rasse«, »Lebensraum«, Antisemitismus und Antibolschewismus. Die Teilnehmerzahl ist auf 25 begrenzt; Teilnahme ausschließlich nach persönlicher Anmeldung per Mail an: [email protected] Bereits im September 1919 erklärte Adolf Hitler in einem Brief, »letztes Ziel muß aber unverrückbar die Entfernung der Juden sein«. Bei dem Schreiben handelt es sich um die erste überlieferte politische Stellungnahme von ihm. Nach dem gescheiterten Putschversuch im November 1923 verfasste er im darauffolgenden Jahr in der Landsberger Festungshaft den ersten Band von Mein Kampf, 1925/26 den zweiten Band. Er schilderte hierin, ebenso lückenhaft wie teilweise falsch, seine Autobiographie, aus der er seine Anschauungen herleitete, beklagte die politische und gesellschaftliche Lage in Deutschland und erörterte seine politischen Standpunkte. Neben Mein Kampf nimmt die Übung auch weitere Reden und Veröffentlichungen Hitlers in den Blick. Die zu analysierenden Einführende Literatur: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905– 1924, hrsg. von Eberhard Jäckel zusammen mit Axel Kuhn, München 1980; Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 1991 (zuerst. Tübingen 1969); Barbara Zehnpfennig, Mein Kampf. Weltanschauung und Programm, Studienkommentar, München 2011; Christian Hartmann, Otmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hrsg.), Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München, Berlin 2016; Othmar Plöckinger (Hrsg.), Quellen und Dokumente zur Geschichte von »Mein Kampf« 1924–1945, Stuttgart 2016. 6 Veranstaltungen In der Veranstaltung werden einschlägige Geschichtslehrbücher im Hinblick auf die Thematisierung der jüdischen Geschichte im historischen Längsschnitt (Mittelalter bis NS-Zeit) und damit verbundener Themen analysiert. Jüdische Geschichte wird im Geschichtsunterricht vorrangig in Verbindung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust unterrichtet. Die Materialien in den gegenwärtigen Schulbüchern werfen dazu zahlreiche Fragen auf. Aber nicht nur für diese Epoche gibt es Fragen an die jüdische Geschichte: Wie werden Antisemitismus und Verfolgungsgeschichte im Vergleich zur allgemeinen jüdischen Geschichte thematisiert und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Erscheinen Juden nicht nur als Objekte und Opfer von Geschichte, sondern auch als Träger einer eigenen Kultur und Mitgestalter der Moderne? Erfolgt die Thematisierung auf der Grundlage einer Wissenschaftsorientierung, um gegen stereotype Bilder anzugehen, oder werden diese unreflektiert reaktiviert? Die Analyse der Schulgeschichtsbücher wird Aspekte der historisch-sachlichen Faktizität und ihrer politisch-moralischen Bewertung mit den Formen ihrer didaktischen Umsetzung im Lehrbuch (Autorentext, Text- und Bildquellen, Arbeitsaufträge) verknüpfen. Voraussetzung: Grundkenntnisse über die zu behandelnden Epochen. Voranmeldung erforderlich wegen begrenzter Teilnehmerzahl! Bitte E-Mail an: [email protected] Gottfried Kößler, Exkursion: Dienstag, 17. Mai bis Freitag, 20. Mai 2016 in der Gedenkstätte Buchenwald, Vor- und Nachbereitungssitzungen: montags, 18. April, 2. und 30. Mai, jeweils 10.00–12.00 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401 Die Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar umfasst das Gelände und die Relikte des ehemaligen Konzentrationslagers, der SS-Kasernen und des ehemaligen stalinistischen Speziallagers, das Mahnmal aus der DDR-Zeit, die im April 2016 neu eröffnete Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers und weitere Ausstellungen. Der Ort wird vorgestellt und mit Methoden erkundet, die auch für Schülergruppen Anwendung finden. Der Schwerpunkt liegt auf der selbständigen, pädagogisch unterstützten Aneignung. Die Angebote der pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte werden erläutert und erprobt. Unterschiedliche historische Quellen und Konzepte der pädagogischen Arbeit werden diskutiert. Die Vor- und Nachbereitung dient der Einführung in die Gedenkstättenpädagogik, in Grundlagen der Geschichte des KZ Buchenwald und der Gedenkstätte. Unterbringung und Verpflegung: Jugendbegegnungsstätte Buchenwald auf dem Gelände der Gedenkstätte; Anreise: individuell, wird bei der Vorbereitung organisiert; Kosten: ca. 100 Euro für Unterkunft und Verpflegung, 30 Euro Anzahlung in der ersten Sitzung. Voranmeldung erforderlich wegen begrenzter Teilnehmerzahl! Bitte E-Mail an: [email protected] Einsicht 15 Frühjahr 2016 Freitag, 13. Mai 2016, 14.00 Uhr, vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Zeil 42 Eine Kooperation des Fritz Bauer Instituts mit dem Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und dem Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, Dezernat Kultur und Wissenschaft. Vor vier Jahren entstand auf Initiative des Fritz Bauer Instituts die Idee für ein Denkmal, das an das Wirken des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer und seine maßgebliche Rolle für das Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main erinnern soll. Im Auftrag des Magistrats entwarf die in Frankfurt lebende Künstlerin Tamara Grcic ein Kunstwerk für den öffentlichen Raum, das aus zwei miteinander korrespondierenden Teilen besteht: einem unbearbeiteten Naturstein und zwei großen Bronzetafeln mit Texten. Die kurzen Textfragmente sind Gedanken, Zitate, in denen sich das Denken und die Überzeugungen von Fritz Bauer abbilden. Platz findet das Denkmal auf der Zeil vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Es sprechen: › Dr. Roman Poseck, Präsident Oberlandesgericht Frankfurt am Main › Prof. Dr. Helmut Fünfsinn, hessischer Generalstaatsanwalt › Prof. Dr. Felix Semmelroth, Dezernent für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt am Main › Prof. Dr. Raphael Gross, ehemaliger Direktor des Fritz Bauer Instituts Die Künstlerin ist anwesend. Kontakt Kulturamt Frankfurt am Main Dr. Jessica Beebone, Kunst im öffentlichen Raum Brückenstr. 3–7, 60594 Frankfurt am Main Tel. 069.212-74068, [email protected] www.kultur-frankfurt.de Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts Armin T. Wegner Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste Ein Lichtbildvortrag Hg. von Andreas Meier. Mit einem Nachwort von Wolfgang Gust 215 S., 103 Abb., geb., Schutzumschlag 24,– € (D); 24,70 € (A) ISBN 978-3-89244-800-6 »Armin T. Wegner war einer der mutigsten, weltläufigsten, interessantesten deutschen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts.« Volker Weidermann, FAZ Armin T. Wegner Rufe in die Welt Manifeste und Offene Briefe Hg. von Miriam Esau und Michael Hofmann. Mit einem Nachwort von Michael Hofmann 248 S., 1 Abb., geb., Schutzumschlag 24,90 € (D); 25,60 € (A) ISBN 978-3-8353-1273-9 Armin T. Wegner war ein exemplarischer Zeuge des 20. Jahrhunderts. Er hat die Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten des Totalitarismus buchstäblich am eigenen Leibe erfahren und hat Zeit seines Lebens Widerstand geleistet – Widerstand des Geistes, wie er ihn verstanden hat. Jan Taubitz Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft 332 S., 4 Abb., geb., Schutzumschlag 29,90 € (D); 30,80 € (A) ISBN 978-3-8353-1843-4 Wie überlebt man das Überleben? Interviews mit Zeitzeugen des Holocaust in ihrem historischen, institutionellen und medialen Kontext. www.wallstein-verlag.de 7 Fortsetzung der Vortragsreihe Grenzen, Flucht, Menschenrecht Historische, psychoanalytische und sozialtheoretische Aspekte der Flüchtlingsdiskussion Vortragsreihe des Fritz Bauer Instituts in Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung an der GoetheUniversität Frankfurt, dem Sigmund-Freud-Institut – Forschungsinstitut für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.. Die in die Europäische Union flüchtenden Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Regionen stellen die einzelnen Länder vor eine schwierige Situation. Wie soll das politische Handeln aussehen, wenn es einerseits um die Sicherung der Grundrechte, andererseits um die Zunahme von Ängsten und politische Verschiebungen geht? Aus historischer, psychoanalytischer und politikwissenschaftlicher Perspektive soll die aktuelle Debatte um das Asyl für Flüchtlinge diskutiert werden. PD Dr. Susanne Heim, Berlin Die Judenverfolgung in Deutschland 1938 und die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian dem nationalsozialistischen Deutschland und dem seit kurzem »angeschlossenen« Österreich. Statt der erhofften internationalen Lösung war das Ergebnis der Konferenz jedoch eine Kettenreaktion der Abschottung: Kein Staat war bereit, die überwiegend jüdischen Flüchtlinge, die durch die Verfolgung mittellos geworden waren, in größerer Zahl aufzunehmen. Antisemitismus und die Rücksichtnahme auf den mächtigen NS-Staat spielten dabei gewiss eine Rolle. Hinter den Kulissen aber ging es wesentlich darum, wer für die Kosten der Ansiedlung und Integration der Flüchtlinge aufkommen würde. Der Triumph des nationalstaatlichen Egoismus hatte verheerende Folgen, zumal die Zahl der Flüchtlinge mit jedem deutschen Expansionsschritt wuchs. Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Frankfurt am Main Psychoanalytische Überlegungen zum Projekt Step-by-Step in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Darmstadt Dienstag, 21. Juni 2016, 18.15 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend, Casino am IG Farben-Haus, Raum 1.801 Im Juli 1938 berieten im französischen Evian die Delegierten aus 32 Staaten über Aufnahmemöglichkeiten für die Flüchtlinge aus Viele der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten kommen traumatisiert nach Deutschland. Wie können wir den belasteten Menschen helfen, sich hier zurechtzufinden? Der Vortrag vermittelt einen Einblick in die psychoanalytische Arbeit in einem Erstaufnahmelager im Rahmen eines Pilotprojekts. Anhand eines konkreten Beispiels wird illustriert, was eine »aufsuchende« Psychoanalyse in diesem gesellschaftlichen Kontext bedeutet. 8 Veranstaltungen Dienstag, 10. Mai 2016, 18.15 Uhr, Sigmund-FreudInstitut, Myliusstr. 20, Frankfurt am Main Buchvorstellung Raul Hilberg Anatomie des Holocaust – Essays und Erinnerungen Zum 90. Geburtstag von Raul Hilberg – Wiederentdeckte Texte und persönliche Essays. Buchvorstellung durch die Herausgeber Walter H. Pehle und René Schlott, Moderation: Nicolas Berg Montag, 6. Juni 2016, 18.15 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 411 Raul Hilberg war der Erste, der verlässlich aus den Quellen rekonstruierte, wie unfassbar viele Juden in Europa während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Seitdem gilt er als Doyen der Holocaust-Forschung. Für diesen Band wurden zentrale, aber noch wenig bekannte Texte Hilbergs erstmals ins Deutsche übersetzt. Darin behandelt er bis heute kontroverse Themen wie die Motive, die zum Holocaust führten, oder die Rolle der Judenräte; er schildert aber auch seine bewegende Reise 1979 nach Auschwitz und erzählt, wie sein großes Werk Die Vernichtung der europäischen Juden entstand. Eine Mischung aus historischen und sehr persönlichen Texten, die uns den Forscher und Menschen Hilberg neu entdecken lassen. Raul Hilberg wurde am 2. Juni 1926 in Wien geboren, 1939 musste er mit seinen Eltern über Kuba in die USA auswandern. Er gehörte zu den ersten Historikern, die mit den in die USA überführten deutschen Akten aus der NS-Zeit arbeiten konnten. Sein dreibändiges Werk Die Vernichtung der europäischen Juden (Fischer TB Band 24417) gehört zu den großen Meilensteinen der Holocaust-Forschung. Hilberg lehrte bis zu seiner Emeritierung 1991 Politikwissenschaften an der University of Vermont in Burlington. Er starb am 4. August 2007 in Williston, Vermont, USA. Prof. Dr. Walter H. Pehle, Historiker und Verlagslektor, Begründer und bis 2011 Herausgeber der sogenannten »Schwarzen Reihe«: Die Zeit des Nationalsozialismus. Dr. René Schlott, Historiker am Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam, arbeitet derzeit an einer Biografie Raul Hilbergs. Dr. Nicolas Berg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, war zuletzt Gastprofessor am Fritz Bauer Institut. Raul Hilberg Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen Hrsg. von Walter H. Pehle und René Schlott. Aus dem Engl. von Petra Post und Andrea von Struve Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2016, ca. 320 S., € 24,99, ISBN: 978-3-10-002505-0, erscheint am 25. Mai 2016 Tagung Kommunikation: Latenzen – Projektionen – Handlungsfelder 7. Tagung der Reihe »Blickwinkel. Antisemitismuskritisches Forum für Bildung und Wissenschaft« Donnerstag, 9. bis Freitag, 10. Juni 2016 Rathaus der Stadt Kassel, Obere Königsstr. 8 Die Ablehnung des Antisemitismus ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Auch deshalb werden antisemitische Ressentiments und Vorurteile selten offen geäußert. Das heißt allerdings nicht, dass der Antisemitismus überwunden ist – weder in medialen, politischen und pädagogischen noch in privaten Diskursen. Vielmehr artikuliert sich Antisemitismus heute häufig in einer Form, die in der Forschung mit dem Konzept der »Kommunikationslatenz« beschrieben wird. »Gerüchte über Juden« erscheinen als vorhandene, aber sozial Einsicht 15 Frühjahr 2016 unerwünschte Einstellungen und Meinungen, die in der Gesellschaft kommuniziert werden. Dabei wird die Kommunikation im Netz, in Internetforen und im Social Web immer wichtiger. Im Jahr 2014 war laut jugendschutz.net vor dem Hintergrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nahen Osten eine Zunahme antisemitischer Posts in Sozialen Netzwerken festzustellen. Die Neuen Medien fordern von der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Strategien: Die Kommunikation erfolgt schneller und häufig anonym, der Ton ist oft besonders aggressiv, verletzend und manchmal sogar bedrohlich. Vor diesem Hintergrund möchten wir den Austausch von Wissenschaft und Praxis aktiv fördern: Wie äußert sich Antisemitismus in der Alltagskommunikation, in der Gesellschaft und in der Bildung? Wie können Wissenschaftler*innen und Pädagog*innen mit Kommunikationslatenz umgehen? Wie hat sich die Artikulation antisemitischer Stereotype und Weltbilder im digitalen Zeitalter verändert – und was kann man dagegen tun? Die Tagung widmet sich der Frage, wie Antisemitismus heute kommuniziert wird, und setzt sich dabei auch mit dem Potential der »alten« und »neuen« Medien in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit auseinander. Veranstalter: Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main, Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main Anmeldung: Begrenzte Teilnehmerzahl! Ein Teilnahmebeitrag wird nicht erhoben. Die Veranstalter übernehmen die Unterkunftskosten für eine Übernachtung in Kassel bis zu einem begrenzten Kontingent. Anmeldeschluss ist der 23. Mai 2016. Kontakt Bildungsstätte Anne Frank e.V., Ricarda Wawra Hansaallee 150, 60320 Frankfurt am Main Tel.: 069.56 000 233, [email protected] www.bs-anne-frank.de Tagungsmaterial und Berichte www.stiftung-evz.de/blickwinkel 288 S., 18 Abb. u. 1 Karte. Geb. € 24,95 ISBN 978-3-406-67451-8 Rolf Hosfeld schildert eindringlich und historisch genau den Völkermord an den Armeniern, erläutert die Hintergründe und klärt auf über ein Thema, das immer noch zu den Tabus der Geschichtsschreibung gehört. „Eine vorzügliche Gesamtdarstellung.“ Martin Kröger, F.A.Z. „Ein erstklassig recherchiertes, gut nachvollziehbares historisches Panorama.“ Ingo Arend, die tageszeitung C.H.BECK WWW.C H BE C K. D E 9 Fortbildungstag Symposium Zwangsarbeit im Nationalsozialismus Archivpädagogische Zugänge mit Dokumenten aus dem International Tracing Service (ITS), Bad Arolsen Generations and Transfer of Knowledge German History and Literature between Israel and Germany Mittwoch, 15. Juni 2016, 9.00–17.00 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1, IG Farben-Haus, Eisenhowersaal, Raum 1.314 Eine Kooperation mit dem ITS Bad Arolsen Mehr als 13 Millionen Menschen aus den besetzten Staaten mussten in Deutschland Zwangsarbeit leisten. Sie waren in Fabriken, Handwerksbetrieben, Kommunen, bei Landwirten, in Klöstern und Kirchen tätig. Oft wurden sie von der deutschen Bevölkerung abgesondert und strenger staatlicher Reglementierung unterworfen. An diesem Fortbildungstag werden archivpädagogische Zugänge zum Thema »Zwangsarbeit im Nationalsozialismus« vorgestellt. Anhand von Praxisübungen soll vermittelt werden, wie Dokumente über Zwangsarbeit aus dem ITS im Unterricht und in der Bildungsarbeit eingesetzt werden können. Einen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit lokalhistorischen Quellen zum Rhein-Main-Gebiet. Montag, 18., und Dienstag, 19. Juli 2016 Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Casino am IG Farben-Haus, Raum 823 Veranstalter: Fritz Bauer Institut in Zusammenarbeit mit The Van Leer Institute Jerusalem und dem Franz Rosenzweig Minerva Center Jerusalem, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die Veranstaltung findet überwiegend in englischer Sprache statt. Als die Disziplinen Deutsche Geschichte und Germanistik an israelischen Universitäten ab den frühen 1970er Jahren sukzessive eingeführt wurden, war dies ein Politikum und sorgte zum Teil für hitzige Debatten. Im Laufe der Jahrzehnte formten und stifteten die entstehenden Kontakte und Freundschaften die deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen. Sie führten in vielen Fällen zu einer institutionalisierten Kooperation. Die Zusammenarbeit in Forschungsprojekten und Tagungen ist heute ebenso eingespielt wie umfangreich. Die zweite internationale Tagung in unserem bilateralen Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Frage, auf welche Weise der deutsch-israelische Wissenstransfer in den Disziplinen Geschichte und Germanistik begann und sich etablierte. Wir möchten insbesondere untersuchen, inwiefern der generationelle Wandel Einfluss auf den Verlauf der Zusammenarbeit hatte. Theoretische Überlegungen aus der allgemeinen Generationenforschung begleiten daher unsere inhaltliche Auseinandersetzung. Im Zentrum der Beiträge stehen die beiden großen Forschungsfragen unseres Projekts: Wie wirkte die Kooperation auf die israelische Wissenschaftslandschaft? Sind Rückwirkungen auf die Forschungsentwicklung in Deutschland erkennbar und wie sehen diese aus? Nach einem einführenden theoretischen Panel steht zunächst die Germanistik im Fokus. Wie hat sie sich in Israel in welchen Zeiträumen entwickelt? Welche Themen wurden bearbeitet, mit welchen Debatten und welcher Finanzierung wurden die Zentren gegründet? Im zweiten Teil geht es um die Anfänge der »Deutschen Geschichte« als wissenschaftliche Disziplin und ihre Hauptakteure in Israel. Der Wissenstransfer insbesondere in der deutschen Geschichtswissenschaft wird vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Holocaust analysiert, die für die Protagonisten eine zentrale Rolle spielte. Zum Abschluss soll diskutiert werden, welche Konsequenzen in der bundesdeutschen Forschungslandschaft der Kontakt deutscher Wissenschaftler mit israelischen Kollegen hatte und ob sich ein inhaltlicher Wandel in den Themen verzeichnen lässt. Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Projekts »German-Israeli Research Cooperation in the Humanities (1970–2000), Studies on Scholarship and Bilaterality«: http://gih.vanleer.org.il/de Kontakt Fritz Bauer Institut Dr. des. Jenny Hestermann Norbert-Wollheim-Platz 1 D-60323 Frankfurt am Main Tel.: +49(0)69.798 322-32, Fax: -41 [email protected] Referenten Dr. Akim Jah und Elisabeth Schwabauer (beide ITS, Bad Arolsen) Erstes internationales Symposium des Zentrums für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv am 21. April 1975. Thema: »Germany and the Middle East 1835–1939«. Foto: The Archives for the History of the Tel Aviv University Informationen zu weiteren Vorträgen und anderen Veranstaltungen des Fritz Bauer Instituts entnehmen Sie bitte unserem dreimal jährlich erscheinenden Veranstaltungsprogramm, das Sie gegen eine kurze Anforderung (E-Mail an: [email protected]) kostenlos abonnieren können, oder den Ankündigungen auf unserer Website: www.fritz-bauer-institut.de. Veranstaltungen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Anmeldung und Auskunft [email protected] 10 Vortrag Wanderausstellung Holocaust in Litauen Historisches Geschehen und der schwierige Umgang mit der Vergangenheit Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Vortrag von PD Dr. Joachim Tauber, Hamburg Mittwoch, 22. Juni 2016, 19.00 Uhr Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1, Casino-Gebäude, Raum 1.801 Vilnius war bis zum Einmarsch deutscher Truppen im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum religiösen, kulturellen und politischen jüdischen Lebens. Schon kurz nach der Besetzung begann die Vernichtung der jüdischen Stadtbevölkerung. Bis zum Einmarsch der Roten Armee im Sommer 1944 überlebten nur rund 2.000 der etwa 70.000 Jüdinnen und Juden die Selektionen und Massenexekutionen. Die Sowjetunion unterband die Aufarbeitung der Judenvernichtung. Erst seit der Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1990 diskutiert das Land über die schwierige Vergangenheitsbewältigung. Der Vortrag bereitet auf die Studienreise der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums im September 2016 vor. Eine Kooperationsveranstaltung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. und der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Frankfurt e.V. Donnerstag, 10. März bis Dienstag, 10. Mai 2016 Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, KaiserFriedrich-Str. 5 und Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Ernst-Ludwig-Str. 3, 55116 Mainz Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks. Mit Unterstützung der SparkassenKulturstiftung Hessen-Thüringen und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. www.fritz-bauer-institut.de/legalisierterraub.html Wanderausstellung Fritz Bauer. Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht Donnerstag, 21. April bis Sonntag, 21. August 2016 NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln Appellhofplatz 23–25, 50667 Köln Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauerausstellung.html Weitere Informationen/Ausleihe Weitere Informationen zu unseren Wanderausstellungen und ihrer Ausleihe finden Sie auf den Seiten 105 f. 11 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts Jenny Hestermann Inszenierte Versöhnung Diplomatische Reisen und die Entwicklung deutschisraelischer Beziehungen in den Jahren 1957 bis 1984 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 28, Erscheinungstermin: September 2016, auch als E-Book erhältlich Isabell Trommer Rechtfertigung und Entlastung Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, 320 S., gebunden, € 34,90, EAN 978-3-593-50529-9 Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 27, Erscheinungstermin: 9. Juni 2016, auch als E-Book erhältlich 12 Mit der Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis am 1. Oktober 1966 beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten der Nachkriegszeit: Bis zu seinem Tod am 1. September 1981 war der einstige Architekt und Rüstungsminister Hitlers ein Entlastungszeuge in der Bundesrepublik Deutschland und ein Zeitzeuge in der Welt. Seine Erinnerungen (1969) und seine Spandauer Tagebücher (1975) waren in den Medien und Buchhandlungen überragende Erfolge. In ihrer Studie untersucht Isabell Trommer die Wahrnehmung Speers in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen dabei Rechtfertigungsdiskurse, die nicht nur den Umgang mit Speer selbst geprägt haben, sondern auch viel über das Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus und die Grundzüge ihrer politischen Kultur verraten. Isabell Trommer, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitet als Lektorin. Neuerscheinungen In den 1960er Jahren präsentierten sich deutsche Politiker auf »privaten Pilgerreisen« in Israel als Vertreter eines moralisch erneuerten Deutschland. Nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen (1965) belegten die nun offiziellen Reisen den deutschen Anspruch auf »Normalisierung«; die israelische Regierung wiederum sah darin ein Zeichen für die spezifische moralische Verantwortung der Deutschen. Hinter den Kulissen verstanden beide Seiten von Beginn an ihre Wiederannäherung als ein pragmatisches Projekt. Die deutsche Regierung sah darin einen wichtigen Schritt zu ihrer Westintegration. Die israelische Regierung erhoffte sich von den Deutschen dringend benötigte Wirtschaftshilfe. Die Studie analysiert, wie die historische Wiederannäherung nach dem »Zivilisationsbruch« der NS-Diktatur in eine Rhetorik der Moral und Versöhnung gekleidet wurde, um dem Unbehagen im deutschjüdischen Verhältnis zu begegnen. Jenny Hestermann, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut im Rahmen des Forschungsprojekts »Deutsch-israelische Beziehungen in den Geisteswissenschaften zwischen 1970 und 2000. Studien zu Wissenschaft und Bilateralität«. Mitarbeiterpublikation: Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.): Zeugnisformen Berichte, Künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten Reihe »Bildungsarbeit mit Zeugnissen«, Band 1 Hrsg. im Auftrag der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) Redaktion: Verena Haug Berlin 2016, 308 S., € 18,35 ISBN: 978-3-9813377-3-0 Online-Publikation (pdf-Datei, 4,8 MB): ISBN: 978-3-9813377-2-3, kostenlos www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/downloads/2015_Knellessen-Possekel_Zeugnisformen.pdf Was bleibt, wenn die Zeuginnen und Zeugen der nationalsozialistischen Verbrechen gestorben sein werden? Seit Jahren ist diese Frage in allen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und pädagogischen Debatten über den Umgang mit der NS-Geschichte präsent. Was bleibt, sind die Zeugnisse, die Überlebende in ganz unterschiedlicher Form abgelegt haben: ihre Berichte, ihre literarischen, musikalischen und bildnerischen Verarbeitungen, ihre lebensgeschichtlichen Erzählungen, ihre Zeugenaussagen vor Gericht. Sie vermitteln eindrücklich die Auswirkungen und Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung. Aber sind sie Garanten dafür, dass die spezifische Erfahrungsgeschichte der NS-Opfer auch künftig in der öffentlichen Erinnerungskultur und in der Bildung bewahrt werden wird? Welchen Stellenwert haben sie in der Geschichtsforschung zu Nationalsozialismus und Holocaust? Und wie lassen sie sich in der Bildungspraxis am besten einsetzen? Der Sammelband »Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten« enthält Aufsätze und Beispiele zu den vielfältigen Zeugnissen, die die Opfer des Nationalsozialismus hinterlassen haben: Briefe und Tagebücher, Einsicht 15 Frühjahr 2016 Autobiografien, Zeichnungen und Gedichte sowie Videointerviews und Zeugenaussagen vor Gericht. Der Band gibt erstmals einen Überblick über diese Zeugnisse, die die Auswirkungen und Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung vermitteln. Expertinnen und Experten präsentieren den Stand der Forschung und stellen pädagogische Konzepte für die historisch-politische Bildungsarbeit vor. Dies ist der erste von drei Bänden aus der Reihe »Bildungsarbeit mit Zeugnissen« der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ). Mit der Publikationsreihe will die Stiftung EVZ die Perspektiven der NS-Verfolgten in der Erinnerungskultur stärken und die Bildungsarbeit mit ihren Zeugnissen fördern und qualifizieren. Die Reihe dokumentiert die Ergebnisse der bundesweiten Seminarreihe von 2009: »Entdecken und Verstehen. Bildungsarbeit mit Zeugnissen von Opfern des Nationalsozialismus.« Dagi Knellessen, Studium der Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie, bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Forschungen zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Anschließend freie Wissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, juridische Zeugenschaft, Oral History, Bildungskonzepte zu Zeugenschaft und Zeugnissen. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig im DFG-Forschungsprojekt »Opferzeugen in NS-Prozessen – eine Analyse ihrer wechselhaften Rolle in sechzig Jahren Bundesrepublik«. Dr. Ralf Possekel, 1984 Abschluss in Geschichte an der Staatlichen Moskauer Universität; 1985–1991 Historiker an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin; 1990 Promotion; 1991–2000 Historische Forschung zur deutschen Zeitgeschichte; seit 2000 Programmleiter bzw. seit 2006 Programmbereichsleiter der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. Vom Scheitern der Demokratie nach 1918 Am Ende des Ersten Weltkriegs schien sich in ganz Europa die Demokratie als Staatsform durchgesetzt zu haben. Doch die neuen Systeme hatten keinen Bestand: Die Machtübernahme des Faschismus in Italien (1922) und der Untergang der Weimarer Republik durch die »Machtergreifung« des Nationalsozialismus in Deutschland (1933) stellten nur die spektakulärsten Beispiele für den Kollaps parlamentarischer Regierungsformen dar. Barth untersucht die tieferen Ursachen, die zum Niedergang der europäischen Demokratien in der Zwischenkriegszeit führten. Seine Darstellung folgt dabei nicht den Nationalgeschichten einzelner Länder, sondern ist problemorientiert angelegt und umfasst alle wichtigen Themenfelder der Zwischenkriegszeit – vom Versailler Vertrag über den Revisionismus und die Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs bis hin zur Weltwirtschaftskrise. 2016 · 361 S. · € 34,95 · ISBN 978-3-593-50521-3 Auch als E-Book erhältlich campus.de 13 Einsicht Forschung und Vermittlung Unter den Augen der Weltöffentlichkeit Der Völkermord an den Armeniern von Rolf Hosfeld Dr. Rolf Hosfeld ist freier Autor und wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses in Potsdam. Zuletzt erschienen: Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen, München 2014; Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015; zus. mit Stephan Schaede (Hrsg.), Der Genozid an den Armeniern. Interdisziplinäre Perspektiven auf die historische und aktuelle Rolle des Protestantismus (Loccumer Protokolle, Band 40/15), RehburgLoccum 2016. Es lässt sich mit Rückblick auf den hundertsten Gedenktag an den Völkermord am 24. April 2015 festhalten: Die Diskussion um eine Anerkennung des Genozids an den Armeniern findet vor einem ganz anderen Wissensstand statt als noch vor zehn Jahren. Es geht in der Regel nicht mehr darum, ob, sondern in welcher Form und in welcher Verantwortung der Völkermord durchgeführt wurde und was die Ursachen dafür waren. Die Öffentlichkeit in Deutschland ist heute weit besser über die Ereignisse informiert und sensibilisiert. In allen größeren deutschen, österreichischen und Schweizer Zeitungen erschienen im letzten Jahr längere Artikel und Interviews; Rundfunk und Fernsehen berichteten. Klare Worte fand insbesondere Bundestagspräsident Norbert Lammert. Seine mit zweifelsfreier Gewissheit im Deutschen Bundestag vorgetragene Aussage – »Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Welt1 öffentlichkeit, war ein Völkermord« – kann sich nicht nur auf eine Mehrheitsmeinung unter internationalen Historikern berufen. Der Völkermord an den Armeniern von 1915/16, der mit systematischen Vertreibungsmaßnahmen im Frühjahr 1915 einsetzte, ist ein außerordentlich gut und präzise dokumentierter Vorgang. Osmanische und armenische Quellen wurden in den letzten 20 Jahren in umfangreichen Forschungsarbeiten ausgewertet. Wichtige Quellen stammen auch von amerikanischen Beobachtern des Geschehens, von Missionaren und Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen, insbesondere aber von Beobachtern aus Deutschland und Österreich-Ungarn, die mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg verbündet gewesen waren. Sie ergeben ein nicht nur eindeutiges, sondern auch breit gefächertes und in erstaunlichem Maß detailgenaues Bild. Das beginnt mit der konfliktgeladenen »armenischen Frage« im 19. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit nach dem Berliner Kongress von 1878 und setzt sich durch die gesamte Zeit des Ersten Weltkriegs fort. Dabei gibt es Schlüsselbeobachtungen und daraus folgende weitreichende Schlussfolgerungen und Urteile. Am 6. Juni 1915 beispielsweise erklärte Mehmet Talaat, der osmanische Innenminister, dem in Istanbul ansässigen deutschen Generalkonsul Dr. Johann Heinrich Mordtmann gegenüber offen, es sei die Absicht seiner Regierung, den Weltkrieg zu benutzen, »um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfession – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des 2 Auslands gestört zu werden«. Botschafter Hans von Wangenheim telegraphierte am 7. Juli an Reichskanzler Theobald von BethmannHollweg, aufgrund von präzisen Informationen aus allen Landesteilen stehe es nun außer Zweifel, »dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche 3 zu vernichten«. Das war eine eindeutige Aussage, und Wangenheim, ein geschulter Diplomat mit langjährigen Erfahrungen im Auswärtigen Dienst, war kein Mann, der ein solches Urteil über einen Kriegsverbündeten leichtfertig fällte. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die deutsche Politik spätestens Anfang Juli 1915 zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Deportationen und Massaker, die man verstärkt seit den Frühlingsmonaten in den anatolischen Provinzen beobachten konnte, dem erklärten Ziel dienten, eine ethnische Gruppe (die osmanischen Armenier) systematisch zu vernichten – und dies als Ergebnis einer staatlich gelenkten Politik. Diese Feststellung ist seit nunmehr über 100 Jahren deutsches Regierungswissen. Weltkrieg und Staatssicherheit Im Frühjahr 1915 wurden die ersten deutlichen Anzeichen der bevorstehenden Katastrophe bemerkbar. Am 16. März 1915 hatte der deutsche Konsul Paul Schwarz im zentralanatolischen Harput eine 4 Unterredung mit dem dortigen Gouverneur Sabit Bey , bei der er sich sagen lassen musste, »dass die Armenier in der Türkei vernichtet werden müssten und vernichtet werden würden. Ihr Reichtum und ihre Zahl hätten sich so vermehrt, dass sie eine Bedrohung für die 2 3 4 1 14 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw17_de_armenier/369868 Einsicht Notiz Mordtmann. Rößler an Botschaft Konstantinopel, 6.6.1915. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), BoKon, 169. Die Dokumente aus dem Auswärtigen Amt werden in der Regel zitiert nach: Wolfgang Gust (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005. Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 7.7.1915, PA AA, R 14086. Johannes Ehmann, »Die Stellung des Valis und der türkischen Regierung in ElAziz (Mesereh) zu den armenischen Ereignissen während des Weltkrieges«, zit. nach Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede, Zürich 2000, S. 42. Einsicht 15 Frühjahr 2016 herrschende türkische Rasse geworden seien, (und) dagegen gäbe 5 es nur das Mittel der Ausrottung.« An dieser Begegnung ist der Zeitpunkt bemerkenswert, denn er steht am Beginn einer einschneidenden Radikalisierung der Politik gegenüber den osmanischen Armeniern, die kurz zuvor in der Hauptstadt Konstantinopel (Istanbul) auf die Agenda gesetzt wurde. Der Anlass war die paranoide Verarbeitung einer militärischen Niederlage. Im Winter 1914/15 scheiterte ein von Eroberungsträumen im russischen Kaukasus getragener Feldzug unter enormen Verlusten. Die Niederlage war umfassend, und sie bekräftigte im dramatischen Gegensatz zu den hochfliegenden Erwartungen einer »Befreiung« der zentralasiatischen Turkvölker vom russischen Joch noch einmal alle alten Bilder des osmanischen Niedergangs, so dass es niemandem unter der Androhung von harten Strafen erlaubt wur6 de, öffentlich darüber zu sprechen. Zumal die Russen nun jederzeit den Osten Anatoliens bedrohen konnten, während gleichzeitig die englische und französische Flotte einen Angriff auf die Dardanellen vorbereiteten, was im Erfolgsfall eine Auflösung des Osmanischen Reichs zur Folge gehabt hätte. Obwohl über 200.000 Armenier in den Reihen der osmanischen Armee kämpften und es auch armenische Soldaten waren, die im Januar geschlagen zurückkehrten, setzte sofort unter ihnen die Suche nach den Schuldigen des Desasters ein. Man unterstellte ihnen Illoyalität und die klammheimliche bis offene Unterstützung des russischen Feindes. Eine armenische Dolchstoßlegende, so Ronald Grigor Suny, die pathologische Annahme, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe kollektiv eine »Gefahr für 7 die Staatssicherheit darstellte« , war damit aus der Taufe gehoben. In den folgenden Monaten wuchs sie sich bei den Führungseliten des Osmanischen Reichs zu der paranoiden Vision eines in Anatolien bevorstehenden gesamtarmenischen Aufstands aus. Tatsächlich war die Kriegslage besorgniserregend. Die Möglichkeit eines militärischen Untergangs vor Augen, erklärte Innenminister Mehmet Talaat Anfang Februar 1915 gegenüber dem deutschen Botschafter Wangenheim, dass die Armenier sich im weiteren Kriegsverlauf in jedem Fall auf die Seite der Gegner schlagen würden. Man müsse rechtzeitig etwas gegen diese Bedrohung unternehmen. Wangenheim erklärte den Zeitpunkt für ungünstig gewählt, aber Talaat antwortete: C’est le seule moment proprice – Das sei der einzige richtige 8 Augenblick. Es war, mit dem Blick des Historikers gesehen, aber auch der richtige Augenblick für eine Gelegenheit. 5 6 7 8 »Statement Made by Miss (Hansina Marcher), A Danish Lady in the Service of the German Red Cross at (Harpout)«, zit. nach James Bryce, Arnold Toynbee, The Treatment of the Armenians in the Ottoman Empire 1915–1916, Princeton 2000 (zuerst: London 1916), S. 286 (Dok. 64). William Yale, The Near East. A Modern History, Ann Arbor 1958, S. 219. Ronald Grigor Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«. A History of the Armenian Genocide, Princeton, Oxford 2015, S. XX. Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 2.2.1915, PA AA, R 14085. 15 Gestaltende Ideologie Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es immer wieder türkisch-nationalistische Wellen gegeben, die mit einer fortschreitenden Ethnifizierung der Religion verbunden waren. 1903 wurde in Kairo das Journal Türk gegründet, das zum ersten Mal die »türkische Rasse« zum Thema machte. Für Türk war der osmanische Staat immer ein türkisch-muslimisches Reich gewesen, das es ohne das Recht des Eroberers, ohne die großen türkischen Siege wie auf dem kosovarischen Amselfeld oder die Einnahme von Konstantinopel im Jahre 1453 nie gegeben hätte. Aus dieser Perspektive betrachtete 9 man die Türken als »allein herrschende Nation« im Osmanischen Reich und die alteingesessenen christlichen Völker im Diskurs eines imperialen Nationalismus lediglich als geduldete »Gäste«. Johann Markgraf Pallavicini, der k.u.k. Botschafter in Istanbul, fasste diese Sichtweise später in die Formel, »die numerisch schwache türkische Nation« – ethnische Türken waren vor dem Weltkrieg eine Minderheit – solle offenbar die künftige »Basis für die Oligarchie« 10 im Osmanischen Reich werden , eines Imperiums mit führender türkischer Staatsnation. Türk war strikt antiarmenisch eingestellt und machte den Armeniern den Vorwurf, ihren Reichtum im Bündnis mit den westlichen Mächten auf Kosten der Türken erlangt zu haben. 1904 erschien in Türk unter der Überschrift »Drei Arten der Politik« ein Aufsatz des Wolgatataren Yusuf Akchura, der von vielen wie ein erlösendes Grundsatzprogramm wahrgenommen wurde und der zum ersten Mal »die Idee eines türkischen Nationalismus, der 11 auf ethnischen Prinzipien beruht«, ausformulierte. Alle Versuche, unterschiedliche Rassen und Religionen in einem Staatsgebilde zu vereinen, so Akchura, seien in der Vergangenheit gescheitert. In 12 solchen »österreichischen« Verhältnissen sah man zunehmend den Hauptgrund für den Niedergang einer einstmals heroischen und starken Kämpfernation. Sämtliche nichttürkischen Elemente, beobachtete der britische Botschafter in Istanbul im August 1910, sollten in Zukunft »in einem türkischen Mörser« zerstampft – das heißt assimiliert oder vertrieben – werden. Er bezog sich dabei auf Talaat, der kurz zuvor auf einem Konklave der Führung des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt (Comité Union et Progrès, CUP) das Scheitern des osmanischen – ethnoreligiösen – Multikulturalismus verkündet hatte. Talaats Hauptargument war die für ihn stets fragwürdige Loyalität der nichtmuslimischen Bevöl13 kerungsgruppen. Der nationalistische Ideologe Ziya Gökalp ging einen Schritt weiter, indem er dieses Argument mit dem Konzept einer organischen Nation verband. Für verschiedene Völker, meinte er, könne es in Wahrheit »kein gemeinsames Zuhause und Vaterland 14 geben«. In einer so vorbereiteten mentalen Lage und in den Schemen dieses ethnonationalistischen Diskurses wurde in den Tagen zwischen dem 13. und 16. März 1915 auf einer geheimen Tagung in Istanbul die – wie auch immer geartete – Ausschaltung der osmanischen Armenier als eines vorgeblich existenzgefährdenden inneren 15 Feindes während des Weltkriegs beschlossen. Seit dem Beginn des Weltkriegs – und das war für das Osmanische Reich November 1914 – hatte sich die Stimmung gegenüber den osmanischen Armeniern spürbar verschlechtert. Es hatte Hausdurchsuchungen, irreguläre Requisitionen, Verhaftungen und politische Morde gegeben. Im Winter wurden armenische Siedlungen im Grenzgebiet zum Iran mit Massakern überzogen. Im späten Frühjahr 1915 begann dann die systematische Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem Osten Anatoliens. Das alles blieb nicht unbemerkt. Mehmed Talaat Pascha (1872–1921) war Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reichs sowie Führer der jungtürkischen Nationalisten. Auf dem Bild ist er als Leiter der osmanischen Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Januar 1918 zu sehen. Am 24. April 1915 ordnete er die Verhaftung armenischer Intellektueller in Istanbul an, was den Völkermord an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich eingeleitet hat. Foto: ullstein bild - AKG Öffentliche Hinrichtung von Armeniern im Osmanischen Reich, ca. 1916. Foto: bpk / Coll. Casagrande / adoc-photos Kontext Armenische Waisenkinder werden auf einem Schiff verschleppt, Osmanisches Reich 1915. Foto: Rue des Archives/ PVDE/Süddeutsche Zeitung Photo Was während des Ersten Weltkriegs 1915/16 im Osmanischen Reich stattfand, stellt den Beginn eines ganzen europäischen Jahrhunderts von Gewaltverbrechen dar, eines Jahrhunderts, das gekennzeichnet ist durch Völkermorde und gewaltsame ethnische Vertreibungen von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß. Zivilisten waren in diesem Krieg – wie schon in den vorausgegangenen Balkankriegen – von Anfang an Ziele der Kriegsführung. Der Erste Weltkrieg begann im August 1914 mit den sogenannten belgischen Gräueln, als während der deutschen Invasion insgesamt 6.427 Zivilisten einer Paranoia über angebliche Hinterhalte von Freischärlern zum 16 Opfer fielen. Galizien und die Bukowina erlebten bereits in den ersten Kriegsmonaten 1914 die Deportation Zehntausender national 9 Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 24.2.1913, PA AA, R 14078. 10 Pallavicini an Baron Burian, 8.4.1916, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), PA XII 210. Die österreichisch-ungarischen Quellen werden zitiert nach: Artem Ohandjanian, Österreich-Ungarn und Armenien 1912–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Jerewan 2005. 11 Yusuf Akchura, »Three Types of Policies«, in: H. B. Paksoy (Hrsg.), Central Asian Reader: The Rediscovery of History, London 1994, S. 106 f. 12 So das führende Mitglied des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt Mehmet Nazim gegenüber dem Zionisten Max Nordau. Nordau an Wolffsohn, Paris, 25.11.1908. Nach: M. Sükrü Hanioglu, Preparation for a Revolution. The Young Turks 1902–1908, Oxford, New York 2001, S. 260. 13 Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, 3. Aufl., New York, Oxford 16 Einsicht 2002, S. 218 f. 14 Ziya Gökalp, »The Ideal of Nationalism«, in: Niyazi Berkes (Hrsg.), Turkish Na- tionalism and Western Civilisation. Selected Essays of Ziya Gökalp, London 1959, S. 81. 15 Taner Akcam, Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S. 59 ff. 16 John Horne, Alan Kramer, German Atrocities. 1914, New Haven, London 2001, S. 74. Einsicht 15 Frühjahr 2016 17 17 »unzuverlässiger Elemente« in österreichische Internierungslager. In Russland wurden während des Krieges Hunderttausende von Juden, deutsche Minderheiten, Bewohner der baltischen Gebiete, Roma und Muslime aus dem Kaukasus und Zentralasien, die man alle aus ethnischen Gründen als potenzielle innere Feinde und »unzuverlässige« Bevölkerungsteile betrachtete, Opfer einer militärischen 18 Deportationspolitik. Die Ankündigung von Innenminister Talaat am 6. Juni 1915 bedeutete aber weit mehr als die einer kriegsbedingten Deportation oder partiell extremer militärischer Maßnahmen. Talaat galt als ein Mann mit rücksichtsloser Energie und als Vertreter extremer Modernisierungsideen, die eingebunden waren in das Konzept eines nati19 onaltürkischen Chauvinismus. Seine Ankündigung beinhaltete die Vision einer neuen und im Kern türkischen Ordnung nach dem Krieg. Sie hatte, im Unterschied zu der zweifellos ebenfalls rücksichtslosen militärischen Politik der Habsburger und Russen, die ausgesprochen apokalyptische Komponente einer finalen sicherheitspolitischen Lösung an sich, die sich in einem als existentiellen Überlebenskampf empfundenen Krieg zu einem ethnopolitisch aufgeladenen Bedrohungsszenario auflud. Die Armenier waren nicht nur eine unmittelbare militärische Bedrohung an der Kaukasusfront. Sie galten unabhängig davon wegen ihrer kulturellen und organisatorischen Fähigkeiten und ihres wirtschaftlichen Erfolgs als eine grundsätzliche 20 Bedrohung für die Vorherrschaft der türkischen Ethnie überhaupt. Die Armenier galten im Weltbild radikaler Jungtürken als »eine Menge schädlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes befallen 21 hatten«. Solche fest in der Vision des harmonischen Gesamtentwurfs einer nationalen Volksgesundheit verankerten biologistischen Ressentiments führten in der modernen Geschichte immer zu höchst 22 explosiven und potenziell genozidalen Konfliktlösungsphantasien. Die Führungseliten des Osmanischen Reichs waren zu Beginn des Weltkriegs stark von ideologischen Motiven dieser Art beherrscht. Sie befanden sich zudem seit den Balkankriegen in der mentalen Verfassung eines permanenten Ausnahmezustands. Seit 1913 herrschte in Istanbul das System einer radikalnationalistischen Einparteiendiktatur und die damit verbundene tendenziell absolute Herrschaft einer Partei über einen zunehmend gleichgeschalteten Staat und seine Apparate, also etwas, das Mittel- und Osteuropa unter verschiedenen Vorzeichen erst in den 1920er und 23 1930er Jahren kennenlernen würde. Ein geografischer Raum für politische Gewaltlösungen war das Osmanische Reich ohnehin seit Jahrzehnten. 1894 bis 1896 waren weit mehr als 100.000 Armenier in den anatolischen Ostprovinzen organisierten Massakern zum Opfer 24 gefallen. Niemand war hierfür zur Rechenschaft gezogen worden. Ethnische Gewalt und kollektive Diskriminierung auf allen Seiten bildeten das beherrschende Element der Balkankriege. Die Rede vom survival of the fittest, über das konservative und nationalistische Intellektuelle in Europa – wie auch die jungtürkische Elite – damals gern in sozialdarwinistischer Perspektive philosophierten, gehörte zu den ganz unphilosophischen Alltagserfahrungen der an diesen schmutzigen Kriegen Beteiligten. Die Folge war eine Kultur der macht- und gewaltorientierten Regellosigkeit, die sich in dieser Zeit unter den militärischen und politischen Akteuren des Osmanischen Reichs etablierte und zunehmend allgemeine Akzeptanz fand. Die Militärs, die in Russland für die großflächigen Deportationen vermeintlicher »innerer Feinde« verantwortlich waren, blieben in Petrograd dagegen weitgehend einem traditionellen bürokratischen 25 System von checks and balances unterworfen. Dieser Unterschied ist für das Verständnis der Vorgänge von wesentlicher Bedeutung. Im Osmanischen Reich handelten 1915 nicht reguläre politische oder militärische Institutionen, sondern ein durch ideologische Motive getriebener irregulärer »tiefer Staat«. Systematik Dem politischen Vernichtungswillen fielen allein während der Kriegsjahre 1915/16 etwa 1,1 Million Armenier und in geringerem Ausmaß auch andere orientalische Christen zum Opfer. Wahrscheinlich mehr als 150.000 Armenier überlebten durch Zwangskonversion zum Islam, indem sie sich zu Türken assimilierten. Einer unbestimmten Zahl – etwa 300.000 – gelang die Flucht, meist über die 26 russische Grenze. Die direkte physische Vernichtung setzte im Osten Anatoliens oft schon unmittelbar nach der Vertreibung aus 17 Michael Schwartz, Ethnische »Säuberungen« in der Moderne. Globale Wechsel- 18 19 20 21 22 18 wirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 273. Peter Gatrell, A Whole Empire Walking, Bloomington 2005, S. 3. Telegramm Joseph Pomiankowski, 6.2.1917, Kriegsarchiv Wien, KM Präs., 47-1/13. Rößler an Wolff-Metternich, 34.1.1916, Anlage 1, 8.11.1915, PA AA, R 14090. Salahattin Güngör, Bir Canli Tarih Konusuyor, Resimli Tarih, 5.7.1953. Nach Hans-Lukas Kieser, »Dr. Mehmet Reshid (1873–1919). A Political Doctor«, in: ders., Dominik Schaller (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoa, Zürich 2002, S. 262. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992, S. 52. den Dörfern und Städten im späten Frühjahr ein und betraf zunächst in erster Linie Männer. Die langen, oft Wochen und Monate dauernden Zwangsdeportationen in die mesopotamische Wüste gingen 27 mit kalkuliert hohen Todesraten einher. Zeitweilig hatte man eine Massenausweisung ins Auge gefasst. Das Oberkommando der osmanischen Armee brachte noch am 2. Mai 1915 den Gedanken ins Spiel, die armenische Bevölkerung 28 der anatolischen Ostprovinzen nach Russland zu vertreiben. Doch solche Pläne erwiesen sich schnell aus verschiedenen Gründen als 29 undurchführbar. Sie machten in kürzester Zeit der radikaleren Lösung einer totalen Verschickung in die Wüste Platz, die dann hauptsächlich unter der bevölkerungspolitischen Ägide von Mehmet Talaats Innenministerium stattfand und einen abrupten Übergang von Konzepten militärischer Deportationen und ethnischer »Säuberung« zu genozidalen Maßnahmen einleiteten. Der Bestimmungsort hatte außerdem eine weitreichende Signalwirkung anderer Art. Man trieb die Armenier über eine demographische Grenze hinaus in eine Region, die nicht mehr zum »türkischen« Kernland Anatolien gehörte, und sortierte sie so territorial als nationalen Fremdkörper aus. Die Armee, so der türkische Historiker Taner Akcam, wurde von Aufgaben bei der Deportation entbunden, auch wenn sie sich 30 – vor allem im Osten Anatoliens – an Massakern beteiligte und in Kämpfen gegen sogenannte armenische »Aufstände« wie in Van, Musch, Urfa oder am Musa Dagh, die in Wirklichkeit verzweifelte Selbstverteidigungsaktionen waren, eine verheerende Rolle spielte. Entscheidende Organe der genozidalen Politik waren das Innenministerium, seine bevölkerungspolitischen Planungsabteilungen und seine Polizeikräfte, besonders aber die hybriden Organe des jungtürkischen »tiefen Staats«. »Die aus den Reihen der Comitémänner (des herrschenden CUP) hervorgegangenen Valis und Mutessarifs«, so der k.u.k Botschafter Pallavicini, »gehorchen nur den Verordnungen, die ihnen vom Comité zukommen, nicht aber jenen, die ihnen 31 die Regierung erteilt«. Das CUP steuerte auf diese Weise über seine Parteikanäle einen Gleichschaltungsprozess. Überall waren es ideologische Hardliner des herrschenden jungtürkischen Komitees – ethnonationalistische »Politkommissare« –, die extreme exterminatorische Maßnahmen teilweise gegen den Widerstand einzelner Provinzgouverneure und Militärs durchzusetzen versuchten. Die tödlichen Deportationen des Jahres 1915 begannen in drei verschiedenen Gebieten in drei aufeinanderfolgenden 23 M. Sükrü Hanioglu, A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton, Oxford 2008, S. 151. 24 Im Gegenteil: »There emerged a mentality which had elements of a cryptic cul- ture sanctioning massacres as an instrument of state policy.« Vahakn N. Dadrian, The History of the Armenian Genocide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus, New York, Oxford 2003, S. 173. 25 Donald Bloxham, The Final Solution. A Genocide, Oxford 2013, S. 76. 26 Hilmar Kaiser, »Genocide at the Twilight of the Ottoman Empire«, in: Donald Bloxham, Dirk Moses (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, New York 2010, S. 382. Einsicht 27 Rößler an Botschaft Konstantinopel, 12.8.1915, PA-AA/BoKon/170. 28 Office of the Supreme Commander of the Ottoman Army to the Ministry of Inte- rior, Top Secret, 2.5.1915, in: Documents on Ottoman Armenians. Vol. 1. Prime Ministry. Directorate General of Press and Information, Ankara o.J., S. 89. 29 Trauttmansdorff an Baron Burián, 30.9.1015, HHStA, PA XII 209. 30 Akcam, Armenien, S. 65 f., 74 f. 31 Pallavicini an Baron Burian, 7.11.1915, Beilage zum Bericht Nr. 92/p.c., HHStA, PA XII 463. Einsicht 15 Frühjahr 2016 Zeitabschnitten, wobei während des zweiten Zeitabschnitts ab Ende Mai, ausgelöst durch zentral gelenkte parteipolitische Initiativen außerhalb der regulären staatlichen und militärischen Institutionen, eine spürbare Radikalisierung zu beobachten war. Das hatte auch 32 mit der aktiven Rolle von Bahaeddin Schakir , dem Führer der Teskilat-i-Mahsusa (TM) genannten parteigebundenen Spezialorganisation zu tun, die als politische Polizeitruppe und Sicherheitsdienst in einer außerstaatlichen Grauzone operierte. In den späten Wintermonaten Anfang 1915 hatte die TM eine Personalstärke von über 30.000 Mann erreicht, die von 700 politischen Kommandeuren 33 des herrschenden jungtürkischen Komitees angeführt wurden. Im Sommer 1915 waren es vermutlich deutlich mehr, aber dafür liegen keine Zahlen vor. Schakir hatte seit 1905 eine führende Rolle bei der Umwandlung des jungtürkischen Exilkomitees in eine streng zentralisierte und hierarchisch geführte Kampforganisation mit ethnonationalistischer Ausrichtung gespielt. Der türkische Historiker Serif Mardin nannte 34 ihn deshalb einmal den »Stalin« des Komitees. Er war seit dem Frühjahr 1915, als Mastermind der TM im ostanatolischen Erzurum stationiert, der Hauptarchitekt der organisierten Massaker an den 35 Armeniern , die seit Ende Mai, zunächst in den östlichen Grenzregionen, zu einem systematischen Bestandteil der Deportationen wurden. Das Ergebnis waren von der TM organisierte Killing Fields, von denen es an verschiedenen Stellen der Deportationsrouten meh36 rere gab. Meist befanden sie sich in abgelegenen Gebieten, deren geografische Beschaffenheit so war, dass die Deportierten keine 37 Fluchtmöglichkeiten hatten. Auch sie waren Bestandteil einer kalkulierten Systematik. Das Ergebnis der Deportationen war »eine im größten Maßstab durchgeführte Expropriation von anderthalb Millionen 38 Staatsbürgern«. Die Vermögenswerte, um die es dabei ging, wurden während der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 auf 7,9 Milliar39 den französische Francs (Stand von 1919) geschätzt. Ein wesentliches strategisches Motiv bestand darin, so die jungtürkische 32 Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei, Potsdam 1916, S. 43. 33 Hew Strachan, The First World War. To Arms, Oxford 2003, S. 705. 34 Serif Mardin, »Jörn Türklerin Siyasi Fikirleri«, nach: M. Sükrü Hanioglu, Preparation for a Revolution. The Young Turks 1902–1908, Oxford, New York 2001, S. 140. 35 Erik Jan Zürcher, The Young Turk Legacy. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London, New York 2013, S. 197. 36 Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015, S. 159 und passim, insbes. S. 184–190, S. 210–215. 37 Donald Miller, Lorna Touryan Miller, Survivors. An Oral History of the Armenian Genocide, Berkeley, Los Angeles, 1999, S. 81. 38 Lepsius, Bericht, S. 152. 39 Christian Gerlach, »Nationsbildung im Krieg«, in: Kieser, Schaller (Hrsg.), Völkermord, S. 347–422, hier S. 368. 19 Schriftstellerin Halide Edib in ihren Memoiren, die wirtschaftliche Vorherrschaft der Armenier mit dem Ziel des Aufbaus einer »nationa40 len« Bourgeoisie zu brechen , und die Expropriationen waren, neben dem Beitrag, den sie zur Finanzierung des Krieges leisteten, dafür so etwas wie eine ursprüngliche »türkische« Kapitalakkumulation. Die deutsche Haltung Ohne den Weltkrieg wäre der Völkermord an den Armeniern kaum denkbar gewesen. Dies gilt zunächst einmal in dem allgemeinen kulturellen Sinn, dass die entgrenzte Gewalt an allen Fronten eine Möglichkeit schuf, die in Friedenszeiten nicht gegeben war. Ende September 1915 machte sich der k.u.k. Agent Heinrich Alberstall Gedanken darüber, ob nicht eine »geschickte Kundgebung« des Wiener Kaisers Franz-Joseph I. die Türken zum Einhalten bewegen könne. »Wahrscheinlich nicht«, so seine Schlussfolgerung, denn die Türken seien von dem Glauben durchdrungen, »dass sie nur in der jetzigen Kriegszeit, in welcher alle Moralwerte selbst von den kriegführenden Kultur-Nationen ersten Ranges missachtet werden, sich von den diversen bisherigen staatlichen Fesseln und Ballasten befreien können, und daher die sich vielleicht nie mehr bietende 41 Gelegenheit unbedingt benutzen müssten.« Regelmäßig verwiesen führende Jungtürken deshalb auf die Vorbildfunktion der deutschen 42 Gräuel in Belgien und der habsburgischen in Bosnien , um damit ihre »kriegsbedingten« Maßnahmen zu legitimieren. Und regelmäßig wurden sie von deutscher oder österreichischer Seite zurückgewiesen. Botschafter Paul Wolff-Metternich ließ beispielsweise den Großwesir Anfang Dezember 1915 mit Bestimmtheit wissen, »dass die Verfolgung und Misshandlung von Hunderttausenden unschuldiger Personen keine legitime Abwehrmaßnahme eines Staates« 43 bilde. Sein Vorgänger Hans von Wangenheim war weniger deutlich. Nach anfänglichen Irritationen übernahm er im Mai 1915 mehr oder weniger die türkische Sichtweise, von der er Ende Juni wieder Abstand nahm. Nie, so Isabel Hull, verließ er jedoch die Parameter 44 vorgeblicher »militärischer Notwendigkeiten«. Einige deutsche Offiziere – insgesamt gibt es fünf dokumentierte Fälle unter den 200 Offizieren, die sich in den entscheidenden Monaten 1915/16 in der Türkei befanden – waren aktiv in antiarmenische Aktivitäten involviert. So insbesondere Oberstleutnant Karl Anton Böttrich, der eigenhändig und unautorisiert einen Deportationsbefehl im Bewusstsein der tödlichen Folgen unterzeichnete. Von dem Marineattaché Hans Humann schließlich stammt die Äußerung, die Vernichtung der Armenier sei »hart, aber nützlich«. Ähnlich äußerten sich der deutsche Generalstabschef im türkischen Großen Hauptquartier, Fritz Bronsart von Schellendorf, und auch die Admirale Wilhelm 45 Souchon und Guido von Usedom. Dies sind alles Beispiele eines sozialdarwinistisch infizierten militaristischen Extremismus, dem jegliche ethischen Maßstäbe abhandengekommen waren. Reichen diese Handvoll Individuen aus, um Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier als »Beihilfe zum Völkermord« zu beschreiben, wie Jürgen Gottschlich in einem jüngst 46 erschienenen Buch behauptet? Donald Bloxham und Isabel Hull haben schon vor Jahren darauf verwiesen, dass es sich bei diesen schon länger bekannten Fällen um motivisch völlig unterschiedlich gelagerte regionale Vorkommnisse handelt, die zeitlich teilweise in den Wintermonaten 1914/15, also vor dem Beginn der genozidalen Radikalisierung, zu verorten sind. Es gibt zwischen diesen Individuen auch keinen nachweisbaren Zusammenhang, der sie als agierende Gruppe mit politischen Einflussmöglichkeiten ausweisen 47 könnte. Gottschlich übernimmt aber unhinterfragt nicht nur die 1918 von Henry Morgenthau, dem amerikanischen Botschafter in Istanbul, überlieferte Ansicht, die Deportationspolitik sei von den Deutschen inspiriert worden, sondern auch dessen Schlussfolgerung, nur das Deutsche Reich hätte den Völkermord an den Armeniern 48 verhindern können. Morgenthaus noch während des Krieges erschienenes und Woodrow Wilson gewidmetes Buch ist nicht frei von Selbststilisierungen und sachlich fragwürdigen, politisch mo49 tivierten Stereotypen und Kurzschlüssen. Doch es begründete, so Ronald Suny, das einflussreichste und bis heute vielfach wirksame 50 Nachkriegsnarrativ. Ob das Deutsche Reich den Völkermord an den Armeniern selbst um den Preis einer Auflösung des Bündnisses hätte verhindern können, ist in jedem Fall stark umstritten. Der Leiter der österreichisch-ungarischen Militärmission im Osmanischen Reich, Joseph Pomiankowski, beantwortete die Frage mit einem klaren Nein und warf Morgenthau vor, den Einfluss Deutschlands auf die 45 Dadrian, History, S. 248–300. 46 Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Ver47 40 Memoirs of Halide Edib, London 1926, S. 386. 41 Alberstall an das literarische Bureau des k.u.k Ministerium des Äußeren, 25.9.1915, HHStA, PL 246. 48 49 42 Kwiatkowski an Baron Burian, 31.7.1915, HHStA, PA XXXVIII 368. 43 Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 9.12.1915, PA AA, R 14089. 44 Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practises of War in Imperial Germany, Ithaka, London 2005, S. 279–283. 20 innenpolitischen Verhältnisse der Türkei weit zu überschätzen. Nur eine rechtzeitige Kriegserklärung der Vereinigten Staaten, so Pomiankowski, hätte die armenische Katastrophe vielleicht verhindern können. Die USA erklärten Konstantinopel aber nie den Krieg, und 51 nicht einmal Sanktionen wurden in Erwägung gezogen. Extreme Gewalt gegen Zivilbevölkerungen zu akzeptieren, zu entschuldigen und zu rationalisieren, war allerdings Teil der Militärkultur des Wilhelminischen Reichs. Deutschland, so Isabel Hull, wandte im Ersten Weltkrieg auf allen Kriegsschauplätzen in extremer Weise die Standards einer existenziellen militärischen Auseinandersetzung an und nahm mit dieser Mentalität auch den Völkermord an 52 den Armeniern in Kauf. Humann begrüßte die Vernichtung der Armenier weniger aus militärischen Gründen denn als Maßnahme einer gewaltsamen türkischen Nationsbildung. Die maßgebliche deutsche Haltung im Ersten Weltkrieg war aber eine andere. »Die Verschickung war eine militärische Maßnahme«, so ein Memorandum des Botschaftspredigers in Konstantinopel, Siegfried von Lüttichau, vom Sommer 1918: »Aber die Vernichtung der Vertriebenen, die nur allzu gut gelungen ist, war eine politische Maßnahme der Regierung.« Lüttichau begrüßte diese Maßnahme nicht, aber das Deutsche Reich, so seine Ansicht, habe 53 aus zwingenden Kriegsgründen dazu schweigen müssen. Dies war 54 auch die Haltung von Reichkanzler Bethmann-Hollweg. Insgesamt, so Ulrich Trumpener, dessen Urteil von der Forschung im Wesentlichen geteilt wird, hat die deutsche Reichsregierung die Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkriegs weder unterstützt noch willkommen geheißen. Allerdings müsse man ihr eine extreme moralische Gleichgültigkeit und einen grundsätzlichen Mangel an entschiedenen Maßnahmen vorhalten, selbst im Rahmen des politisch Möglichen gegen die Verbrechen ihres 55 Bündnispartners vorzugehen. Es gab keine »Beihilfe« in Gestalt einer aktiven Unterstützung der jungtürkischen Vernichtungspolitik. Aber die Art und Weise, wie Menschenrechtsfragen auf der Ebene von »Realpolitik« verhandelt wurden, kam aktiver Zustimmung zweifellos sehr nahe und prägte Mentalitäten mit, die sozialtechnische Gewaltmaßnahmen in einem ethikfreien Raum zu akzeptieren lernten. 50 nichtung der Armenier, Berlin 2015. Donald Bloxham, »Power Politics, Prejudice, Protest and Propaganda. A Reassessment of the German Role in the Armenian Genocide in WWI«, in: Kieser, Schaller (Hrsg.), Völkermord, S. 213–244; Hull, Destruction, S. 275–279. Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthaus’s Story, Garden City, New York 1918, S. 365, 381. Margaret Lavinia Anderson, »Helden in Zeiten eines Völkermords? Armin T. Wegner, Ernst Jäckh, Henry Morgenthau«, in: Rolf Hosfeld (Hrsg.), Johannes Lepsius – eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Göttingen 2013, S. 147–159. Suny, »Desert«, S. 367. Einsicht Nach dem Krieg, das zeigt Stefan Ihrig in seiner jüngst erschienenen Studie, gab es eine wichtige und lebhafte Genozid-Debatte in Deutschland. Sie wurde ausgelöst durch Johannes Lepsius’ Publikation deutscher diplomatischer Akten unter dem Titel Deutschland 56 und Armenien vom Frühjahr 1919 , die publizistische Aktivität des 57 Schriftstellers Armin T. Wegner sowie die Ermordung Mehmet Talaats durch einen armenischen Attentäter in Charlottenburg 1921 58 und den nachfolgenden Prozess. Doch danach, so Ihrig, wurden die Leugnungsdiskurse in der Öffentlichkeit umso stärker und gingen immer mehr in Rechtfertigungsdiskurse (»hart, aber nützlich«) des 59 Humann’schen Typus über. Adolf Hitler berief sich im Prozess vor dem Münchner Volkgericht 1924 unter anderem ausdrücklich positiv auf Enver Pascha und die Jungtürken. Enver, so Hitler vor dem Gericht, habe eine neue Nation aufgebaut und das multikulturelle 60 Gomorrha Konstantinopel erfolgreich entgiftet. Das zeigt eine tiefe Übereinstimmung in grundlegenden politischen Säuberungsphantasien. Hitlers »erwachendes« Deutschland sah in den nationalradikalen Jungtürken und ihren Nachfolgern, den Kemalisten, ein 61 wahlverwandtes Vorbild. 56 Deutschland und Armenien 1914–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hrsg. u. eingel. v. Dr. Johannes Lepsius, Potsdam 1919. 51 Joseph Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches, Graz 1969 (zuerst: Wien 1928), S. 163 f. 52 Hull, Destruction, S. 290. 53 Axenfeld an AA, 18.10.1918, Anlage: Bericht des Pfarrers Grafen von Lüttichau, PA AA, R 14104. 54 »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.« Notiz Bethmann-Hollweg: Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 7.12.1915, PA AA, R 1489. 55 Ulrich Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1914–1918, Princeton 1968, S. 204 f. Einsicht 15 Frühjahr 2016 57 Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, hrsg. v. Andreas Meier, Göttingen 2011. 58 Armin T. Wegner (Hrsg.), Der Prozess Talaat Pascha. Stenographischer Bericht über die Verhandlung gegen den des Mordes an Talaat Pascha angeklagten armenischen Studenten Salomon Teilirian vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu Berlin, Aktenzeichen: C.J. 22/21, am 2. und 3. Juni 1921, Berlin 1921. 59 Stefan Ihrig, Justifying Genocide. Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler, Cambridge/Mass., London 2016 60 Harold J. Gordon (Hrsg.), The Hitler Trial before the Peopleʼs Court in Munich, Vol. 1, Arlington 1976, S. 180. 61 Stefan Ihrig, Atatürk in the Nazi Imagination, Cambridge/Mass., London 2014. 21 8 Aghet1 Wie der armenische Völkermord zum Romanstoff wurde2 von Andreas Meier apl. Prof. Dr. Andreas Meier ist seit 2004 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, an der er die Else-LaskerSchüler-Arbeitsstelle leitet. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind, neben der Gegenwartsliteratur, vor allem die Literatur der Klassischen Moderne und der Goethezeit. Zu seinen wichtigsten neueren Buchpublikationen zählen, jeweils von ihm herausgegeben: Christian August Vulpius. Eine Korrespondenz zur Kulturgeschichte der Goethezeit, 2 Bde., Berlin 2003; Armin T. Wegner. Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, Göttingen 2011; Martin Walser. Unser Auschwitz. Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, Reinbek 2015. Als119892Edgar Hilsenraths später vielfach ausgezeichnetes Märchen vom letzten Ge3 danken erschien, folgte binnen kürzerer Zeit eine große Zahl weiterer Romane über den Völkermord an den Armeniern, die den Eindruck entstehen ließen, Hilsenrath habe das literarische Potenzial des Stoffes wieder neu entdeckt, nachdem es über Jahrzehnte durch Franz Werfels 1933 veröffentlichten Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh und dessen 4 ungeheuren Erfolg erschöpft schien. Noch im selben Jahr, 1989, erschien Doğan Akhanlis Kiyamet günü yargiļari, das seit 2007, dem Jahr der Ermordung des armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink in Istanbul durch eine jungen türkischen Rechtsradikalen, in einer deutschen Übersetzung, Die Richter des Jüngsten Gerichts, 5 6 vorliegt; 1997 publizierte Peter Balakian Black Dog of Fate (2000 unter dem Titel Die Hunde vom Ararat ins Deutsche übersetzt), und ebenfalls im Jahr 2000 veröffentlichte Ahmet Ümit seine Kriminaler7 zählung Patasana , von der bis 2013 eine gleichnamige Übersetzung in mehreren Auflagen herauskam; auf Jochen Mangelsens Ophelias 1 2 3 4 5 6 7 22 Mit seinem 2010 produzierten Dokumentarfilm AGHET, benannt nach dem armenischen Wort für »Katastrophe«, gab Eric Friedler in Anlehnung an Claude Lanzmanns Dokumentation SHOAH über den Genozid an der europäischen Judenheit dem Völkermord an den Armeniern einen in der Sprache der Opfer eingeführten Begriff. Der Essay beruht in Ausschnitten auf folgenden Beiträgen des Verfassers: »Nachwort«, in: Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, hrsg. von Andreas Meier, Göttingen 2011, und: »Franz Werfel und Armin T. Wegner in Palästina. Zur Entdeckung des Armenienthemas in der deutschen Literatur«, in: Roy Knocke, Werner Treß (Hrsg.), Franz Werfel und der Genozid an den Armeniern, Berlin 2015, S. 59–75. Das Märchen vom letzten Gedanken. Roman, München 1989. Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. Bd.1: Das Nahende, Bd. 2: Die Kämpfe der Schwachen, Berlin 1933. Übers. von Hülya Engin, Klagenfurt 2007. New York 1997; übers. von Jörg Trobitius, Wien 2000. Deutsche Ausgabe: Patasana. Übers. von Recai Hallac, Berlin 2009 (als Paperback unter dem Titel Patasana – Mord am Euphrat, Berlin 2013). Einsicht Reise nach Berlin (2001) folgte 2004 – mit großem Erfolg auch Dank der Verfilmung durch die Brüder Paolo und Vittorio Taviani – Antonia Arslans La masseria delle allodole zugleich auch in der 9 deutschen Übersetzung unter dem Titel Das Haus der Lerchen; 2009 veröffentlichte Varujan Vosganian einen Band kurzer Erzählungen, 10 Cartea soaptelor , 2013 als Buch des Flüsterns ins Deutsche übertragen, und zwei Jahre später publizierte Fethiye Çetin ihren Roman 11 Anneannem, von dem seit 2011 eine deutsche Fassung unter dem Titel Meine Großmutter vorliegt. Chris Bohjalians The Sandcastle 12 Girls wurde 2012 ein US-amerikanischer Bestseller, und 2014 13 griffen sowohl Martin von Arndts Tage der Nemesis wie Thomas 14 Hartwichs Die Armenierin den Völkermord als Thema auf, dessen Aktualität im zeitgenössischen literarischen Feld auch die Auswahl der Gedichte von Jeghische Tscharenz, die 2010 unter dem Titel 15 Mein Armenien erschien, dokumentiert. Für die Rezeption des armenischen Völkermords in der deutschen Literatur kommt hier den politischen Ereignissen im Jahre 1933, dem Jahr der Veröffentlichung von Werfels Musah Dagh, eine nicht unbedeutende Rolle zu, verhinderten sie doch nicht nur auf lange Zeit die Wirkung Werfels in Deutschland, sondern – indirekt – auch noch ein weiteres umfangreiches Romanprojekt, das der in dieser Zeit als Lyriker und Reiseschriftsteller recht bekannte Dichter Armin T. Wegner angegangen war. Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh Eine wichtige Rolle spielte in diesem Kontext der 1924 in Wien gegründete Paul Zsolnay Verlag, dessen geschäftlicher Erfolg auf Franz Werfels Roman Verdi gegründet war. Hier erschien auch 1933 Werfels großer historischer Roman, der nicht unwesentlich durch seine zwei Palästinareisen angeregt worden war. Am »16. Jänner 1925« traten der 34-jährige Franz Werfel und seine 46-jährige Lebensgefährtin Alma Mahler an Bord der »Vienna« eine erste, auf mehrere Wochen angelegte Reise in den Vorderen Orient an, die sie von Triest nach Alexandria, Kairo, die Königsgräberstädte Luxor und Theben und schließlich über El Kantara nach Jerusalem führte. Ein kleines, 19 Seiten umfassendes, 16 17 handschriftliches Notizbuch , das so genannte Ägyptische Tagebuch, bot ihm in den nächsten Wochen nicht nur Raum für Reiseimpressionen, sondern wurde auch zum Reflexionsmedium der modernen »con18 ditio judaicia« und damit zugleich Ort einer Konfrontation Werfels mit seinem eigenen Judentum. Hier in Palästina nämlich begegnet er vor allem in den neuen Siedlungen kollektiven Lebensformen, die ihn 19 an Ideen gemahnten, »für die er selbst so viele Jahre gestritten« hatte und die von Alma sowohl aus einer antisemitischen als auch aus einer antikommunistischen Einstellung heraus heftig abgelehnt wurden. In ihren (leider nicht immer zuverlässigen) autobiographischen Erin20 nerungen Mein Leben, hielt sie neben zahlreichen Trivia, wie etwa dass man »Tee in verrosteten Eierschalen« servierte, besonders fest, dass ihnen »die Familiensiedlungen besser als die kommunistischen 21 Kwuzahs« gefielen. Leider ist man für die zweite Palästinareise des seit 1929 verheirateten Ehepaars (Mahler-)Werfel gänzlich auf diese Aufzeichnungen Almas angewiesen, die schon den Beginn der Reise falsch, nämlich auf das Jahr 1929 datieren. Tatsächlich reiste man Anfang 1930 entlang der Route ihrer ersten Reise nach Jerusalem und fand »ein ungemein gewachsenes, verschönertes, viel interessanteres 22 Palästina«. Auf Werfels Wunsch organisierte man von Jerusalem aus eine Weiterfahrt nach Syrien und in den Libanon, nach Damaskus, Baalbek und Beirut. Während des Aufenthalts in Damaskus besichtigte man auch »die größte Teppichweberei« der Stadt: »Der Besitzer erschien und übernahm die Führung durch sein riesiges Etablissement. Wir gingen die Webstühle entlang, und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal den Boden mit einem Besen rein. Franz Werfel frug den Besitzer, was das für merkwürdige Kinder seien. Er antwortet: ›Ach, diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu.‹ 16 Vgl. u.a. Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos (Hrsg.), Franz Werfel. 1890–1945. 8 9 10 11 12 13 14 15 Bremen 2001. Mailand 2004; dt.: Das Haus der Lerchen. Übers. von Maja Pflug, München 2004. Der Film der Brüder Taviani lief auf der Berlinale 2007 außer Konkurrenz. Buch des Flüsterns. Übers. von Ernest Wichner, Wien 2013 (zuerst: Iasi 2009). Dt.: Meine Großmutter. Übers. von Christina Tremmel-Turan und Tevfik Turan, Engelschoff 2011. New York 2012 ff. Cadolzburg 2014. Köln 2014. Übers. von Konrad Kuhn, Wuppertal 2010. Einsicht 15 Frühjahr 2016 17 18 19 20 21 22 Katalog einer Ausstellung, gemeinsam veranstaltet vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten und von der Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur in Wien, Wien 1990, S. 42 ff. Franz Werfel, Gesammelte Werke. Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. Aus dem Nachlass hrsg. von Adolf A. Klarmann, 2. Aufl., München 1975, S. 705–742. Lunzer, Lunzer-Talos (Hrsg.), Franz Werfel, S. 42. Werfel, Gesammelte Werke, S. 738. Alma Mahler-Werfel, Mein Leben. Biographie, 34. Aufl., Frankfurt am Main 1998 [zuerst 1963], S. 164. Ebd., S. 166. Ebd., S. 207. 23 Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte 23 uns nun wichtig oder schön erscheinen.« Von nun an gingen Franz Werfel »die Armenier […] nicht aus dem Sinn«, und auf seinem »Bett häuften sich […] die Notizen über 24 die an den Armeniern begangenen Greuel.« Auch auf der Fahrt durch den Libanon, von Baalbek nach Beirut, nahm das Ehepaar die Spuren der Vertriebenen wahr: »Früh fuhren wir an vielen armenischen Dörfern vorbei, von Überlebenden erbaut, die sich von den türkischen 25 Siedlungen durch Reinlichkeit und Blumenpracht abhoben […].« Trotz aller Reisewidrigkeiten und Zollschikanen »blieb in Franz Werfels Seele haften: das Unglück der Armenier. Er skizzierte noch während der Reise eine Romanidee. Unser Freund, der Gesandte Graf Clauzel, sandte Werfel auf seine Bitte alle Protokolle über die türkischen Greuel aus dem Pariser Kriegsministerium, und Werfel schrieb später von 1932 bis 1933 den Roman: ›Die vierzig Tage des 26 Musa Dagh‹ nieder.« Wenngleich Werfel seine große Erzählung in das Kostüm eines traditionellen historischen Romans kleidete, war ihm stets präsent, dass es mit diesem Stoff nicht nur ein geschichtliches Datum in das kulturelle Gedächtnis seiner Zeit einzuschreiben galt, sondern dass es zugleich auch um die mythischen Wurzeln des armenischen Volkes in Sprache und Poesie ging: »Die Geistesgeschichte eines Volkes beginnt mit seiner Schrift. Die politische und kulturelle Geschichte der Armenier freilich ist weit älter […] es gab noch keine Schrift, aber es gab Dichter. Sie zogen von Ort zu Ort und prägten ins Gehör des Volkes ihre schwermütig schönen Strophen […] Die Poesie war 27 da und damit im höchsten Sinn die Nation.« wie Werfel wurde die Begegnung mit Palästina zu einer ihr weiteres Leben geistig prägenden Erfahrung. Landau und Wegner reisten in einer der Werfel’schen Route entgegengesetzten Richtung. Sie landeten in Haifa und durchquerten von dort aus Palästina, befuhren den Jordan, den See Genezareth und das Tote Meer, um nach einem Abstecher ins benachbarte Syrien über Damaskus und schließlich über den Sinai bis zu den Cheops-Pyramiden bei Kairo zu kommen. Auch Wegners lernten ein von Gegensätzen geprägtes Land kennen, Gegensätze die nicht nur zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung sich aufbauten, sondern auch die eingewanderten Juden tief zu spalten schienen: »Ein junger Pionier […] lächelte: ›Sabbatruhe? … Wir spielen 28 Fußball!‹« Diese auch für Armin T. Wegner ungeheure Faszination 29 des modernen jüdischen Lebens, des »neuen jüdischen Menschen«, scheint sich von heute aus rückblickend auch darin auszudrücken, dass sich Erinnerungen an die Gräuel des armenischen Völkermords, dessen Augenzeuge Wegner zwischen 1915 und 1916 war, weder in 30 31 Jerusalem noch in Damaskus einstellten. Wegner war im Frühjahr 1915 als Mitglied der Deutsch-Ottomanischen Sanitätsmission unter Leitung des Barons Fritz von Trützsch32 ler von Falkenstein ins Osmanische Reich gekommen und war von April bis August 1915 in Konstantinopel, später in Rodosto und auf Gallipoli stationiert. Vermutlich erfuhr er, an Typhus erkrankt, im Juni 1915 im deutschen Lazarett in Pera durch Pastor Hans Bauernfeind 33 von den ersten »Austreibung[en]« der Armenier aus ihren Wohnsitzen. Auf einer Reise während des anschließenden Genesungsurlaubs lernte Wegner »im Sommer 1915 einen Kaufmann aus der Schweiz« kennen, der ihm erneut von der Vertreibung der armenischen Bevölkerung berichtete, woraufhin Wegner bis nach Konia, dem Startbahnhof Armin T. Wegner als Augenzeuge und Chronist des Genozids an den Armeniern Ein Jahr vor der zweiten Palästinareise des Ehepaars Werfels hatte sich auch ein anderes Schriftstellerpaar auf eine Reise nach Palästina begeben, die damals 36-jährige Lyrikerin Lola Landau und der mit ihr in zweiter Ehe verheiratete 44-jährige Lyriker, Erzähler und Publizist Armin T. Wegner. Wie die Werfels schiffte man sich in Triest ein und wie sie hatte man auch auf der Passage vergleichbare Erlebnisse, wenngleich mit umgekehrten Rollen. Denn wie der Altersunterschied verhielt sich auch die religiöse Rollenverteilung reziprok zu den Werfels. Landau war Jüdin, Wegner ein christlich getaufter intellektueller deutscher Kulturpatriot. Doch für Landau 23 24 25 26 27 24 Ebd., S. 208. Ebd. Ebd., S. 209. Ebd., S. 210. Werfel, Gesammelte Werke, S. 537 f. 28 Armin T. Wegner, Jagd durch das tausendjährige Land, Berlin 1932, S. 200; vgl. ähnlich auch S. 53. 29 Ebd., S. 158; ähnlich auch S. 110 f. 30 Anders als bei Werfel finden sich in Wegners Aufzeichnungen vom Aufenthalt in Damaskus keinerlei Hinweise auf die Armenier. Vgl. ebd., S. 127 f. 31 Bei der Besichtigung des syrischen Waisenhauses in Jerusalem ist ihm »die Ge- stalt eines armenischen Knaben […], der hier erzogen wurde, und den ich während des Krieges unter den armenischen Flüchtlingen in der mesopotamischen Wüste traf«, zwar vertraut. Wegner, Jagd, S. 42. Wie die früheren Publikationen Wegners aber dokumentieren, muss ihm durchaus bewusst gewesen sein, dass es sich bei den Armeniern in der mesopotamischen Wüste keineswegs um Flüchtlinge, sondern um gewaltsam Deportierte handelte, die man in der Wüste ihrem Schicksal überlassen hatte. 32 Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Nachlass (NL) Wegner, Wegner an Gerda Maurer, 31.3.1915: »Und meine Mutter verhalf mir dazu. Sie war eine Jugendfreundin der Frau von Tirpitz, des großen Admirals der deutschen Flotte. Mit ihren Kindern hatten wir zusammen, als wir selbst klein waren, so zwischen sechs und acht Jahren, ständig gespielt.« Hier zit. nach: Martin Tamcke, Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Hamburg 1996, S. 31. 33 Vgl. den kleinen Briefwechsel mit Bauernfeind zwischen 1915 und 1919, Tamcke, Wegner, S. 86. Einsicht links: Armin T. Wegner als Sanitäter im Ersten Weltkrieg, Foto: unbekannt oben: Armemische Flüchtlinge auf dem Tauruspass, Foto: Armin T. Wegner unten: Leichen in der Wüste, Foto: Armin T. Wegner Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Wegner, copyright: Wallstein-Verlag Einsicht 15 Frühjahr 2016 25 der Bagdadbahn reiste, um sich selbst »von dem Ausmaß der Verfol34 gungen zu überzeugen«. Anschließend kehrte er nach Berlin zurück, wo er sich einerseits von September bis in den Oktober hinein von den Folgen der Krankheit erholte, andererseits sich zugleich leider erfolglos bemühte, Ansprechpartner, Multiplikatoren für seine Nachrichten über die Massaker an den Armeniern zu finden. Nach der Auflösung der von Trützschler’schen Sanitätsmission im Sommer 1915 wechselte Wegner als Sanitäter in die neu aufgestellte 6. Osmanische Armee unter der Leitung von Feldmarschall Colmar von der Goltz, der von Bagdad aus die Front gegen die von Basra vorrückenden britischen Truppen organisieren sollte. Sowohl auf seiner Hinreise nach Bagdad im November 1915 wie auch auf seiner erneut durch eine schwere Erkrankung erzwungene Rückreise im Oktober 1916 wurde Wegner Zeuge der grausamen Deportationen von Armeniern. Insbesondere auf seiner Rückreise konnte er die Lager Maden, Tibini, Abu Herera und Rakka besichtigen und machte im Waisenhaus von Aleppo zudem die Bekanntschaft der Krankenschwestern Anna Jensen und Beatrice Rohner, einer Schwester der Evangelischen Hilfs-Mission für christliches Liebeswerk im Orient 35 und »Leiterin des bedeutendsten humanitären Widerstands gegen 36 den Völkermord in der Provinz Aleppo«. Mit ihrer Hilfe konnte er sich in den Flüchtlingslagern um Aleppo bewegen, ihre Sprachkenntnisse ermöglichten ihm, Aufzeichnungen von konkreten Schicksalen 37 der Deportierten zu machen. Aus den Flüchtlingslagern in Meskené und Aleppo schmuggelte Wegner, wie er selbst später berichtet, im Herbst 1916 einige Bittbriefe, die er der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel überbrachte. Seine Aufzeichnungen trug Wegner in ein »Kriegstagebuch«, das »Tagebuch 1915 und 1916« ein, wo sie neben Agenda-Noten und summarischen Tagesberichten stehen. Sie gingen später auszugsweise in das Kapitel »Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr. Aus dem Tagebuch« seines Reisebuchs über die Expedition mit der 6. Osmanischen Armee ein, Der Weg ohne 38 Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen. Erst nach dem Krieg war es Wegner möglich, sein erfahrungsbasiertes Wissen um den Völkermord an den Armeniern systematisch 39 zu erweitern. Als erstes Dokument seiner von nun an entschieden proarmenischen öffentlichen Äußerungen gilt der im Februar 1919 im Berliner Tageblatt mit dem Titel »Armenien« erschienene »offene Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen 40 Volkes in die Wüste«. Wegner zitierte bereits hier mehrfach aus den von Johannes Lepsius und Martin Niepage 1916 publizierten Büchern zum Völkermord und bediente sich zudem in Ernst Sommers Heft Die Wahrheit über die Leiden des armenischen Volkes in 41 der Wüste während des Weltkriegs. Er nutzte auch seine Stellung als Schriftleiter des Neuen Orient, um seinen eigenen, unter Lebensgefahr aus dem Land geschmuggelten Bestand an Bildern des Genozids zu erweitern. Seine umfangreichen Recherchen münden dann in den am 19. März 1919 im Vortragssaal der Berliner »Urania«Gesellschaft gehaltenen Vortrag »Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste«, zu welchem er neben eigenem auch fremdes fotografisches Material unterschiedlicher Provenienzen heranzog. Tatsächlich wählte Wegner das Illustrationsmaterial so aus, dass nicht nur seine eigenen Erfahrungen bildlich repräsentiert, sondern auch der fiktive Erzählfaden seines Vortrags, der Weg eines Deportationszugs vom Nordosten der Türkei in die Mesopotamische Wüste, mit historischen wie geographischen Aufnahmen anschaulich wurde. Zu dieser Literarisierung des Themas fügte sich, dass bereits seine erste größere Publikation zum Thema, »Der Weg ohne Heimkehr« (1919), die armenische Deportation durch die mythische Aufladung des landschaftlichen Raumes in eine menschheitsgeschichtliche Dimension rückt: »Mein Haupt ruht in Mossul, meine Füße rühren an die Trümmer von Babylon. Meine rechte Hand liegt auf den Dächern von Damaskus, und mit der linken greife ich in die Schneeberge 42 von Luristan. Durch mich rinnt eine unendliche Ader, der Tigris.« Im späteren Gedichtband Die Straße mit den tausend Zielen (1924) greift Wegner dieses Bild leicht variiert in der Zeile »Es schläft 34 DLA, NL Wegner, Brief Wegners an Azarian, 24.9.1975. Hier zit. nach: Tamcke, 35 36 37 38 26 Wegner, S. 87. Vgl. Tessa Hofmann, Gerayer Koutcharian, »›Images that horrify and indict‹. Pictorial Documents on the Persecutions and Exermination of Armenians from 1877 to 1922«, in: Armenien Review, Jg. 45 (1992), Nr. 1–2, S. 177–178 und 53–184; Hilmar Kaiser, At the Crossroad of Der Zor. Death, Survival and Humanitarian Resistance, Princeton 2001; Tamcke, Wegner, S. 118–131. Hans-Lukas Kieser: »Einleitung«, in: ders., Elmar Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. The Armenian Genocide, Turkey and Europa, Zürich 2006, S. 9; vgl. auch Kaiser, At the Crossroad of Der Zor. Vgl. Armin T. Wegner, Der Weg ohne Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen, Berlin 1919, S. 169; Transkriptionen einiger dieser Berichte im »Kriegstagebuch« Wegners finden sich bei Tamcke, Wegner, S. 131–148. Vorabdrucke einzelner Teile hieraus finden sich schon 1918, noch während des Krieges: »Der Weg ohne Heimkehr«, in: Der Höllenfahrer. Novellen schlesischer Dichter, Teil 2, hrsg. von Walter Meckauer, Konstanz 1918, S. 21–29. 43 mein Haupt im Berge Ararat« des Gedichts »Der Riese Landschaft« auf. Nahezu zeitgleich mit der Arbeit am »Urania«-Vortrag entstehen kleinere epische Miniaturen, welche Bilder, wie sie etwa während des Vortrags gezeigt wurden, zum erzählerischen Ausgangspunkt nehmen. So geraten etwa die schon im »Tagebuch 1915 und 1916« beschriebenen öffentlichen Hinrichtungen zum literarischen Motiv und spielen auch in der Erzählung »Der Erhängte« in Im Hause 44 der Glückseligkeit eine wichtige Rolle. Dieses Motiv findet sich wenig später auch in der Erzählung »Der Bankier«, die 1921 in der Sammlung der Türkischen Novellen erschien. Hierzu gehörten außerdem die Texte »Der Knabe Hüssein«, »Osman« und »Der Sturm auf das Frauenbad«. Während Wegner in seiner Novelle »Der Bankier« den Völkermord nicht unmittelbar thematisierte, sondern das Klima des im Kriege wachsenden Misstrauens zwischen den Volksgruppen schilderte, in welchem auch die armenischen politischen Komitees, die Daschnaks, auf eine Befreiung durch die russischen Truppen hofften, ging er in der Erzählung »Der Sturm auf das 45 Frauenbad« das Thema direkt an und griff ein bereits von Johannes Lepsius in seiner Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte über die Pogrome von 1895/96 erwähntes Ereignis in Cäsarea am 46 30. November 1895 auf. In Wegners Erzählung rettet hier ein türkischer Offizier namens Lutfi die junge Armenierin Sirpuhi vor dem plündernden Mob seiner Landsleute und lässt beide am Ende einer idyllisch verklärten Flucht zueinanderfinden. Diese Erzählungen müssen zugleich als erste Hinweise auf ein größeres Romanprojekt verstanden werden, das Wegner wohl spätestens ab dieser Zeit, ab Beginn der 1920er Jahre unter dem Titel »Die Austreibung« plante. So begegnet die Figur des Lutfi als Lutfi Omer (gelegentlich auch Oemer geschrieben) in einem in diesem Kontext entworfenen zweiten Band, wo sie zu den Häuptern einer multi-ethnischen Verschwörungsgruppe gegen Abdul Hamid II. gehört, die als utopische Romanfiktion an die bis 1914 tatsächlich noch politisch kooperierenden armenischen wie türkischen Komitees, den armenischen Daschnak-Bund und die jungtürkischen CUP, erinnert. Wie sehr das Projekt bereits 1922 an Stoff wie thematischem Umfang zugenommen, Wegner die spezifisch armenische Frage zur Frage von Nationenbildung und staatlicher Souveränität abstrahiert und auf Deutschland übertragen, ja sukzessive zur menschheitsgeschichtlichen Problematik überhöht hatte, dokumentiert eine größere Stichwortskizze ,»Deutschland als Kulturland für die armenische 47 Frage«, mit dem Datum »1922« . Neben Stichworten wie »Gerhard [!] Hauptmanns Bedeutung für das armenische Volk« interessierten Wegner zu diesem Zeitpunkt Fragestellungen wie die Stellung Deutschlands zu Kemalisten; die armenische Dichtung in Deutschland; Armenien und die deutsche Wissenschaft; Armenien 48 als Transitland für deutsche Ausfuhr; die Gestalt Kemal Paschas. Auch notierte Wegner schlicht Namen von Autoren, die er wohl 49 lesen wollte, wie etwa »Liman von Sanders (Das Buch)« oder »Leh50 mann Haupt«. Umfangreiche Lektürelisten wie »Bücher für die 51 Geschichtsdeutung meines Romans« oder »Liste der Bücher für 52 Roman (unterstes Brett von rechts angefangen bis Anatolien)« verzeichnen Titel, die ihm später dann sein Stiefsohn Andreas entweder aus der Staatsbibliothek in die Berliner Wohnung bringen musste oder von der Berliner Wohnung zu seinem Zeltarbeitsplatz im Wald am kleinen Sacrower See zwischen Groß-Glienicke und Potsdam. Noch deutlicher wird sein Bestreben, das Schicksal des armenischen Volkes in eine menschheitsgeschichtlich exemplarische Dimension rücken zu wollen, in seinem 1924 erschienenen Gedichtband Die Straße mit den tausend Zielen, in welchem sich das in »Meskene am Euphrat, Oktober 1916, im Angesicht der armenischen Deportation« entstandene Gedicht »Die Austreibung der Menschheit« findet. »Auf einem Totenhügel saß ich da, Am Rand der Wüste, wo der Fluß sich träumte Durch greise Ebenen. Und es geschah, Daß vom Gebirg ein Strom von Menschen schäumte. […] Und in der Wolken aufgeblühtem Strauß Erkannte ich, voll Fluch und Schuldbeschwerde, Durch der Jahrtausende gewölbtes Haus 53 Der Menschheit Zug von Anbeginn der Erde.« 43 Armin T. Wegner, »Der Riese Landschaft«, in ders., Die Straße mit den tausend Zielen, Dresden 1924, S. 29. 39 So bietet etwa Wegners Exemplar des von ihm intensiv gelesenen Berichts über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei (Potsdam 1916) von Johannes Lepsius den Besitzervermerk: »Armin T. Wegner [/] Berlin [/] Jan. 1919«; sein Handexemplar befindet sich heute mit seiner gesamten Bibliothek im WegnerArchiv der Stadtbücherei Wuppertal (Sign.: 88/5189). 40 Vgl. Armin T. Wegner, »Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten«, in: Die Frau der Gegenwart, XI. [= N. F. Vl] (1919), Nr. 2. S. 11–14; auch: ders., »Armenien. Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste«, in: Berliner Tageblatt, 23.2.1919 u.ö. 41 Frankfurt am Main 1919; Wegners Handexemplar im Wegner-Archiv der Stadtbücherei Wuppertal (Sign.: 88/5184) weist Spuren intensiver Lektüre auf. 42 Hier zit. nach: Armin T. Wegner, »Weg ohne Heimkehr«, in ders., Das Zelt, Berlin 1926, S. 113. Einsicht 44 Armin T. Wegner, Im Hause der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei, Dresden 1920; in Auszügen auch in: Wegner, Zelt, hiernach im Folgenden zitiert. 45 Armin T. Wegner, »Der Sturm auf das Frauenbad. Novelle«, in Fortsetzungen in: Berli- ner Tageblatt. September bis Oktober 1921; im gleichen Jahr aufgenommen in: ders., Der Knabe Hüssein. Türkische Novellen, Dresden 1921, auch in: Armin T. Wegner, Am Kreuzweg der Welten. Lyrik, Prosa, Briefe, Autobiographisches, hrsg. von Ruth Greuner, Berlin 1982, S. 176–189, hiernach im Folgenden zitiert. 46 Vgl. Johannes Lepsius, Armenien und Europa. Eine Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin 1896, S. 29: »Der Pöbel von Cäsarea, der 30 Häuser von Armeniern mit ihren Insassen verbrannte, nahm auch teil an dem saubern Geschäft, das Frauenbad der Stadt zur Stunde des Bades zu stürmen.« Und später auf S. 239: »Die Bäder werden erstürmt, Frauen und Kinder misshandelt, nackt auf die Straße gejagt, umgebracht und verstümmelt.« Einsicht 15 Frühjahr 2016 DLA, B 78. 1. 295. Ebd. Otto Liman von Sanders, Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920. C. F. Lehmann-Haupt, Armenien einst und jetzt, 3 Bde., Berlin 1910, 1926 und 1931. 51 DLA, B 78. 1. 295. 52 Ebd. 53 Armin T. Wegner, »Die Austreibung der Menschheit«, in: ders., Die Strasse mit den tausend Zielen, Dresden 1924, S. 82–84. 47 48 49 50 27 Während Werfel aber in einer intensiven Schreibphase zwischen Juli 54 1932 und März 1933 seinen geplanten Roman vorantrieb, ihn klug um ein im Zentrum des Geschehens platziertes Gespräch zwischen Johannes Lepsius, dem Gründer des Armenischen Hilfswerks sowie der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, und Enver Pascha, dem Oberbefehlshaber der Armeen des Osmanischen Reiches aufbaute, rang Wegner mit den ungeheuren Stoffmassen, die sich im Laufe seiner langjährigen, wenngleich immer wieder unterbrochenen Arbeit an seinem Roman Die Austreibung angehäuft hatten. So muss die Ankündigung eines Armenier-Romans von Franz Werfel und mehr noch dessen Lesereise im November 1932 bei Wegner eine gewisse Bestürzung ausgelöst haben. Am 19. Dezember 1932 schreibt er aus Charlottenburg an seine Geliebte und spätere zweite Frau Irene Kowaliska, dass ihn »schwere Sorge […] erfüllt und gelähmt hat. Es ist der schwerste Schicksalsschlag, der mich in diesem 55 Augenblick treffen konnte.« Wegner versuchte umgehend, seinen Namen wieder in Zusammenhang mit dem Schicksal des armenischen Volkes zu bringen, und reichte beim Berliner Tageblatt seine kleine Erzählung »Der Knabe Atam« ein, die auch am Sonntag, den 25. Dezember 1932 gedruckt wurde. Gleichzeitig nahm er mit Franz Werfel Kontakt auf und muss ihn in einem leider nicht überlieferten Brief von vermutlich Mitte Dezember 1932 auf sein literarisches Projekt und die ihn dazu legitimierende Augenzeugenschaft hingewiesen habe. Werfels Antwort hierauf datiert vom 23. Dezember und ist gelassen, beinahe jovial dem älteren Kollegen gegenüber: »Recht besehen besitzen Sie in Ihrem großen Erlebnis und Ihrer schicksalhaften Verbundenheit einen ungeheuren Vorteil mir gegenüber, der nicht aus Erfahrung, Lebensdetail, Sinneswissen sein Werk schaffen kann, sondern nur aus Phantasie, Erfindungskraft und aus einigen geschichtlichen Dokumenten. Bei einem derartigen Wettbewerb müßte demnach die Unruhe weit mehr auf meiner Seite sein. Ich glaube aber, lieber Wegner, daß wir beide sehr ruhig sein können, denn unsere Werke werden sicherlich ganz und gar verschieden sein. Das meine benutzt von den dokumentierten Tatsachen nur eine einzige Episode, die in der Aktensammlung von Lepsius einige wenige Seiten umfaßt. Diese Episode dient mir zum weiten Rahmen für ein allgemein menschliches Geschehen, für symbolhafte Entwicklung, für die Geschichte rein erfundener Gestalten, sie ist 56 nicht Selbstzweck, sondern nur Anlaß.« Werfel, der hier wohl auf die von ihm literarisch gestaltete und historisch dokumentierte Begegnung zwischen Lepsius und Enver Pascha im Jahre 1915 anspielt, jene Episode, die er wohl auch bei seinen Lesungen öffentlich vortrug, scheint Wegner jedoch keineswegs beruhigt zu haben. Man kann annehmen, dass eine eingerückte Notiz im Berliner Tageblatt vom 30. Dezember 1932 von Wegner veranlasst worden war, in welcher neben der Ankündigung einer Lesung Werfels in der Akademie auch auf Wegners, hier zum ersten Mal öffentlich beim Titel genannten »drei- oder vierbändigen« 57 Roman »Die Austreibung« hingewiesen wird. Ein weiteres Mal muss sich Wegner im Januar an Werfel gewandt haben, doch ein 58 kurzes Billet von Alma Mahler-Werfel an ihn vom 12. Januar 1933 beendet diese Korrespondenz. Tatsächlich kann Wegners Erzählung »Der Knabe Atam« als Keimzelle des ersten Bandes seines großen epischen Mehrteilers gelten, wie er heute im Wegner-Nachlass des Deutschen Literaturarchivs in Marbach vorliegt. Er beginnt mit der Geschichte Atam Akinians, der nach dem Armenier-Pogrom von 1896/97 als einziger Überlebender seiner Familie in Karputh in das Haus Konstantin Worperians aufgenommen wird, einer literarischen Figur, die derjenigen Gabriel Baghradians in Werfels Musa Dagh nicht unähnlich ist und über welche es im bislang unveröffentlichten Romanmanuskript heißt: »Konstantin Worperian hatte vor dreißig Jahren Vorlesungen in Edinburgh über Philosophie und Geschichte gehört und gemeinsam mit einer Russin den Preis für die Lösung einer wissenschaftlichen Aufgabe erhalten. Diese Russin wurde später seine Frau. Fast zehn Jahre hatten beide in England zugebracht, Worperian hatte sogar die englische Staatsangehörigkeit erworben und drückte sich noch jetzt mit Vorliebe in englischer Sprache aus. Seine Kleidung, von ausgeprägt europäischem und vornehmem Geschmack, erhöhte das Aussehen seiner schlanken männlichen Gestalt, dabei vermochte niemand hinter die unbeweglichen Züge seines schönen regelmäßigen Gesichts zu sehen. Seine vier erwachsenen Kinder hatte er nach englischem Muster erzogen; aber weit mehr als diese Erziehung, die vor allem in kalten Abreibungen und im Lesen Dickensscher Romane bestand, erregte das Erscheinen einer Badewanne unter den Einwohnern Meserehs Aufsehen, die er nach Kharput kommen ließ, sowie der vergeb59 liche Versuch, in seiner Wohnung ein Wasserklosett einzurichten.« Der große Armenien-Roman, zu dem die ersten Vorstufen bereits im »Kriegstagebuch 1916« nachweisbar sind und auf den 1919 auch Glossen in Wegners Arbeitsexemplar von Johannes Lepsius’ Bericht 60 über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei hinweisen, sollte aber nicht vollendet werden. Lola Landau fuhr Mitte Januar 1933 einige Tage mit ihrer Mutter nach Ober-Schreiberhau ins Riesengebirge. Wegner blieb in Berlin und schrieb ihr am 22. Januar 1933: »Ich arbeite jetzt angestrengt an meinem Roman [»Die Austreibung«]; aber leider geht es nur sehr langsam vorwärts. Es fehlt mir nicht an Gestaltungskraft, im Gegenteil eine Fülle von Ideen drängt sich mir in unaufhaltsamem Strom auf, beglückende und fruchtbare Gedanken; aber ich arbeite zersplittert, kann mich nur schwer beschränken und zusammenhalten und wie in der Schule irren meine Gedanken immerzu ab. Ich wünschte, ich könnte auf dem Lande sein, wo es mir 61 immer besser gelingt, nur bei einer Sache tatkräftig zu bleiben.« Tatsächlich dokumentiert Wegners Tagebuch aus dem Jahre 1933 diese schockartig gesteigerte Betriebsamkeit. Findet sich noch unter dem 8. Januar eine lange Namensliste von Kritikern, denen er sein Reisebuch Jagd durch das tausendjährige Land zukommen lassen wollte, so beginnt der 9. Januar mit dem schlichten Eintrag »Die 40 62 Tage des Musa Dagh« – und von da an dominieren im Tagebuch Exzerpte, Entwürfe und Materialsammlungen, die mitunter täglich unter der Überschrift »Für Austreibung« zu finden sind. Diese letzte Arbeitsphase, die im Sommer im Sacrower Wald in seinem »Zeltschloss Krähenorgel« fortgesetzt wird, endete abrupt am 11. August 1933. Nachdem bereits im Mai seine Werke bei den Bücherverbren63 nungen den Flammen zum Opfer gefallen waren, wurde er an diesem Tag durch die Gestapo verhaftet. Nach einer Odyssee durch diverse Gefängnisse und frühe Konzentrationslager wie Oranienburg, Börgermoor und Lichtenburg, nach Folter und seiner Haftentlassung 1934, stürmten gleich mehrere Projekte gedanklich auf ihn ein, die das Armenienbuch für lange Zeit in den Hintergrund drängten. Nun wollte Wegner seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern in einem Roman mit dem Titel »Die Peitsche« und den Aufstieg des Nationalsozialismus in seinem Erzählprojekt Die Mühle Gottes weitgehend parallel gestalten. »Die Austreibung« blieb schließlich dauerhaft Fragment – während Werfels Roman weltberühmt wurde. 61 DLA, Nachlass Wegner, Wegner an Lola Landau, 22.1.1932. Ich danke Thomas 63 So findet sich sein Name unter den Autoren, die in der Abteilung »Schöne Litera- Hartwig für diesen Hinweis! 62 DLA, Nachlass Wegner, Tagebuch 1933. 70 Jahre nach dem Holocaust ist in Deutschland der Rechtspopulismus laut und deutlich geworden: Sichtbar bei den Pegida-Demonstrationen, hörbar in öffentlichen Debatten und politisch in Verbindungen zu neuen Parteien wie AfD und Alfa. Er hetzt gegen Juden, Muslime und Flüchtlinge, verachtet Politik und Medien, propagiert einen Nationalismus, der zur Abschottung führt, und sehnt sich nach Autorität sowie einer homogenen »Gemeinschaft«. Dietmar Molthagen / Ralf Melzer (Hg.) Andreas Zick / Beate Küpper Wut, Verachtung, Abwertung Rechtspopulismus in Deutschland genausgabe). (Hrsg.), Franz Werfel. An austrian writer reassessed, New York u.a. 1989, S. 175–191. 55 DLA, Nachlass Wegner, Wegner an Irene Kowaliska, 19.12. 1932. 56 DLA, Nachlass Wegner, Werfel an Wegner, 23.12.1932. 58 DLA, Nachlass Wegner. 59 DLA, Nachlass Wegner. 60 Vgl. Arbeitsexemplar in der Bibliothek ATWs, Stadtbibliothek Wuppertal; hier 28 Einsicht 2. Auflage im April Der Sammelband analysiert die unterschiedlichen Erscheinungsformen des neuen Rechtspopulismus sowie die Einstellungen in der Bevölkerung, die ihn begünstigen. Mit weiteren Beiträgen von Frank Decker, Alexander Häusler, Gideon Botsch, Christoph Kopke, Andreas Hövermann u.a. 57 »Franz Werfel und Armin T. Wegner«, in: Berliner Tageblatt, 30.12.1932 (Mor54 Peter Stephan Jungk, »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, in: Lothar Huber tur« auf jener berüchtigten Schwarzen Liste erscheinen, die der Bibliothekar Wolfgang Hermann am 2. Mai 1933 dem Deutschen Studentenbund vorlegt. 224 Seiten | 16,90 Euro ISBN 978-3-8012-0478-5 www.dietz-verlag.de sind etwa »Atam« und »Karput« als Glossen am Rand zu finden. Einsicht 15 Frühjahr 2016 29 Völkermord Kurze Geschichte eines unglücklichen Begriffs von Rainer Huhle Dr. Rainer Huhle, Politikwissenschaftler in Nürnberg mit den Arbeitsschwerpunkten Menschenrechte, Erinnerungspolitik und Lateinamerika; Vorstandsmitglied des Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V., stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Menschenrechte; Mitglied des UN-Ausschusses gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen; 1982–2007 tätig in der Jugend- und Erwachsenenbildung bei der Stadt Nürnberg; 1986–1989 im Entwicklungsdienst der EKD im Bereich der Menschenrechtsarbeit in Südamerika; 1997–1999 als Experte im Kolumbienbüro des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Zahlreiche Publikationen zu Menschenrechtsfragen, zu Erinnerungskultur und zu Politik und Kultur Lateinamerikas. Zuletzt: Nürnberger Menschrechtszentrum (Hrsg.): Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2015. 30 Grundlegende Rechtsbegriffe haben für gewöhnlich eine lange Entstehungsgeschichte. Sie sind das Ergebnis vieler politischer Polemiken, langer akademischer Diskurse und zäher juristischer Debatten, ehe sie schließlich breite Anerkennung finden. Mit einer gewichtigen Ausnahme: Der Begriff genocide (deutsch als »Völkermord«1 bezeichnet) ging auf den Vorschlag eines einzigen Juristen zurück und benötigte nicht mehr als vier Jahre, um einer eigenen Konvention den Namen zu geben. In den mehr als siebzig Jahren seit seiner Erfindung hat er sich wachsender Popularität erfreut, und im jungen 21. Jahrhundert gibt es jedes Jahr neue Kampagnen um die »Anerkennung« bestimmter Verbrechen als Genozid. Nach seiner Rückkehr vom Nordatlantik, wo er sich mit Präsident Roosevelt getroffen und die Atlantik-Charta unterzeichnet hatte, berichtete Winston Churchill im August 1941 in der BBC von dieser Begegnung. In einer Passage schilderte er in heftigen Worten – »barbaric fury», »most brutal exhibitions of ruthlessness« etc. – die damals bekannten Nazigräuel gegen die europäischen Völker. Seit den Invasionen der Mongolen habe es keine vergleichbaren Verbrechen in Europa gegeben. »Wir haben es mit einem Verbrechen ohne Namen zu tun«, schließt er diese Passage seiner Ansprache.2 1 2 Fritz Bauer fand genocide »mehr oder minder gut mit ›VöIkermord‹ ins Deutsche übertragen« (Fritz Bauer, »Kriminologie des Völkermords«, in: Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Kolloquium mit Peter Schneider u.a., hrsg. von Peter Schneider und Hermann J. Meyer, Mainz 1968, S. 22 ff.) Im Nürnberger Prozess und dem Schrifttum der 1940er und 1950er Jahre finden sich verschiedenste Eindeutschungen dieses Neologismus. Ich folge in diesem Aufsatz Fritz Bauers Meinung und verwende »Genozid« oder genocide statt »Völkermord«, außer in wörtlichen Zitaten. »Atlantic Charter, August 24, 1941, Broadcast, London«, in: Robert Rhodes James (Hrsg.), Winston S. Churchill, His Complete Speeches 1897–1963, Vol. 6, S. 6474, New York, London 1974. Einsicht Zwei Jahre später beginnt im amerikanischen Exil der jüdischpolnische Jurist Raphael (Rafał) Lemkin (1900–1959) sein Buch Axis Rule in Occupied Europe3 zu schreiben. Land für Land dokumentiert er dort die zerstörerischen Folgen der deutschen Besatzung. Vorangestellt sind Kapitel mit Analysen über die juristischen und administrativen Techniken der Deutschen für die Unterwerfung der eroberten Nationen. Das letzte dieser Eingangskapitel ist mit »Genocide« überschrieben und beginnt mit dem Satz: »Neue Konzepte brauchen neue Begriffe. Mit ›genocide‹ meinen wir die Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe.« Wie Lemkin gleich im ersten Absatz betont, wurde der Begriff genocide von ihm eingeführt, um diese Praktiken zu beschreiben. Der von Lemkin geschaffene Gründungsmythos des Genozidkonzepts liegt in der Verknüpfung dieser beiden Elemente, die freilich nichts miteinander zu tun haben. Churchill wollte nicht mehr sagen, als dass es einem bei der Betrachtung der Naziverbrechen die Sprache verschlägt. Und Lemkin nimmt in seinem Buch 1944 keinerlei Bezug auf Churchill. Erst 1946 interpretierte er Churchills Satz als Aufforderung, seinen Begriff des genocide zu prägen.4 Zum Gründungsmythos gehört weiter die Behauptung, beide Autoren hätten bei der Forderung nach einem neuen Begriff die Vernichtung der Juden im Auge gehabt. Doch in Churchills Rede werden fast alle europäischen Völker genannt, nicht jedoch die Juden. Aber auch in Lemkins Buch ist von den Juden nur als einer von zahlreichen nationalen oder ethnischen Gruppen die Rede. »Die Technik der Massentötung wird vor allem gegen Polen, Russen und Juden angewandt«, schreibt er.5 Lemkin hatte fast seine gesamte Familie durch die NS-Mörder verloren und war selbst nur knapp in einer Odyssee um die halbe Welt über Schweden, die Sowjetunion und Japan in die USA entkommen. Seinen Schriften ist davon nichts anzumerken, streng und sachlich versuchte er, einen allgemeinen Begriff für das zu formulieren, was er als neue, besondere Qualität an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, bald aber auch in der Menschheitsgeschichte überhaupt zu erkennen glaubte. Wie auch Hersch Lauterpacht, allerdings mit ganz anderer juristischer Perspektive, blendete Lemkin konsequent jeden Bezug zu seiner persönlichen Leidensgeschichte als Jude aus seinen rechtstheoretischen Überlegungen aus. Nicht als Jude, als Jurist wollte er argumentieren, seine Begrifflichkeit sollte universell sein, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen. So stellte er die Vernichtung der Juden konsequent in die Reihe anderer »Genozide«, seien sie von den Nazis begangen worden oder auch in früheren Epochen. 3 4 5 Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, Washington 1944. Raphael Lemkin, »Genocide«, in: The American Scholar, Vol. 15, No. 2 (April 1946), S. 227–230. Ebd., S. 88. Einsicht 15 Frühjahr 2016 Lemkin selbst wies darauf hin, dass ihn als jungen Mann der Genozid an den Armeniern entscheidend geprägt habe.6 Das Völkerrecht sah er, zweifellos zu Recht, als schlecht gerüstet für die Verfolgung solcher Verbrechen, die auf die Zerstörung ganzer Völker zielten. Lange vor den Verbrechen der Nazis machte er es sich daher zur Aufgabe, ein allgemeines völkerrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung solcher Verbrechen zu schaffen. Dazu bedurfte es nach Lemkins Ansicht zweierlei: eines adäquaten Begriffs und eines völkerrechtlichen Regelwerks zur Durchsetzung des Verbots. Der neue Begriff: Genocide Schon 1933 hatte Lemkin auf einer internationalen Strafrechtskonferenz in Madrid im Rahmen des Völkerbunds zwei neue Begriffe zur Einfügung in die nationalen Strafgesetzbücher der Mitgliedstaaten des Bundes vorgeschlagen: den Straftatbestand der »Barbarei« für die »Ausrottung ethnischer, nationaler, konfessioneller, sozialer Menschheitsgruppen« und den des »Vandalismus« für die Zerstörung von Kulturgütern, um damit die »geistige Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft« einer solchen Gruppe zu zerstören.7 Diese frühere Begrifflichkeit referierte er im Buch 1944 selbst, als er sich für den Begriff genocide entschied, den er fortan durchzusetzen suchte. Lemkin war polyglott und vielleicht deshalb geradezu besessen von der Bedeutung von Wörtern.8 Dass die mit seinem Begriff genocide bezeichneten Verbrechen bisher »ohne Namen« gewesen seien, begründete er nie. Denn Begriffe, die die Massentötung von Bevölkerungen auch mit Lemkins Kriterien beschrieben, gab es. Im englischen Sprachbereich war dies seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem der Begriff der »atrocities« oder »atrocity crimes«. Die Massaker der Türken in Bulgarien um 1876 wurden im Westen weithin als »Bulgarian Atrocities«9 bzw. »Turkish Atrocities« bezeichnet. Sein einflussreiches Buch über den Genozid an den Armeniern betitelte Arnold Toynbee 1915 »Armenian Atrocities«.10 Der Teil des Moskauer Abkommens der Alliierten von 1943, in dem sie den NS-Tätern Strafe ankündigten, ist »Statement on Atrocities« Raphael Lemkin, Totally Unofficial: The Autobiography of Raphael Lemkin, hrsg. v. Donna-Lee Frieze, New Haven 2013, S. 19 f. 7 Raphael Lemkin, »Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium«, in: Internationales Anwaltsblatt (Wien), Jg. 6 (1933), Nr. 12, S. 117–119. 8 Der Plan für sein nie geschriebenes Buch über Genozid sah insgesamt 14 Kapitel über die Entstehung von neuen Wörtern und die Bedeutung dieser Prozesse vor; siehe Lemkin on Genocide, hrsg. v. Steven L. Jacobs, Lanham 2012, S. 20–26. 9 So z.B. in Lord Gladstones berühmter Streitschrift Lessons in Massacre, London 1877. 10 Arnold Toynbee, Armenian Atrocities, the Murder of a Nation, London u.a. 1915; die dt. Ausg. (Lausanne 1916) hat den Titel Die Gewalttätigkeiten in Armenien. Der Mord eines Volkes, lange bevor aus Lemkins »genocide« das deutsche »Völkermord« wurde. 6 31 überschrieben, dementsprechend wird der Begriff auch in den Nürnberger Prozessen und im Tokyo-Prozess ausgiebig gebraucht, ist im Kontrollratsgesetz Nr. 10 enthalten und bis heute als Bezeichnung für Massenverbrechen an Zivilbevölkerungen in nationalen und internationalen Gerichten gängig, wenn auch nicht in deren Statuten. Anders der Begriff der Crimes against Humanity, der eines der drei in Nürnberg angeklagten Verbrechen war und sich auch heute in den Statuten aller internationalen Strafgerichtshöfe findet. Crimes against Humanity war ebenfalls schon zur Beschreibung der Verbrechen an den Armeniern gebraucht worden, gelegentlich auch für andere Verbrechen während des Ersten Weltkriegs. Die Bühne großer Rechtsbegriffe betrat er aber erst mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (IMT). Dort ergänzte er die Tatbestände des Verbrechens gegen den Frieden und der Kriegsverbrechen, um »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen« als internationales Verbrechen anklagen zu können. Dieser Begriff umfasst, vor allem in seiner heutigen weiter ausgebauten Fassung etwa im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), auch die Verbrechen, die Lemkin als Akte des genocide verstand. Gelegentlich sprach man im IMT auch von genocide, ohne ihn aber von Crimes against Humanity zu unterscheiden.11 Genocide gelangte immerhin in die Nürnberger Anklage, seltsamerweise unter dem Punkt Kriegsverbrechen. Doch im Urteil des Gerichts kam der Begriff nicht vor, und so beschrieb Lemkin den Tag der Urteilsverkündung als den schwärzesten seines Lebens.12 Fortan wollte er nichts mehr von »Nürnberg« wissen und konzentrierte sich darauf, innerhalb des UN-Systems eine Konvention gegen den genocide zu erreichen. Lemkins Argumente gegen die Nürnberger Rechtsprechung und für die Notwendigkeit einer eigenen GenozidKonvention waren: › Das Nürnberger Tribunal habe kein zukunftsweisendes Konzept entwickelt, es sei ein Urteil nur gegen Hitler, aber »nichts gegen die künftigen Hitlers«.13 Aus Nürnberg sei kein internationaler Strafgerichtshof erwachsen. Einen solchen Strafgerichtshof sah dann die Genozid-Konvention zwar als eine Möglichkeit vor, er wurde jedoch nie eingerichtet. › Die Koppelung des Tatbestands Crimes against Humanity an die Kriegsvorbereitung bzw. den Krieg, die im Statut des IMT angelegt war und dann von den Richtern im Urteil sehr eng ausgelegt wurde. Auch die Formulierung der »Nürnberger Prinzipien« durch die UNO 194614 und ausführlicher 1950 durch die Völkerrechtskommission hielt diese eingeschränkte Anwendbarkeit des Tatbestands Crimes against Humanity auf Verbrechen im Zusammenhang mit Kriegen aufrecht. Andererseits war diese Koppelung schon früh, etwa im Kontrollratsgesetz Nr. 10, dem ersten Strafgesetzbuch im Nachkriegsdeutschland, und in einigen der Nürnberger Nachfolgeprozesse aufgelöst worden. Nicht nur Lemkin, auch viele andere zeitgenössische Juristen, darunter die französischen Richter und Ankläger von Nürnberg, kritisierten sie. Ab 1954 emanzipierte sich der Begriff der Crimes against Humanity von der Koppelung an den Krieg und umfasste alle politischen Großverbrechen gegen Zivilpersonen.15 Dies war der Weg, für den die »Nürnberger« Juristen und zahlreiche zeitgenössische Völkerrechtler plädiert hatten. › Im IMT habe man keine qualitative Unterscheidung zwischen den verschiedenen Opfergruppen der Nazis getroffen. Diese Kritik führt unmittelbar in die mit dem Genozid-Konzept verbundene problematische Hervorhebung besonders schützenswerter Gruppen. › Bei genocide gehe es nicht nur um Mord, sondern auch um andere Methoden der Zerstörung einer Gruppe wie zum Beispiel durch Sterilisierung.16 Das IMT hatte allerdings solche Verbrechen der indirekten Methoden der Zerstörung von Gruppen durchaus im Blick. Selbst die Frage der Sterilisierung wurde immer wieder aufgegriffen, überwiegend im Kontext der Menschenversuche durch die NS-Mediziner, aber auch als Instrument der »Erhaltung der Rassereinheit«. rechts: Raphael Lemkin 1948 Foto: creative commons/public domain unten: Unterzeichnung der UN-Genocide-Konvention (Lemkin steht hinten rechts). Das »Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« ist eines der ältesten Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen. Sie wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Foto: creative commons/public domain Konkurrierende Modelle des Menschenrechtsschutzes Lemkins enttäuschte Abwendung von der Nürnberger Rechtsprechung und seine Konzentration auf eine Konvention gegen den Genozid trugen dazu bei, dass der ursprünglich in der jungen UNO anvisierte Dreiklang von einer Deklaration von Menschenrechten, ihrer Verfestigung in Verträgen und eines Systems zu ihrer Durchsetzung17 11 Vgl. John Barrett, »Raphael Lemkin and ›Genocide‹ at Nuremberg, 1945–1946«, in: Christoph Safferling, Eberhard Conze (Hrsg.), The Genocide Convention Sixty Years after its Adoption, The Hague 2010, S. 35–54; Rainer Huhle, »›Recht ist ein lebendiges, wachsendes Wesen.‹ Zur Schlussrede des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross«, in: Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert, hrsg. von Rainer Huhle im Auftrag des Nürnberger Menschenrechtszentrums, Hamburg 2015, S. 329–366, hier S. 348–353. 12 William Korey, An Epitaph for Raphael Lemkin, New York 2001, S. 25. 13 Lemkin, Totally Unofficial, S. 118. 32 14 UN-Resolution 95 (1) vom 11.12.1946. 15 Siehe Rainer Huhle, Vom schwierigen Umgang mit »Verbrechen gegen die Menschheit« in Nürnberg und danach, auf: http://www.menschenrechte.org/lang/ de/verstehen/verbrechen-gegen-die-menschheit [20.1.2016]. 16 Raphael Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law«, in: The American Journal of International Law, Vol. 41, No. 1 (Jan. 1947), S. 145–151, hier S. 147. 17 UN-Resolution 217 (III) »International Bill of Human Rights« v. 10.12.1948, Einsicht Einsicht 15 Frühjahr 2016 33 schon bald in seine Bestandteile zerfiel. Nachdem die völkerrechtliche Ächtung des genocide in seinen Augen in Nürnberg gescheitert war, machte er sich sofort daran, dieses Ziel nun nicht mehr mittels der Durchsetzung einer internationalen Strafrechtsnorm, sondern durch einen – freiwilligen – völkerrechtlichen Vertrag zu verfolgen. Die Weiterentwicklung der »Nürnberger Prinzipien« sah er dabei ebenso wie die Arbeit an einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als störende konkurrierende Projekte. So entwickelten sich innerhalb der UNO drei parallele Stränge des internationalen Menschenrechtsschutzsystems, die nebeneinander herliefen und sich bisweilen mehr behinderten als ergänzten. Erst ein halbes Jahrhundert später entwickelten sich wieder Berührungspunkte. Die »Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« Am 11. Dezember 1946, also wenige Wochen nach dem Ende des IMT, hatte Lemkins energische Lobbyarbeit bereits einen ersten großen Erfolg zu verzeichnen. Die erste UN-Generalversammlung verabschiedete eine Resolution, in der es unter anderem hieß: »Die Generalversammlung bekräftige daher, dass Genozid ein Verbrechen gemäß Völkerrecht ist, das die zivilisierte Welt verurteilt und für dessen Begehung Haupttäter und Komplizen zu bestrafen sind – unabhängig davon, ob sie Privatpersonen, öffentliche Bedienstete oder Staatsmänner sind, und ob das Verbrechen aus religiösen, rassischen, politischen oder anderen Gründen begangen wird.«18 Gleichzeitig rief die Generalversammlung den Wirtschafts- und Sozialrat auf, eine entsprechende Konvention auszuarbeiten. Allerdings verfuhr die Generalversammlung zweigleisig, denn in der gleichen Sitzung hatte sie zuvor auch die Rechtsgrundlagen des IMT als »Nürnberger Prinzipien« des Völkerrechts bekräftigt.19 Welche Gruppen sind schützenswert? Gruppen ein. Und in seiner Präambel nahm dieser Entwurf ausdrücklich Bezug auf das IMT, das »unter einer anderen juristischen Bezeichnung«21 die von der Konvention gemeinten Taten bestraft habe. Die Verbindungslinien zwischen Nürnberg und der Konvention waren also noch nicht ganz zerschnitten. Die Resolution von 1946 feierte Lemkin noch als großen Erfolg seiner Bemühungen und formulierte keinen Einwand gegen die Definition der zu schützenden Gruppen.22 1948 dagegen sprach er sich als beigezogener Experte gegen die Einbeziehung politischer Gruppen aus, unter anderem mit dem Argument, sie seien keine beständigen Gruppen und hätten andere Charakteristika. Der zweite der drei herangezogenen Experten, der französische Völkerrechtler und ehemalige Richter des IMT, Donnedieu de Vabres, vertrat die gegenteilige Meinung: Alle Gruppen seien schützenswert, und wenn man einige ausnehme, sähe das wie eine Rechtfertigung des Mords an solchen Gruppen aus.23 Auch unter den Staaten war die Frage höchst umstritten. Abstimmungen ergaben wechselnde Mehrheiten, am Ende aber blieben die politischen Gruppen aus der Definition der Konvention ausgeschlossen: Nach Art. II »bedeutet Völkermord eine [Handlung], die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Was der Unterschied zwischen einer ethnischen und einer rassischen Gruppe sei, war vielen auch damals nicht klar. Im Ganzen aber entsprach diese Formulierung Lemkins Vorstellungen, die er zwar oft unscharf formulierte, die aber immer um die Begriffe »national«, »rassisch« und »religiös« kreisten. Für diese positive Diskriminierung nationaler, »rassischer« bzw. ethnischer und religiöser Gruppen als besonders schützenswerten hat Lemkin eine Reihe von Argumenten angeführt, die vor allem aus dem Arsenal einer Geschichtsphilosophie im Sinne Johann Gottfried Herders und von Anthropologen wie James George Fraser und Bronisław Malinowski stammen.24 »Die Philosophie der Genozid-Konvention» – so Lemkin – »beruht auf der Formel des menschlichen Kosmos.« Dieser bestehe aus vier Gruppen: Auffällig an der noch recht allgemein formulierten Resolution 96 (I) ist, dass sie zweimal auch auf politische Gruppen als Opfer von genocide Bezug nimmt. Auch der letzte Vorentwurf der Genozidkonvention 194820 schloss noch politische unter die zu schützenden 21 22 enthält nach dem Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Hinweis, dass die »Bill of Human Rights« drei Elemente, »a Declaration, a Covenant on Human Rights and measures of implementation« enthalten solle. Dies hatte die Menschenrechtskommission bereits zu Beginn ihrer Arbeit so beschlossen. 18 General Assembly (GA) Res. 96 (I). The Crime of Genocide. 19 GA Res. 95 (I). Affirmation of the Principles of International Law recognized by the Charter of the Nürnberg Tribunal. 20 Ad Hoc Committee Draft E/AC.25/12, Draft Convention on Prevention and Pun- 34 23 24 ishment of the Crime of Genocide (Mai 1948), in: The Genocide Convention. The Travaux Préparatoires, hrsg. v. Hirad Abtahi und Philippa Webb, Leiden/Boston 2008, S. 1161 ff. Gemeint ist der Anklagepunkt Crimes against Humanity. Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law«, S. 148–150; in seinem Projekt eines internationalen Verbots von Akten der Barbarei und des Vandalismus hatte er 1933 sogar selbst »soziale Kollektive« in die zu schützenden Gruppen einbezogen (Internationales Anwaltsblatt (Wien), Jg. 6 (1933), Nr. 12, S. 117–119). Secretariat Draft (26.6.1947), UN Dok. E/447, in: The Genocide Convention, S. 209–281, hier S. 230. Dirk Moses, »Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide«, in: The Oxford Handbook of Genocide Studies, hrsg. v. Donald Bloxham und Dirk Moses, Oxford 2010, S. 19–41. Einsicht nationale, rassische, religiöse und ethnische Gruppen, die deshalb besonders geschützt werden müssten, weil sie das Überleben der »spirituellen Ressourcen der Menschheit« garantierten.25 Schon in seiner ersten Schrift über genocide hatte er geschrieben: »Nationen sind essentielle Elemente der Weltgemeinschaft. Die Welt hat nur so viel Kultur und Geisteskraft wie von den sie konstituierenden nationalen Gruppen geschaffen wird.« Jede Nation leiste »originelle Beiträge auf der Basis genuiner Traditionen, genuiner Kultur und einer gut entwickelten nationalen Psychologie. Die Zerstörung einer Nation hat daher den Verlust ihrer zukünftigen Beiträge für die Welt zur Folge.«26 Von diesem ideellen Standpunkt eines Bewahrers der Menschheit stellt Lemkin geradezu utilitaristische Kalküle an: »Würden alle 125.000 Isländer ausgerottet, so würde dies nicht nur die Vernichtung von 125.000 Menschen bedeuten, sondern auch die Vernichtung der isländischen Kultur mitsamt ihrer alten Sprache, ihren alten Institutionen, ihren alten nationalen Bestrebungen und aller Beiträge, die die isländische Nation für die Menschheit geleistet hat oder in Zukunft zu leisten vermag. Es ist klar, dass eine Massenvernichtung von 125.000 Menschen in irgendeinem anderen Land nicht derart erhebliche Verluste für die Menschheit zur Folge hätte, auch wenn die menschlichen Verluste nicht allein für die einzelnen Nationen, sondern auch für die Angehörigen der Opfer beklagenswert sind.«27 In Lemkins Vorstellung sind diese Gruppen daher grundsätzlich stabil und daher als solche zu erhalten – auf der Formel »Gruppe als solche«, wie sie in Art. II der Konvention erscheint, hat er immer heftig bestanden. Bis heute wird vielfach argumentiert, die Privilegierung dieser Gruppen in der Genozid-Konvention rechtfertige sich dadurch, dass man in sie hineingeboren sei, gewissermaßen »unschuldig« der Verfolgung aufgrund objektiver, nicht selbst bestimmter Kriterien ausgesetzt sei, während andere, insbesondere politische Gruppen, volatiler seien und man ihnen auf freiwilliger Basis angehöre. Das Argument ist nur auf den ersten Blick stichhaltig. Denn ebenso wie Religionszugehörigkeit, Nationalität und selbst ethnische Identität auch gewechselt werden können und werden, ist die Zugehörigkeit etwa zu einer politischen Gruppe, in der vielleicht schon Generationen vorher verwurzelt waren, nicht weniger schwierig. Auch die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Armen ist in weiten Teilen der Welt sehr stabil. Erst recht gilt das 25 Raphael Lemkin, »Introduction to the Study of Genocide«, in: Lemkin on Geno- cide, S. 3. 26 Ders., Axis Rule in Occupied Europe, S. 91. 27 Ders., »La signification du terme et du concept génocide au procès des criminels de guerre«, undat. Typoskript (Nr. 11959), Bibliothek des Centre de documentation juive contemporaine (CDJC), Paris; zit. nach Jean-Michel Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001, S. 192. Einsicht 15 Frühjahr 2016 für andere Gruppen wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen oder Homosexuelle. Aus anthropologischer Sicht wurde denn Lemkins Definition von Gruppen auch stark kritisiert.28 Die inzwischen sehr umfangreiche soziologische und historische Literatur über Genozid und Genozide weist gleichfalls ganz überwiegend die Lemkin’sche und von der Konvention übernommene Einschränkung der zu schützenden Gruppen zurück. Die juristische Literatur und die Urteile der internationalen Gerichtshöfe, die sämtlich den Tatbestand Genozid in ihren Statuten haben, zeigen ein uneinheitliches Bild. Nicht selten gehen dabei auch Gerichte weit über die Vorgaben der Konvention hinaus und schließen zum Beispiel politische Gruppen mit ein oder dehnen den Begriff der »nationalen Gruppe« bis zur Unkenntlichkeit aus. In Argentinien entwickelte der Soziologe Daniel Feierstein eine Theorie, wonach die argentinische Junta durch die Eliminierung eines Teils der argentinischen Bevölkerung »die sozialen Beziehungen innerhalb der argentinischen Nation« verändern und damit das argentinische Volk »als solches« neu definieren wollte und daher Genozid im Sinne der Konvention begangen habe29, eine Theorie, die selbst in einigen Urteilen der argentinischen Justiz ausdrücklich aufgenommen wurde.30 Der spanische (Ex-)Richter Baltazar Garzón führte das Argument weiter und sprach vom »Auto-Genozid« durch Regime wie das argentinische oder das der Roten Khmer.31 Und schon 1967 hatte Jean-Paul Sartre auf dem Russell-Tribunal über den Vietnamkrieg unter explizitem Bezug auf die Völkermordkonvention die USA beschuldigt, die Absicht zu verfolgen, mittels der vietnamesischen Nation die Gruppe der Menschheit insgesamt zu vernichten.32 Der Widerspruch zwischen der engen völkerrechtlichen Definition und dem Streben nach gleichem Schutz für alle Gruppen hat auch dazu geführt, dass in zahlreichen Staaten die nationale Gesetzgebung, abweichend von der internationalen Konvention, politische und andere Gruppen in die Definition des Genozids einschließt.33 28 Ausführlich dazu: Alexander Laban Hinton (Hrsg.), Annihilating difference: the anthropology of genocide, Berkeley u.a. 2002. 29 Siehe z.B. Daniel Feierstein, »Sobre conceptos, memorias e identidades: guerra, genocidio y/o terrorismo de Estado en Argentina«, in: Política y Sociedad, Jg. 48 (2011), Nr. 3, S. 571–586. 30 Z.B. Fallo completo contra Etchecolatz, La Plata, September 2006, auf: http://www.rodolfowalsh.org/spip.php?article2378 [8.1.2016]. 31 Baltazar Garzón, »Las fronteras de la impunidad«, in: Puentes, Marzo 2002, S. 29–39. 32 Jean-Paul Sartre, »Genocide«, in: New Left Review I/48, March–April 1968, S. 13–25 (überarb. Fassung der Rede auf dem Tribunal): »…the present act of genocide – as a reply to a people’s war – is conceived and perpetuated in Vietnam not only against the Vietnamese but against humanity«. 33 David L. Nersessian, Genocide and Political Groups, Oxford 2010, führt 20 Staaten auf (S. 272 f.), die politische Gruppen in ihre nationalen Gesetze gegen Genozid einschließen, darunter Frankreich, Kolumbien und Kambodscha. 35 Nimmt man dazu die zahllosen sozialwissenschaftlichen Definitionen von genocide hinzu, erweist sich der von Lemkin intendierte und in der Konvention verankerte spezifische Gruppenschutz als inkohärent und inzwischen jedenfalls obsolet. Mit dem menschenrechtlichen Gebot der Nicht-Diskriminierung ist er unvereinbar. Worin besteht das Verbrechen des Genozids? Nach Artikel II der Konvention »bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.« In dieser Tatbestandsdefinition findet sich besonders deutlich Lemkins Handschrift. Sie ist zugleich extrem eng und extrem weit, worin wesentliche Gründe für die so überaus schwierige Handhabung des Begriffs im Völkerrecht liegen, die dazu geführt hat, dass die Konvention rechtlich praktisch wirkungslos geblieben ist. Eng ist das Erfordernis, dass die Absicht nachgewiesen werden muss, eine der genannten Gruppen »ganz oder teilweise« zu zerstören. Es genügt also nicht die Absicht, wie im Fall der Crimes against Humanity, eine größere Zahl von einzelnen Menschen zu töten, die Absicht muss auf die Vernichtung der Gruppe als solcher zielen. Fehlt diese Absicht, ist auch ein Massenmord kein Genozid, während umgekehrt schon die Tötung einer geringen Zahl, zum Beispiel für die Gruppe wichtiger Personen, als Genozid gilt, wenn sie auf die Zerstörung der Gruppe zielt. Weit hingegen ist die Beschreibung der übrigen Taten, deren Bewertung letztlich immer von der damit verbundenen Absicht abhängt. In den Debatten um die Konvention war, ganz in Lemkins Sinn, der Vorschlag auf dem Tisch, auch »kulturellen Genozid« in den Straftatbestand einzuschließen. Das scheiterte aber am Widerstand vieler Staaten, die erkannten, dass mit einer vagen Definition »kulturellen Genozids« ihre Politik kultureller Assimilierung von Minderheiten in die Schusslinie geraten wäre. Manche, wie der dänische Delegierte Federsen im Rechtsausschuss der Generalversammlung, vermissten aber auch einfach den »Sinn für Verhältnismäßigkeit, wenn man in derselben Konvention Massenmord in 36 Gaskammern und die Schließung von Bibliotheken abhandeln«34 wollte. Rechtsbegriff oder politischer Kampfbegriff? Der Jurist Lemkin war sich der begrenzten Bedeutung seines Neologismus genocide als Rechtsbegriff zweifellos bewusst. Das Argument der »Nürnberger Juristen«, dass eine Konvention ein schwaches Mittel zur Bekämpfung des Genozids sei, da es den Staaten ja freistelle, sich ihr anzuschließen, hat er nie aufgenommen. Für ihn war der »rhetorische Mehrwert«35 seines Wortes, den er von Anfang an gezielt einsetzte, vielleicht sogar wichtiger als der juristische Wert. Unter Berufung auf die chilenische Dichterin Gabriela Mistral sprach er davon, dass »Wörter ein moralisches Urteil enthalten« könnten.36 Als Völkerrechtsbegriff ist genocide bis zur Schaffung der internationalen Strafgerichtshöfe in den 1990er Jahren wirkungslos geblieben. In die Statuten des Jugoslawien- und Ruandagerichtshofs sowie in das Römische Statut des IStGH wurde genocide zwar jeweils als Straftatbestand aufgenommen, alle drei Gerichtshöfe erfuhren jedoch die erheblichen Schwierigkeiten, die der Tatbestand mit sich brachte, und kamen zu teils recht improvisierten Lösungen dieser Schwierigkeiten.37 Dass der Ruanda-Gerichtshof dabei die von Lemkin geprägte Formel vom Genozid als »Crime of Crimes«38 wieder aufnahm39, half juristisch nicht weiter. Schon 1946 hatte Hans Kelsen in einer Besprechung von Axis Rule nüchtern konstatiert, der neue Begriff genocide sei eher politisch als rechtlich bedeutsam.40 Doch als William Schabas41 den Ausdruck »Crime of Crimes« in den Titel seines Standardwerks über die Völkermordkonvention übernahm, trat er einen weltweiten Siegeszug als politisch-propagandistischer Kampfbegriff an. Ein Verbrechen scheint erst dann als schrecklich zu gelten, wenn es das Prädikat »Genozid« erhält, um das erbitterte, teils absurde Streite geführt werden. Der enge 34 6th Committee, 83d Session, 25, Oktober 1948 (UN Doc. A/C.6/SR.83), in: The Genocide Convention, S. 1508. 35 Anson Rabinbach, »Genozid«, in: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009, S. 43–72. 36 Lemkin on Genocide, S. 22 f. 37 Payam Akhavan, Reducing Genocide to Law. Definition, Meaning, and the Ulti- mate Crime, Cambridge 2012. 38 Raphael Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law, Center for Jew- ish History«, Raphael Lemkin Collection, Box 6, Folder 2. In diesem unveröffentlichten Entwurf schrieb Lemkin: »Indeed, genocide must be treated as the most heinous of all crimes. It is the crime of crimes.« 39 The Prosecutor versus Jean Kambanda, Case no.: ICTR 97-23-S, § 16; das Berufungsgericht hat allerdings diese Hierarchisierung explizit zurückgewiesen. 40 Hans Kelsen, »Review of Lemkin, Raphael. Axis Rule in Occupied Europe«, in: California Law Review, Jg. 34 (1946), Nr. 1, S. 271 f. 41 William A. Schabas, Genocide in International Law. The Crime of Crimes, Cambridge 2000, dt.: Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003. Einsicht Rechtsbegriff der Konvention spielt dabei keine Rolle mehr, nicht Gerichte, sondern Regierungen werden als Instanz der »Anerkennung« von Völkermorden angerufen. Solche »Anerkennung« von Völkermord wurde in den letzten Jahren immer häufiger gefordert, zum Beispiel für Armenien, Namibia, Katyn, Ukraine (»Holomodor«), Ruanda, Jugoslawien, Sri Lanka, Tibet, Gujarat, Syrien, Bangladesch, Kambodscha, Guatemala, Argentinien, Kolumbien, Ecuador, die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa, Morde an Weißen in Südafrika und viele Situationen mehr. In einigen Fällen handelt es sich um Großverbrechen, für die mit guten Gründen die juristische Kategorie des Genozids herangezogen werden kann. Andere Massenmorde zeigen schmerzhaft die Probleme auf, wenn versucht wird, ihnen die juristische Zwangsjacke der Genoziddefinition der Konvention überzustülpen. Und nicht wenige benutzen den Begriff offensichtlich nur, um Aufmerksamkeit zu erregen. Auf der Website einer spanischen Internetzeitung kann man inzwischen aus einer Liste von 14 »Genoziden«, deren Auswahl weder erklärt wird noch sich erschließt, per Abstimmung »seinen Favoriten wählen«.42 Der so entstandene Wettlauf um die Anerkennung des eigenen (oder auch fremden) Leids als Ergebnis des schlimmsten aller Verbrechen, des Crime of Crimes, hat fatale Konsequenzen. Auf der juristischen Ebene beschäftigt er Gerichte und Gelehrte damit, einen von Anfang an problematischen Rechtsbegriff auszudeuten, für Verbrechen, die nach anderen Tatbeständen, die aber wegen des Symbolgehalts von genocide den Erwartungen der Öffentlichkeit nicht mehr entsprechen, strafrechtlich ebenso hart zu ahnden wären. Die unterschiedlichen Bewertungen etwa der Verbrechen in Darfur oder in Jugoslawien haben diese Diskrepanz zwischen einer nüchternen juristischen Analyse der Ereignisse und ihrer politischen Bewertung vor Augen geführt. Großverbrechen, wie etwa die Ermordung von fast zwei Millionen Kambodschanern durch die Roten Khmer, juristisch korrekt nicht als Genozid zu bezeichnen, fällt regelmäßig unter den Verdacht der Verharmlosung. Paradoxerweise entwertet aber die Transformation des Rechtsbegriff genocide in einen politischen Kampfbegriff ihn auch als solchen. Sein inflationärer Gebrauch in der politischen Öffentlichkeit für nahezu jedes Übel, ohne Rückbindung an die Autorität und sachliche Kontrolle der juristischen Instanzen, gibt ihn der beliebigen Verfügbarkeit preis. Gewinner des Prädikats genocide ist dann, wer sich in der publizistischen Arena und der politischen Lobby durchzusetzen vermag. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass auch die durchaus notwendige Bemühung der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung, nach den unterschiedlichen Motiven und Praktiken von politischen Großverbrechen zu suchen, inzwischen fast nur noch unter dem Label »genocide research« stattfindet. Dieses enorm schnell angewachsene, inzwischen von mehreren Fachzeitschriften getragene Forschungsgebiet hat sich großenteils weit vom juristischen Begriff des Genozids entfernt und zahllose neue Definitionen ins Spiel gebracht. Es trägt damit nicht zur Entwirrung der Begrifflichkeiten bei. Auswege aus diesem unbefriedigenden Zustand können hier nur angedeutet werden. Im Völkerstrafrecht ist die in Nürnberg noch unzureichend entwickelte und vor allem angewandte Kategorie der Crimes against Humanity längst ausdifferenziert worden und zum Beispiel im Rom-Statut des IStGH durch nahezu alle Tatbestände, die auch in der Genozid-Konvention enthalten sind, präzisiert worden. Statt des kaum zu führenden Nachweises, dass die Täter eine Gruppe »ganz oder teilweise vernichten« wollten, gelten für die Crimes against Humanity zwei Maßstäbe, die wesentlich besser überprüfbar sind: Es muss sich um Taten handeln, »die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen« worden sind. Daneben etabliert sich als Oberbegriff für politische Großverbrechen zunehmend ein alter Bekannter: das »Atrocity Crime« bzw. die »Atrocities«, für die noch ein geeigneter deutscher Begriff zu entwickeln wäre. »Atrocities« ist hinreichend unbestimmt, dass darunter sehr verschiedene Arten von Verbrechen gezählt werden können, ohne dass zwischen einzelnen Taten und vor allem verschiedenen Opfergruppen unterschieden werden müsste. Der Begriff kann Taten umfassen, die juristisch als Genozid, Kriegsverbrechen oder Crime against Humanity zu bewerten sind, aber auch weitere, und muss nicht sofort eine rechtliche Bewertung bedeuten. Er diskriminiert nicht zwischen Verbrechen gegen Menschen als solche und Menschen als Repräsentanten bestimmter Gruppen. Sein Gebrauch durch den Sicherheitsrat oder im Rahmen der »Responsibility to Protect«43 verweist auf die internationale Dimension und die Schwere dieser Verbrechen und kann damit politische Relevanz entwickeln, ohne eine rechtliche, politische oder ethische Bewertung dieser Taten vorwegzunehmen. Es ist zu begrüßen, dass dieser offene Sprachgebrauch auch in den Sozialwissenschaften vermehrt Eingang findet. 43 The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Inter42 http://listas.20minutos.es/lista/genocidios-del-siglo-xx-344800/ [23.1.15]. Einsicht 15 Frühjahr 2016 vention and State Sovereignty, Ottawa 2001; vgl. Gareth Evans, The responsibility to protect: ending mass atrocity crimes once and for all, Washington 2008. 37 Das Ich im Wir Anna Seghers und Victor Klemperer in der frühen DDR von Nicolas Berg »In einem heimgesuchten Land« Dr. Nicolas Berg ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am SimonDubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig. Aktuell forscht er zum Projekt »Das Rätsel Produktivität. Völkerpsychologie, Kulturtheorie und jüdische Geschichte in der deutschsprachigen Nationalökonomie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts«. 2003 erschien seine an der Universität Freiburg abgeschlossene Dissertation Der Holocaust und die westdeutsche Geschichtswissenschaft – Erforschung und Erinnerung im Göttinger Wallstein Verlag. Sie liegt inzwischen in dritter Auflage und in englischer Übersetzung vor. 2008 erschien bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen sein Buch Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Im Wintersemester 2015/2016 hatte Nicolas Berg die Gastprofessor für interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut an der Goethe-Universität Frankfurt inne. Der vorliegende Text entstand während dieser Monate. Die Vortragsfassung vom 19. November 2015 wurde für die Drucklegung überarbeitet und gekürzt. 38 Im Jahr 1965 reiste der Auslandskorrespondent der israelischen Tageszeitung Haaretz, Amos Elon, mehrere Monate lang durch Deutschland. Stationen seiner Reise waren München und Hamburg, Köln, das Ruhrgebiet und Berlin, aber auch Dresden, Weimar und Halle an der Saale. Seine Beobachtungen erschienen 1967 als Buch unter dem Titel In einem heimgesuchten Land – Reise eines israelischen Journalisten in beide deutschen Staaten.1 Dieser sprach zwar von zwei Staaten, aber von einem Land und offenbarte so einen den deutschen Verhältnissen gegenüber stärker Distanz wahrenden Blick: Der Autor richtete sein Augenmerk hier weniger auf den Systemkonflikt, der kurz zuvor zum Mauerbau geführt hatte; vielmehr betrachtete er im Singular »das Land«, seine NS-Vergangenheit und deren in Politik, Medien, Literatur und Alltag verlängerten Folgen. So sah er die neue deutsche Gegenwart unter dem Blickwinkel einer von Ost und West dementierten gemeinsamen Vergangenheit. Durch diese Perspektive kam nicht die deutsche Teilung, dafür aber ein anderer Riss in der deutschen Geschichte zur Sprache; Elon begann und beendete sein Buch nämlich mit Eindrücken aus Auschwitz, das in diesem Bericht als zwar exterritorialer, aber als ein zu Deutschland gehörender Ort Thema ist: Er blickte von hier aus, von einem deutschen Ort außerhalb Deutschlands und über eine 1 Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten in beide deutsche Staaten, München 1966; auszugsweise auch u. d. T.: »Der Esel aus dem Schoss des Tigers. Beobachtungen in der Bundesrepublik und in der DDR«, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 26.9.1966, S. 68–83; die englische Übersetzung sprach im Untertitel vom »neuen Deutschland«, vgl. ders., Journey Through a Haunted Land. The new Germany, London 1967; die französische Übersetzung von Pierre Barbaud vom »zerrissenen Land«, vgl. ders., Allemagne, terre déchirée: Voyage d’un journaliste israélien dans les deux états allemands, Paris 1967. Einsicht jüdische »Stunde Null« hinweg auf die Gegenwart eines Landes, das insgesamt, ständig und überall von seiner NS-Vergangenheit »heimgesucht« wurde und wird. Elon nahm seine Gespräche mit Lehrern, Journalisten, Historikern und Schriftstellern, mit Vorständen in Wirtschaftsunternehmen und mit Universitätsprofessoren, mit Direktoren und Politikern nicht selten »surrealistisch« wahr,2 sie zeigten ein »deutsches Potpourri«,3 das in Westdeutschland eine betriebsame Selbstamnesie durch den Wirtschaftsaufschwung und im Osten das Vergessen durch einen Geschichtseskapismus erkennen ließ. Hier wie dort erkannte er dabei »Selbstzufriedenheit«.4 Während seines Besuchs im DDR-Presseamt im Gebäude des ehemaligen Propagandaministeriums von Joseph Goebbels in Berlin hörte er den Satz, den die östliche Hälfte des Landes politisch internalisiert hatte: »Wir haben mit dem Faschismus gründlich aufgeräumt.«5 In der westlichen Hälfte, so Elon, hätten jüngere Intellektuelle zwar damit begonnen, die »Vergangenheit zu bewältigen«6, doch seien sie eine verschwindende Minderheit; im Ganzen erschien es ihm hier, als sei Hitler für die meisten Menschen eine historische Figur aus einer lange vergangenen Zeit. Im Osten wiederum machte er eine weit verbreitete Haltung aus, als habe sich das »Dritte Reich« räumlich weit weg abgespielt. Hier wie dort herrschte in Bezug auf die Nazi-Jahre ein Formel-Denken vor, im Westen vor allem die Wendung von der »Katastrophe von 1945«7, im Osten wiederum jener »Parteijargon«, der mit gestanzten Begriffen wie »Junker« oder »Großindustrielle« die Illusion hegte, alles erklärt zu haben.8 Und bei allen Unterschieden zwischen Bonn und Ostberlin entging dem Autor aus Israel nicht das Gemeinsame beider Teilstaaten: Hier wie dort hatten Nazis zum Teil hohe Positionen in Staat, Wirtschaft und Kulturleben inne, weswegen für ihn feststand: Ein »roter Strich unter die Vergangenheit« ist keineswegs »besser als ein andersfarbiger«.9 Für den israelischen Autor war dies »eine der erstaunlichsten Entdeckungen, die man auf einer Reise durch die DDR macht«: Hier fehlte jemand, »der sich irgendwie für die Vergangenheit verantwortlich fühlt«.10 Indem er 1965 mit einem ethnologischen Blick auf ein Land sah, das seine Juden verjagt und ermordet hatte, sprach er auch über sich und seine Familie, denn er war 1926 in Wien geboren worden, konnte als Siebenjähriger mit seinen Eltern Europa im letzten Moment verlassen und in Jerusalem ein neues Leben beginnen. Das Buch enthielt diese autobiographische Essenz, doch hatte er sie seinem Bericht unsichtbar eingeschrieben, ohne sie auf der Oberfläche des Texts auszuweisen. Indem er als Protokollant der deutschen Selbstbilder sein »Ich« oder »Wir« unausgesprochen ließ, verwandelte sich das Individuelle in erkenntnisleitende Fragen, die autobiographische Erfahrung wurde in die zeitdiagnostische Energie der Wahrnehmung transformiert, eine Wahrnehmung, die offenkundig vom Ende der zu erzählenden Geschichte auf das Deutschland der 1960er Jahre schaute.11 Verwandelte deutsch-jüdische »Ich«- und »Wir«-Erzählungen Solche Ich- und Wir-Erzählungen, wie sie sich als Folge des Holocaust häufig gänzlich neu bildeten und ausformten, sind mit den Methoden der Geschichtswissenschaft nicht leicht zu fassen.12 Im Folgenden soll dies am Beispiel von Anna Seghers und Victor Klemperer untersucht werden, die nach 1945 ihre deutsche und jüdische Herkunft, ihr jeweiliges Verhältnis von »Ich« und »Wir«, neu ausformulierten. In ihrer Korrespondenz, in ihren Tagebüchern und Erinnerungstexten werden Gedanken festgehalten und auch Ängste beschrieben, in denen sie – trotz ihrer Rückkehr und ungeachtet ihres Engagements im neuen Staat – Distanz und Dissonanz zum Land ihrer Herkunft ausdrücken.13 Diese Ambivalenz war nun zu einer »Existenzerfahrung« geworden, wie dies Henryk Niether in 10 Ebd., S. 184. 11 Vgl. Amos Elon, Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche 2 3 4 5 6 7 8 9 Elon, In einem heimgesuchten Land, S. 17. Ebd., S. 25–46. Ebd., S. 186; vgl. schon zuvor den Reisebericht von Hannah Arendt, »The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany«, in: Commentary, Vol. 10 (1950), S. 342–353 (dt. u.d.T. »Besuch in Deutschland«, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1999, S. 43–70); in der Tradition von Elon steht, bis in die Wiederholung des englischen Untertitels hinein, auch noch Jane Kramer, The Politics of Memory. Looking for German in the New Germany, New York 1996. Elon, In einem heimgesuchten Land, S. 151. Ebd., S. 179. Ebd., S. 41. Ebd., S. 181; und S. 185: »Vielleicht ist das der größte Propagandaerfolg des Regimes. Man spricht von den Greueln der nationalsozialistischen Zeit fast so, als hätten sie sich bei einem anderen Volk zugetragen, mit dem man nichts zu tun hat.« Ebd., S. 181. Einsicht 15 Frühjahr 2016 (1743–1933), München 2003 [engl. Orig.: The pity of it all, New York 2002]. Dieser Rückblick auf die deutsch-jüdische Erfahrung behandelt das Thema als eine gänzlich abgeschlossene Epoche, die der Autor mit Hannah Arendts Weg ins Exil im Jahr 1933 enden lässt. 12 Vgl. als Vorbild: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977 [zuerst 1966]; Vivian Liska, »Wenn Kafka ›Wir‹ sagt«, in: dies., Fremde Gemeinschaft: Deutsch-jüdische Literatur der Moderne, Göttingen 2011, S. 25–68. 13 Aus der Forschung genannt seien exemplarisch die Bücher von Claus-Dieter Krohn, Patrick von zur Mühlen (Hrsg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschland, Marburg 1997; Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Weimar, Wien 2001; Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001; Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.), »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2013. 39 seiner Studie über die Leipziger Juden nach 1945 genannt hat.14 Sie zog auch eine Selbstverwandlung nach sich, die deshalb nötig war, weil die Fraglosigkeit des deutsch-jüdischen Selbstverständnisses zerbrochen war. Sichtbar wird nun immer häufiger und stärker eine ganz andere Wir-Bedeutung, die auch das Ich veränderte, das sich zwar neuen Gruppen, Gemeinschaften und Ideen der Zeit anschloss, nicht aber mehr einem wie immer begründeten deutschen KollektivWir. So sind die hohen Hoffnungen, die Seghers und Klemperer mit der jungen DDR verbanden, auch als eine Entterritorialisierung Deutschlands erkennbar, als ein imaginärer Versuch sozusagen, in einer Idee von Deutschland oder einem nichtdeutschen Deutschland zu leben. Die Kontrastierung ihrer in persönlichen Texten sichtbar gemachten komplexen Innengeschichte mit ihrer Parteinahme für den Kommunismus macht einen Hiatus erkenn- und beschreibbar, der zum Milieu ihrer jüdischen Erfahrung im frühen Ostdeutschland wird. Das neue Deutschland unter sowjetischer Besatzung und sowjetischem Schutz war sozusagen gar kein Land, denn mit diesem kamen sie gar nicht mehr zusammen. Es war ein Ort, dem sie zwar ihr »Ich«, nicht aber mehr ihr »Wir« widmen konnten.15 Beide wuchsen in jüdischen Familien auf, aber sie wurden ganz unterschiedlich erzogen und beruflich und politisch sehr verschieden sozialisiert. Die Nazizeit überlebte die Mainzerin Anna Seghers im Exil in Frankreich und Mexiko. Hans Mayer, dessen Büchner-Buch sie, wie übrigens auch Klemperer16, über alle Maßen schätzte17, lud sie zu Vorträgen nach Leipzig ein und rühmte immer wieder ihre Erzählung »Aufstand der Fischer von St. Barbara«, mit der sie 1928 bekannt geworden war. Sein Porträt der Freundin fügte er später nicht in sein DDR-Buch ein, sondern in Der Widerruf, in sein rückblickendes Werk über die deutsch-jüdische Symbiose.18 Seghers besuchte mit Mayer im Herbst 1948 zusammen Auschwitz, »sprachlos, fast blicklos«, wie er sich erinnerte.19 Häufig trafen sie als offizielle Delegierte oder Teilnehmer von Konferenzen aufeinander, etwa im August 1948 in Wrocław auf dem Weltfriedenskongress, 14 Hendrik Niether, Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg, Göttingen 2015. wo sie dem Vortragssaal entflohen und miteinander am Ufer der Oder spazieren gingen, nachdem sie zuvor erlebt hatten, wie der Bus, in dem die deutschen Teilnehmer in Polen angereist waren, »Feindseligkeiten in der Bevölkerung erregt; dann wurde die deutsche Aufschrift überdeckt mit den Plakaten des Congresses […].«20 Victor Klemperer, 1881 in Landsberg an der Warthe als Sohn eines Rabbiners geboren, kannte Seghers persönlich; ihren Roman Das siebte Kreuz las er eher in der Haltung eines pflichtschuldigen Nachholens21, die von ihr angewandte schriftstellerische Technik lobte er, das Thema selbst erschien ihm »doch eng und partiell«22; im Tagebuch betrachtet er Seghers als »Prominenz«, als eine »der jetzigen Großen« und als Aushängeschild »unsere[r] Autoren«.23 Als er ihr dann erstmals persönlich begegnete, wirkte sie, so seine Notiz im Tagebuch, »etwas chinesisch« auf ihn24, was insofern auch einen Punkt traf, da sie als offizielle DDR-Kulturrepräsentantin für viele Außenstehende häufig geheimnisvoll, unpersönlich und undurchschaubar blieb. »Man glaubt erst, sie lese vor, danach: sie habe auswendig gelernt. Vollkommen durchgeformte, geradezu ciceronische Schriftperioden fließen ohne Pause, ohne Zögern, ohne alle Betonung, ohne allen Affekt, absolut gleichförmig u[nd] endlos. Der Inhalt, soweit ich ihn auffaßte, war ebenso einförmig u. gestaltlos: sie erzählte, mit wem sie in Sowjetland bei ihrer neuerlichen Delegationsfahrt zusammen gewesen. Ich bekam kein Bild u. schlief immer wieder ein.«25 Nicht wissen konnte Klemperer, dass Anna Seghers als junge Studentin noch unter dem Namen Netty Reiling in den 1920er Jahren in Heidelberg nicht nur bei Friedrich Gundolf, Karl Mannheim, Karl Jaspers und Georg Lukács studiert, sondern auch Kurse für chinesische Sprache und Literatur belegt hatte. Klemperer wurde von vielen, etwa von Hans Mayer, vor allem wegen seines 1947 erschienenen Buches LTI (Lingua Tertii Imperii) geschätzt, das zu einem Gründungsbuch der DDR wurde.26 Klemperer überlebte bekanntlich das »Dritte Reich« nicht im Exil, wie Seghers, sondern in Deutschland. Die Jahre hindurch protokollierte er, vom öffentlichen Leben ausgegrenzt, als Chronist des Dresdner NS-Alltags Erlebnisse und Erfahrungen als »Sternenträger« und beobachtete das Alltagsverhalten der Menschen in der Diktatur, deren ständiger Vernichtungsandrohung er nur knapp oben links/oben Mitte: Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten in beide deutsche Staaten, Titelseite und Foto des Autors auf der Umschlagsrückseite der bei Kindler erschienenen Erstausgabe von 1966. der Feierstunde zum »Tag des freien Buches«. Zur gleichen Zeit schrieb sie in einer Tagebuchnotiz: »Ich war traurig, weil meine Sprache Deutsch ist. Weil ich in dieser Kultur und Sprache groß wurde.« Foto: SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo oben rechts: Anna Seghers hatte die Nazizeit im französischen und mexikanischen Exil überlebt. Das Bild zeigt sie kurz nach ihrer Rückkehr nach Deutschland am 10. Mai 1947 während einer Ansprache vor der Berliner Universität anlässlich unten links: In ihrem persönlichen Austausch mit Freunden und Bekannten – meist außerhalb Deutschlands – zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Die Entfremdung von ihrer Heimat, in der sich die Menschen weigerten, persönliche und politische Verantwortung für die Verfolgung und Vernichtung der Juden zu übernehmen, wurde zum dominierenden Thema ihrer Briefe. Im brandenburgischen Dichterschloss Wiepersdorf erholte sich Anna Seghers öfter für einige Tage oder Wochen von ihrem politischen Tagesgeschäft, nicht zuletzt bei ihrer umfangreichen Korrespondenz (hier eine Aufnahme von 1950). Foto: bpk, Jochen Moll unten rechts: Die Schriftstellerin wurde in beiden deutschen Staaten und im Ausland als treue Repräsentantin der DDR wahrgenommen. Ihre Reden, Artikel und ihre Funktionen im Kulturbetrieb wie auch die vielen offiziellen Ehrungen durch Partei und Staat erweckten den Eindruck ihrer völligen Übereinstimmung mit der Politik. Am 27. März 1950 erhielt sie von Wilhelm Pieck, dem Präsidenten der DDR, ihre Urkunde zur Aufnahme in die Akademie der Künste. Foto: Illus/Süddeutsche Zeitung Photo 15 Aus der breiten Literatur zum Gesamtthema: Georg Schuppener (Hrsg.), Jüdische 16 17 18 19 40 Intellektuelle in der DDR. Politische Strukturen und Biographien, Leipzig 1999; Moshe Zuckermann (Hrsg.), Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, Göttingen 2002. Hier notierte Klemperer noch den Namen falsch (»Alfred«), meinte aber Hans Mayer, vgl. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959, 2 Bde., hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999, hier Bd. I, S. 476; vgl. auch ebd., S. 480 u. 602. Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946. Hans Mayer, Der Widerruf. Über Deutsche und Juden, Frankfurt am Main 1994, S. 271–286; Mayer hat die drei Bücher Der Turm zu Babel (1991), Wendezeiten (1992) und Der Widerruf (1994) als seine »Deutsche Trilogie« bezeichnet, in: ders., Der Widerruf, S. 449. Mayer, Der Widerruf, in Teil V: »Deutsche, Juden, Kommunisten«, das mit einem Porträt von Anna Seghers beginnt, S. 271–285, hier S. 271. 20 Diese Episode berichtet Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, 21 22 23 24 25 26 Bd. I, S. 587. Ebd., Bd. I, S. 391. Ebd., Bd. I, S. 294. Ebd., Bd. II, S. 125, 303 u. 346. Ebd., Bd. I, S. 383 u. 558. Ebd., Bd. I, S. 558 f. Vgl. ebd., Bd. I, S. 602; Klemperers LTI war in der DDR ein Klassiker und erschien mehrfach, 1947 im Aufbau-Verlag, 1957 beim VEB Max Niemayer-Verlag Halle/Saale und dann noch einmal als Taschenbuch in der Reihe Universalbibliothek im Reclam-Verlag Leipzig. Einsicht Einsicht 15 Frühjahr 2016 41 »Urteilslos und deformiert« – Anna Seghers über die Nachkriegsdeutschen Anna Seghers ist politisch als Staatsschriftstellerin, als Gründungsmitglied der Akademie der Künste und Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, als »gläubige Kommunistin«, ja Stalinistin im Gedächtnis geblieben, als Mitglied der SED und Trägerin des Nationalpreises.27 Der politisch abtrünnige Hans Sahl etwa errichtete seiner ehemaligen Parteigenossin Seghers in seinen Exil-Memoiren ein bitteres Denkmal. Sie hatte mehrmals versucht, ihn im persönlichen Gespräch zur Parteiräson zu bringen, er rechnete rückblickend mit ihr ab, indem er die »somnambule Eindringlichkeit« ironisierte, mit der sie Parteibeschlüsse verbreitete und dabei »in eine Art transzendenten Singsang verfiel, wenn es darum ging, die letzten Beschlüsse des Politbüros bekannt zu machen.«28 Seghers gehörte der Gruppe »Freies Deutschland« an, die in Mexiko im Exil gewesen war.29 Mit anderen kommunistischen Remigranten etablierte sie sich schnell im neuen Staat und nahm bald hohe Funktionen in der Kulturpolitik ein. Im Juli 1945 wurde etwa der »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« gegründet, auf dem Seghers eine Hauptsprecherin war. Doch ungeachtet ihrer Karriere als Repräsentantin des sozialistischen Musterstaates und als Funktionärin der Partei dominierte bei ihr eine große Fremdheit vor Deutschland und den Deutschen. Diese Fremdheit war das Grundgefühl für die Schriftstellerin, die im April 1947 aus Mexiko über Amerika, Stockholm und Paris nach Deutschland zurückkehrte. In Briefen, die ihrer Rückkehr vorausgingen oder die Freunden vor allem außerhalb Deutschlands ihre ersten Eindrücke schilderten, wiederholte sie ein ums andere Mal ihre Fassungslosigkeit über die Menschen ihrer Umgebung und deren Gegenwartsverhältnis zur NS-Vergangenheit und zum »Abschlachten der Juden« wenige Jahre zuvor.30 Sie nannte diese Zeit, als sie in das »kalte Land« der Deutschen zurückkehrte, wortwörtlich eine »Eiszeit«.31 Bevor und während sie im offiziellen Kulturleben aufstieg und zur Staatsschriftstellerin des kommunistischen Neuanfangs wurde, drückte sie in Privatbriefen an Freunde und ihr nahestehende Bekannte ihren Ärger über die Deutschen aus, »die den Nazifaschismus oder den Monopolkapitalismus usw. so darstellen, als sei er ueber das deutsche Volk gekommen wie die Conquista und die Cortes und seine Spanier …«32 Sie selbst habe »bis auf ein paar Freunde niemand Lebendes in Deutschland.«33 Der alles dominierende Eindruck war 29 Philipp Graf, »Habsburger Residuen. Bruno Frei und Leo Katz im kommunist- 30 31 ischen Exil in Mexiko-Stadt, 1941–1946«, in: Nicolas Berg u.a. (Hrsg.), Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner zum 65. Geburtstag, Göttingen, Oakville 2011, S. 365–382; ders., »Angesichts des Holocaust: Das deutschsprachige kommunistische Exil in Mexiko-Stadt 1941–1946«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook, Vol. 8 (2009), S. 451–479. Seghers, Brief an Jürgen Kuczynski vom 25.6.1945, in: Anna Seghers, Briefe 1924–1952, hrsg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, Berlin 2008, S. 160–163, hier S. 161; Anna Seghers Mutter war in einem Lager in Polen ermordet worden. An einen Freund schrieb sie: »Wie alle habe ich sehr geliebte, sehr teure Menschen verloren.« (Brief an Nico Rost vom 20.2.1946, in: ebd., S. 181–184, hier S. 183). Vgl. insgesamt die Biographie von Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie, Bd. 1: 1900–1947, Berlin 2000; Bd. 2: 1947–1983, Berlin 2003; außerdem: Alexander Stephan, »›Ich habe das Gefühl, ich bin in eine Eiszeit geraten…‹. Zur Rückkehr von Anna Seghers aus dem Exil«, in: ders., Überwacht, Ausgebürgert, Exiliert. Schriftsteller und der Staat, Bielefeld 2007, S. 322–343; Monika Melchert, Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis 1952, Berlin 2011; Doris Danzer, »Eiszeit im Nachkriegsdeutschland: Anna Seghers’ Suche nach Geborgenheit und Wärme im ›Volk der kalten Herzen‹«, in: dies., Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960), Göttingen 2012, S. 417–434. Seghers, Brief an Jürgen Kuczynski vom 3.12.1945 (aus Mexiko-Stadt), in: Seghers, Briefe 1924–1952, S. 168–173, hier S. 171. Seghers, Brief an Lore Wolf vom 30.9.1946 (aus Mexiko-Stadt), ebd., S. 199– 202, hier S. 200. 27 Peter Merz, Und es wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller 32 mit Westdeutschland, München 1985, S. 36; Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land, S. 117. 28 Hans Sahl, Das Exil im Exil, Frankfurt am Main 1990, 2. Aufl., S. 302. 33 42 Einsicht für sie nicht der deutsch-deutsche politische Antagonismus, dem sie rhetorisch Tribut zollte, sondern die große Differenz zwischen ihrer alten Heimat und der Welt jenseits der deutschen Grenzen. Aus Berlin schrieb sie etwa: »Für jemand, der von außen kommt, wirkt Deutschland oft fremder als die fremden Laender.«34 Sie sagte Ende 1947 über die Deutschen, »die Menschen sind andere Menschen als in den romanischen Ländern«.35 Victor Klemperer schildert im November 1949 eine Szene in einer Präsidiumssitzung des Kulturbunds, die das verbreitete Bild der Seghers als DDR-Repräsentantin zu erschüttern geeignet ist. Es ging hier um ihre Wiederwahl. Im Gremium wollte man ihres großen Namens wegen an ihr festhalten. Alexander Abusch, Johannes R. Becher und andere zeigten jedoch »erbitterte Ablehnung«, so schildert Klemperer: »Becher: es sei gegen die Würde des Kulturbunds. Sie habe nichts für ihn übrig. Sie lebe für SU, Friedensidee, ihre Kinder, sie sei von Moskau nach Paris in diesem letzten Jahr, ohne sich um uns zu kümmern. Abusch: in Paris während des Friedenscongresses habe sie sich den Deutschen betont ferngehalten, nur französisch gesprochen, auf ihren mexikanischen Paß dort gewesen, ganz international getan. Abusch griff sie fast unverhüllt als Deutschlandfeindin an. Sie scheint ihm eher Sowjetbürgerin u. internationale Kommunistin. Sie wurde dann mit allen Stimmen gegen die Havemanns nicht mehr auf die Liste gesetzt.«36 Die Art und Weise, in der hier im Herbst 1949 DDRKulturpolitik in der antisemitischen Rhetorik des »Dritten Reichs« praktiziert wurde, macht deutlich, dass Seghers mit Gründen an einem Wir festhielt, das Frankreich und Mexiko und die Internationale des Kommunismus weit mehr umfasste als Deutschland. Als einen der ersten Stoffe für eine literarische Arbeit nach ihrer Rückkehr schwebte Seghers »die Mentalität eines Dorfes [vor], das an einem Massenmord mitschuldig ist, aber dicht haelt, damit seine Schuld nicht herauskommt, das waere etwas, was ich anstaendig schreiben koennte.«37 Der Eindruck »einer schwer erklaerbaren und beschreibbaren Finsternis, die sich aber anders dartut als wir es uns vorstellen konnten«, wird von Seghers immer wieder mit Blick auf die älteren Deutschen erklärt, die »urteilslos und deformiert« auf sie wirkten.38 Den raschen Beginn des äußeren Wiederaufbaus 34 Seghers, Brief an Christfriede Gebhardt vom 5.6.1947 (aus Berlin), ebd., S. 214– 216, hier S. 214. 35 Seghers, Brief an Katharina Schulz vom 16.12.1947, ebd., S. 262–266, hier S. 265. 36 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 700 f. 37 Seghers, Brief an Karl Kleinschmidt vom 12.6.1947 (aus Berlin), in: Briefe 1924–1952, S. 216 f., hier S. 216 f. Kulturwissenschaften in der edition text+kritik Irene Below Burcu Dogramaci (Hg.) entkam, geschützt vor allem durch die Ehe mit seiner Frau Eva. Bei Seghers und Klemperer veränderte sich das Verhältnis von Ich und Wir vor, während und nach der NS-Zeit. Der protestantisch getaufte Klemperer meinte bis zur NS-Zeit mit »Wir«, je nach Situation, Deutsche, Akademiker oder auch Gebildete, während es im Selbstverständnis von Seghers die Partei, den Staat, die Schicht oder Klasse, selten das Judentum und die eigene jüdische Herkunft bezeichnete. Gemeinsam war ihnen, neben ihrem Beruf als Schriftsteller und Wissenschaftler, dass sie nach 1945 in Deutschland Zukunft suchten, zurückkehrten und davon überzeugt waren, dass die Gründung der DDR die bessere Antwort auf die zwölf Jahre der Diktatur darstellte als die Bundesrepublik. Klemperer suchte in Berlin, Greifswald, Halle und vor allem Dresden einen Neuanfang und fand in der DDR im hohen Alter erstmals breite öffentliche berufliche Anerkennung. Seghers wählte mit Berlin ebenfalls Ostdeutschland als neue Wirkstätte, und auch sie repräsentierte und pries den neuen sozialistischen Staat in der Öffentlichkeit, wo und wann immer sie darum gebeten wurde. Gemeinsam war beiden auch, dass sie sich immer wieder genötigt sahen, ihre jüdischen Erfahrungen im sozialistischen neuen Gemeinwesen aufgehen lassen, also unsichtbar machen zu müssen. In ihren Briefen und Tagebüchern spricht sich bei ihnen deshalb eine widerständige Gedächtnisgrammatik aus, in der das Erinnerungs-Ich sich dem politischen Wir der Nachkriegsdeutschen verweigerte. JAHRBUCH ZUR KULTUR UND LITERATUR DER WEIMARER REPUBLIK Band 17 · 2015/16 Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute edition text+kritik Irene Below/ Burcu Dogramaci (Hg.) Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute etwa 200 Seiten, ca. € 26,– ISBN 978-3-86916-491-5 Die Kunstsoziologin und Emigrantin Hanna LevyDeinhard (1912–1984) hinterließ ein inhaltlich reiches, heute vergessenes Werk, das seiner Zeit weit voraus war. Der neue Band der Reihe vFrauen und Exilj nimmt es in den Blick und fragt auch nach dessen aktuellem Stellenwert. Jahrbuch zur Kultur und Literaturder WeimarerRepublik Band 17, 2015/2016 etwa 250 Seiten, ca. € 36,– ISBN978-3-86916-498-4 Das Jahrbuch bietet eine interdisziplinär ausgerichtete Plattform für einen offFnen Diskurs und wendet sich an jene, die an literatur-, kunst-, kulturwissenschaftlichen und historischen Fragestellungen zur Weimarer Republik interessiert sind.%JF UIFNBUJTDIF7JFMGBMUVOE JOUFSEJT[JQMJOÅSF "VTSJDIUVOHEFT8FJNBSFS +BISCVDITTQJFHFMOTJDI BVDIJNOFVFO#BOEXJEFS 38 Seghers, Brief an Kurt Stavenhagen vom 12.6.1947 aus Berlin, ebd., S. 218–221, hier S. 218 f.; im Brief an Bruno Frei vom 9.10.1947, ebd., S. 248–250, hier S. 249 u. 250, spricht sie von »einer grossen Dunkelheit« und von der »dunklen und kalten Stadt« Berlin; in einem Brief an Helene Weigel vom 23.10.1947 wiederholt sie den Eindruck, die Deutschen erschienen ihr »seltsam deformiert«, ebd., S. 254 f., hier S. 255. Einsicht 15 Frühjahr 2016 43 betrachtete sie, ganz ähnlich wie kurz später auch Hannah Arendt bei ihrem Besuch in Deutschland39, mit den Gefühlen größter Ambivalenz und bezeichnete ihn als einen »Eifer, der teuflisch wirkt, da er auch fuer den Teufel in Betrieb gesetzt wurde«40; dabei aber empfand sie die Deutschen als ein »Volk der ›kalten Herzen‹«41 und als »so komisch immobil im Denken«42: »Was sie denken und sagen, ist recht verworren […].«43 Am tiefsten verstörte sie dabei »[dieses] sich bei einer Obrigkeit lieb Kind machen zu wollen. Dadurch ist meine Mutter, und dadurch ist auch mein Freund Scheffer tot.«44 Die meisten Deutschen empfand sie als »so stumpf, so verdummt, wie man sich das vorgestellt hat, manchmal eher schlimmer«, einmal wählte sie sogar den Begriff »verwildert«, um die Gesellschaft um sich herum und den Grund ihrer zunehmenden Distanz zur ehemaligen Heimat zu beschreiben.45 Im Juni 1948 berichtet sie von einer Depression, die auf ihr laste.46 Nicht nur die Menschen waren ihr fremd, auch das positive Gefühl für Landschaft und für die deutsche Sprache entglitt ihr. In der Erzählung »Der Besuch« heißt es noch 1956, dass auch sie, unabhängig von der über Jahre hinweg geltenden Sehnsucht im Exil, »eine harte, kahle Sprache« geworden sei. Das eigene »tiefe kindliche Heimatgefuehl« sei ihr, so bilanziert sie bereits im November 1947, abhanden gekommen, die vertraute Landschaft sei »zu sehr an Grausamkeit gebunden an die Vernichtungen der liebsten Menschen meiner Jugend.«47 Immer wieder betont Seghers die sie umgebenden Kälte, »die Menschen« empfand sie als »sonderbar kalt«.48 Sie spricht Freunden gegenüber von »greulichen Menschen« um sie herum und davon, wie »vollkommen unwirklich« alles sei49, und sie fügte als Erklärung hinzu: »Es geht ihnen allen so verdammt dreckig, sie sind so fürchterlich schuld daran, sie kapieren das absolut nicht […].«50 In einem anderen Brief drückt sie denselben Gedanken noch genauer aus: »Die Menschen verstehen jeden Tag weniger, dass sie irgendwie, dass sie auch nur im geringsten Schuld haben sollen an dem Hunger, den sie tatsächlich haben.«51 Deutschland – das war für Anna Seghers nun »dieses verhexte Land« geworden, ein Land, in dem die Menschen »um keinen Preis einen Zusammenhang verstehen wollen«, darunter auch viele Bekannte von früher, nicht nur Mitläufer, sondern auch Opfer des NS-Regimes, mit stark »verschrobenem und reduziertem Denkvermögen«; das Ganze sei »schwer zu schildern«.52 Nach der Rückkehr aus Paris, wo sie ihre Kinder besucht hatte, wird der schon zuvor heftig empfundene Albdruck ihrer deutschen Umwelt stärker und stärker, Deutschland kommt ihr »noch viel sonderbarer vor wie am Anfang«, vor allem in Bezug auf den »merkwuerdige[n] intellektuellen Bruch«.53 Ihrer Freundin Erika Friedländer ruft sie in einem Brief fast verzweifelt zu: »Was dieses Europa einen schönen Rand hat und ein unangenehmes Mittelstueck.«54 Deutschland – das war für sie nun nicht mehr die Heimat, sondern »das denkbar beste Exerzierfeld fuer den Faschismus«.55 Es ist die in ihren Privatbriefen dieser Jahre erkennbar werdende zunehmende Entfremdung, die Seghers wiederholt ihre mexikanische Staatsangehörigkeit hervorheben lässt, immer öfter betont sie, dass sie »ja keine Deutsche« sei56, dass sie seit ihrer Heirat »keine deutsche Staatsangehoerigkeit« besitze57 und »aus einem anderen Volk komme«.58 Auch ihre fast beiläufig gemachte 39 Hannah Arendt, Besuch in Deutschland. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder, Berlin 1993; zu Arendts Deutschland-Reise 1949/50 vgl. Elisabeth Gallas, »Im Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2012, S. 234–245. 40 Ebd., S. 220. 41 Im Orig. spanisch »el pueblo de ›los corazones fríos‹«, vgl.: Anna Seghers, Brief an Clara Porset-Guerrero vom 22.6.1947, in: Seghers, Briefe 1924–1952, S. 228 f., hier S. 229 (dt. Übersetzung des Briefes: Anna Seghers, »Hier im Volk der kalten Herzen«. Briefwechsel 1947, hrsg. von Christel Berger, Berlin 2000, S. 77–79, hier S. 79); an Georg Lukács heißt es im Juni 1948: »Ich habe manchmal das Gefuehl, dass ich bald vereise. Ich habe das Gefuehl, ich bin in eine Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor.« Seghers, Brief an Georg Lukács vom 28.6.1948, ebd., S. 308–311, hier S. 310. 42 Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 256–258, hier S. 257; sie könnten sich, so Seghers, weiter über diesen sie stark irritierenden Grundzug der Deutschen, »schwer in was reindenken«. 43 Seghers, Brief an Sally David Cramer vom 16.6.1947, ebd., S. 221–223, hier S. 222. 44 Ebd., S. 223. 45 Seghers, Brief an Erika Friedländer vom 16.6.1947, ebd., S. 223–227, hier S. 223 f. 46 Seghers, Brief an Kurt Stern vom 9.6.1948, ebd., S. 300 f., hier S. 301. 47 Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 258. 48 Ebd. 49 Im Orig. spanisch: »completamente irreal«, vgl. Anna Seghers, Brief an Clara 44 Einsicht 50 51 52 53 54 55 56 57 58 Porset-Guerrero vom 22.6.1947, ebd., S. 228 f., hier S. 229 (dt. Übersetzung in: dies., »Hier im Volk der kalten Herzen«, S. 77–79, hier S. 79). Seghers, Brief an Sally David Cramer vom 31.7.1947, ebd., S. 232–234, hier S. 233 f. Seghers, Brief an Irene With vom 7.8.1947, ebd., S. 240–242, hier S. 241. Seghers, Brief an Irene With vom 24.9.1947, ebd., S. 246–248, hier S. 247. Seghers, Brief an Egon Erwin und Gisela Kisch vom 22.12.1947, ebd., S. 272– 274, hier S. 272. Seghers, Brief an Erika Friedländer von Mitte Dezember 1947, ebd., S. 267–269, hier S. 269. Seghers, Brief an Bruno Frei vom 11.2.1948, ebd., S. 282–284, hier S. 283. Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 256–258, hier S. 257; ähnliche Formulierungen auch in: Brief an Erika Friedländer vom 19.11.1947, ebd., S. 258–260, hier S. 259; Brief an Bruno Frei vom 11.2.1948, ebd., S. 282–284, hier S. 282. Seghers, Brief an den Deutschen Volksrat vom 7.5.1948, ebd., S. 290. Seghers, Brief an Elisabeth Zakowski vom 16.12.1947, ebd., S. 270 f., hier S. 271; weiter heißt es hier: »Schlechte und Teuflische gibt es ueberall, aber eine so gleichmaessige Senkung nicht nur des moralischen, des politischen usw. Niveaus, sondern des gesamten Intellekts, ist wirklich ein Phaenomen. Ich glaube nur, dass man diese Sache nicht sich selbst ueberlassen kann, dass etwas geschieht oder nicht geschieht in der Richtung, in der man selbst handelt oder nicht handelt.« Bemerkung an Nico Rost, sie wolle nicht in Deutschland sterben, steht in diesem Zusammenhang.59 »Vom gleichen Faschismus verseucht« – Victor Klemperer über die geteilte Heimat Viktor Klemperer bezeichnete die Zeit nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands zunächst als »Wirrwarr«, immer wieder gebrauchte er in seinem Tagebuch den Ausdruck »schwankend«.60 Er hatte aber die Hoffnung, dazu beizutragen, mit dem vorangegangenen Inferno der Nazizeit aufzuräumen. In einem Brief von Juni 1946 an einen nach New York emigrierten Freund schrieb Klemperer in drastischen Worten über sein Motiv, in Deutschland zu bleiben: »Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchegrube Deutschland mitarbeiten, daß wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.«61 1950 wurde er als Abgeordneter des DDR-Kulturbunds auch Mitglied der Volkskammer. Nur ein Jahr später, dem Todesjahr seiner Frau Eva, verlieh ihm die Technische Universität Dresden anlässlich seines 70. Geburtstages die Ehrendoktorwürde. Kurz darauf erhielt er auch den Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur. 1956 hält ein bekanntes Fotodokument den Augenblick fest, in dem Klemperer den Vaterländischen Verdienstorden aus den Händen von Wilhelm Pieck, Präsident der DDR, entgegennimmt.62 Drei Jahre zuvor hatte Klemperer in dem Vortrag »Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland« im Klub der Kulturschaffenden in Berlin »Stalins Genialität«63 gepriesen. Der Vortrag begann mit der Ausdeutung eines Stalin-Zitats über die Nation und über seine These von der Einheit der Nation durch die »Einheit der Sprache« aus dessen 1913 erschienen »Marxismus und nationale Frage«. Hier ist die 59 Anna Seghers, Brief an Nico Rost vom 1.6.1948, ebd., S. 297–299, hier S. 298. 60 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, passim. 61 Siegfried Heimann, Politische Remigranten in Berlin, in: Krohn, von zur Mühlen (Hrsg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 189–210, hier S. 210; zu Klemperers Tagebuch-Werk insgesamt v.a.: Steven E. Aschheim, »Victor Klemperer and the Shock of Multiple Identities«, in: ders., Scholem, Arendt, Klemperer. Intimate Chronicles in Turbulent Times, Bloomington & Indianapolis 2001, S. 70–98; Kornélia Papp, Deutschland von innen und von außen. Die Tagebücher von Victor Klemperer und Thomas Mann zwischen 1933 und 1955, Berlin 2006; Denise Rüttinger, Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer, Bielefeld 2011; Lothar Zieske, Schreibend überleben, über Leben schreibend. Aufsätze zu Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1959, Berlin 2013. 62 Vgl. etwa Abb. 29, in: Peter Jacobs, Victor Klemperer. Im Kern ein deutsches Gewächs. Eine Biographie, 3. Aufl., Berlin 2010. 63 Victor Klemperer, Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Vortrag, gehalten im Klub der Kulturschaffenden Berlin, Berlin: Aufbau-Verlag 1953, S. 4. Die Titelei weist den Autor als »Nationalpreisträger Prof. Dr. phil. Dr. paed. h.c.« aus. Der Vortrag wurde auch an den polnischen Universitäten in Warschau, Krakau und Wroclaw gehalten. Einsicht 15 Frühjahr 2016 Rede von der »Feindseligkeit der Vereinigten Staaten« und von der »verräterischen Adenauerregierung«, der Klemperer eine Politik der »geistigen Entdeutschung des deutschen Westens«64 vorwirft. Der Vortrag kann heute als Dokument zweifach ausgelegt werden: Eine erste, wörtliche Lektüre kommt zum Schluss, dass Klemperer hier selbst in die »LQI« wechselte, dass er sozialistischen Jargon spricht, sich an die Sprache und Gedanken der neuen Macht anpasst; die zweite Lesart offenbart einen etwas weniger opportunistischen Sprecher: Klemperer ist auch in dieser Perspektive durchdrungen von der im »Dritten Reich« erworbenen Überzeugung, dass Unheil in Politik und Öffentlichkeit seinen Eingang über die Sprache nimmt. Er bleibt seiner These treu, dass die Sprache als Seismograph das Grobe, Falsche und das politisch Schlechte erkennbar macht. Liest man den Text nicht deutsch-deutsch (wie er sich selbst gibt), sondern mit dieser von ihm im »Dritten Reich« durchlebten jüdischen Erfahrung, so hält man mit diesem Vortrag die fundamentale Lehre des jüdischen Überlebenden des Holocaust in die Passform der neuen politischen Opportunität in den Händen. Sein Appell der »Bewahrung der deutschen Kultur« und das von ihm verteidigte »Gebot der Ehrfurcht vor dem klassischen Literaturerbe«65 evoziert das andere, das klassisch-idealistische Erbe Weimars. Sprache, so Klemperer, ist nie »das Werk nur einer Epoche, nur eines gesellschaftlichen Zustandes«, sondern »Generationen über Generationen [haben] an ihr geschaffen«, sie ist »das Gemeinschaftswerk eines ganzen Volkes«.66 Tatsächlich kritisiert Klemperer hier – ungeachtet der Anrufung Stalins – das dogmatische Sprachverständnis des Marxismus, für den Sprache ein neutraler Befund ist. Nur die Sonderinteressen von Klassen prägten ihre je eigenen Begriffe. Klemperer distanziert sich von dieser These mit der wiederkehrenden Berufung auf Stalin: »Sprache ist Ausdruck, Gefäß, Körper der gesamten Denkarbeit einer Nation.«67 Dieser durch Vortrags- und Lehrmöglichkeiten in Dresden, Halle, Leipzig und Berlin sowie durch vielfältige Vortragseinladungen und Publikationsmöglichkeiten und allerlei Komfort (etwa einem Dienstwagen mit Fahrer) noch unterstrichene Aufstieg in der DDR wird im Tagebuch vielfach konterkariert. Im »Wirrwarr der Zeit« nach 1945 wird Deutschland zum Land »der versunkenen Judenwelt« für Klemperer: »Nie mehr werde ich unbefangen sein.«68 Für ihn, so schreibt er, kann es nicht mehr anders sein, als dass »ich nun alles, ich mag wollen oder nicht, sub specie Judaeorum betrachten muss.«69 Er muss sich zur »Beglücktheit«70 über 64 65 66 67 68 69 70 Ebd., S. 25. Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 56. Ebd., S. 13 u. 16. Ebd., S. 62. 45 die wiedererlangte Freiheit nach dem Ende des Krieges regelrecht zwingen; einmal nennt er das Überleben sogar einen »Sieg des Judentums«71: »Ich muß mir ein bisschen oft sagen«, so heißt es weiter, »du bist jetzt im Paradiese, verglichen mit dem vergangenen Zustand.«72 Doch das Tagebuch vermerkt schon ab Sommer 1945 immer häufiger die enttäuschte Hoffnung auf das erwartete »Ausmisten«73 im System der politischen Elite. Das Erstarren über »die grausige Fülle« von Todesnachrichten nimmt nicht ab, sondern zu74; der Frieden war nun Wirklichkeit, aber »mit wieviel Millionen Toten erkauft!«, so sein Ausruf im Privatraum der eigenen Notizen.75 Immer wieder unterbricht er Eintragungen der Zuversicht und des Aufbruchs und fällt sich selbst in den Arm, ruft sich zu »Zurückhaltung« auf und schiebt Bemerkungen ein wie jene, die Juden dürften sich »nicht vordrängen und als Nutznießer und Sieger aufspielen«.76 »Ich mag nur nicht als jüdischer Rachegeist und Triumphator erscheinen.«77 Durch die Veröffentlichung dieses Tagebuch-Dokuments von Klemperer können wir heute den inneren und intellektuellen Widerstreit verfolgen, in dem er sich in der Frühzeit der DDR wähnte. Einerseits wollte er nun aus dem Erlebten allgemeine Schlüsse ziehen. Im Januar 1950 notiert er etwa: »Ich mag nicht die Judenerinnerung schreiben, ich muß mich allgemein halten.«78 Dann aber dokumentiert er immer wieder die »dunkelschwülstigen«79 alten Bilder und wiederkehrenden Ressentiments des »neu erwachenden Antisemitismus«80 und die allgemeine »Degradierung der Vernunft«, die er für die tiefste, »die eigentlich deutsche« Wurzel des Unheils hält und keineswegs nur im westlichen Teil des besetzten Deutschlands, sondern auch in der SBZ ausmacht.81 An den Aufmärschen der Nationalen Front konstatiert er später voller Skepsis den »ungeheuer militärischen Schneid«, die Feier sei mit ihren Parolen geradezu »kriegerisch« gewesen und habe im Ganzen dem Ritual der Hitlerjugend geähnelt82. Auch hört Klemperer jemanden sagen, der Handel zwischen den Zonen und mit dem Ausland werde von »den« Juden organisiert; er fragt zurück: »Nur die Juden? Er: natürlich nicht: ›nur‹… aber doch die Juden. Er fand auch, man sei zu hart gegen die einstigen Pg’s. Da sei doch auch Sozialismus dabeigewesen!«83 Das Medium seiner Deutschlandkritik bleibt auch nach 1945 und 1949 immer die Sprache.84 Noch immer oder wieder konstatiert Klemperer ein »krankes Deutsch«85. Bald tritt er im Zorn des Augenblicks sogar dafür ein, »ein antifaschistisches Sprachamt« einzusetzen, doch bald beginnt er damit, »dem marxistischen Sprachgebrauch« systematischer und wissenschaftlich nachzugehen86 und seine sprachkritische Arbeit, die in der NS-Zeit das lateinische Kürzel »LTI« erhalten hatte, unter dem Akronym »LQI« fortzusetzen: »Jede paedagogische und historische Rundfunksendung wimmelt von Entstellungen. Und dabei hätte man’s doch nicht nötig zu lügen!«87 Auch die kommunistische Partei, so der enttäuschte Tagebuch-Chronist, etablierte nun gesellschaftsund geschichtsbezogene Sprachformeln, die an jene jüngst erst überwundenen erinnern: »Ich werde in die Lage der Hitlerjahre zurückgedrängt: für den Schreibtisch zu arbeiten. Vielleicht veröffentlicht es jemand später einmal.«88 Ein Eintrag aus der frühen Nachkriegszeit lautet: »Die KPD hier unterstützt den Juden nicht so eifrig wie etwa den Parteigenossen – sie wittert im Juden offenbar mit Mißtrauen den Kaufmann, Nicht-Arbeiter, Kapitalisten.«89 Oft wird Klemperer durch Gefühle überwältigt, die er mitnotiert: »Der Kulturcurs der SED ist mir verhaßt«, er spüre mehr und mehr den »alten Platz ›zwischen den Stühlen‹«.90 Im Mai 1950 heißt es in der deutlichsten Form: »Auseinanderklaffen in allem Geistigen mit der SED. Ich kann aber nicht nach Westen ausweichen, der ist mir noch zuwiderer.«91 Im Oktober 1957 spricht der 76-Jährige dann aus, was auch zuvor in all den Jahren in seinen Aufzeichnungen mal mehr, mal weniger direkt zum Ausdruck kommt: »Im übrigen 84 Heide Gerstenberger, »›Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschie- 85 86 87 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 46 Ebd., S. 73 f. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 56, 62 u.ö. Ebd., S. 72. Ebd., S. 74. Ebd., S. 14 u. 17. Ebd., S. 12; ähnlich auch schon S. 7, 9, 73 u.ö. Ebd., Bd. II, S. 6. Ebd., Bd. I, S. 83. Ebd., S. 9. Ebd., S. 47. Ebd., Bd. II, S. 15. Ebd., S. 51. Abb. o.: Victor Klemperer erhält am 6. Oktober 1952 in der Deutschen Staatsoper Berlin aus den Händen von Wilhelm Pieck den Nationalpreis für Wissenschaft, Technik, Kunst und Literatur III. Klasse. Es war dies der Höhepunkt seiner öffentlichen Anerkennung. Foto: Bundesarchiv, Hans-Günter Quaschinsky 88 89 90 91 denen Nationalitäten sind ins Wackeln gekommen wie die Zähne eines alten Mannes‹. Victor Klemperer in seinem Verhältnis zu Deutschland und zu den Deutschen«, in: Hannes Heer (Hrsg.), Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997, S. 10–20; Cornelia Essner, »Odysseus beim Polyphem. Das Tagebuch Victor Klemperers«, in: Antisemitische Bruchstücke. Zehn Geschichten aus dem Dritten Reich, Berlin, Tübingen 2014, S. 23– 38. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. II, S. 37 u. 48. Ebd., Bd. I, S. 38; auch Bd. II, S. 24. Ebd., S. 38; zur »LTI« auch: Arvi Sepp, Art. »LTI«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaft hrsg. von Dan Diner, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2012, S. 566–571. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. II, S. 38; zu den fortlaufenden Notizen zur »Lingua Quartii Imperii« vgl. die folgenden TagebuchBemerkungen: ebd., Bd. II, 5, 12, 16, 24, 45 u.ö.; insgesamt: Heidrun Kämper, »LQI – Sprache des Vierten Reichs. Victor Klemperers Erkundungen zum Nachkriegsdeutsch«, in: Armin Burkhardt, Dieter Cherubim (Hrsg.), Sprache im Leben der Zeit. Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Helmut Henne zum 65. Geburtstag, Tübingen 2001, S. 175–194. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 27. Ebd., Bd. II, S. 37 u. 48. Ebd., S. 37. Einsicht Abb. l: Klemperer (hier im Juli 1946) setzte im Selbstgespräch seiner privaten Aufzeichnungen die kritischen Notizen über Sprache und Denken in Politik, Gesellschaft und Alltag auch im Nachkriegsdeutschland fort. Ihn empörten vor allem die alltäglichen Szenen des privaten Verdrängens, wie sie ehemalige Mitglieder der NSDAP häufig an den Tag legten, etwa wenn einer sagte: »Es war doch auch viel Sozialismus dabei«. Solche Sätze bestärkten seine Zweifel, ob er zu diesen Deutschen überhaupt noch gehören wollte. Foto: SLUB/Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek Einsicht 15 Frühjahr 2016 Abb o.: In seinen Tagebüchern vermerkte der Romanist nicht nur in den Wochen und Monaten unmittelbar nach Kriegsende, sondern auch in den Jahren und Jahrzehnten seit der Staatsgründung der DDR ein ums andere Mal seine Enttäuschung über das gesellschaftspolitische Klima und den Umgang mit der Vergangenheit. Das Bild zeigt im Faksimile die Fortsetzung des Eintrags vom 21. Juni 1945 und den Beginn des Eintrags vom 22. Juni 1945 (Orig. 29,7 x 21 cm). Foto: SLUB/Deutsche Fotothek 47 wird mir die Politik immer widerlicher – sie lügen u. stinken alle beide (Osten u. Westen) gar zu sehr.«92 Nicht nur die neue politische Klasse und das Establishment liefern Enttäuschungen. Auch die Deutschen im Allgemeinen lassen ihn auf Distanz gehen: »Jeder will nur zwangsweise Pg. gewesen sein.«93 Und: »Das Volk ist so rettungslos dumm u. gedächtnislos.«94 Es sei ihm, so Klemperer, »eigentlich ein widerwärtiges Gefühl, noch einmal mit diesen Menschen hier etwas zu tun haben zu sollen.«95 Klemperer äußert sich zunehmend fassungslos über die »Verzeihungs- und gerührte[n] Liebeserklärungen an alle gutwilligen Pg’s.«96 Ihn ärgerte auch das so ungebrochen daherkommende sozialistische Selbstbewusstsein, das »Superlativieren« von Johannes R. Becher, den man schon im Sommer 1945 »zum größten deutschen Dichter« erhob.97 Zugleich stößt es ihn ab, wie man »stur« Marx und Engels nachbetet: »Und welche Enge, daß der Dichter nur seine eigene Klasse zu schildern vermag! Überhaupt steht hier Klasse wie bei den Nazis Art steht.«98 Einer SED-Sekretärin gesteht er im Juni 1947 in einem Gespräch einmal, als sie ihm von den Indoktrinationen ihrer Schulzeit berichtet hatte: »So wie Sie vor einem Juden zurückschauderten, so verspürt unsereiner einen Blutgeruch, wenn er von einem Menschen hört, er sei Staatsanwalt im dritten Reich gewesen.«99 Klemperer, der in der Frühzeit der DDR Vorträge nicht nur im Osten, sondern auch im Westen hält100, hat kein Vertrauen in die beiden deutschen Staaten: in den Westen sowieso nicht, aber auch über den Osten schreibt er: »Ich weiß, daß die demokratische Republik innerlich verlogen ist«, so über die Gründung der DDR.101 Seinen politischen Eifer für die SED, mit dem er in den Nachkriegsjahren seinen Beitrag zur »Entdunkelung« der Nazifolgen leistet, empfindet er bald als eine »rote Schminkeschicht«.102 So hält es Klemperer bei genauem Hinsehen – und im Unterschied zu den antisowjetischen und antirussischen Deutschen – zuletzt mehr mit den Besatzern als mit den Besetzten und ist der Meinung, dass die Anwesenheit von Panzern der Roten Armee eine Überlebensgarantie des politischen Friedens darstellt103: »Nicht weil er Gleichheitszeichen zu den Verhältnissen im Nazireich glaubt setzen zu müssen«, so sein Biograph Peter Jacobs, »sondern weil ihm angesichts der neuen Verhältnisse nachhaltige Zweifel an 92 Ebd., S. 656. 93 Ebd., Bd. I, S. 9; ähnlich auch ebd., S. 15, 52, 73, 82, 95 u.ö. 94 Ebd., S. 51. 95 Ebd., S. 8. 96 Ebd., Bd. II, S. 5. 97 Ebd., Bd. I, S. 89. 98 Ebd., Bd. II, S. 24. 99 Ebd., Bd. I, S. 393. 100 Jacobs, Victor Klemperer, S. 300 u. 353. 101 Zit. nach ebd., S. 326. 102 Zit. nach ebd., S. 304 u. 362. 103 Ebd., S. 326. 48 der Kulturfähigkeit und der Reinigung des beiderseitigen deutschen Geisteslebens gekommen sind«.104 So klingt der folgende Satz wie ein Fazit aus der Summe seiner Distanznahmen: »Deutschland ist ein in zwei Stücke zerfahrener Regenwurm; beide Teile krümmen sich, beide vom gleichen Faschismus verseucht, jeder auf seine Weise.«105 Das Innere der Geschichte Es gehört zur Grundsatzentscheidung nicht weniger Emigranten, dass sie, um ihre Hoffnung auf das »andere Deutschland« zu bewahren und zu schützen, als Gast in Deutschland sein wollten, nicht als Deutsche, als Rückkehrer oder auch nur als Staatsbürger. Peter Merz hat in seiner Studie Und das wurde nicht ihr Staat gezeigt, wie viele von ihnen die Rückkehr lange hinauszögern und dann die Nachbarstaaten als endgültige Heimat oder als Wohnsitz wählen: »In Deutschland«, so schrieb Merz 1985, »sind sie nur noch Gäste – wie Walter Mehring und Hermann Kesten, Robert Neumann und Thomas Mann, Jean Améry und Ludwig Marcuse, Carl Zuckmayer und Klaus Mann.« Ebenfalls zu nennen wären Paul Celan, Nelly Sachs und Elias Canetti.106 »Auch wer sich neu beheimaten kann und das Bürgerrecht eines andern Landes erwirbt«, so hat dies Karl Löwith formuliert, »wird einen grossen Teil seines Lebens verbrauchen, um diesen Riss auszufüllen.«107 Beide hier betrachtete Intellektuelle haben ihre Zurückhaltung Deutschland gegenüber nicht in ihren Hauptwerken erörtert, in ihrem Beruf oder was sie dafür hielten, haben sie dies gar nicht oder nur am Rande beachtet. Seghers hat dieser Erfahrung nicht als Schriftstellerin, Klemperer nicht als Universitätslehrer Ausdruck verliehen. In beiden Innentexten, durch die wir aufgrund der zeitgenössischen Briefe, der Tagebücher und der Erinnerungstexte Kenntnis haben, wird Deutschland wie von außen geschildert. Diese Beobachtung ist nur scheinbar redundant. Denn beide beschreiben als Zeit- und Augenzeugen der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und der darauffolgenden Jahre deutsche Verhältnisse; sie sind biographisch untrennbar mit der deutschen Kultur und der deutschen Literatur verbunden, die ihnen dabei aber mehr und mehr zum Arbeitsstoff wird. Am Wendepunkt und in der Zwischenzeit der Besatzung von 1945 bis 1949 – und dann vor allem mit der doppelt erfolgten Staatsgründung – ist der gewählte Bezug auf Deutschland auch tatsächlich ein besonderer, es gibt Deutschland ja mehrfach, nicht nur in Innenbildern und 104 Ebd., S. 354 f. 105 Ebd., S. 363. 106 Merz, Und das wurde nicht ihr Staat, S. 87 u. 220. 107 Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: Ein Bericht, Neu- somit symbolisch, sondern konkret und politisch. Deshalb konnte man in dieser Zeit die deutsche Frage von innen und von außen zugleich betrachten. Deutschland – das war die soeben vergangene Katastrophe des Nazismus und der Neuanfang in der Gegenwart; und Deutschland – das waren auch beide sich abzeichnende deutsche Staatsgebilde in Ost und West. So machten es sowohl Geschichte als auch Politik dieser Jahre dem Betrachter nicht schwer, innen zu sein und zugleich von außen auf das Geschehen zu blicken. Anna Seghers und Victor Klemperer nicht als Schriftsteller, Akademiker und Philologen zu betrachten, sondern als Tagebuchund Briefschreiber und so ihren Beruf und ihre Berufung jenseits ihres »Hauptgeschäfts« (ein Ausdruck von Goethe, den Theodor W. Adorno liebte) zu sehen, das eröffnet die Möglichkeit, einen Blick hinter das offizielle und öffentliche Werk der beiden Intellektuellen zu werfen. Zugleich sind mit dieser »First-Person-History«108 auch Varianten des Nachdenkens über Deutschland benannt, und die eigene Zugehörigkeit zu diesem Land bildet sich noch einmal in Kategorien der Überlieferung ab, in Quellenformen oder -gattungen, dem Brief (bei Seghers) und dem Tagebuch (bei Klemperer). Es gibt eine andere Ideengeschichte, die sich nicht in den Hauptwerken ausspricht, sondern die ganz innen stattfindet, dort, wo nur Briefe, Tagebücher und Memoiren hinreichen. Und da manche Geschichten nur dort stattfinden, kaum »außen« und weit entfernt von den an die Öffentlichkeit adressierten Texten, gehört es methodisch zur Aufmerksamkeit der Historiker, auch den Ort aufzusuchen, an dem sich entscheidet, wann das »Ich« aus dem gegebenen »Wir« herausgelöst wird (oder herausgelöst werden muss), wann sich die umfassende Bedeutung des von uns oder anderen ausgesprochenen »Wir« verändert. 108 Omer Bartov, »H. G. Adler und First-Person-History«, in: Julia Creet, Sara R. Horowitz, Amira Bojadzija-Dan (Hrsg.), H. G. Adler. Life, Literature, Legacy, Evanston, Ill. 2016, S. 119–137. Durch die Linse der SS 2007 erhielt das United States Holocaust Memorial Museum ein Fotoalbum. Dieses entpuppte sich schnell als Sensation. Denn es gehörte Karl Höcker, Adjutant des letzten Lagerkommandanten von Auschwitz, Richard Baer. Die Bilder geben ganz neue Hinweise auf Verbindungen der SS-Größen. Und sie zeigen Verantwortliche und Ausführende des Massenmords, die hier erstmals identifizierbar werden. Die Texte erschließen das Album wie auch den Fall Höcker. 340 S.,150 s/w Abb., geb. mit SU € 49,95. ISBN 978-3-8053-4958-1 ausgabe, Stuttgart 2007, S. 136. Einsicht Einsicht 15 Frühjahr 2016 49 Rezensionen Buchkritiken 58 Rezensionsverzeichnis Liste der besprochenen Bücher 52 Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus, Martin Cüppers (Hrsg.): Deutsche Berichte aus dem Osten 1942/1943. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion von Martin Holler, Berlin 53 Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust von Markus Eikel, Den Haag 54 Svenja Bethke: Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna von Andrea Löw, München 55 Francis R. Nicosia: Nazi Germany and the Arab World von Florian Weber, München 56 Ian Kershaw, To Hell and Back. Europe 1914–1949 von Michael Elm, Tel Aviv 50 Thomas Darnstädt: Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945 Nürnberger Menschrechtszentrum (Hrsg.): Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert von Alexa Stiller, Bern 71 Rüdiger Hachtmann, Sven Reichhardt (Hrsg.): Detlev Peukert und die NS-Forschung von Kurt Schilde, Berlin/Potsdam 82 Peter Huth (Hrsg.): Die letzten Zeugen. Der AuschwitzProzess von Lüneburg 2015. Eine Dokumentation von Werner Renz, Fritz Bauer Institut 72 Stephan Braese, Dominik Groß (Hrsg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945 von Christoph Schneider, Frankfurt am Main 83 Ursula Wamser, Wilfried Weinke (Hrsg.): »Ich kann nicht vergessen und nicht vergeben« Andrea Löw, München 60 Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945 von Remko Leemhuis, Berlin 73 Marceline Loridan-Ivens, mit Judith Perrignon Und du bist nicht zurückgekommen von Roland Kaufhold, Köln 84 Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien von Alexandra Klei, Berlin 74 61 Kim Wünschmann: Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps von Elisabeth Gallas, Leipzig Ernst Würzburger: »Der letzte Landsberger«. Amnestie, Integration und die Hysterie um die Kriegsverbrecher in der Adenauer-Ära von Volker Rieß, Ludwigsburg 85 Helga Krohn: Bruno Asch – Sozialist. Kommunalpolitiker. Deutscher Jude. 1890–1940 von Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut 62 Gideon Greif, Itamar Levin: Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am 7. Oktober 1944 von Jochen August, Berlin/Oświęcim 86 Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra (Hrsg.): Gedenkstättenpädagogik – Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen von Kerstin Engelhardt, Berlin 64 Alexander Pinwinkler: Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert von Nicolas Berg, Frankfurt am Main/Leipzig 88 Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen die Macht. Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte von Gerd Hankel, Hamburg 89 KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Gedenkstätten und Geschichtspolitik von Wolf Kaiser, Berlin 90 Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen von Galina Hristeva, Stuttgart 75 Hans-Christian Dahlmann: Antisemitismus in Polen 1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft von Monika Tokarzewska, Toruń 76 Imke Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955 Katharina Stengel, Fritz Bauer Institut 77 66 Jovan Ćulibrk: Historiography of the Holocaust in Yugoslavia von Alexander Korb, Leicester/Jerusalem 67 Katharina Friedla: Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen von Markus Roth, Gießen 68 Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust von Melanie Hembera, Ludwigsburg 69 Rywka Lipszyc Das Tagebuch der Rywka Lipszyc von Markus Roth, Gießen 70 Janina Hescheles: Oczyma dwunastoletniej dziewczyny [Mit den Augen einer Zwölfjährigen] von Karol Sauerland, Warszawa Rezensionen Christiane Schubert, Wolfgang Templin: Dreizack und Roter Stern. Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis in der Ukraine Lara Schultz und Ingolf Seidel, Berlin 78 Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur der nationalsozialistischen Vernichtungslager von Martin Mauch, Frankfurt am Main 79 Lorenz S. Beckhardt: Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie von Roland Kaufhold, Köln 80 Samuel Salzborn (Hrsg.): Zionismus. Theorien des jüdischen Staates von Nico Bobka, Frankfurt am Main 81 Alfred Sohn-Rethel: Die deutsche Wirtschaftspolitik im Übergang zum Nazifaschismus. Analysen 1932–1948 von Jérôme Seeburger, Leipzig Einsicht 15 Frühjahr 2016 51 Ideologisierte Wahrnehmung Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus, Martin Cüppers (Hrsg.) Deutsche Berichte aus dem Osten 1942/1943. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014, 892 S., € 59,95 Der vorliegende dritte Band komplettiert die Editionsreihe zu den Dokumenten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) in der besetzten Sowjetunion.1 In chronologischer Fortsetzung des ersten Bandes umfasst er die »Ereignismeldungen UdSSR« (EM) von Januar bis April 1942 sowie die unmittelbar folgenden »Meldungen aus den besetzten Ostgebieten« (MbO), die bis einschließlich Mai 1943 erschienen. In diesen Zeitraum fielen sowohl die zweite Vernichtungswelle gegen die sowjetischen Juden als auch das Erstarken der Partisanenbewegung und die militärische Niederlage in Stalingrad, was sich in unterschiedlicher Intensität auch in den Berichten widerspiegelte. Positiv zu vermerken ist, dass Band III – anders als noch Band I – neben dem Personen- auch über ein Ortsregister verfügt. Zum idealen Nachschlagewerk fehlt jedoch nach wie vor ein Sachregister, das eine schnelle und gezielte Suche nach zusammenhängenden Themenbereichen (Opfergruppen, Institutionen, Alltagsphänomene, Partisanen, Zwangsarbeit usw.) ermöglichen würde. Bedauerlich ist ferner die Entscheidung der Herausgeber, einige Passagen, die ihnen inhaltlich nicht relevant erschienen, auszulassen und durch Auslassungszeichen zu ersetzen, ohne den Inhalt in Anmerkungen zusammenzufassen oder zumindest stichpunktartig zu benennen. Auch die Illustrierung des Bandes mit zeitgenössischen Fotografien kann nicht überzeugen, da sie keinen unmittelbaren Bezug zu den konkreten Meldungen erkennen lassen. So findet sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in EM 149 vom 16.2.1942 eine Fotografie mit der Bildbeschreibung »Erhängte Zivilisten November 1941«, ohne dass der Leser erfährt, wo und in welchem Zusammenhang das Foto aufgenommen wurde und warum es in dieser Meldung platziert wurde. (S. 157) 1 52 Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus, Martin Cüppers, (Hrsg.), Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Darmstadt 2011 [Bd. I]; dies. (Hrsg.), Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–1945. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Darmstadt 2013 [Bd. II]. In ihrer sehr informativen Einleitung beschreiben die Herausgeber nicht nur den behandelten historischen Zeitraum, sondern gehen auch ausführlich auf die Änderungen ein, die der Übergang von den EM auf die MbO mit sich brachte und die für die Interpretation der Quellen von grundlegender Bedeutung sind: Nicht nur der Erscheinungsrhythmus änderte sich (2–3 EM pro Woche, MbO wöchentlich), sondern auch Form und Inhalt. Während über die Massenverbrechen ab Sommer 1942 nur noch verschleiert berichtet wurde, wurde die zunehmende Gefahr durch Partisanen offen benannt und mit Zahlen untermauert. Der beständig abnehmende Einfluss von Sipo und SD auf den tatsächlichen »Bandenkampf« durch Wehrmacht und Ordnungspolizei führte in den MbO dann ab Herbst 1942 zu immer größerer Realitätsferne und einer »interessengeleitet verzerrten Darstellung«. (S. 17) In der Tat ähnelten die EM des Jahres 1942 in ihrer Beschreibung des Massenmordes an der Zivilbevölkerung noch ganz ihren Vorgängern des Jahres 1941, indem detailliert über die Zahl der erschossenen Personen berichtet wurde. So hieß es etwa in EM 165 vom 6.2.1942 zur Tätigkeit der Einsatzgruppe D unumwunden, in der Berichtszeit vom 15.–31.1.1942 seien »3.601 Personen erschossen« worden, »davon 3.286 Juden, 152 Kommunisten, NKWD-Leute, 84 Partisanen und 79 Plünderer, Saboteure, Asoziale. Gesamtzahl bisher 85.201«. (S. 141) Der Bruch in der offenen Darstellung erfolgte dann im Mai 1942 mit dem Erscheinen der MbO, in welchen oft nur noch von Festnahmen die Rede war. (S. 616 f.) Die solide Kommentierung der Dokumente beinhaltet unter anderem Kurzbiographien zu allen genannten Akteuren, was von einem hohen Rechercheaufwand zeugt, und wichtige Korrekturen zu den auffallend häufigen Fehlern bei der Benennung von Personen und geographischen Orten. Besonders hervorzuheben ist jedoch die kluge Hinterfragung und teilweise Widerlegung der »ideologischen Optik« und geschönten Darstellungen durch den systematischen Abgleich der Berichtsinhalte mit Quellen anderer Provenienz. Insgesamt betrachtet ist der dritte Band zu den Dokumenten der Einsatzgruppen in der Sowjetunion wie schon seine beiden Vorgänger eine großartige und unverzichtbare Quellenedition, die in keiner Historikerbibliothek fehlen sollte, aber auch für ein breites Publikum und pädagogische Zwecke geeignet sein dürfte. Die Unmittelbarkeit der Berichte, kombiniert mit der fachkundigen und quellenkritischen Kommentierung durch die vier Herausgeber, vermittelt ein äußerst eindringliches Bild von der erbarmungslosen Besatzungspolitik und dekonstruiert zugleich die ideologische Verblendung der Täter. Es wäre jedoch eine Überlegung wert, einen Ergänzungsband – gedruckt oder digital – mit einem Sachregister für alle drei Bände und einem nachträglichen Ortsregister für Band I auszuarbeiten, um das Optimum an Benutzerfreundlichkeit zu erreichen. Frauen im Holocaust Wendy Lower Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. München: Carl Hanser Verlag, 2014, 336 S., € 24,90 Martin Holler Berlin Die amerikanische Historikerin Wendy Lower, ausgewiesene Spezialistin zur Geschichte des Holocaust insbesondere in der Ukraine, beschäftigt sich in dieser Studie mit der Rolle deutscher Frauen bei ihrem Einsatz in Polen und der besetzten Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Nach Lower gingen rund eine halbe Million deutscher Frauen als Teil der deutschen Militär- und Besatzungstruppen und damit als »integraler Bestandteil von Hitlers Vernichtungsmaschinerie« (S. 16) in den besetzten »Osten«. Die Arbeit gründet auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellengattungen, wobei Zeugenaussagen, die im Rahmen west-, ostdeutscher und österreichischer Ermittlungen erhoben wurden, eine herausragende Rolle spielen. Lower teilt die Frauen im »Osten« in vier Tätigkeitsgruppen ein: Krankenschwestern, Lehrerinnen, Sekretärinnen und Ehefrauen von offiziellen NS-Repräsentanten. Diese beteiligten sich in drei verschiedenen Funktionen am Holocaust: als Augenzeuginnen, Komplizinnen und Täterinnen. Anhand des eingesehenen Quellenmaterials verfolgt Lower die Lebensläufe von 13 Frauen, die während des Zweiten Weltkrieges vor allem nach Polen und in die Ukraine kamen. Sechs dieser Frauen können der Kategorie der Täterinnen zugeordnet werden, die meisten davon als Ehefrauen. Die ausgewählten Beispiele der Täterinnen – etwa der Fall von Erna Petri, die in der Nähe von Lemberg eigenhändig sechs jüdische Kinder erschoss – belegen eindrucksvoll, dass Frauen an individuellen Tötungen beteiligt waren. Dabei begingen sie ihre Verbrechen nicht in offiziellen, sondern gerade auch in nichtoffiziellen Funktionen und informellen Kontexten. (S. 86) Die gewählten Beispiele erfassen allerdings nur unzureichend, dass es in der überwältigenden Mehrheit der offizielle Besatzungsapparat, also deutsches Militär, SS/Polizei und Zivilverwaltung, war, der die Juden in Osteuropa ermordete, in der besetzten Sowjetunion überwiegend in Form von Massenerschießungen. Die örtliche Besatzungsverwaltung war in ihren leitenden Positionen ausschließlich männlich besetzt; und damit lag die strategische Planung und Verantwortung örtlicher Mordaktionen in den Händen von Männern. Auch Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 bei der Umsetzung des systematischen Massenmords vor Ort ist für die zahlreichen Massenerschießungen in der Sowjetunion eine aktive Beteiligung weiblicher Exekutoren nicht bekannt. Folgerichtig wird auch in den von Lower vorgestellten Lebensläufen kein direkter und aktiver Bezug ihrer Protagonistinnen zu diesen strategisch geplanten und umgesetzten Exekutionen hergestellt, vielmehr handelt es sich bei ihren Beispielen um individuell motivierte Tötungen, die »eher der Gelegenheit geschuldet« (S. 74) waren. Der Bedeutung des offiziellen Besatzungsapparates könnte in der vorliegenden Studie insgesamt weit stärkeres Gewicht eingeräumt werden. Basierend auf den von ihr gewählten Beispielen zieht die Autorin bisweilen sehr verallgemeinernde Schlussfolgerungen, für deren Überprüfung eine breitere Quellenbasis wünschenswert wäre, etwa wenn sie behauptet, »wir können uns jetzt vorstellen, dass die hier präsentierten Muster gewalttätigen und mörderischen Verhaltens überall in der Ukraine, in Polen, Weißrussland, Litauen und in anderen Teilen des von den Nationalsozialisten beherrschten Europas zu finden waren« (S. 186). Die Fokussierung auf den weiblichen Anteil am Holocaust führt zwangsläufig zu der Frage, über wie viele Täterinnen wir hier eigentlich sprechen. Dabei ist Lower angesichts der auch von ihr eingeräumten ungenügenden Quellenlage (S. 57, 183) weitgehend auf Vermutungen und Inferenzen angewiesen, die sie von der »Spitze eines Eisbergs« sprechen lassen (S. 185), der mit mehreren tausend Mörderinnen noch »unrealistisch niedrig« sei (S. 186). Ebenso gut könnte man allerdings auch argumentieren, dass eine Gesamtzahl von Täterinnen aufgrund der geringen Anzahl von vorliegenden Fallbeispielen weiter schwer zu bestimmen bleibt; und dass die Behauptung, die ausgewählten Täterinnen »können unmöglich so seltene Ausnahmen gewesen sein, wie wir gerne glauben« (S. 258), zusätzlicher quellengestützter Nachforschungen bedarf, bevor weitere Verallgemeinerungen gezogen werden können. Insgesamt hat die Autorin mit dieser Studie ein weiteres anregendes Buch publiziert, das eine breitere Quellenbasis und eine gelegentlich größere Zurückhaltung in den Formulierungen noch eindrucksvoller hätte machen können. Es fällt auf, dass der bisweilen emotionale Tonfall in der deutschen Übersetzung hier und da abgemildert wird, so etwa wenn sich der Titel von Hitler’s Furies zu Hitlers Helferinnen ändert und aus der als »Killers« bezeichneten Frauengruppe die Gruppe der »Täterinnen« wird. Markus Eikel Den Haag 53 Das Dilemma der Judenräte Svenja Bethke Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna Hamburg: Hamburger Edition, 2015, 317 S., € 28,– Einem bisher nur wenig beachteten Aspekt der Geschichte von Juden in der Zeit des Holocaust widmet sich Svenja Bethke in ihrer nun publizierten Dissertation, nämlich der Frage von Recht und Kriminalität in den Ghettos. Dieser Zugang kann nur auf den ersten Blick überraschen, denn jenseits der stets präsenten Gewalt und Willkür seitens der deutschen Besatzer gab es in den Ghettos ein recht umfassend organisiertes innerjüdisches Leben, zu dem eben auch der eigene Umgang mit Kriminalität und die Definition von Recht gehörten. Der große Bruch, den die Ghettoisierung für die jüdische Bevölkerung bedeutete, brachte auch einen Wandel kollektiver Deutungsmuster in den Bereichen von Kriminalität und Recht mit sich. In der »Lebenswelt Ghetto« wandelten sich die Vorstellungen darüber, was als kriminell oder moralisch verwerflich zu gelten habe. Diese sich verändernden Bedingungen und die Versuche der Judenräte und der Gerichte, durch Definitionen von Rechtsnormen und deren Einhaltung ein gewisses Maß an »Normalität« und ein »Mindestmaß an sozialer Stabilität« (S. 38) in dieser unnormalen Welt der Ghettos zu schaffen, beschreibt die Autorin am Beispiel der drei großen Ghettos in Litzmannstadt, Warschau und Wilna. Damit nimmt sie den Reichsgau Wartheland (Litzmannstadt), das Generalgouvernement (Warschau) und das Reichskommissariat Ostland (Wilna) in den Blick. Diese Auswahl ist sinnvoll, weil die jüdische Selbstverwaltung in diesen Ghettos in hohem Maße ausdifferenziert war, über entsprechende Rechtsinstanzen verfügte und die Quellenlage günstig ist. Außerdem waren die sich wandelnden Ziele der deutschen Besatzer von großer Bedeutung für die Definition und Ausgestaltung von Rechtsnormen in den Ghettos, und hier ist besonders der Vergleich der beiden Ghettos auf polnischem Boden mit dem in Wilna, das erst nach dem Beginn des Massenmords errichtet wurde, erhellend. Denn Recht wurde zunächst einmal durch die deutschen Besatzer gesetzt (und deren Interessen und Forderungen an die Judenräte wandelten sich im Laufe der Zeit). Darüber hinaus waren es aber Aushandlungsprozesse, in denen die Judenräte Recht und Kriminalität definierten. Strafen sollten abschreckende Wirkung haben und damit Handlungen, die dem Ghetto und seinen Bewohnern schaden konnten, verhindern. 54 Die deutschen Interessen zu antizipieren war eine Möglichkeit, Gefahren für das Ghetto abzuwenden. Doch damit entstand zugleich der große Konflikt: Die Vorstellungen und Definitionen der Judenräte, was Recht und was kriminell war, entsprach zumeist nicht denen der Ghettobewohner. Für sie stellten häufig gerade die als kriminell definierten Handlungen individuelle Überlebensmöglichkeiten dar. Am Beispiel von Recht und Kriminalität wird in dieser Studie das große Dilemma der Judenräte sehr deutlich. Bethke leistet hier einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Debatte um die Judenräte. Sie stellt fest: »Die ghettointerne Rechtssphäre war der Bereich, in dem sich das Dilemma der Judenräte in besonderer Weise verdichtete: Es galt, über rechtliche Belange zu urteilen in einem Raum, in dem die dort zwangsweise lebenden Individuen von der Besatzungsmacht bereits völlig entrechtet worden waren und unter diesen Bedingungen faktisch kriminell handeln mussten, um zu überleben.« (S. 293) Und auch der von den Deutschen angeordneten jüdischen Polizei als wichtigem Akteur der Durchsetzung von Recht widmet sich die Autorin, auch deren Handlungsspielräume lotet sie aus. So ausführlich und differenziert wurde in deutscher Sprache noch nicht über die Ghetto-Polizei geschrieben. Bethke stellt dar, welcherart die Delikte waren, die in den Ghettos vor Gericht kamen, beschreibt das notwendige Improvisationstalent (so gab es in Litzmannstadt keine entsprechenden Bücher) und die Unterschiede zwischen den drei Ghettos. Das Personal der Gerichte verfügte zumeist über einschlägige Berufserfahrung, sorgte sich aber mitunter, sich durch die Tätigkeit im Ghetto die berufliche Zukunft zu verbauen. In den verhandelten Rechtsfällen spielten deutsche und ghettointerne Kriminalitätsdefinitionen eine Rolle. Handlungen, die eine konkrete Gefahr für das Ghetto darstellten, gelangten zumeist gar nicht erst vor Gericht, da sie sofort unterbunden werden sollten. Es gab auch »klassische« Rechtsfälle, diese nahmen aber ghettospezifische Formen an. Bethke rückt die Juden in den Ghettos als handelnde Akteure in den Mittelpunkt, als Menschen, die auf die Situation unterschiedlich reagierten (»und dazu gehörten alle Verhaltensweisen zwischen Mitgefühl, Solidarität, Egoismus, Neid, Wut und Rache«, S. 297), es sind in ihrer Darstellung keine Helden, aber eben auch keine bloßen Opfer. So gelingt ihr eine überzeugende Untersuchung von Recht und Kriminalität in drei Ghettos in drei unterschiedlichen deutschen Machtbereichen. Besonders das Dilemma der Judenräte verdichtet sich im Bereich von Recht und Kriminalität, wie sie in ihrem facettenreichen Buch überzeugend darlegt. Andrea Löw München Politik und Propaganda der Nazis im arabischen Raum Francis R. Nicosia Nazi Germany and the Arab World Cambridge: Cambridge University Press, 2015, 316 S., £ 60 Die komplexe historische Verbindung zwischen islamischer Welt und Nationalsozialismus ist Gegenstand zahlreicher Publikationen.1 Francis Nicosias Studie bietet in diesem Forschungsfeld eine »reexamination« (S. 1) der Außenpolitik von Nazi-Deutschland im arabischen Raum an, die zwei zentrale Sachverhalte in ihrer Verknüpfung untersucht: die geopolitischen Interessen Deutschlands und die ab 1933 in Staat gegossene Rassenideologie. Das Buch stellt keine Revision der bestehenden Literatur dar, kritisiert sie aber insofern, als sie ihren Fokus auf die nationalsozialistischen Propagandatätigkeiten in der arabischen Welt legt und ihre profaschistische Rezeption unter Arabern verabsolutiert. Nicosia weigert sich von einer uniformen arabischen Welt auszugehen, die sich in Kultur, Politik und Ideenwelt monolithisch betrachten ließe. Um die Komplexität der Reaktionsweisen auf Deutschland unter Arabern zu erfassen, möchte er auch explizit zum Studium arabischsprachiger Quellen anregen, das er selbst aufgrund sprachlicher Barrieren nicht zu leisten vermag. Ohne die Hass- und Gewaltausbrüche gegen den Zionismus zu verharmlosen, die sich stets konkret an dem Juden entluden, will Nicosia daran erinnern, dass der Zionismus und die jüdische Einwanderung nach Palästina, interpretiert als westeuropäische Einmischung, von vielen als Bedrohung der arabisch-nationalen Selbstbestimmung empfunden wurde. Die antijüdische Gewalt mit dem Verweis auf westliche oder imperiale Fremdherrschaft zu relativieren, würde gleichwohl Positionen attackieren, die den arabischen Antisemitismus als Spiegelbild des europäischen untersuchen. Die arabischen Abneigungen gegen die regionale Präsenz westlicher Kolonialmächte und eine etwa damit zusammenhängende befürwortende Haltung vieler Araber gegenüber Deutschland und auch Hitler gelte es in der Tat einmal sorgfältig zu untersuchen. Nicosias Studie indes konzentriert sich auf die strategischen und ideologischen 1 Rezensionen Eine Übersicht bietet Sehepunkte, Jg. 15 (2015), Nr. 12. Einsicht 15 Frühjahr 2016 Interessen der deutschen Politik im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika. Der Auswertung deutscher Propaganda gegenüber der arabischen Welt wird dabei bewusst wenig Platz eingeräumt. Der Autor konzentriert sich auf die Interessen der deutschen Politik in arabisch besiedelten Gebieten, die stets darauf bedacht war, ihre eigentlichen Intentionen zu verschleiern. Nicosia geht es zuvorderst darum, das Spannungsverhältnis zwischen Nazipropaganda und tatsächlicher Politik zu entschlüsseln. Obwohl sich die massive Propagandatätigkeit der Nazis positiv auf die nationale Selbstbestimmung der Araber bezog, waren damit weitaus gewichtigere politische Implikationen verbunden. Unter anderem ging es darum, die antibritischen und antifranzösischen Gefühle der Araber zu schüren, also im Zuge politischer oder militärischer Strategien den arabischen Nationalismus zu instrumentalisieren. Wie den anderen europäischen Mächten ging es auch den Nazis darum, eine Art der europäischen Kontrolle über die Araber aufrechtzuhalten. Die Agitation der Nazis forcierte sehr wohl arabisch-nationale und antikoloniale Sehnsüchte, ebenso wie die vermeintlichen Vorteile des Antisemitismus massiv propagiert wurden. Nur in letzterem Punkt jedoch war die Agitation auch tatsächlich ernst gemeint: »Unlike the question of Arab independence, this propaganda point and Nazi Jewish policy in general actually did reflect real intent in the foreign policy of Hitler’s Germany during the Second World War.« (S. 274) Während man der Sache arabischer Souveränität jede ernsthafte Unterstützung versagte, stand die von den Nazis massiv beförderte Feindschaft zum jüdischen Siedlungswerk in Relation zu ihrer Judenpolitik in Europa: hier wie dort auf die Vernichtung der Juden abzielend. Nicosia betont in seiner Analyse der deutschen Außenpolitik im arabischen Raum eine starke Kontinuität, die sich vom Kaiserreich bis in die Vorkriegsjahre des Nationalsozialismus erhielt: die Aufrechterhaltung des Status quo in der Orientalischen Frage, die wiederum keine Berücksichtigung des arabischen Nationalismus zuließ. Während die Politik der Weimarer Republik gar keinen entscheidenden Einfluss nehmen konnte und die europäische Aufteilung der Region sowie die Einrichtung des jüdischen Nationalheims mittrug, so wurde auch nach 1933 die Sache der arabischen Unabhängigkeit zunächst mit Teilnahmslosigkeit oder Ablehnung behandelt. Deutsche Interessen wurden vordergründig auf ökonomischem und kulturellem Gebiet verfolgt. Und noch die Ermutigung der Araber während der antibritischen und antijüdischen Unruhen 1938/39 in Palästina deutet Nicosia als den Versuch, den Einfluss der Briten und Franzosen zu schmälern und ihre Aufmerksamkeit von Europa abzulenken. Der arabische Nationalismus wurde dafür benutzt, während ein eindeutiges deutsches Bekenntnis zur arabischen Unabhängigkeit dabei ausblieb. Der einzigen Veränderung im arabischen Raum, der sich die Nazis durchgehend verpflichtet fühlten, war die Zerstörung des jüdischen Nationalheims in Palästina 55 und der jüdischen Gemeinschaft im Nahen Osten und Nordafrika.2 So besteht kein Zweifel daran, wäre der Vormarsch der Deutschen bei el-Alamein nicht zum Erliegen gekommen, dass die jüdischen Gemeinden im Nahen Osten ebenso von der »Endlösung«, der absoluten Vernichtung, erfasst worden wären. Nicosia bilanziert, dass die Araber, obwohl als rassisch minderwertig eingeschätzt, ein solches Schicksal freilich nicht ereilt hätte, aber ihre Betrachtung als »Kolonialvolk« wie die nur geringen geopolitischen Ambitionen in dieser Region dazu führten, dass die Nazis niemals klar die arabische Sache unterstützten. Man könnte es auch anders formulieren: Die Araber waren von Bedeutung, soweit sie für das Gemeinschaftsprojekt des Judenmords zu agitieren waren.3 Ergänzend zu Nicosias gründlicher Auswertung des Quellenmaterials, durch die er überzeugend Kontinuitäten der deutschen Nahostpolitik nachzuweisen vermag, müsste zugleich der Blick für eine weitere Kontinuität geschärft werden, zu deren Verankerung die Nazis und die mit ihnen zusammenarbeitenden Cliquen wesentlich beigetragen haben. Es greift daher Nicosias Schlussbemerkung zu kurz, Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, hätte jenseits der Etablierung muslimischer SS-Verbände auf dem Balkan keine Erfolge vorzuweisen. Die Umtriebe des Muftis wie die antisemitische Propaganda der Nazis im arabischen Raum zeitigten sehr wohl eine Wirkung, auch weit über 1945 hinaus. Der Mufti mag keine arabische Staatlichkeit erreicht haben; der Antisemitismus, wie er sich zuvorderst in der Bekämpfung des jüdischen Siedlungswerks ausagiert, ist in der Region bis heute virulent und hat seinen gewichtigsten Ursprung in der Popularisierung durch den Mufti und seinen Kreis. Gerade weil Nicosia darauf hinweist, dass die Propaganda der Nazis bestrebt war, das Judentum wie den Zionismus mit der amerikanischen und britischen Agenda in der Region zu verknüpfen und als Plan zur Unterdrückung der Araber zu verkaufen, müsste dieser Aspekt besonders betont werden. Florian Weber München 2 3 56 Das Verhältnis von forcierter Emigration der deutschen Juden nach Palästina bei gleichzeitig massiver Bekämpfung eines souveränen Judenstaats wird erläutert bei Francis R. Nicosia, Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany, Cambridge 2008. Dies sowie die Inkonsistenz und offenkundige Willkür der Rassenideologie zeigen sich etwa auch daran, dass Hitler den Mufti wegen seiner blauen Augen zum Araber mit arischen Wurzeln erklärte. Vgl. Benny Morris, The Road to Jerusalem. Glubb Pasha, Palestine and the Jews, London 2003, S. 254. Zweiter Dreißigjähriger Krieg? Von historischen Überblicksdarstellungen erwartet man kaum neue Forschungsbefunde. Vielmehr geht es darum, Zusammenhänge anders zu gewichten oder gar neu zu ordnen und so den historischen Diskurs selbst in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das gilt umso mehr, wenn ein renommierter Historiker wie Ian Kershaw sich daranmacht, den Zusammenhang der beiden Weltkriege zu beleuchten. Ihr Verlauf wird dabei mit je einem Kapitel eher schlaglichtartig abgehandelt. Kershaw interessiert sich vor allem für die im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Messer ausgetragene Konkurrenz der drei aus der politischen Moderne hervorgegangenen Staats- und Wirtschaftssysteme von Faschismus, Kommunismus und liberaler Demokratie. Dabei schaut er notgedrungen immer wieder über den europäischen Tellerrand nach Nordamerika und Russland hinaus. Die Entwicklung des modernen Antisemitismus in Europa und seine genozidale Zuspitzung durch das NS-Regime bilden einen durchgehenden Gesichtspunkt seiner Betrachtung. Als epochenbildende Größe nennt er die Bezeichnung eines zweiten Dreißigjährigen Krieges, der die innere Einheit der von ihm anvisierten Zeitspanne ausmachen soll (S. 9, 347 f.). Das damit verbundene Narrativ wird auch von anderen Historikern wie HansUlrich Wehler oder Jürgen Kocka zur Charakterisierung der Gewaltgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herangezogen. Es geht von der These aus, dass die sich totalisierende Gewalterfahrung im Ersten Weltkrieg so weitreichende Verwerfungen in den Nachkriegsgesellschaften erzeugt hat, dass deren Folgen erst mit der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg zum Erliegen kamen. Das stärkste Indiz für diese Kontinuitätsbehauptung liegt vielleicht in der Tatsache, dass mit Ausnahme der Tschechoslowakei keiner der Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges noch eine liberale Regierung hatte (S. 245). Drei Fünftel der Bevölkerung in Europa (ohne Sowjetunion) lebten unter mehr oder minder autoritären Regimen, was Kershaw als Indikator für das Versagen der von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges etablierten Nachkriegsordnung auffasst. Da der Hauptteil des Buches sich mit jener Zwischenkriegszeit befasst, kann er hier eine facettenreiche Darstellung entwickeln. Er beleuchtet zum einen Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Belgien, die skandinavischen Länder, die Niederlande und die Schweiz, die es trotz innenpolitischen Rechtsrucken schafften, sich dem autoritären Sog der Epoche zu entziehen, und stellt politik- und sozialgeschichtlich informative Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Regimen an. Spanien, Portugal, Polen und Ungarn können sich nicht zuletzt deswegen radikaleren Formen von Politik entziehen, weil ihre konservativ-reaktionären Eliten den Raum für den aufkommenden Faschismus besetzt hielten. Anders in Italien und Deutschland, wo es Mussolini und Hitler gelingt, ein Bündnis mit den konservativen Eliten einzugehen (S. 223 f.) und so ein tief greifender Systemwechsel möglich wird. Das Einlenken jener konservativen Eliten und der Bedeutungsverlust ihrer politischen Repräsentanten verweist allerdings besonders in Deutschland auf eine Gretchenfrage für die Tauglichkeit der Epochenbezeichnung vom zweiten Dreißigjährigen Krieg. Ökonomie und Politik hatten sich hier nach der Hyperinflation in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre weitgehend gefestigt, eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland wurde in den Verträgen von Locarno 1925 ratifiziert, die rechtsextremen Kräfte waren weitgehend eingehegt, bis die große Depression die soziale und ökonomische Situation zum Kippen bringt (S. 193 f.). Die Roaring Twenties enden mit dem Platzen der Spekulationsblase an den amerikanischen Aktienmärkten (S. 150). Damit gewinnt ein außereuropäisches Ereignis eine entscheidende Bedeutung für den Verlauf der weiteren Geschichte in Europa und durchtrennt das ohnehin fragwürdige Kontinuum der beiden Kriege. Kershaw beleuchtet eindringlich die Folgen dieser Krise, zeichnet die unterschiedlichen nationalen Pfade nach, hält aber dennoch am benannten Narrativ fest. Vermutlich hängt dies mit der Betonung einer von Deutschland ausgehenden Aggression zusammen, die sich nicht zuletzt in personellen Kontinuitäten wie den Lebensläufen von Hitler und Hindenburg manifestiert. Die zweifelsohne vorhandenen Kontinuitäten verdecken aber ebenso viel wie sie enthüllen. Ein Verdienst Kershaws liegt gerade darin, die Anfälligkeit jener pluralistischen Gesellschaften nachzuzeichnen, die je nach sozioökonomischer Lage, kulturellen Traditionsbeständen und politischen Kräfteverhältnissen die autoritäre Bedrohung abwenden konnten oder ihr unterlagen. Im Schlusskapitel greift Kershaw die überraschend schnelle Rückkehr zu pluralistischen Politikformen und die parteiübergreifende Entwicklung staatsinterventionistischer Wirtschaftspolitiken in Europa auf. Im Westen wurde unter amerikanischer Hegemonie eine Nachkriegsordnung entworfen, die aus den Fehlern von Versailles und der entstehenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion ihre Konsequenzen zog und diesem Teil Europas sowie insbesondere Westdeutschland eine neue Chance eröffnet hat. Den Ländern Mittel- und Osteuropas blieb dieser Neuanfang verwehrt. Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Ian Kershaw To Hell and Back. Europe 1914–1949 Viking, New York: The Penguin History of Europe Series, 2015, 593 S., $ 35,– Ein Folgeband Kershaws soll die Geschichte Europas bis in die Gegenwart fortführen. Die Penguin Classic Edition verzichtet zwecks besserer Lesbarkeit auf Fußnoten und direkte Literaturverweise. Von wissenschaftlicher Seite vergibt man sich damit die Chance, Kershaws Bezüge genauer nachvollziehen zu können. Zudem hätte es dem Band gutgetan, Deutungskonflikte und Forschungsdesiderate an der einen oder anderen Stelle zu benennen. Michael Elm Tel Aviv 57 70 Jahre IMT – Altes, Neues, Lücken »Frieden durch Recht« brächten; Darnstädt geht es darum, in der Gegenwart und für die Zukunft aus »Nürnberg« zu lernen, so die zweite Hauptaussage des Buches. Drittens deutet der blumige zweite Teil des Satzes auf den populärwissenschaftlichen Hintergrund hin, auf dem die gerade beschriebenen Annahmen ausgebreitet werden. Der Nebensatz suggeriert – und nun komme ich zu den Problematiken des Buches: a) dass Archive schwer erreichbar, verborgen und wenig genutzt seien (was definitiv nicht den Tatsachen entspricht), und b) dass der Autor sich zum »Entdecker« neuer Quellen stilisiert (was – soweit ich das erkennen kann bei einem Buch ohne Fußnoten – nicht der Fall ist, abgesehen davon, dass er die Forschungsergebnisse von Irina Schulmeisters juristischer Dissertation vorveröffentlicht). Darnstädts Buch hätte dabei durchaus aufgrund der Aktualität und der flüssigen Schreibe das Potenzial gehabt, zu einer willkommenen Alternative zu älteren Darstellungen über den Nürnberger Prozess zu avancieren (damit meine ich das Buch von Joe Heydecker und Johannes Leeb von 1958 und die Darstellung des revisionistischen Historikers Werner Maser von 1977; beide Werke werden regelmäßig neu aufgelegt). Um das neue deutschsprachige Standardwerk zum Nürnberger Prozess zu werden, sollte eine Studie jedoch seine Hauptthesen auch diskutieren und nicht als Vorannahmen setzen und den LeserInnen damit aufdrängen. Darüber hinaus müsste es einer politisch und historisch interessierten LeserInnenschaft ein Überprüfen der Aussagen ermöglichen. Doch Darnstädts Buch kommt ohne eine einzige Fußnote aus! Die Entscheidung des Autors und des Verlags, keine Belege anzugeben, muss schärfstens kritisiert werden. (Selbst Wikipedia weiß, dass Belege etwas mit »credibility« zu tun haben.) Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Darnstädts Buch ist aufgrund der nicht gegebenen Überprüfbarkeit verunmöglicht. HistorikerInnen besitzen kein Monopol auf die Vermittlung der Geschichte – zumal der Zeitgeschichte. Den Gegenstand der Nürnberger Prozesse teilten sich von Beginn an JournalistInnen, JuristInnen, HistorikerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und PsychologInnen. Das ist auch gut so, denn all die verschiedenen Sichtweisen, Ansätze und Fragestellungen waren und sind erkenntnisfördernd und in ihrer Gesamtheit bereichernd. Thomas Darnstädt, Leiter des Ressorts »Deutsche Politik« beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel, hat pünktlich zum 70. Jahrestag eine Monographie über den Nürnberger Prozess auf den Markt gebracht. Die beim Piper Verlag erschienene populärwissenschaftliche Darstellung zielt fraglos auf ein breites Publikum. Flüssig und anschaulich, teils jedoch imaginativ geschrieben, erzählt der Autor die Geschichte des Nürnberger Prozesses dramaturgisch wohlbedacht von der Vorgeschichte bis zu den zwölf rein US-amerikanischen Verfahren vor den Nürnberger Militärtribunalen (NMT). Eingerahmt wird »Nürnberg« von aktuellen Entwicklungen der verschiedenen internationalen Strafgerichtshöfe und des Völkerrechts. »Um zu lernen, wie man Frieden macht, bin ich in die alten staubigen Keller gestiegen«, teilt Darnstädt seiner LeserInnenschaft auf der fünften Buchseite mit. Der Satz kann wunderbar als Spiegel des gesamten Buches herhalten: Erstens enthält er die Hauptaussage des Autors, dass nämlich auch durch den Internationalen Militärgerichtshof von 1945/1946 ein langfristiger Frieden geschaffen wurde. Diese fragwürdige Hauptthese dehnt der Autor gleichsam auf heutige internationale Strafgerichtshöfe aus, die seiner Ansicht nach ebenfalls Der Sammelband des Nürnberger Menschenrechtszentrums sei der historisch interessierten LeserInnenschaft hingegen wärmstens ans Herz gelegt. Den neueren Forschungsansätzen folgend wird der Nürnberger Prozess in seinem historischen Kontext verortet. Rainer Huhle, der die Einleitung verfasst hat, fügt dem hinzu, dass »Nürnberg« aber auch ein »Erinnerungsort der Rechtsgeschichte« (S. 12) sei – in diesem Sinne ist dann auch die Wiederveröffentlichung der vier Anklägerreden zu verstehen. In diesen Reden sei das, was »Nürnberg« so bedeutend mache, in konzentrierter Form enthalten, so Huhle. Darüber hinausgehend ist ein zentrales Anliegen des Buches aber auch – und dem ist nur zuzustimmen –, nicht nur Robert H. Jacksons Anteil am Nürnberger Prozess hervorzuheben, wie das häufig in »westlichen« Darstellungen des IMT-Verfahrens geschieht, sondern die Reden der britischen, französischen und sowjetischen Anklagevertretungen als ebenso bedeutsam für »Nürnbergs« Vermächtnis zu verstehen. Nach einer kurzen Erläuterung, wieso von den amerikanischen, französischen und sowjetischen Anklagestäben die Eröffnungsreden kommentiert und publiziert wurden, vom britischen Anklagestab jedoch die Schlussrede (der Chefankläger Hartley Shawcross hatte letzterer mehr Bedeutung beigemessen und in Absprache mit den drei anderen Anklägerschaften das zentrale Schlussplädoyer übernommen), folgt eine skizzenhafte Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Anklagevertretungen auf (leider nur) zweieinhalb Seiten. Hier verschenkt sich der Sammelband den zentralen Mehrwert, den er für die Forschung durch eine ausführliche vergleichende Analyse hätte schaffen können. Die einzelnen Faktoren, die aufgezählt werden, bringen über eine abermalige Hervorhebung der unterschiedlichen Rechtstraditionen und Erfahrungen während des Krieges hinausgehend wenig Neues hervor. Doch die These, dass die US-amerikanische und die britische Anklagevertretung auf der einen Seite und die französische und sowjetische auf der anderen jeweils mehr miteinander gemeinsam hatten, müsste meines Erachtens nochmals neu betrachtet werden. So war beispielsweise das amerikanische Rechtskonstrukt der »Verschwörung« mehr im Sinne der Sowjets als der Briten. Die vier Aufsätze, die den Anklägerreden einleitend vorweggestellt sind, gehen alle der Frage nach, wer die jeweiligen Reden überhaupt verfasst hat. Die Ergebnisse dieser Untersuchung möchte ich hier ausführlich vorstellen. Dass der Völkerrechtler Hersch Lauterpacht der Autor weiter Passagen des Schlussplädoyers von Hartley Shawcross war, war zwar schon seit längerem bekannt, Rainer Huhle zeigt dies erneut anschaulich und kontextualisierend auf. Dass verschiedene Kommissionen und Gremien hinter der sowjetischen Eröffnungsrede, vorgetragen von Chefankläger Roman Rudenko, standen und um welche Personen es sich dabei im Einzelnen handelte (u.a. Aron Trajnin), ist ebenfalls keine Neuigkeit, aber doch von der Historikerin Lilia Antipow erstmals für die deutsche LeserInnenschaft detailliert aufgearbeitet. Matthias Gemählich zeigt in seinem hervorragenden Aufsatz über die Eröffnungsrede von François de Menthon erstmalig, dass »an der Abfassung des Plädoyers nicht weniger als zehn Personen beteiligt« waren (S. 133) und Menthon am allerwenigsten beitrug. Gemählich gelingt damit eine Perspektivverschiebung, was die Kenntnisse über die französische Anklagevertretung und ihre Strategien anbelangt. Erstaunlicherweise bleibt der Chefankläger, der am stärksten für »Nürnberg« steht, Robert H. Jackson, am wenigstens dekonstruiert, was dessen Fähigkeiten als Verfasser der amerikanischen Eröffnungsrede betrifft. Rainer Huhle und Otto Böhm können in ihrem Beitrag zwar zeigen, dass Jackson in der Rede Gedanken und Konzepte von Mitarbeitern der sogenannten Research & Analysis (R&A)-Abteilung des Office of Strategic Services (OSS) übernommen hat, doch ob die einzelnen Autoren der Berichte auch an der Eröffnungsrede mitwirkten, bleibt fraglich. Ins Spiel bringen sie neben Franz L. Neumann, von dem Jackson scheinbar die These des instrumentell ausgerichteten Antisemitismus der Nationalsozialisten übernommen hat, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse. Ob Neumann oder Kirchheimer Autor eines während der Londoner Konferenz abgefassten R&A-Berichts zum Anklagepunkt der »Verbrechen im Inland« (aus dem später der Tatbestand der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« entwickelt wurde) war, können Huhle und Böhm nur mutmaßen. Die Einbeziehung dieses Dokuments in die Analyse 58 Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Thomas Darnstädt Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945 München, Berlin: Piper Verlag, 2015, 415 S., € 24,99 Nürnberger Menschrechtszentrum (Hrsg.) Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2015, 300 S., € 34,– des Entwicklungsprozesses der »Crimes against humanity« ist gleichwohl äußerst interessant und sollte unbedingt weiterverfolgt werden. Marcuse war dagegen unzweifelhaft der Autor eines OSS-Berichtes mit dem Titel »Nazi Plans for Dominating Germany and Europe: The Nazi Master Plan«. Huhle und Böhm nehmen an, dass das von Jackson und der amerikanischen Anklagevertretung benutzte zentrale Konzept – der »Nazi Plan« –, der das Ziel der Weltherrschaft als frühzeitige »Verschwörung« und »gemeinsamen Plan« der Angeklagten (bzw. des NS-Regimes) meinte, ursprünglich von Marcuse stammte. Die Ähnlichkeiten der in den R&A-Berichten dargelegten Sichtweisen und Ansätze mit den amerikanischen Anklagestrategien sind zweifelsohne frappant, doch bedarf es weiterer Abklärungen, um eindeutig belegen zu können, dass Neumann, Kirchheimer und Marcuse einen derartig großen Anteil an »Nürnberg« hatten. Ob sie oder weitere Personen an der Abfassung von Jacksons Eröffnungsrede beteiligt waren, bleibt vorerst ungeklärt. Alle vier Aufsätze leisten eine historische Einbettung der Plädoyers. Die Biographien der jeweiligen Chefankläger werden ausgeführt, die Anklagevertretungen der vier alliierten Mächte beschrieben, Strategien und Ziele der Verhandlungen der Nürnberg Charta auf der Londoner Konferenz werden dargelegt. Auch die Prozess- und Beweisführung des jeweiligen Alliierten sowie die völkerrechtlichen Herangehensweisen und Argumentationen zu den Anklagepunkten und weiteren rechtlichen Einzelaspekten finden eine überzeugende Darstellung. Die historische Verortung ist bei den vier Aufsätzen gut gelungen und zumeist auf dem Stand der Forschung. Wieso jedoch jeweils eine umfangreiche Inhaltsangabe und Interpretation der folgenden Originalplädoyers erfolgte, bleibt rätselhaft, denn beim Lesen wird das schnell ermüdend. Die Eröffnungs- und Schlussreden von Jackson, Menthon, Rudenko und Shawcross sind demgegenüber gar nicht annotiert. Doch gerade hier hätte eine Kommentierung ihre erneute Veröffentlichung stärker rechtfertigen können. Die siebzig Jahre alten Gerichtsreden enthalten schließlich Angaben über Opferzahlen und Orte einzelner Verbrechen, die dem heutigen Forschungsstand angepasst werden müssen; auch zitierte Beweisdokumente oder der weitere Gang der Beweisführung hätten erläutert werden können etc. Hier kann nur gemutmaßt werden, dass das Konzept, die Form und das Zielpublikum des Bandes nicht gänzlich durchdacht waren. Trotzdem kann das Resümee zum Buch nur positiv ausfallen. Die Aufsätze zeigen, dass etliche Aspekte zu den einzelnen Anklagevertretungen, aber auch zum Vergleich der vier Stäbe immer noch der Erforschung harren. Ich hoffe sehr, dass Matthias Gemählich weiter zum Thema forschen wird und dass die Arbeiten von Lilia Antipow (und Irina Schulmeister) bald publiziert werden. Der Sammelband vom Nürnberger Menschenrechtszentrum macht Lust, sich weiter mit dem Thema »Nürnberg« zu beschäftigen – und das ist eines der wichtigsten Ergebnisse, das eine historische Abhandlung haben kann. Alexa Stiller Bern 59 Im Zentrum der Vernichtung Matthias Gafke Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945 Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015, 331 S., € 59,95 Österreicher, so Franz Vranitzky 1993 in seiner Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem, »gliederten sich in die Nazi-Maschinerie ein, einige stiegen in ihr auf und gehörten zu den brutalsten und scheußlichsten Übeltätern«. So banal die Ausführungen des damaligen österreichischen Bundeskanzlers heute klingen mögen, so bedeutsam waren sie Anfang der 1990er Jahre. Waren sie doch der unübersehbare Ausdruck einer sich seit Mitte der 1980er Jahre vollziehenden Zeitenwende in der Auseinandersetzung über die Jahre 1938–1945 in der Alpenrepublik. Allmählich wich die Mär von Österreich als dem ersten Opfer des Hitler-Regimes einer differenzierten Debatte über die Beteiligung der eigenen Landsleute an den NS-Verbrechen. Wissenschaftlich schenkte man dieser Tätergruppe jedoch auch in den folgenden Jahren wenig Aufmerksamkeit. Allein Ernst Kaltenbrunner, Otto Skozerny, Odilo Globocnik und Hermann Höfle dürften einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein. Wem aber sagen schon die Namen Josef Witiska oder Humbert Achamer-Pifrader etwas? Witiska war als Chef der Einsatzgruppe H der Henker von 14.000 slowakischen Juden, Achamer-Pifrader maßgeblich an der Deportation der hessischen Juden beteiligt. Beide wirkten somit an zentralen Stellen des NS-Vernichtungsapparats und sie waren nicht die Einzigen aus der Heimat des Führers. Matthias Gafke widmet sich in seiner gruppenbiografisch angelegten Untersuchung erstmals auf breiter Quellenbasis dieser spezifischen Tätergruppe innerhalb der Sicherheitspolizei und des SD. Seine Arbeit fördert für die Täter aus der »Ostmark« in der Tat Erstaunliches zu Tage. Ins Auge fällt zunächst, dass nahezu alle seiner 51 untersuchten Protagonisten, sechs von ihnen untersucht er ausführlich, bereits lange vor dem Anschluss gefestigte Nationalsozialisten waren. Es eint sie ferner, dass die Universität für ihre ideologische und organisatorische Einbindung in das völkische Milieu der 1930er Jahre den entscheidenden Ort darstellte. Dies weist auf das hervorstechendste Merkmal der »Ostmärker« hin, zeichnete sich die von Gafke untersuchte Gruppe doch durch einen außergewöhnlich hohen Akademisierungsgrad aus. So beendeten 45 Personen ein Studium, 39 gar mit der Promotion, womit sie auch 60 formal das Rüstzeug für eine rasche Karriere in den Institutionen des Nationalsozialismus mitbrachten. Gafke zeichnet in seiner Arbeit in vielen Episoden das Bild einer fanatischen Funktionselite, die sich bis zum Ende durch ihr unerbittliches Handeln auszeichnet. Ob sie tatsächlich brutaler und skrupelloser als Täter aus dem »Altreich« agierten, wie Gafke behauptet, wäre allerdings erst in einer vergleichenden Studie zu ermitteln. Dennoch weist er auf einen wichtigen Aspekt hin, der die besondere Treue der untersuchten Personen zum NS erklären könnte, verband sie fast ausnahmslos eine vor 1938 gemachte Repressionserfahrung, die dazu beitrug, »[…] dass sie so unerbittlich mit den […] Gegnern abrechneten und bis zum Schluss so gläubige Nationalsozialisten blieben. Hatte sich ihre Standhaftigkeit doch schon einmal bezahlt gemacht.« Kaum überraschend hatten die Täter im Nachkriegsösterreich wenig zu befürchten. Verlief die juristische Aufarbeitung der Bundesrepublik schon schleppend, so unterboten die österreichischen Behörden die westdeutsche Entnazifizierung nochmals. Zwar sind die Zahlen der Verfahren vor den sogenannten Volksgerichten beeindruckend, aber der Autor weist zu Recht darauf hin, dass davon nicht auf die Qualität der Urteile geschlossen werden kann. Die meisten Urteile bezogen sich schließlich auf formale Delikte und nicht auf die begangenen Verbrechen gegen die Menschheit. Die Täter aus der von Gafke untersuchten Gruppe kamen, wenn sie sich überhaupt für ihre Taten vor Gericht verantworten mussten, mit geringen Haftstrafen davon und konnten sich nach der Verbüßung rasch wieder eine Existenz aufbauen. Die Studie von Gafke ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Täterforschung, obwohl es sinnvoll gewesen wäre, die theoretischen und methodischen Überlegungen ausführlicher zu erläutern. Insbesondere die Frage, wer der Gruppe der »Ostmärker« zugeschlagen wird, ist nicht in allen Fällen einleuchtend. Abgerundet wird die Studie von Kurzbiographien der Personen seines Samples. Negativ anzumerken ist die Diktion, der sich der Autor zuweilen bedient. Was vermutlich als sprachliche Auflockerung gedacht war, ist nicht nur einer wissenschaftlichen Arbeit unangemessen, sondern wird gerade dieser Thematik nicht gerecht. So kommentiert er etwa den Mord an tausenden Juden mit den Worten, dass die Deutschen und ihre ukrainischen Hilfstruppen »schlimm gehaust« hätten, bezeichnet Massenmörder als »Vollprofis« im Erschießen oder spricht an anderer Stelle bei besonders fanatischen Nationalsozialisten von »Oberradikalinskis«. Für eine Neuauflage ist ein Lektorat in dieser Hinsicht nicht nur wünschenswert, sondern unerlässlich, trüben diese gebrauchten Formulierungen und Begrifflichkeiten diese insgesamt aufschlussreiche Studie. Remko Leemhuis Berlin Rezensionen Judenverfolgung vor 1939 Kim Wünschmann Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps Cambridge/Mass., London: Harvard University Press, 2015, 367 S., € 40,95 In dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus im Jahr 1964 antwortete Hannah Arendt auf die Frage, durch welches Ereignis in den 1930er Jahren sie sich besonders zum politischen Handeln gezwungen gesehen habe, mit folgender Erklärung: »Ich könnte den 27. Februar 1933, den Reichstagsbrand, und die darauf in derselben Nacht erfolgten illegalen Verhaftungen nennen. Die sogenannten Schutzhaften. Sie wissen, die Leute kamen in Gestapo-Keller oder in Konzentrationslager. Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von den späteren Dingen überblendet worden.«1 Diesen ungeheuerlichen Vorgängen widmet sich mehr als fünfzig Jahre nach Arendts Bemerkung nun Kim Wünschmann mit ihrer glänzenden Studie Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps erstmals systematisch. Auf Grundlage eines beeindruckenden Korpus von Originalmaterial rekonstruiert sie damit wesentliche Anteile der Verfolgungsgeschichte der Juden im nationalsozialistischen Deutschland vor 1939. Im Unterschied zu der von Arendt attestierten, noch heute diskursbestimmenden Überblendung der jüdischen Vorkriegserfahrung durch die späteren Vertreibungs- und Vernichtungsprozesse fokussiert Wünschmann aus nichtteleologischer Perspektive die mittels Konzentrationslagerhaft gewaltvoll vollzogene Exklusion der deutschen Juden aus der deutschen Gesellschaft. Sie deutet die zahlreichen Internierungen in reichsweit eingerichteten Lagern somit nicht als »Vorgeschichte zum Holocaust«, sondern als eigenständige Phase ideologischer Festigung und Etablierung des totalitären Machtapparats. Zwar zeigt die Studie auch Zusammenhänge zwischen der Konsolidierung des Nationalsozialismus und der Dynamik des Vernichtungsprozesses zu Kriegszeiten auf. Wünschmann kann aber überzeugend verdeutlichen, dass die Zeitgenossen trotz der stufenweisen Herausbildung einer »diversifizierten Topographie des frühen Terrors« (S. 68) in dieser Zeit nicht zu ahnen vermochten, 1 Hannah Arendt im Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964), in: Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hrsg. von Ursula Ludz, München, Zürich 2006, 2. Aufl., S. 46−72, hier S. 50. Einsicht 15 Frühjahr 2016 welche Konsequenzen aus dem Lagersystem später noch hervorgehen sollten: »In the 1930s, the Holocaust was unthinkable« (S. 4). Mit Hilfe einer integrierten Geschichtsschreibung, die insbesondere auf Egodokumente, Berichte, Briefe und spätere Zeugenaussagen der inhaftierten Juden, aber auch auf Täterdokumente gestützt argumentiert, zeichnet Wünschmann die Entwicklung von den frühesten Schutzhaftnahmen 1933 bis zu umfassenden Internierungen im Schlüsseljahr 1938 nach. Der Raum der Vorkriegskonzentrationslager konturiert sich dabei als prägnantes Probierfeld nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen, Mittel der schrittweisen Entrechtung und Ausstoßung der Juden aus dem deutschen Gesellschaftsgefüge und Zurichtungsapparat, der darauf zielte, aus der heterogenen Gruppe der deutschen Juden eine der antisemitischen Imaginations- und Projektionswelt entsprechende werden zu lassen. Das Buch ist in sechs Kapiteln in chronologischer Folge strukturiert und beginnt entsprechend mit der Aufbauphase des Konzentrationslagersystems von 1933 bis 1934. Diese war von willkürlichen und extrem gewaltsamen Übergriffen auf Juden und der notorischen Schutzhaft geprägt, die in einem scheinbar legalen Rahmen, aber ohne durchschaubare rechtliche Grundlage exekutiert wurde. Vorrangig politisch aktive, dem Regime gegenüber kritische deutsche Juden fielen diesen ersten Inhaftierungen zum Opfer. Prominente Persönlichkeiten, wie etwa Werner Scholem, Werner Hirsch, Erich Mühsam oder Hans Litten, waren von diesen Maßnahmen betroffen. Die ersten Verhaftungen fanden in aller Öffentlichkeit und durchaus unter Mithilfe der Bevölkerung statt (S. 51). Anhand der Beispiele von Dachau (Bayern), Osthofen (Hessen), Oranienburg, Breitenau und den Emsland-Lagern (alle in Preußen) beschreibt Wünschmann danach die verschiedenen Lagerformen und ihre internen Strukturen, wobei sie eine umfassende empirische Grundlage zur sozialen Zusammensetzung und den demographischen Merkmalen der Lagerinsassen erarbeitet. So wird deutlich, dass die etwa 40.000 jüdischen Häftlinge in den frühen Konzentrationslagern zunehmend separiert und gesondert behandelt wurden. Schikane und Gewalt richteten sich speziell gegen die religiösen Inhaftierten. Sie manifestierten sich aber auch in gezielten Angriffen auf Ausdrucksformen von Männlichkeit besonders der politischen Häftlinge, die zumeist dem Bild »antisemitischer Karikaturen des ›Juden‹« widersprachen (S. 97). Auch die spezifischen Bedingungen von Verhaftung und Lagerexistenz jüdischer Frauen finden in Wünschmanns Buch umfassende Beachtung. Politische Opposition und sogenannte »Rassenschande« bildeten insbesondere nach der Erlassung der Nürnberger Gesetze 1935 den wesentlichen Hintergrund ihrer Internierung. Sie wurden in Frauenbaracken untergebracht, mussten häufig Zwangsarbeit leisten und waren Misshandlungen ausgesetzt, die selbst bei relativ kurzen Inhaftierungszeiten zu schweren psychischen und physischen Schäden führten (S. 121). 61 Insgesamt kamen viele der jüdischen Häftlinge nach unbestimmter Haftzeit wieder frei – zumeist allerdings mit der Auflage, Deutschland zu verlassen. Dadurch entwickelten sich die Konzentrationslager zu einem wesentlichen Druckmittel für die erzwungene Auswanderung. Während der zweiten Phase von 1935 bis 1938, in der sich die nationalsozialistischen Lager unter der Verantwortung Heinrich Himmlers zunehmend professionalisierten und institutionalisierten, zeigten sich die Haftbedingungen und -gründe aus Sicht der jüdischen Häftlinge als immer unvorhersehbarer, gewaltvoller und arbiträrer. Das Jahr 1938 schließlich stellt Wünschmann als negativen Höhepunkt der Vorkriegsinhaftierungen von Juden heraus: Insbesondere der Anschluss Österreichs führte zu einer Verhaftungswelle ungekannten Ausmaßes und zu kumulierenden Gewaltexzessen gegenüber den inhaftierten Juden. Rassistische Kategorien zementieren sich als Grundlage für Inhaftierungen, und gerade in Wien wurden die öffentlichen Verhaftungen mit einer Brutalität vollzogen, die Modellcharakter haben sollte. Ein ähnliches Vorgehen zeigt sich im selben Jahr dann in Folge der Novemberpogrome, denen die Juden im gesamten Reichsgebiet ausgesetzt waren. Soziale und ökonomische Exklusion verbunden mit der illegalen Aneignung des jüdischen Eigentums sowie die forcierte Emigration werden als die gewichtigsten Motive der Inhaftierung von Juden in deutschen Vorkriegskonzentrationslagern erkennbar. Die öffentliche Konstruktion der deutschen Volksgemeinschaft meinte die brutale Zurückweisung der Zugehörigkeit von deutschen und österreichischen Juden, wofür die Lagerhaft zum willkommenen Ausdrucksmittel wurde. Wünschmanns Studie beschreibt in dichter und überzeugender Form, wie ein jüdisches Feindbild innerhalb der deutschen Gesellschaft zementiert und durch die Lagerhaft in koordinierter Gewaltausübung manifestiert wurde. Obwohl die meisten inhaftierten Juden die ersten Internierungen überlebten und häufig aus dem deutschen Machtbereich fliehen konnten, zeigt die Studie eindrucksvoll, wie der »außerjuristische« Raum (S. 232) dieses frühen Lageruniversums Grundlagen für die breite gesellschaftliche Akzeptanz der systematischen Ausgrenzung schuf. Sie bereitete der Ausübung brachialer Gewalt von »Deutschen gegen Deutsche« und schließlich gegen alle europäischen Juden den Weg. Elisabeth Gallas Leipzig Aufstand des Sonderkommandos in Birkenau Gideon Greif, Itamar Levin Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am 7. Oktober 1944 Aus dem Hebräischen von Beatrice Greif. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2015, 389 S., € 24,99 Das Buch setzt Gideon Greifs Anthologie Wir weinten tränenlos… (1995) fort, für die nach Israel gelangte Überlebende des »Sonderkommandos« ihre Erinnerungen offenbarten. Die »Arbeit« des Sonderkommandos war es hauptsächlich gewesen, die mit Zyklon B ermordeten Opfer aus den Gaskammern zu den Krematorien zu bringen und in den Öfen zu verbrennen. Seine und Itamar Levins neue Studie erweitert die Erkenntnisse der ersten Publikation durch die Einbeziehung der von Häftlingen des Sonderkommandos versteckten Handschriften, seit der Befreiung aufgezeichneten Berichten, heute zum Teil nur schwer zugänglichen frühen Veröffentlichungen und weiteren Befragungen Überlebender. Aufschlussreich ist vor allem die auf der Zusammenschau dieser Zeugnisse beruhende Rekonstruktion der Bemühungen, zunächst eine Flucht aus Birkenau anzubahnen und 1944 immer stärker einen Aufstand vorzubereiten, der eine Massenflucht ermöglichen sollte und in dessen Verlauf die Gaskammern und die Anlagen zur Verbrennung der Leichen zerstört werden sollten. Angesichts der wenigen Überlebenden und der auch von den Verfassern betonten Widersprüche in deren Berichten (S. 12) ist es eine fast unlösbare Aufgabe, diesen Plan zu rekonstruieren. Gerade die zentralen Kapitel über die Aufstandsvorbereitungen im Sommer und Herbst 1944, die Beschaffung von Sprengstoff und die Geschehnisse Anfang Oktober 1944 (S. 179–275) sind jedoch überzeugend, zumal die Verfasser Differenzen und ungeklärte Fragen offenlegen. Präzisierungen erfordern jedoch die Ausführungen zur Geschichte des Lagers und über die konspirativen Gruppen, also die Bedingungen, unter denen die Häftlinge im Sonderkommando ihren Widerstand entwickelten. Nichts deutet darauf hin, dass unter den Ende Juli 1941 in Pirna-Sonnenstein vergasten Auschwitz-Häftlingen auch Juden waren (S. 18). Der für den 15.2.1942 genannte Transport aus Beuthen (S. 22 f.) beruht auf einer seit den fünfziger Jahren tradierten irrtümlichen Annahme.1 Juden aus dem Warschauer Getto wurden im Frühjahr 1943 nicht nach Auschwitz deportiert (S. 41, 115), sondern nach Majdanek und in Arbeitslager in der Region Lublin. Adolf Eichmanns Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt war keine »Abteilung für jüdische Angelegenheiten« (S. 18). Nicht Hubert Busch (S. 9, 28, 210, 221, 228), sondern Hermann Buch war im Oktober 1944 Kommandoführer bei den Krematorien; Peter Voss war nie Lagerkommandant (S. 28); Walter Quakernack war nicht Leiter der Politischen Abteilung (S. 22).2 Der jüdische »Bund«, einer der Träger des jüdischen Widerstands im besetzten Polen, forderte nicht die Integration der Juden (S. 343), sondern ihre kulturelle Autonomie (gerade in diesem Zusammenhang sollte daran erinnert werden, dass eine der Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik die Zerstörung dieser Konzeption jüdischer Politik in Osteuropa war, denn ihre soziale Basis war 1945 weitgehend vernichtet). Am Anfang der Untergrundbewegung in Auschwitz standen nicht »vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten aus Österreich und Deutschland« (S. 76), sondern bereits im Sommer 1940 polnische Häftlinge. Es gab keinen »Geheimsender mitten im Lager […] im berüchtigten Block 11« (S. 84); von der Kampfgruppe Auschwitz (KGA) aus dem Lager gebrachte Informationen wurden durch Funkgeräte des polnischen Untergrunds nach Großbritannien übermittelt. Nicht »im Frühjahr 1944« (S. 4) fotografierten Häftlinge des Sonderkommandos die Verbrennung der Leichen bei einer der Gaskammern, sondern wahrscheinlich Ende August, Anfang September 1944. Schwerwiegender für die in der Studie erörterten Fragen sind Missverständnisse, die den Lagerwiderstand betreffen. Anders als die Verfasser darstellen, können der Lagerwiderstand und vor allem die polnischen Angehörigen der KGA nicht mit der Armia Krajowa (AK) gleichgesetzt werden. Dass die KGA selbst Schwierigkeiten mit dem AK-Kommando in der Region Auschwitz hatte, zeigt schlaglichtartig ein erst später bekannt gewordenes Dokument: Als Mitte Oktober 1944 Józef Cyrankiewicz, der Leiter der KGA, zum Kommandanten der AK-Abteilungen im Lager ernannt werden sollte, strich der zuständige AK-Offizier die Ernennung durch.3 Nicht die AK nahm mit der KGA Kontakt auf (S. 79 f.), sondern die KGA bemühte sich Mitte 1944, gerade als ein Aufstand in greifbare Nähe zu rücken schien, um Kooperation und Unterstützung durch die AK in der Region Auschwitz. Der Lagerwiderstand wurde nicht in den Plan »Burza« eingeweiht (S. 151); die Zuspitzung der AK-Planungen auf bewaffnete Aktionen im Zuge des Vorrückens der Roten Armee 2 3 1 62 Alfred Gottwaldt, Diana Schulle, Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, S. 393. Rezensionen Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde, Frankfurt am Main 2013, S. 69, 75, 326, 419. Siehe die Reproduktion in: Waclaw Dlugoborski, Franciszek Piper (Hrsg.), Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, aus dem Polnischen von Jochen August, Oswiecim: Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, 1999, Bd. IV, S. 162. Einsicht 15 Frühjahr 2016 verlagerte faktisch den Schwerpunkt der beabsichtigten Einsätze in andere Regionen Polens. Ein Beauftragter der AK-Führung, der die Lage in der Region Auschwitz erkunden sollte (nicht ein Verbindungsmann zwischen Auschwitz und Krakau; S. 157), wurde tatsächlich unweit des Lagers mit konspirativen Dokumenten über Planungen eines Aufstands im Lager festgenommen und in das Stammlager Auschwitz gebracht, jedoch nicht im Juni, sondern am 28./29.9.1944, also eine Woche vor dem Aufstand im Sonderkommando. Von diesem AK-Offizier Stefan Jasieński (Pseudonym »Urban«), der wie die vier jüdischen Frauen aus dem Union-Werk kurz vor der Befreiung des Lagers ermordet wurde, erfuhr die Leitung der KGA, dass von der AK keine Unterstützung erwartet werden konnte. Die Vorbereitungen für einen Aufstand im Juni, Juli und August 1944 (S. 121–177) werden gerade dann nachvollziehbar, wenn sie nicht auf bestimmte Daten bezogen werden, sondern auf den Zeitraum Sommer 1944 und die für die KGA grundlegende Voraussetzung, dass ein Aufstand des ganzen Lagers allein bei einer damals erwarteten Frontannäherung aussichtsreich war. Hier sei daran erinnert, dass Eugen Kogon für die erheblich günstigere Situation in Buchenwald kurz vor Kriegsende berichtet: »[...] wir setzen uns erst dann zur Wehr, wenn es ernst wird«.4 Anders als die Verfasser betonen (S. 180), zeigt die Darstellung der Geschehnisse bei den Krematorien 4 und 5, dass der Aufstand letztlich nicht auf den früheren Planungen und Vorbereitungen aufbauen konnte (S. 227 f.); der Beginn und der Ablauf waren situationsbedingt. Die ursprüngliche Konzeption erforderte Unterstützung von außerhalb des Lagers und nach der Flucht aus dem Lager Aufnahmemöglichkeiten – beides war nicht gegeben. Die Geschehnisse nach dem Aufstand, die Verhöre durch die Lagergestapo und vor allem das Schicksal der jungen Frauen, die für ihre Mithäftlinge im Sonderkommando den Sprengstoff aus dem Union-Werk beschafften, sind bisher noch nicht so detailliert dargestellt worden (S. 277–300). In das Buch wurden auch Fragmente eines Interviews mit dem früheren Sonderkommando-Häftling Jakov Silberberg aufgenommen (S. 47 f., 50 f.), das in der deutschsprachigen Ausgabe von Wir weinten tränenlos… nicht abgedruckt wurde. Jochen August Berlin/Oświęcim 4 Eugen Kogon, Der SS-Staat, Frankfurt am Main 1946, S. 278. 63 Geopolitische Versuchungen der Bevölkerungswissenschaft Alexander Pinwinkler Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert Göttingen: Wallstein Verlag, 2014, 537 S., € 46,– Der 2008 verstorbene Kulturwissenschaftler Heinz D. Kittsteiner hat 2002 einmal beiläufig, in einem Essay zur Entwicklung der deutschen Gedenkkultur, von folgendem Antiquariatsfund berichtet: Er stieß auf einen unscheinbar anmutenden Schulatlas aus dem Jahre 1933, der es jedoch in sich hatte, da er »die beliebten geostrategischen Pfeile und Schraffuren«, die man auch aus heutige Lehrmitteln kennt, auf mehreren Karten strikt antisemitisch einsetzte: »Ein Schaubild vergleicht die Anzahl der jüdischen Geschäfte in der Leipziger Innenstadt im Jahre 1890 und im Jahre 1930«, so Kittsteiner, »und was soll man sagen? Die Zahl ist angewachsen! In Ostpolen und der Ukraine, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer – wieder ein Schaubild – gibt es ganz und gar einen ›Judengraben‹, aus dem […] weitere Juden auftauchen werden, wahrscheinlich um die Leipziger Innenstadt noch mehr zu ›verjuden‹. Und hintendrin in dem Atlas liegen noch die Zeugnisse eines Schülers, der diesen Unsinn brav gelernt hat.«1 Die Ideologie- und Wissenschaftsgeschichte dieser suggestiven »geostrategischen Pfeile und Schraffuren«, deren Indienstnahme für den Antisemitismus im Schulunterricht der 1930er Jahre Kittsteiner hier anprangerte, hat der österreichische Historiker Alexander Pinkwinkler nun in einer grundlegenden Studie zur deutschsprachigen Bevölkerungsforschung im 20. Jahrhundert zum Thema gemacht. Es handelt sich bei dieser Arbeit fast um ein Handbuch zum Gegenstand, jedoch nicht um das einer Disziplin, sondern das einer Praxis, da der Autor nicht die fachgeschichtliche Dogmatik allein nachzeichnet und sich zudem zum Glück gar nicht erst für einen einzelnen Aspekt des Themas entschieden hat, sondern dem Leser alles zugleich anbietet: systematische Teile, begriffliche Reflexion, Gelehrtenporträts sowie Werkanalysen, 1 64 Heinz D. Kittsteiner, »›Gedächtniskultur‹ und Geschichtsschreibung«, in: Volkhard Knigge, Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 306–326, hier S. 322. deren politische Ambitionen und ihre historische Kontextualisierung sowie die Entradikalisierung des Ansatzes nach 1945. Der enzyklopädische Anspruch des Werks dokumentiert sich auch über ein beigegebenes Namenslexikon, das von dem angesehenen Agrarhistoriker und -soziologen Wilhelm Abel (Autor eines nach 1945 mehrfach aufgelegten Standardwerks über die Geschichte der deutschen Landwirtschaft) über Elisabeth Pfeil (Stadtsoziologin, ab 1937 NSDAP-Mitglied, schrieb in einer Schrift zum Verhältnis von Raum und Bevölkerung, dass es ursprünglich ein »Gleichgewicht zwischen Rasse und Raum, die reine Rasse des Raums« gegeben habe) bis hin zum Kärntner Archivar Martin Wutte (er unterstützte mit seinen Arbeiten vor allem die nationalsozialistische Volkstumspolitik gegen Slowenien) die Akteure des Themas in werkbiographischen Miniaturen aufführt (S. 416–463). Der Leser erhält im Buch Informationen über viele ihm zuvor unbekannte Gelehrte – etwa über Hermann Wopfner, der die Volkskunde Tirols zu seinem Thema machte, oder über Harold Steinacker, Anhänger des »Anschlusses« von Österreich an Deutschland und zwischen 1938–1942 Rektor der Universität Innsbruck. Bei Pinwinkler wird darüber hinaus auch ein neuer Blick auf die bekannten Wissenschaftler wie Hermann Aubin, Werner Conze, Theodor Schieder oder Gunther Ipsen möglich. Der Ansatz, den sein Buch wählt, stellt sie in ihrem Wissenschaftsmilieu vor, das dem eigenen Selbstverständnis entsprach, weil sie ihre Ansätze oft vor 1933 ausbildeten und nach 1945 dann in entschärfter Form als Sozial- oder Strukturgeschichte beibehalten konnten. Die seit den 1920er Jahren geradezu boomende Volksgeschichtsschreibung und Bevölkerungsforschung wurde, so machen die Ergebnisse des Buchs insgesamt deutlich, im »Dritten Reich« beides zugleich: ein Gewaltinstrument für die politisch ausgreifenden ideologischen Ambitionen des social engeneering; sie stellte sich dabei aber zugleich oft als sachlich-nüchterne Zahlen- und Sozialwissenschaft dar, die ihre Daten wie Mathematik zu erheben schien. Das Buch hat drei Teile mit insgesamt neunzehn Kapiteln. Im ersten Teil breitet Pinwinkler seine begrifflichen und methodischen Grundlagen aus. Auf diesen 130 Seiten diskutiert er die Terminologie seiner Quellen (»Umvolkung«, »Volkskörper«) und seinen eigenen Zugriff auf die kartographischen Inszenierungen sozialer und völkischer Differenz, von »eigen« und »fremd«. Hier umreißt der Verfasser auch das intellektuelle wie förmliche Andienen an die Politik, der man nicht allein die eigene wissenschaftliche Expertise zur Verfügung stellte, sondern die man aktivistisch regelrecht in Bewegung zu setzen suchte. Der zweite Teil bietet eine ins 19. Jahrhundert zurückgreifende Entwicklung des Themenbereichs seit Karl Büchers »große Massenbewegungen« und Karl Julius Belochs »Bevölkerungsstatistik«, deren Einfluss viele Jahrzehnte anhielt. Hier werden auch die Vertreter der »Leipziger Schule« der 1920er Jahre vorgestellt, Rudolf Kötzschkes noch harmlos als »Landesgeschichte« firmierende kulturmorphologische Bestimmung deutscher Heimat, die dann durch Adolf Helboks »Blut- und Siedlungsräume«, Friedrich von Klockes »Volksordnungsgeschichte« und durch die »Kulturraumforschung« von Hermann Aubin und Erich Keyser radikalisiert wurde. Vor allem Letzterer war, zusammen mit Max Hildebert Boehm (sein Buch Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften ist das bekannteste Dokument der Hinwendung zu einer deterministischen Volksgeschichte), für die Ausbildung eines antisemitischen Bevölkerungs-Paradigmas verantwortlich. Keyser wollte »Rassenforschung und Geschichtswissenschaft« – so ein Aufsatztitel von 1934 – verbinden; er legte 1938 mit der groß angelegten Bevölkerungsgeschichte Deutschlands auch ein Beispiel für die neue rassenkundliche Geschichtsforschung vor, die in ihren Neuauflagen 1941 und 1943 ihre Ausfälle gegen Juden noch verstärkte. In der jungen Bundesrepublik machte Keyser dann als Mitbegründer des Herder-Forschungsrats und als Direktor des Herder-Instituts in Marburg eine zweite Karriere. Dieser zentrale Teil von Pinwinklers Buch berichtet nicht einfach nur aus dem akademischen Elfenbeinturm; hier besticht die methodische Klarheit, mit der unterschiedliche Ebenen des Themas miteinander verknüpft, Wissenschaftstraditionen und -stile sowie generationelle Prägungen bzw. akademische Schulbildungen dargestellt werden. Am Ende des Buches wartet mit Teil III noch ein Buch im Buch auf den Leser, in dem Pinwinkler die Netzwerke der beteiligten Wissenschaftler, die Institutionalisierungen des gesamten Faches und seine Internationalisierung vor 1933 und nach 1945 analysiert. Hier macht die Darstellung durch einen genauen Blick auf die internationalen Historikertage 1928 in Oslo, 1933 in Warschau und 1938 in Zürich (und auf diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris, Rom, Stockholm Wien und Moskau stattfanden) deutlich, dass die Bevölkerungswissenschaft vor und nach dem Nationalsozialismus und auch jenseits von Deutschland zu einer Sprache fand, die dem Denken in mechanistischen Kategorien Vorschub leistete. Pinwinklers Buch ist ein großer Wurf. Man sieht dies auch daran, dass er liberale Vertreter der historischen Bevölkerungsstatistik präzise in die Diskurse der Zeit einfügt, etwa den 1933 aufgrund seiner »nichtarischen Abstammung« entlassenen Nationalökonom, Statistiker und Wohlstandstheoretiker Paul Mombert, ein Schüler des Münchner Nationalökonomen Lujo Brentanos, der 1938 nach dem Novemberpogrom von den Nazis verhaftet wurde und noch im selben Jahr an den Folgen seiner Krebserkrankung in Stuttgart verstarb. Mombert reflektierte in den 1920er Jahren Denkmodelle wie »Über-« und »Unterbevölkerung« und lehnte völkische Schlussfolgerungen des Themas ab. Auch die jüdischen Migrationsforscher Alexander und Eugen Kulischer, die aus Deutschland vertrieben wurden, finden in dem Buch eine gerechte Würdigung. Sie waren durch die Diskurse der Zeit geprägt, gingen aber nicht in ihnen auf; trotz mancher Themenstellung und Scheinnähe wird deutlich, dass Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 ihre Arbeiten der »geopolitischen Versuchung«2 bei der Deutung des Verhältnisses von Geschichte und Raum zwar ausgesetzt waren, ihr aber nicht anheimfielen. Für den Leser von Pinwinklers Darstellung ist zuletzt weniger überraschend, dass anhand der Geschichte der Bevölkerungsund Raumwissenschaft demonstriert werden kann, wie stark im 20. Jahrhundert mehrere Wissenschaftlergenerationen in und außerhalb Deutschlands in Kategorien von Volkszugehörigkeit und Abstammung dachten und kollektive Entitäten in der Regel wie eine unveränderliche Gegebenheit darstellten; überraschend ist die vom Autor immer wieder betonte Tatsache, wie vielseitig und vielgestaltig die Ergebnisse von Statistik, Stadtsoziologie, Familienforschung und Demographie dabei sein konnten. So erweist sich der Titel seiner Studie, die kein Fach im Singular, sondern die heterodoxe Vielzahl von Praktiken im Plural ausweist, als eine kluge Entscheidung des Verfassers. Nicolas Berg Frankfurt am Main/Leipzig 2 Peter Schöttler, »Geopolitische Versuchungen bei der Interpretation der Beziehung zwischen Raum und Geschichte. Eine kritische Bilanz der Konzeptionen und Theorien seit Friedrich Ratzel«, in: Dietrich Denecke, Klaus Fehn (Hrsg.), Geographie in der Geschichte, Wiesbaden 1989, S. 73–88. 1.900 likes Folgen auch Sie uns auf Facebook! Aktuelle Informationen aus dem Fritz Bauer Institut, Nachrichten und Berichte aus Kultur und Wissenschaft: www.facebook.com/fritz.bauer.institut 65 Holocaust in Jugoslawien? Jovan Ćulibrk Historiography of the Holocaust in Yugoslavia Belgrad: University of Belgrade, 2014, 217 S., ca. € 12,– Der Autor Jovan Ćulibrk ist kein typischer Holocaustforscher, sondern serbisch-orthodoxer Bischof der Eparchie von Slawonien mit einem durchaus unorthodoxen Lebenslauf. Er studierte Literatur in Banja Luka und Zagreb, bewegte sich schriftstellerisch im Umfeld des bekannten Künstlerkollektivs NSK. Während der jugoslawischen Zerfallskriege diente er auf serbischer Seite als Fallschirmspringer. Seither absolvierte er einen bemerkenswerten Aufstieg in der Hierarchie der serbischorthodoxen Kirche, unter anderem als ihr Vertreter in Jerusalem. In diesem Kontext entstand auch dieses Buch, denn Ćulibrk nutzte die Zeit in Jersualem auch für ein Studium der Holocaust Studies an der Hebrew University bei David Bankier. Zudem war er kirchlicher Koordinator für Jasenovac, dem geschichtspolitisch umstrittensten Erinnerungsort Jugoslawiens. Was ein so hoher Repräsentant der Serbisch-Orthodoxen Kirche, ein popkulturell gebildeter Autor und ein Kenner des Holocaust zur Historiographie des Massenmordes auf jugoslawischem Boden zu sagen hat, macht neugierig. Dem Autor gelingt es in der Einleitung, die komplexe, einzigartige und par excellence transnationale Geschichte des Holocaust in Jugoslawien anspruchsvoll darzustellen. In Serbien ermordete die Wehrmacht die meisten Juden, mit Hilfe des SS-Reichssicherheitshauptamts und serbischer Polizei; in Kroatien organsierte die Ustascha einen eigenen Völkermord an den Juden, auf dessen Vollkommenheit sich die Deutschen aber nicht verließen und deshalb Juden nach Auschwitz deportierten; in Makedonien und in der Vojvodina trugen die bulgarischen und ungarischen Besatzungsmächte auf jeweils eigene Art dazu bei, dass die deutsche »Endlösung der Judenfrage« europäischen Charakter erhielt. Italien schließlich war eine höchst ambivalente Besatzungsmacht, die punktuell dem deutschen Massenmord zuarbeitete, diesen aber vor allem obstruierte. Dazu kamen die mannigfaltigen jüdischen Aktivitäten, wie transnationale humanitäre Hilfe und Widerstand einschließlich jüdischer Partisanengruppen. Um kaum eines dieser kursorisch genannten Themen gab es in den vergangenen Jahrzehnten keine Forschungskontroversen – genannt seien nur die Debatten, ob nun die Italiener oder die Bulgaren als Täter oder als Retter zu betrachten sind; zu nennen sind zudem die Auseinandersetzungen um die Rolle der kroatischen katholischen 66 Kirche oder die verletzend geführte Debatte um die Opferzahlen der Ustascha in Jasenovac. Zudem ist der Massenmord an den Juden verzahnt mit den anderen in der Region verübten Gewalttaten, also vor allem mit dem Völkermord der Ustascha an Serben und Roma. Das Thema ist an Komplexität kaum zu überbieten. Ćulibrk gliedert es chronologisch in sechs Teile – eine Ordnung, an die er sich nicht immer hält, was dem Buch einen wenig stringenten Charakter verleiht. Der Autor diskutiert eindrücklich den in den 1980er Jahren einsetzenden Spaltungsprozess der jugoslawischen Historiographie, der auf kroatischer Seite durch das Rütteln an angeblichen Tabus und auf serbischer Seite durch das Begründen von Mythen geprägt war. Ein Argument des Buches lautet, dass die Debatten um Genozide, also die gegenseitigen Genozidvorwürfe – darin aber auch die Vorwürfe, mehr als die jeweils eigene Seite am Holocaust beteiligt gewesen zu sein – essenziel in der Neusortierung der Frage nach dem Selbst und der Abgrenzung zum Gegenüber gewesen seien. Dabei habe die Geschichtswissenschaft in Serbien einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen, denn das Geschichtsbewusstsein der jugoslawischen Serben sei fortan vor allem durch die Publizistik und die Literatur geprägt gewesen. Kroatien hingegen sei regelrecht von Historikern »übernommen« worden – das gilt nicht zuletzt für den Anführer des kroatischen Geschichtsrevisionismus, den (1971 verhafteten) Direktor des Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung Kroatiens, Franjo Tuđman, der 1990 zum kroatischen Präsidenten gewählt wurde. Beeindruckend ist der Kenntnisstand des Autors, der in der Tat die gesamte jugoslawische und internationale Geschichtsschreibung bis etwa 2010 in verschiedenen Sprachen aufgespürt hat. Dass zuweilen ein leichtes Ungleichgewicht vorherrscht, da beispielsweise hebräische Titel viel, italienische Titel wenig Platz einnehmen, ist zu verzeihen. Der Band ist somit ein Handbuch, das all denjenigen, die sich in Zukunft mit Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg befassen, wertvolle Dienste erweisen wird. Bedauerlich ist jedoch, dass ihm klare Worte fehlen, da er politisch gefärbte Forschung nicht immer als solche bezeichnet. Dass der serbische Geschichtsnationalismus insgesamt sanfter angefasst wird als sein kroatisches Pendant, kann vor dem Hintergrund des Autors nicht verwundern. Positiv überrascht, dass die in Serbien bestehende Tendenz, den Holocaust zu gebrauchen, um die Aufmerksamkeit für serbische Opfer zu erhöhen, auch als solche benannt wird. Eine Frage, die sich nach der Lektüre stellt, ist allerdings, ob es »den Holocaust« in Jugoslawien als solchen wirklich gab. Die Vielzahl an Gruppen, Milizen, Besatzungsmächten, Staaten, die in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Motiven Gewalttaten gegen Juden verübten, wären in einer Monographie nicht sinnvoll abzuhandeln, deshalb macht es Sinn, dass die Geschichtsschreibung den Holocaust bisher nicht durch das Prisma eines Staates untersucht hat, den es von 1941 bis 1945 nicht gab. Jüdisches Leben in Breslau Katharina Friedla Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2015, 552 S., € 69,90 Alexander Korb Leicester/Jerusalem Nach langjähriger Dominanz einer einseitig ausgerichteten Täterforschung erweitern seit einigen Jahren vermehrt Studien den Blick auf den Holocaust, indem sie sich entweder auf die Opferperspektive konzentrieren oder sich um ein umfassendes, alle Perspektiven einschließendes Bild bemühen. Katharina Friedlas nun gedruckt vorliegende Dissertation reiht sich in diesen »Trend« ein, sie rekonstruiert das wechselvolle Leben der Juden in Breslau von 1933 bis 1949 vor allem anhand von Selbstzeugnissen. Dem eigentlichen Thema ist eine umfassende Schilderung jüdischen Lebens in Breslau während der Weimarer Republik vorangestellt. Die damals drittgrößte jüdische Gemeinde im Deutschen Reich unterschied sich kaum von anderen. Sie war zunehmend von Überalterung geprägt, und die Zahl der Juden stagnierte. Gleichwohl entfaltete sich ein reichhaltiges soziales, religiöses und kulturelles Leben, das Friedla als weitgehend konfliktfrei beschreibt. Gestört wurde dies immer wieder durch einen sich mitunter gewaltsam gebärdenden Antisemitismus. 1933 änderte sich die Lage der Juden grundlegend – in Breslau in vielen Bereichen immer etwas früher und radikaler als in anderen Regionen. So kam es hier schon im März 1933 zu Boykotten jüdischer Geschäfte, und die Gerichte wurden regelrecht gestürmt und Juden aus ihnen vertrieben. Auch in späteren Jahren nahm Breslau häufig eine traurige Vorreiterrolle ein, etwa in einer früh schon einsetzenden »Rassenschande«-Propaganda und Gewalttätigkeiten gegen gemischte Paare. All dies schildert Friedla plastisch anhand einer breiten Palette von Selbstzeugnissen, angefangen bei dem bekannten Tagebuch Willy Cohns oder dem von Walter Tausk bis hin zu bislang unbekannten Berichten und Interviews. Mit Hilfe dieser Dokumente kann sie ein genaues Bild von der Ausgrenzung im Alltag zeichnen, vor allem aber von den Reaktionen und der Selbstanpassung der Juden Breslaus im Privaten wie im Organisatorischen, etwa die Bildung oder der Ausbau von Selbsthilfeorganisationen in allen wesentlichen Bereichen wie der sozialen Fürsorge, der Krankenversorgung oder der Kultur. So verdienstvoll und interessant der Ansatz auf der einen Seite ist, so sehr treten aber auch seine Schwächen zutage. Die Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Mikrogeschichte einer jüdischen Gemeinschaft einer Stadt, gestützt hauptsächlich auf Selbstzeugnisse, verstellt mitunter den Blick auf Fragen, die der Fall Breslau aufwirft. Warum zum Beispiel kam es dort zu diesem außergewöhnlich radikalen Ausbruch antisemitischer Gewalt im Frühjahr 1933? Wer waren die Triebkräfte? Waren sie vor 1933 schon aktiv? So werden durch eine nun umgekehrte Einseitigkeit manche wichtigen Fragen gar nicht erst aufgeworfen, denen nachzugehen gerade für eine solche Lokalstudie sehr interessant und lohnenswert gewesen wäre. Zu häufig bleibt es beim »Was?«, ohne zum »Warum?« vorzudringen. Dass aber mehr möglich gewesen wäre, zeigt das Kapitel über den Novemberpogrom, in dem Friedla eine breitere multiperspektivische Herangehensweise gelingt, die Analyse mit dichter Beschreibung zu verbinden vermag und Breslauer Besonderheiten schärfer hervortreten lässt. Ungeachtet solcher Kritik – die ein wenig über Friedlas Fragestellung hinausweist – treten die Vorzüge der gewählten Perspektive immer wieder hervor. Die Verfolgung der Juden und schließlich ihre Ermordung war eine für die Betroffenen offene Entwicklung, deren jeweilige Richtung absolut ungewiss war und verschiedenste Formen der Reaktion plausibel erscheinen ließ. Dies nah an den Menschen und ihren Zeugnissen zu beschreiben und in seiner Vielfalt deutlich zu machen, ist ein Verdienst der Arbeit. Das führt eindrücklich das Kapitel über die Deportationen vor Augen, deren Ablauf Friedla detailliert aus Sicht der Betroffenen schildert. Ihre Wege verfolgt sie dabei weiter und erzählt ihr Schicksal auch nach Ankunft der Züge in den Lagern und Ghettos. Ein besonderer Vorzug der Studie ist ihr zeitlicher Rahmen, der über das Kriegsende hinaus bis 1949 reicht und so im Grunde genommen, anders als der Titel suggeriert, eine Geschichte der Juden in Breslau von 1918 bis 1949 bietet. Neben allen Schwierigkeiten, mit denen jüdische Überlebende aus dem gesamten Deutschen Reich zu kämpfen hatten, stellte sich den 1.600 bis 1.800 Breslauern das Problem, dass sie von Polen und sowjetischen Besatzern zunächst meist nur als Deutsche, weniger jedoch als Verfolgte angesehen wurden; auch zu innerjüdischen Konflikten zwischen alten Breslauern und jüdischen Neusiedlern aus der UdSSR kam es. Die meisten der deutschen Überlebenden gingen ab August 1945 nach Erfurt und von dort wenig später vielfach weiter nach Westen. Die meisten jüdischen Umsiedler – im Winter 1946/47 lebten über 20.000 von ihnen in Breslau – verließen die Stadt in den darauffolgenden Jahren, als die Stalinisierung einsetzte und der Antisemitismus wieder zunahm. Markus Roth Gießen 67 Die Trawnikis – Werkzeuge der Vernichtung Angelika Benz Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust Berlin: Metropol Verlag, 2015, 309 S., € 24,– Im Mai 2011 verurteilte das Landgericht München I Iwan Mykolajowytsch (John) Demjanjuk wegen 16 Fällen der Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen jüdischen Glaubens im Vernichtungslager Sobibór zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Rechtskräftig wurde das Urteil allerdings nicht; Demjanjuk verstarb während des Revisionsverfahrens (S. 263 ff.). Demjanjuk war Angehöriger einer Hilfstruppe der SS, den sogenannten Trawnikis. Dieser Gruppe waren rund 5.000 »Fremdvölkische« zuzurechnen, die seit Herbst 1941 im SS-Ausbildungslager Trawniki geschult wurden. Bislang wurden diese »Fremdvölkischen« sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs überwiegend pauschalisierend als homogenes Kollektiv begriffen, die vermeintlich »brutaler als die SS« (S. 273) agiert hätten. Gesamtdarstellungen, die das Verhalten dieser Gruppe eingebettet in die mörderische NS-Rassen- und Vernichtungspolitik umfassend beleuchten hätten, fehlten bislang. Mit ihrer Studie schließt Angelika Benz nun diese Forschungslücke. Auf Grundlage zeitgenössischer Quellen, NSErmittlungsakten und Erinnerungsberichten gelingt es ihr in eindrucksvoller Weise, ein differenziertes Bild der Trawnikis und deren Rolle bei der Vernichtung der europäischen Juden nachzuzeichnen. Die Deutschen rekrutierten die Trawnikis anfänglich aus diversen Kriegsgefangenenlagern, wo Hunger, Kälte und Epidemien den Alltag der Rotarmisten prägten und das Sterben allgegenwärtig war. Unter ihnen waren Ukrainer die weitaus größte Nationalität, aber auch Russen und Volksdeutsche kamen in das Ausbildungslager (S. 49). Ab Herbst 1942 waren die Deutschen verstärkt dazu übergegangen, auch Zivilisten wie junge Ukrainer, ethnische Polen oder auch Goralen anzuwerben. Im Herbst 1941 begannen die konkreten Vorbereitungen für die unter dem Decknamen »Aktion Reinhard« realisierte systematische Ermordung der europäischen Juden in den im Generalgouvernement erbauten Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka. Neben deutschem Personal, das sich aus Angehörigen der Kanzlei des Führers rekrutierte, fanden in den Lagern auch Trawnikis Verwendung, die den überwiegenden Teil der Lagerbelegschaft stellten. Sie versahen in den Todesfabriken nicht nur Wachdienst und 68 beaufsichtigten die jüdischen Arbeitskommandos, sondern sortierten auch die Habseligkeiten der Ermordeten und zogen mitunter die Leichen der Getöteten aus den Gaskammern. Daneben waren die »Fremdvölkischen« allerdings auch in andere mit dem Massenmord verbundene Aufgaben involviert, beispielsweise der Räumung von Ghettos oder der Bewachung von jüdischen Zwangsarbeitslagern. Was das Verhalten der Trawnikis gegenüber den jüdischen Opfern anbelangt, standen viele den Deutschen in nichts nach, vielmehr adaptierten sie sogar deren brutales Vorgehen: »Die TrawnikiMänner erlebten eine komplette Umkehr des Machtverhältnisses und nutzten dies aus. Gerade noch in der ohnmächtigen Situation der Gefangenschaft, genossen sie nun eine fast grenzenlose Macht gegenüber den Juden« (S. 211). Die Motive der Trawnikis waren facettenreich: Nicht nur das Ausleben neu erworbener Macht, sondern mitunter auch Faktoren wie Identitätsverlust oder auch die Befriedigung ökonomischer und sexueller Interessen trieben die Männer an. In engem Zusammenhang stand die Brutalität jedoch mit den vorherrschenden hierarchischen Strukturen, in denen die »Fremdvölkischen« eingebettet waren. »Die SS-Männer hatten absolute Befehlsgewalt, die Trawniki-Männer fungierten als Helfer und Untergebene«, resümiert Benz (S. 162). Nicht nur bei Fehlverhalten mussten sie mit Strafen rechnen. Einige wurden von SS-Männern grundlos schikaniert und misshandelt. Andererseits konnten die Männer auch Ehrungen, Beförderungen und Auszeichnungen erhalten; Volksdeutsche waren jedoch generell bessergestellt. Allerdings war das Verhalten der Trawnikis in den Vernichtungslagern keineswegs von Gleichförmigkeit geprägt. Es sind Fälle überliefert, in denen Einzelne den jüdischen Häftlingen Informationen oder anderweitige Hilfeleistungen zukommen ließen. Benz’ Dissertation überzeugt. Sie gibt die erste systematische Darstellung über die Trawniki-Männer, die ein integraler Bestandteil des Genozids an der jüdischen Bevölkerung waren. Auf breiter Quellenbasis rekonstruiert sie, dass es sich bei den »Fremdvölkischen« keineswegs um eine homogene Gruppe handelte, deren Verhalten, Agieren und Motivation sich pauschalisieren ließe. Zu divers waren Faktoren wie Herkunft, Sozialisation, Anwerbungspraxis sowie persönliche Dispositionen der Rekrutierten. Neben situativen Momenten konnte sich auch der Kriegsverlauf auf die Einstellung und das Verhalten der Trawnikis auswirken. Zweifellos liefert die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Holocaust-Forschung. Überdies zeigt sie, dass durchaus noch weiße Flecken in der mittlerweile ausdifferenzierten Forschungslandschaft existieren. Melanie Hembera Ludwigsburg Rezensionen »Um uns herum ist es dunkel und leer!« Rywka Lipszyc Das Tagebuch der Rywka Lipszyc Aus dem Polnischen (Tagebuch) und Englischen (Anmerkungen und Begleitexte) von Bernhard Hartmann. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2015, 238 S., € 22,95 Immer wieder, auch nach nunmehr 70 Jahren, kommen neue Dokumente zum Holocaust ans Licht, die jahrzehntelang auf Dachböden lagen, unter Bodendielen versteckt oder in Wände eingemauert waren. Darunter nun auch das Tagebuch von Rywka Lipszyc, die als junges Mädchen im Ghetto Litzmannstadt/Łódź lebte. Die Veröffentlichung verdankt sich einer Reihe von Zufällen und glücklichen Fügungen. Nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau fand eine Ärztin der Roten Armee das Tagebuch in den Trümmern des Krematoriums und nahm es mit in ihre Heimatstadt Omsk. Nach ihrem Tod 1983 war es bei ihrem Sohn und nach seinem Tod bei dessen Frau. Dort entdeckte es 1995 deren Tochter und nahm es mit nach San Francisco, wo sie seit einiger Zeit lebte. Einige Jahre lang bemühte sie sich vergeblich, Interesse für das Tagebuch zu wecken, bis sie schließlich beim Holocaust Center of Northern California auf Jane Janec stieß. Janec nahm sich mit Eifer der Sache an und konnte 2014 schließlich eine englischsprachige Ausgabe initiieren. Das Tagebuch umfasst nur wenige Monate. Begonnen hat es Rywka Lipszyc im Oktober 1943 kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag; im April 1944 enden die Eintragungen. Rywka wurde im September 1929 in eine orthodoxe jüdische Familie in Łódź geboren und lebte mit ihren Eltern und ihren Geschwistern ab 1940 im dortigen Ghetto. Nachdem ihre Eltern an Hunger, Entkräftung und Krankheit gestorben waren, wurden die Kinder von Verwandten aufgenommen. Wie die meisten Ghettobewohner arbeitete auch Rywka, bis Oktober 1943 im Zentralbüro des Arbeitsressorts (der jüdischen Arbeitsverwaltung) und anschließend in der Kleider- und Wäscheabteilung. Gemeinsam mit ihrer Schwester Cipka wurde sie im Sommer 1944 nach Auschwitz deportiert, wo Cipka unmittelbar nach der Ankunft getötet wurde. Rywka kam in ein Frauenlager in der Nähe Groß-Rosens und von dort mit einem der berüchtigten Todesmärsche nach Bergen-Belsen, wo sie die Befreiung erlebte. Im Herbst 1945 jedoch verliert sich ihre Spur. Im September wurde sie in Lübeck als Displaced Person registriert, danach fehlt jedes weitere Lebenszeichen. Einsicht 15 Frühjahr 2016 In ihrem Tagebuch beschreibt Rywka aus ihrer Sicht, der Sicht eines orthodox geprägten jungen Mädchens, die Ghettowelt – den mühsamen Alltag, die Arbeit, die den Umständen abgetrotzten Freizeit- und Kulturaktivitäten, den Hunger, ihr nicht immer konfliktfreies Verhältnis zu den Freundinnen, Streit in der Familie, ihre eigenen Gefühle und vieles mehr. Einen großen Stellenwert haben, wie für Jugendliche generell, ihre Freundinnen und die gemeinsamen Aktivitäten. Sie versuchen, Normalität aufrechtzuhalten oder zurückzugewinnen. Wo eigentlich Arbeit, Hunger und Tod neue, von den Besatzern geschaffene Normalität sein sollen, schaffen sie sich Raum für Kultur und auch Vergnügen: »Wir werden uns einmal die Woche treffen und über Literatur oder ein anderes Thema sprechen, und sonntags treffen wir uns eine Stunde zum Vergnügen (wir sind ja keine alten Schachteln). Zur Vergnügungsstunde kommen vielleicht auch Jungen.« (3.1.1944, S. 94) Zerstreuung und die Suche nach geistiger Nahrung können den Schrecken des Ghettos freilich nicht fernhalten, Verzweiflung bricht sich immer wieder Bahn, die Sehnsucht nach ihren Eltern drückt sie nieder. Dem kann Rywka jedoch etwas entgegensetzen – die Kraft, die ihr ihre Freundschaften geben, und vor allem auch ihren starken Glauben: »Ach, ich lache über die ganze Welt, ich arme Jüdin aus dem Getto, ich, die ich nicht weiß, was morgen mit mir sein wird … ich lache über die ganze Welt, weil ich eine Stütze habe, eine große ungeheure Stütze: den Glauben! Ich glaube! Dadurch bin ich stärker und reicher und wertvoller als andere … Gott, wie dankbar bin ich Dir!!!« (11.2.1944, S. 126) Rywkas Eintragungen zeigen ein Mädchen, das einerseits mit dem ganz normalen Gefühlschaos einer Vierzehnjährigen kämpft, andererseits ihr Leben und ihre Zeit sehr ernsthaft reflektiert und das Verfolgung und Leid frühzeitig haben reifen lassen. Mit ihrem Tagebuch liegt nun ein interessantes Dokument auf Deutsch vor, das den vielen männlichen Stimmen über das Ghetto Lodz die Perspektive eines jungen orthodoxen Mädchens an die Seite stellt und so den Blick auf Hoffen und Angst, auf die Rolle von Religion und Kultur sowie auf das Heranwachsen im Ghetto erweitert. Doch auch dieses Zeugnis kann kaum etwas daran ändern, dass wir heute letztlich immer wieder in die Lage zurückgeworfen werden, in der sich die Kinder aus Rywkas Tagtraum befanden: »Gestern, als ich durch die Straßen ging, habe ich geträumt … Ich hatte ein Bild vor Augen: ein leicht erleuchtetes, warmes Zimmer, ein paar Kinder sitzen am Tisch, sie sind beschäftigt oder hören, was ich ihnen vorlese, ach, ich lese ihnen vom Getto vor, ich erzähle ihnen davon, und ich sehe ihre ungläubigen Augen, sie können nicht begreifen, dass so etwas geschehen konnte …« (17.1.1944, S. 104). Markus Roth Gießen 69 Aufzeichnungen einer Zwölfjährigen Janina Hescheles Oczyma dwunastoletniej dziewczyny [Mit den Augen einer Zwölfjährigen] Warszawa: Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut), 2015, 186 S., 35,90 Złoty Endlich sind die 1944 auf Polnisch verfassten Aufzeichnungen der damals zwölfjährigen Janina Hescheles (verh. Altman) ins Ukrainische, Russische, Katalonische, Spanische, Französische und wohl auch Hebräische übersetzt und in Warschau in der Originalsprache ungekürzt und mit umfangreichen Kommentaren neu aufgelegt worden. Die Kürzungen betrafen die Zeit der ersten, der sowjetischen Besetzung von Lemberg und des beim Einmarsch der Deutschen von Ukrainern veranstalteten Pogroms, bei dem sie ihren Vater verlor. Die Aufzeichnungen waren 1946 unter dem Titel »Oczyma dwunastoletniej dziewczyny« – wspomnienia z obozu janowskiego (Mit den Augen einer Zwölfjährigen – Erinnerungen an das Lager in Janów) erschienen. Teile hieraus sind in dem Band Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto (1961, mit einem Vorwort von Arnold Zweig) ins Deutsche übertragen worden. Man kann diese Aufzeichnungen zwischen den Tagebüchern von Anne Frank und Dawid Rubinowicz ansiedeln. Hescheles zeichnete ihre furchtbaren Erlebnisse in Lemberg und im Lager Janów während der deutschen Besatzung in mehreren Heften auf, nachdem sie vom Hilfsrat für Juden, der sogenannten Żegota, in der zweiten Jahreshälfte 1943 hatte gerettet werden können. Vertreter des Rats gaben ihr Feder und Hefte mit der Aufforderung in die Hand, alles, was sie über die Zeit des Leidens zu vermitteln habe, niederzuschreiben. Sie tat es auch. Es war in der Folge nicht leicht, diese Aufzeichnungen vor all den Hausdurchsuchungen der Deutschen zu schützen. Nach dem Krieg wurden sie von der Jüdischen Historischen Kommission in Krakau bereits 1946 veröffentlicht. Der Absicht des mittlerweile 14-jährigen Mädchens, das Aufgeschriebene stilistisch zu verbessern, widersetzten sich die Herausgeber beharrlich. Sie wollten, dass die Authentizität gewahrt bleibt. Janinas Vater hatte ihr zum Abschied gesagt, sie möge nie weinen. Sie weinte zwar oft, aber immer wieder erinnerte sie sich an seine Worte, und manchmal halfen sie ihr auch, die hoffnungslosen Tage zu ertragen. Einige Monate später nahm sich die Mutter das Leben. Janina wollte mit ihr sterben. Aber die Mutter gab ihrem Drängen nach einem gemeinsamen Tod nicht nach. Sie solle ihre Eltern rächen, erklärte ihr die Mutter. Was habe ich davon, erwiderte 70 Janina, wenn ich trotzdem allein bleibe. Die Rache werde keine Auferstehung bewirken. Sie werde sich nur quälen müssen. Die Mutter gab ihr aber nichts von dem Gift ab, das sie für ihren Tod bestimmt hatte. Janina schildert, wie sie immer gleichgültiger wurde. Selbst bei der Erhängung eines Mannes, bei der sie zusehen musste, fühlte sie keine Erschütterung mehr. Das, was sie am meisten fürchtete, war eine Erschießung, bei der sie nicht gleich tot umfallen werde. Sie wusste, wie so manches Kind nach den Schüssen noch lange leiden musste. Eines Tages flieht sie aus dem Lager, doch sie findet bei Verwandten keine Hilfe und kehrt wie viele andere wieder zurück. Sie wird für den Fluchtversuch nur mit Hieben bestraft, andere wurden deswegen erschossen. Die Schläge machten ihr wenig aus, schreibt sie, furchtbar war nur, dass es ein Jude war, der sie prügelte. Sie fühlt sich immer mehr wie ein »lebendiger Leichnam« (S. 59). Schließlich kam die unverhoffte Rettung. Hescheles schreibt nicht unbeholfen wie Dawid Rubinowicz. Sie notiert alles chronologisch, nennt viele Namen und schildert lakonisch die Ereignisse, wie sie und ihre Verwandten und Bekannten von Deutschen und Ukrainern brutal behandelt werden, wie sie dauernd in Angst leben. Selber scheint sie ein sehr aktives Kind gewesen zu sein, denn immer wieder geht sie irgendwohin, schmuggelt sich durch die Bewachung und versucht, anderen zu helfen. An mehreren Stellen reflektiert sie, wie sie zum Leben steht. Lange Zeit möchte sie unbedingt weiterleben, gleichsam um jeden Preis, aber Hunger, Kälte und Gleichgültigkeit um sie herum nehmen auch ihr die Lebenskraft. Erst in der Krakauer Wohnung kehrt ihre Energie zurück. Sie verliert sogar das Gefühl für die weiterhin bestehenden Gefahren, verraten zu werden. Am eindrücklichsten erscheinen jene Partien, in denen sie ihre persönlichen Gefühle wiedergibt und sich immer wieder fragt, ob sie die Bitten ihres Vaters und ihrer Mutter erfüllen kann. Diese bilden so etwas wie den Angelpunkt ihres Berichts. Es ist schade, dass ihre Niederschrift so lange ohne Echo geblieben ist und es in Deutschland keine Ausgabe ihrer Aufzeichnungen mitsamt jenem Teil gibt, in dem sie die Zeit der sowjetischen Okkupation von Lemberg schildert. Janina Hescheles-Altman lebt heute in Israel. Seit ihrer Emeritierung als Chemikerin im Jahre 1996 befasst sie sich unter anderem mit der Geschichte des Widerstands in Deutschland. 2013 gab sie in Form eines Kindle-Buchs die Arbeit Naturwissenschaftler vor und nach dem Aufstieg Hitlers zur Macht auf Deutsch heraus. Karol Sauerland Warszawa Rezensionen Ein Pionier historiographischer Entwicklungen Rüdiger Hachtmann, Sven Reichhardt (Hrsg.) Detlev Peukert und die NS-Forschung Göttingen: Wallstein Verlag, 2015, 223 S., € 39,90 Der 1990 im Alter von nur 39 Jahren verstorbene Historiker Detlev Peukert hat in der Nationalsozialismusforschung deutliche Spuren hinterlassen. Er leitete von 1988 bis zu seinem Tod die »Forschungsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus« in Hamburg. 25 Jahre nach seinem Ableben wird an das Schaffen des Pioniers historiographischer Entwicklungen erinnert und sein Wirken historisiert. Rüdiger Hachtmann und Sven Reichardt organisierten diesen wissenschaftlichen Nachruf mit Zukunftsperspektive für die renommierten »Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus«. In ihren einleitenden Überlegungen zu seiner wissenschaftlichen Einordnung würdigen sie Peukert als einen mit sieben Monographien und weiteren 73 Aufsätzen »extrem produktiven Historiker« (S. 9). Die 1976 veröffentlichte Staatsexamensarbeit »Ruhrarbeiter gegen den Faschismus« des in der Bergarbeiterkolonie HammHerringen aufgewachsenen damaligen DKP-Mitglieds enthält noch »deutliche Züge des historiographischen ›Prolet-Kultes‹« (S. 13). Aber mit der Umarbeitung dieser Arbeit für die Dissertation Die KPD im Widerstand (1980) »löste er sich zunehmend vom hermetischen Geschichtsbild der DKP« (S. 13) und – inzwischen in die SPD eingetreten – habilitierte sich 1984 mit einer voluminösen Studie zur deutschen Jugendfürsorge und den Lebenswelten von Arbeiterjugendlichen in der Weimarer Republik. In diesem Jahr hatte er – dies sei persönlich angemerkt – mich zur weiteren Beschäftigung mit der Jugendopposition gegen den Nationalsozialismus motiviert. Seinen Publikationen habe ich viele Anregungen zu verdanken, was sicherlich auch für die in dem Gedenkband vertretenen Kollegen/ Kollegin zutrifft. Es wird nicht verschwiegen, dass das »unvollendete Werk Peukerts« (S. 37) viele Leerstellen hat: Die Rolle der Frauen ist »nur beiläufig und oberflächlich thematisiert« (S. 37) worden. Auch mit dem Holocaust und dem Antisemitismus hat er sich »erst spät und dann nur sehr allgemein« (S. 37) beschäftigt. Aber dies kann nicht die »Vielzahl von Anregungen schmälern, die eine Lektüre der Peukertschen Arbeiten nachfolgenden Historikergenerationen geboten hat«. (S. 38) Einsicht 15 Frühjahr 2016 Ulrich Herbert setzt sich in seinem Aufsatz zu »Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft« mit der NS-Gesellschaft in Peukerts Arbeiten auseinander. Ihn beschäftigte die Frage, »dass nicht unerhebliche Teile der deutschen Arbeiterschaft durchaus bereit gewesen waren, den Nationalsozialisten zu folgen oder ihnen jedenfalls nicht im Wege zu stehen« (S. 41). Die Aussparung der Juden in seinen Publikationen reflektierte für Herbert die Emphase für die »anderen« Opfer des NS-Regimes: »Wilde Cliquen«, später Edelweiß-Piraten, die damals noch sogenannten »Zigeuner«, »Arbeitsscheue«, sowjetische Kriegsgefangene oder ausländische Zwangsarbeiter. »Diese höchst merkwürdige Trennung zwischen den Juden und den ›anderen‹ Opfern des NS-Regimes hat Peukert einige Jahre später dann selbst korrigiert …« (S. 46) und eine konzeptionelle Wende vollzogen: Aus dem Antagonismus von Kapital und Arbeit war der »Widerspruch zwischen gesunden arischen deutschen Volksgenossen und den als wertlos apostrophierten Gemeinschaftsfremden geworden …«. (S. 47) Die voluminöse Studie Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde (1982) ist Ausgangspunkt des Diskussionsbeitrags von Michael Wildt: »Peukert begriff Nationalsozialismus und Holocaust als eine mögliche, aber pathologische Erscheinung der Moderne.« (S. 55) Er hatte frühzeitig den Blick auf die rassistische Grundlage der nationalsozialistischen Ordnung gelenkt, »aus der zweifellos in erster Linie sämtliche Juden ausgegrenzt, vertrieben, vernichtet werden sollten, aber darüber hinaus auch alle anderen Menschen, die der rassistischen Definition eines ›gesunden Volkskörpers‹ nicht entsprachen«. (S. 59) Damit hat Peukert die Forschungsperspektive auf die »Volksgemeinschaft« eröffnet. Im Weiteren werden Aspekte von Peukerts Themenspektrum angesprochen: Von Anthony McElligot wird (in Englisch) die Suche nach dem Führer thematisiert, und Ulrike Jureit fragt in »Ein Rhythmus der Geschichte« nach generationsgeschichtlichen Deutungsmustern. Nikolaus Wachsmann (in Englisch) erörtert Perspektiven im Werk von Peukert für die Diskussion von Widerstand und Repression unter dem Naziregime. Elisabeth Harvey diskutiert »Paradoxes of private life during the Second World War« und Thomas Etzemüller hat eine kritische Betrachtung der Moderne als »Janusgesicht« beigesteuert. Abschließend wirft Frank Bajohr einen kritischen Blick zurück auf den Nationalsozialismus als »Krankengeschichte der Moderne«. Im Anhang wird ein von Hanno Hochmuth kommentiertes Radio-Feature über die Geschichtswerkstättenbewegung abgedruckt, in dem sich Peukert im Oktober 1984 als Fachmann zu der Diskussion über »Theorie und Alltag« äußerte. Der Band wird mit zahlreichen Buchbesprechungen abgeschlossen, die häufig mit den von Peukert untersuchten Themen und Fragen zu tun haben. Kurt Schilde Berlin/Potsdam 71 Medizinverbrechen ohne Dämonen Stephan Braese, Dominik Groß (Hrsg.) NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945 Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015, 343 S., € 39,90 Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen waren das Werk einer kleinen Zahl verbrecherischer Ärzte. Maßgeblich für ihre Taten war die Ideologie des NS-Staates. Diese beiden Glaubenssätze waren im Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang bestimmend. Noch heute erscheint es manchem als steile These, wenn dargelegt wird, dass die Initiative häufig bei den Ärzten lag, etwa im Bereich der Zwangssterilisation oder bei den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern. Die lange populäre Erzählung spendete nicht nur vielen Tatbeteiligten gnädigen Schatten, sie vermochte auch soziale, vor allem innerinstitutionelle Verhältnisse zu stabilisieren: Gerade in der Medizin spielen Lehrer-Schüler-Verhältnisse, spielt die »intergenerationelle Berufsvererbung« (S. 8) eine große Rolle – darauf weist die Einleitung des vorliegenden Sammelbands hin. Die Rede von der kleinen Zahl fanatischer Täter und von der Naziideologie als entscheidendem Antrieb blockierte zugleich für viele Jahre die dringlichen Fragen nach dem tatsächlichen Verhältnis von (medizinischer) Wissenschaft und Nationalsozialismus. Gleichwohl liegt in der Sache selbst ein Schrecken, der sich dann so leicht zu mythischen Bildern mit dämonischen Akteuren kristallisiert. Der Arzt als Instanz, der man sich in Leidenssituationen zuwendet, fordert ein Vertrauen, das nicht zu missbrauchen er sich – als Vertreter des Standes und weniger als Individuum – zugleich verpflichtet. Diese Übereinkunft, egal wie unzeitgemäß die mitlaufenden Überhöhungen auf beiden Seiten sind (hier die Hoffnung auf den »Heiler«, dort die Stilisierung zum »Halbgott«), zu brechen und mit der ganzen Gewalt, die das medizinische Instrumentarium bietet, gegen die ausgelieferten Personen vorzugehen, gibt tatsächlich Anlass, den misshandelnden oder tötenden Arzt schwärzer zu zeichnen als andere Täter. Schon diese kurze Erwägung macht deutlich, dass es angemessen ist, die Geschichte der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, insbesondere aber ihre mythendurchtränkte Thematisierung in den Nachkriegsjahrzehnten mit literarischen Zugriffsweisen zusammenzubringen. Das genau ist das Programm des Sammelbands, und sein Anspruch könnte höher kaum sein: Er schreitet – so die Herausgeber – »das gesamte Panorama der gesellschaftlichen 72 Auseinandersetzung« (S. 9) im Hinblick auf die nationalsozialistischen Medizinverbrechen ab. Zunächst wird in historiographischer Perspektive detailliert erläutert, wie die Täter in den sich nach 1945 wieder konstituierenden Gremien und Hochschulen Fuß fassen konnten und mit wie viel Energie die in den frühen 1980er Jahren aufkommenden kritischen Positionen eingehegt wurden. Und selbst als seitens der Bundesärztekammer 2008 öffentlich das massive ärztliche Fehlverhalten eingestanden wurde, war diesem Fehlverhalten immer noch ein äußerer Zwang durch politische Instanzen vorgeordnet. Ein Zwang, dem ein zeitloses »ärztliches Gewissen« gegenübergestellt wurde, das – so die Suggestion – als ethisches Fundament bewahrt werden konnte. (vgl. S. 174) Im zweiten Teil des Buchs übernehmen Literatur- und Kulturwissenschaftler die Regie. Arbeiten so unterschiedlicher Autoren wie Martin Walser, Peter Weiss, Ilse Aichinger oder Marcel Beyer werden mit Blick auf Arzt-Figuren und die Konfliktkonstellationen untersucht. Gerade die spätere Literatur zum Thema bedient sich häufig nicht chronologischer Erzählformen und arbeitet mit Anspielungen. Gefordert sind Leser und Leserinnen, die das zu ergänzen und aufzuschlüsseln wissen. Die Texte rücken oftmals die Personen als Träger der Handlung in den Hintergrund und dringen in die vermeintlich unschuldigen Alltagsverhältnisse vor. Damit entsprechen sie in gewisser Weise der Kritik der personenzentrierten Tätergeschichtsschreibung auf Seiten der Geschichtswissenschaft. Die Texte, häufig zwischen Fakten und Fiktion oszillierend, sind uneindeutig und beanspruchen genau darin die Möglichkeiten der Literatur für die Auseinandersetzung mit der Medizingeschichte. Allerdings muss man insgesamt einen Mangel an Vermittlung zwischen den Disziplinen der Geschichtswissenschaft und der Literatur konstatieren – ein Mangel, der nicht überraschen kann. Zu unterschiedlich sind die analytischen Instrumentarien und Begriffswelten, zu zurückhaltend die Versuche, Sichtweisen aufeinander zu beziehen. Liliane Weissberg unternimmt in ihrem Nachwort die Anstrengung, die historischen Untersuchungen ins Verhältnis zu den Möglichkeiten der Literatur zu setzen. Zunächst fällt ihr die Literatizität solcher Bösewicht-Figuren wie Josef Mengele ins Auge. Es sind Figuren, die in ihrer Dämonie alle Erklärungsansätze absorbieren, weil sie zwar auf die empirischen Untaten zurückverweisen, aber zugleich das Handeln der Vielen vergessen machen. Jenseits dessen fällt es auch Weissberg schwer, thematische Zugänge aus den beiden Feldern zu synthetisieren. Die Stärke des Bands liegt daher in den Perspektivwechseln, die es wiederholt erlauben, Motive, die im Rahmen der historischen Analyse markiert wurden, in der ein oder anderen literarischen Fiktion wieder aufzunehmen. »Du bist nicht zurückgekommen« Marceline Loridan-Ivens, mit Judith Perrignon Und du bist nicht zurückgekommen Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 111 S., geb., € 15,– Christoph Schneider Frankfurt am Main »Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen, weißt du, trotz allem, was uns widerfahren ist. Fröhlich auf unsere Art, aus Rache dafür, dass wir traurig waren und dennoch lachten.« (S. 7) Mit diesen Worten, ein fiktiver Brief an ihren 1945 ermordeten Vater, eröffnet Marceline Loridan-Ivens ihren tief berührenden Erinnerungen. Die 1928 geborene französische Schauspielerin und Autorin war im März 1944, 15-jährig, mit ihrem Vater nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden. Nur drei Kilometer voneinander entfernt versuchen sie zu überleben. Inmitten des Geruchs des brennenden Fleisches, im Angesicht der Gaskammern sehen sie sich vereinzelt. Einmal schreibt er ihr eine kurze Nachricht. Sie vergisst alles, für viele Jahrzehnte: »Ich suche und erinnere mich nicht. Ich suche, aber es ist wie ein Loch, und ich will nicht fallen.« Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen langen Brief, ein verzweifelter Versuch, Stücke des Verlorengegangenen wieder zusammenzufügen. Als Marceline ihren Vater in Auschwitz kurz trifft, wird sie von einem SS-Mann zusammengeschlagen: »Ich bin unter den Schlägen ohnmächtig geworden, und als ich wieder zu mir kam, warst du nicht mehr da, aber ich hatte eine Tomate und eine Zwiebel in der Hand, die du mir heimlich zugesteckt hast, sicher dein Mittagessen, ich habe sie sofort versteckt.« (S. 15 f.) Nun war das Vertraute wieder da, sie ist in Birkenau das Kind, ihr Vater ihr Beschützer. Als sie ihn am nächsten Tag noch einmal sieht, wird sie von der Angst überwältigt. Ihre Erinnerungen an die Zeit davor zerfallen. Die 15-Jährige ist für das Sortieren der Kleider zuständig. Die zerschlissenen Kleider der Ermordeten werden unter den Häftlingen verteilt, die schönsten gehen nach Deutschland: »Ich trug die Strickjacke einer Toten, den Rock einer anderen Toten, die Schuhe wieder einer anderen Toten.« (S. 24) Auch im Lager spielte der Antisemitismus eine große Rolle. Die Juden blieben auch dort die Projektionsfläche. Die tägliche Todesangst muss verleugnet werden, wenn man überleben will. Selbst Jahrzehnte später ist es den Überlebenden kaum möglich, die frühere Bedrohung zuzulassen: »Meine Freundin Frida hat meine Erinnerungen zurechtgerückt. ›Es war bei den Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Küchen‹, sagte ich zu ihr. ›Aber nein, du übertreibst, es war direkt bei den Gaskammern.‹ Sie hatte Recht. Die Krematorien liefen auf Hochtouren.« (S. 27) Ob ihr der Brief des Vaters Kraft gab? Sie ist sich nicht sicher. Der Brief ihres Vaters spricht »von einer Welt, die nicht mehr die meine war. Ich hatte jeden Bezugspunkt verloren. Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.« (S. 29) Eindrücklich erinnert sie sich an ihren inneren Prozess der seelischen Abstumpfung gegenüber dem allgegenwärtigen Tod: »Ich war hart geworden wie die alteingesessenen Deportierten […] Überleben macht einem die Tränen der anderen unerträglich. Man könnte darin ertrinken.« (S. 33) Ende 1944 verlässt Marceline Birkenau, wird nach BergenBelsen verschleppt. Ihren Vater wird sie nicht mehr wiedersehen. Ihre Befreiung erlebt sie im Mai 1945 in Theresienstadt. Sie erinnert sich an kein Gefühl der Freude. Nach ihrer Errettung hört sie vom Überleben ihres Onkels. 45 ihrer Verwandten sind ermordet worden. Sie geht nach Frankreich, wo sie eine bekannte Regisseurin wird. Ihr Onkel war, »in einem Karren voller Schutt versteckt«, aus einem Lager geflohen und zu polnischen Partisanen gegangen. Er verschwieg seine jüdische Identität, aus Angst. Eindrücklich prägt er der jungen Überlebenden ein: »Ich war in Auschwitz. Erzähle ihnen nichts, sie verstehen es nicht.« (S. 35) Ein gemeinsames Erinnern mit Freunden gelingt nicht. Niemand vermag ihre Erfahrungen zu teilen. Sie schreibt etwas auf, zerreißt es aber wieder. Am Ende ihres Briefes schreibt sie ihrem Vater über ihre beiden Ehemänner – »Keiner war Jude, sei mir nicht böse« (S. 91) – und über ihre Beziehung zu Israel, wohin sie nach ihrer Befreiung anfangs gehen wollte: »Stell dir die Welt nach Auschwitz vor. Wenn auf den Todestrieb der Lebenstrieb folgt. […] Stell dir das endlich geschaffene Israel vor!« (S. 94 f.) Verluste wie der Tod ihres Ehemanns und das Terrorattentat des 11. September 2001 zerstören ihr mühsam errungenes Gefühl der Sicherheit. »Ich weiß jetzt, dass der Antisemitismus eine feste Größe ist.« Ihr Vater hatte dies vorhergesagt. Der 11. September verstärkt ihre Identifikation mit ihrem jüdischen Erbe. Nun spürt sie stark, wieviel ihr daran liegt, Jüdin zu sein: »Du träumtest von Israel, es ist da, ich fühle mich immer wohl dort, wenn ich hinfahre, aber es ist nicht das Land des Friedens, das wir anstrebten. Seit seiner Gründung befindet sich Israel im Krieg. Gewöhnlich nehmen Kriege ein Ende, dieser nicht, denn der jüdische Staat ist von den arabischen Ländern ringsum nie akzeptiert worden. […] Und je länger es dauert, desto verdächtiger wird Israel, auch in der europäischen Öffentlichkeit. […] Ich werde deinen Traum weiterträumen.« (S. 107 f.) Ein ergreifendes Buch, aus dem Hoffnung und Verzweiflung zugleich spricht. Roland Kaufhold Köln 73 Höxter, Buchenwald, Landsberg Ernst Würzburger »Der letzte Landsberger«. Amnestie, Integration und die Hysterie um die Kriegsverbrecher in der Adenauer-Ära Holzminden: Verlag Jörg Mitzkat, 2013, 329 S., € 17,80 Der reißerische Titel ist dem Zufall geschuldet. Es handelt sich um den in Höxter geborenen Hans Schmidt, Adjutant des Kommandanten des KZs Buchenwald. Er wurde am 7. Juni 1951 im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis als letzter in der alphabetischen Reihenfolge der verbliebenen »7 Rotjacken« (darunter ein Einsatzgruppenführer, ein Einsatzkommandoführer und der Chef des SS-Konzentrationslagerwesens) hingerichtet. Anhand der Biografie will der Autor im Wechsel zwischen dieser und den allgemeinen Entwicklungen ein »möglichst ungeschminktes Bild dieser Zeit« wieder lebendig werden lassen, durch überwiegend vielfach unkommentierte Dokumentenzitate (S. 16 f.). Am Ende geht es weit über die Adenauerzeit hinaus bis hin unter anderem zur Behandlung der Problematik der ehemaligen NSJuristen und Geschichte der bundesdeutschen NS-Strafverfolgung. Nach der Lektüre bleiben Verwirrung und sehr viele Fragezeichen. Schon auf den ersten Blick fallen offensichtliche Unrichtigkeiten, sprachliche Schwächen einschließlich Stilblüten, Wiederholungen sowie ein Mangel an formaler Einheitlichkeit auf. Der letztgenannte Befund gilt auch für die Fußnoten. Diese werden teils willkürlich und teils gar nicht gesetzt. Das Abkürzungsverzeichnis ist unvollständig. So fehlt insbesondere das häufig verwendete Kürzel NMG (S. 72 f., 101, 108 f.). Das Literaturverzeichnis ist selektiv, das Quellenverzeichnis erratisch. Man erfährt immerhin einiges zur Person Schmidt. Dies geschieht holprig und mit Widersprüchen und Spekulationen. Genaue Belege fehlen häufig ganz oder sind nutzlos, so zum Beispiel Angaben nach Aussage einer Zeitzeugin bzw. eines -zeugen (S. 58 f., Anm. 104 u. 106) und »Amtsgericht Höxter, 17.01.1939« (S. 58, Anm. 107). Insbesondere hätte man gern erfahren, woher der Autor weiß, dass Schmidt »im Familienkreis wegen der Zustände in seinem Wirkungsbereich häufig sehr bedrückt gewesen« sei. Möglicherweise bestätige dies dessen Krankengeschichte (S. 71). Auf letztere wird zuvor schon eingegangen. Indes geschieht dies offenbar unvollständig und nicht stringent (S. 66 f.). Über die Diagnosen und Behandlung durch US-Amerikaner während Schmidts Haft fehlen Details, obschon dessen Gesundheitszustand bei den Gnadengesuchen eine erhebliche Rolle spielte. 74 Zur Situation in der Heimatregion von Schmidt, einer rechten Hochburg, kann man durchaus Interessantes, insbesondere auch zu dessen Beerdigung mit Zügen einer rechtsradikalen Demonstration, lesen. Ansonsten wird im Wesentlichen nur Bekanntes referiert. Besonders ärgerlich sind sachliche Fehler. So ist von Ludwigsburg als zentralem Sammellager für »mutmaßliche Kriegsverbrecher des westlichen Militärbezirks« die Rede (S. 72) – allein für die US-Zone gab es zwei weitere große Standorte in Darmstadt und Dachau mit diversen Internierungslagern. Oder da überfällt 1939 die »Reichswehr« Polen (S. 19). Und 1941 arbeitet sie mit den Einsatzgruppen zusammen. Deren Aufgabe sei es gewesen, »die jüdische und slawische Bevölkerung« zu liquidieren, was hinsichtlich der letztgenannten so nicht zutrifft (S. 40). Und wenn »Stimmen« zum Nürnberger Prozess »aus der Sicht mehrerer Jahrzehnte« angekündigt werden und dann der bereits 1949 verstorbene Gustav Radbruch ausführlich nach einer Ausgabe von 1990 ohne entsprechenden Hinweis zitiert wird, ist dies peinlich und symptomatisch zugleich (S. 31 f.). Das Buch ist über lange Strecken collagiert. Es enthält unnötige Exkurse und ist stellenweise überlang, aufzählend bis geschwätzig. Dafür fehlen aber gelegentlich eigentlich nötige Erläuterungen für den Leser. Als Dokument gilt alles, ob ellenlange Passagen aus Zeitungen, aus Akten oder Literatur von Forschern oder Publizisten. Bisweilen fehlen Übergänge ganz. Oft fehlen eigene Interpretation oder eigenes Urteil. Dies wird teils durch Dritte in Form von ausführlichen Zitaten ersetzt. So wird etwa ein Zeitungskommentar-Zitat durch ein Zitat aus dem Buch von Norbert Frei kommentiert (S. 196). Frei ist im Übrigen der mit Abstand am meisten zitierte Autor. Es fällt auf, wie neben wissenschaftlichen auf die Erwähnung von moralischen Autoritäten Wert gelegt wird. Auch wird selbst moralisiert. So hätten durch die Nürnberger Prozesse deutsche Anwälte viel Geld verdient (S. 44) oder im Falle Schmidt und Genossen ein US-Anwalt (S. 184). Nach Erwähnung angeblicher Misshandlungen Schmidts wird ausgeführt, dass das Ob und Wie letztlich unerheblich sei, weil dies nichts an den Verbrechen ändere, »für die die Inhaftierten schließlich zur Rechenschaft gezogen worden sind« (S. 124). Sollen NS-Verbrecher weniger Rechte haben als andere Straftäter? Man fragt sich, ob ein derartiges Buch überhaupt rezensiert werden sollte. Ein Grund dafür ist, dass es per Druckkostenzuschuss aus auch öffentlichen Geldern quasi geadelt wurde. Vor diesem Hintergrund wirft die Rezension ein grelles Licht darauf, dass Qualitätsmaßstäbe offenbar bei Veröffentlichungen zur Nazizeit kaum mehr eine Rolle spielen. Volker Rieß Ludwigsburg Rezensionen Das antisemitische Jahr 1968 Hans-Christian Dahlmann Antisemitismus in Polen 1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft Osnabrück: Fibre Verlag, 2013, 430 S., € 36,– Das Jahr 1968 ist in Polen nicht mit revolutionären Ereignissen verbunden, sondern mit einer antisemitischen Kampagne sondergleichen, die damit endete, dass die letzten polnischen Juden das Land verließen. Sie hatten sich zumeist assimiliert, so mancher von ihnen gehörte der kommunistischen Partei an. Der Autor der vorliegenden Studie schildert eingangs die Situation der überlebenden Juden gleich nach dem Krieg in Volkspolen. Bis 1949 erfreuten sie sich recht großer Freiheiten, sodass einige Historiker für diese Zeit »sogar von einer jüdischen Nationautonomie« (S. 58) sprechen. 1950 wurden alle jüdischen Parteien und Organisationen gleichgeschaltet. Erst der Oktober 1956 brachte mit seinem VIII. Plenum wieder einige Öffnungen, aber gleichzeitig wurde nach den Verantwortlichen für die sogenannten stalinistischen Repressalien gefragt. Es wurde populär, Juden dafür verantwortlich zu machen, da sie unter den leitenden Personen des Sicherheitsapparats »überpräsentiert« waren. Innerhalb der Partei entstand ein »rechter Flügel« unter der Führung von Mieczysław Moczar, der nach dem Sechstagekrieg 1967 besonders aktiv in der Verbreitung und Unterstützung des Antisemitismus war. Im März 1968 traten antisemitische Kräfte offen zutage. Die fatale Rolle, die hierbei der Erste Parteisekretär Władysław Gomułka spielte, versucht Dahlmann psychologisch herunterzuspielen. Er sei »in Wut geraten« (S. 91). Auch dessen Haltung im März/April 1968 versucht er mit großem Verständnis zu schildern. Er habe gleichsam nur um den Erhalt seiner Position gekämpft. Den größten Teil seines Buches widmet Dahlmann einzelnen Personen, die entweder Opfer der antisemitischen Kampagne geworden waren oder zu deren Akteuren gehörten, wobei es ihm gelang, Zeitzeugen bzw. ihre Verwandten zu interviewen und eine Menge Archivmaterialien aufzufinden. Hochinteressant sind die beiden Fallstudien zum Kernforschungsinstitut und zum Institut für Physik an der Warschauer Universität. Im ersten wurden führende Wissenschaftler jüdischer Herkunft und solche, die gegen die antisemitische Hetze protestierten, entlassen. Unter ihnen befand sich auch der Leiter einer wichtigen Abteilung, den Dahlmann als Bronisław B. vorstellt. Jeder, der einigermaßen die neueste Geschichte Polens und die der Physik kennt, weiß, dass es sich um Bronisław Buras Einsicht 15 Frühjahr 2016 (1915–1994) handelt, der später in Dänemark forschte. Dahlmann weist darauf hin, dass das Institut für Physik an der Warschauer Universität Buras in Schutz nahm. Hier wäre hinzuzufügen, dass die antisemitische Kampagne an der Warschauer Universität von Fakultät zu Fakultät unterschiedlich verlief. In den weiteren Kapiteln behandelt der Autor den Verlauf der Kampagne, die Reaktion der jüdischen Polen, wie es um die Akzeptanz und Ablehnung des Antisemitismus in der Gesellschaft aussah und dass es auch nichtjüdische Opfer gab. Im Schlusskapitel versucht Dahlmann zu unterstreichen, dass die Kampagne nicht zentral gesteuert war oder gar, dass sie nicht »von der Arbeiterpartei ausgegangen« sei, sondern vielmehr von »bestimmten Kräften in der Partei« (S. 204). Es klingt ein wenig so, als wolle er Gomułka und seine Mannschaft in Schutz nehmen. Mit dieser These widerspricht Dahlmann zum Teil seinen eigenen Forschungsergebnissen. Die Kampagne verlief hierbei in der Provinz viel unauffälliger, auch wenn sich die lokalen Parteifunktionäre bemühten, eine entsprechende »Unterstützung« zu organisieren, etwa indem in den Betrieben unter Parteiobhut Kundgebungen mit antisemitischen und antiisraelischen Parolen veranstaltet wurden. Interessant sind in diesem Kontext Dahlmanns Verweise auf die Rolle der neuen Medien: In den Gegenden, in denen nur wenige Haushalte über einen Fernseher verfügten, ließ sich die antijüdische Hetze in dem Ausmaß, das sie in Warschau und auf zentraler Ebene annahm, nicht beobachten. Mit feinfühliger Intuition dafür, wie Monopolparteien in autoritären Systemen agieren, spricht Dahlmann von dem Generationenkonflikt zwischen den alten Kadern einerseits, die noch ideologisch gesinnt waren und dabei oft für den Stalinismus Verantwortung trugen, und den jungen »hungrigen Wölfen« andererseits, die auf Posten und Beförderung auf Kosten der alten Funktionäre jüdischer Herkunft hofften. Eine solche Dynamik und solche Triebkräfte gehören jedoch durchaus zu der »Arbeiterpartei«, um den Begriff von Dahlmann noch einmal zu wiederholen. Es ist die Krux des Historikers, dass er das Material, das er mit großem Aufwand zusammenträgt – zumal Dahlmann nicht nur in Archiven tätig war, sondern auch viele Personen befragte, Oral History betrieb –, verallgemeinern muss oder sich zumindest dazu berufen fühlt. Die Studie beeindruckt durch die Auswertung von Quellen verschiedenster Art sowie durch die äußerst sorgfältige und detaillierte Schilderung der Ereignisse, von den inneren Spannungen in der Partei bis hin zu den Studentenstreiks. Monika Tokarzewska Toruń 75 Wem gehört Auschwitz? Imke Hansen »Nie wieder Auschwitz!« Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955 Göttingen: Wallstein Verlag, 2015, 312 S., € 34,90 Schon kurz nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau im Januar 1945 begann die turbulente und wechselhafte Geschichte von Auschwitz als Mahn-, Gedenk- und Pilgerstätte, als Museum, als Ort politischer Repräsentation und nicht zuletzt als Austragungsort heftiger Kontroversen um die Deutung der jüngeren Vergangenheit. Der Historikerin Imke Hansen, die mit ihrer Arbeit die erste Dekade dieser Geschichte untersucht, gelingt eine anschauliche, lebendige und vielschichtige Darstellung der Auseinandersetzungen, die die Etablierung der Gedenkstätte begleiteten. Zwar gehört die Arbeit in den Kontext der »Memory Studies«, die Autorin grenzt sich jedoch von den verbreiteten, kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheoremen ab, die, wie sie anmerkt, zur Homogenisierung und Hierarchisierung ihres Gegenstands neigen. In Hansens Fokus steht weniger die Geschichts- oder Erinnerungspolitik »von oben« als die Vielzahl unterschiedlicher Akteure – von Politikern und Journalisten bis zu den ehemaligen Häftlingen, den Mitarbeitern und Besuchern der Gedenkstätte –, die auf ihre Weise die Geschichte des Ortes prägten. Zur Frage danach, welche Geschichtsdeutungen und -repräsentationen sich in den Auseinandersetzungen um den symbolisch hoch aufgeladenen Ort gegenüberstanden, gehört für Hansen auch der mikrologische Blick auf den Alltag der Gedenkstätte und auf die Interaktion zwischen Mitarbeitern und Besuchern. Bis 1950 war die Geschichte der Gedenkstätte geprägt von einer erstaunlichen Pluralität, vom Nebeneinander unterschiedlicher Akteure und Konzepte, von divergierenden Deutungen und Erzählungen, die friedlich zu koexistieren schienen. Narrative Grundbestandteile waren das polnische Martyrium, die Hervorhebung der Polen als Opfer, Widerstand und Heldenmut im Kampf gegen die Deutschen. Religiöse, nationalistische und kommunistische Deutungen fanden nebeneinander Platz und konnten ineinander übergehen. Viele grundlegende Fragen über Arbeitsweise und Ziele einer KZGedenkstätte wurden bereits in den ersten Jahren diskutiert. Das Schicksal der Juden lief dagegen Gefahr, zu einem Randaspekt der Lagergeschichte gemacht zu werden; deutlicher Ausdruck dafür war die Vernachlässigung des Geländes von Birkenau. Aber auch 76 hier gab es gegenläufige Tendenzen, die nicht nur von jüdischen Verbänden ausgingen, sondern auch von einigen ehemaligen politischen Häftlingen. Von 1950 an, mit der Konsolidierung der stalinistischen Herrschaft, wurde rigide in die Arbeit und Personalstruktur des Museums eingegriffen. Die »Jüdische Ausstellung« in Block 4 wurde um 1951 geschlossen, der ohnehin geringe Einfluss jüdischer Verbände ausgeschaltet. Neue Ausstellungsteile verbreiteten politische Botschaften, ohne auf die Lagergeschichte auch nur Bezug zu nehmen. Der Versuch, die ehemaligen Häftlinge als wichtigste Träger der Gedenkstättenarbeit zu entmachten, gelang jedoch nur teilweise. Vor allem von ihnen, die in Polen über beträchtliches »symbolisches Kapital« verfügten, kam Widerstand gegen die »Stalinisierung« der Gedenkstätte, wobei jedoch auch hier die Fronten nicht klar verliefen und sich keinesfalls mit einer schlichten Gegenüberstellung von Aufklärung und Ideologie beschreiben lassen. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den Behörden und den ehemaligen politischen Häftlingen im Jahr 1953 läutete gleichzeitig eine erneute Wende in der Geschichte der Gedenkstätte ein. Stalins Tod und der Beginn der »Tauperiode« in Polen brachten auch für das Museum erweiterte Handlungsspielräume und eine neue Leitung. Mit Billigung der Staatsführung wurde nun die »Internationalisierung« der Gedenkstätte forciert. Zum zehnten Jahrestag der Befreiung wurde eine überarbeitete Dauerausstellung präsentiert, die weniger auf Ideologisierung als auf Identifikation setzte und die Besucher mit der Parole »Nie wieder Auschwitz!« entließ, als neuem Imperativ, dem sich alle anschließen konnten. Die Forschungsarbeit von Hansen, die politik- und alltagsgeschichtliche Perspektiven ebenso verknüpft wie Fragen der Narration und Repräsentation, gewährt einen spannenden und facettenreichen Einblick in die Geschichte von Museum und Gedenkstätte. Es gehört zu den Stärken der Arbeit, dass sie zeigen kann, wie Positionen, die gemeinhin als konträr gedacht werden – etwa nationalistische und kommunistische Geschichtsinterpretationen – im Detail zerfließen, ineinander übergehen, sich gegenseitig verstärken, solange einige grundsätzliche Widersprüche ignoriert werden können. Die Analyse der beständigen Marginalisierung des »jüdischen Auschwitz« in der Gedenkstätte gerät dagegen etwas dünn. Wenn im Resümee die fehlende Repräsentation von Juden als Opfern mit der zögerlichen Intervention jüdischer Organisationen und vor allem mit den fehlenden jüdischen Mitarbeitern im Museum erklärt wird, zeigt sich eine Schwäche des akteursbezogenen und alltagsgeschichtlichen Ansatzes. Ohne eine systematische Einbeziehung etwa des Nachkriegs-Antisemitismus und der nationalen und antifaschistischen Sprach- und Diskursregeln kann man diese irritierende Leerstelle kaum zu fassen kriegen. Geschichte als Puzzlespiel Christiane Schubert, Wolfgang Templin Dreizack und Roter Stern. Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis in der Ukraine Berlin: Metropol Verlag, 2015, 224 S., € 19,90 Katharina Stengel Fritz Bauer Institut Affirmative Bezüge auf das Nationenkonstrukt einer geeinten Ukraine, wozu scheinbar naturwüchsig ein patriotisches Volk gehört, sind ein durchgängiges Thema des Buches. Andere Kategorien, also Bezüge auf soziale Fragen, Gender oder gar eine notwendige Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus oder der Ideologie des ukrainischen Faschismus, finden sich nicht. Das Buch lebt von schlichten dichotomischen Gegenüberstellungen eines als gut definierten Nationalismus auf ukrainischer Seite, während derselbe auf russischer Seite als imperial (S. 206) und aggressiv gegeißelt wird. Wenn das »patriotische Feuer« durch die »Dauer und Härte der Auseinandersetzungen auf dem Majdan« (S. 204) angefacht worden sei, klingt hier ein sehr heroisches Bild der Entstehung von Nationen an. Die fragwürdigen Kategorisierungen setzen sich fort, wo es um die Betrachtung der durch die stalinistische Politik ausgelösten Hungerkatastrophe in der Ukraine geht und um den Holocaust. So heißt es: »Das erschütterndste nationale Trauma der Ukrainer, der Holodomor, hatte in den dreißiger Jahren nicht in allen Regionen gewütet, nahm aber in den Erinnerungen zahlreicher Menschen einen zentralen Platz ein« (S. 139). Ohne Frage war die Politik, die zum Hungertod von Millionen von Menschen vor allem in den Jahren 1932/33 führte, verbrecherisch und hat das kollektive Gedächtnis in der Ukraine geprägt. Die Frage ist jedoch, warum selbiges nicht auch für den Holocaust konstatiert wird. Stattdessen werden die ermordeten Jüdinnen und Juden implizit aus dem nationalen Kollektiv herausdefiniert, indem der Holocaust im Zusammenhang mit einem »nationalen Trauma« nicht einmal genannt wird. Problematisch ist auch die Beschreibung und Bewertung der historischen Figur Stepan Banderas ebenso wie der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Was Schubert/Templin zum Thema schreiben, ist verharmlosend, falsch und nicht belegt. »Ein polnischer Biograf kommt der Realität wahrscheinlich nahe, wenn er in Stepan Bandera einen galizischen Abenteurer und Terroristen sieht […]« (S. 58), behaupten die Autoren unüberprüfbar, da, so wird gleich im Vorwort dargelegt, aus »Gründen des Lesbarkeit« auf Fußnoten und Anmerkungen verzichtet wird und auch nur die »wichtigsten« Arbeiten im Literatur- und Quellenverzeichnis aufgeführt Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 sind. Nicht nur ukrainische NationalistInnen stilisieren Bandera zum Volkshelden, der doch vor allem für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft und allenfalls aus strategischen Gründen mit den Nationalsozialisten kollaboriert habe, vor allem in der Westukraine ist (und auf dem Majdan war) dieses Bild von Bandera verbreitet. Erst die Kollaboration mit den Deutschen habe dann zu seiner späteren Einstufung als Faschist beigetragen (S. 57), behaupten Schubert/Templin und sehen großzügig darüber hinweg, dass zur Einstufung Banderas als Faschist vor allem beitragen könnte, dass er als Anführer einer faschistischen Terrororganisation einen ukrainischen faschistischen Staat nach Mussolinis Vorbild gründen wollte. Dass sich Bandera auf die Ideologie Dmytro Doncovs berief, mache die Sache zusätzlich kompliziert, finden Schubert/ Templin, da dessen Schriften »radikalen Nationalismus, rassistische und antisemitische Elemente« (S. 57) enthielten. Doncov, selbst kein OUN-Mitglied, sah den ukrainischen Nationalismus als Teil der europäischen Faschismusbewegung. 1926 veröffentlichte er Auszüge aus seiner ukrainischen Übersetzung von Hitlers Mein Kampf, 1932 seine Übersetzung von Mussolinis La Dottrina Del Fascismo. Beim Thema Nationalsozialismus offenbaren sich Wissenslücken: Beispielsweise wurde Bandera aus dem KZ Sachsenhausen nicht befreit (S. 63). Er wurde freigelassen. Das war 1944 und ist allein deshalb zumindest bemerkenswert. »Im Frühjahr 1913 wurden dem 68. Jubiläum des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg über 700 Sendestunden gewidmet« (S. 181), so Schubert/Templin. Ein Lapsus, das kann passieren. Sollte es aber nicht zu oft. Innerhalb einer Buchseite wird die UPA einmal »Ukrainische Aufständische Armee«, einmal »ukrainische Aufstandsarmee« ausgeschrieben. Die Silbentrennung ist bei russischen und ukrainischen Namen und Bezeichnungen grundsätzlich falsch. Diese Formfehler sind Ausdruck einer Inkonsequenz, Ungenauigkeit und fehlender Wissenschaftlichkeit, die sich auch inhaltlich und terminologisch deutlich zeigen. Als »Tag des Sieges« wird in Russland der 9. Mai gefeiert, nicht der 8. Mai (S. 176). Dass Svoboda ebenso wie der Rechte Sektor bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014 an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, kann schwerlich als Indiz einer Demokratisierung der Ukraine gewertet werden. Wahlergebnisse sind eben nicht der einzige Indikator für rechte und rechtsextreme Tendenzen. Und: Wer eine extrem rechte Kraft wählen wollte, hatte andere Möglichkeiten als Svoboda. Lara Schultz und Ingolf Seidel Berlin 77 Architektur der Vernichtungslager Annika Wienert Das Lager vorstellen. Die Architektur der nationalsozialistischen Vernichtungslager Berlin: Neofelis Verlag, 2015, 301 S., € 29,– Die nationalsozialistischen Vernichtungslager in Bełżec, Sobibór und Treblinka waren zwischen Frühjahr 1942 und Herbst 1943 Stätten der Ermordung von mindestens 1,7 Millionen Menschen. Im Rahmen der von den Nationalsozialisten so genannten »Aktion Reinhardt« wurden vor allem Jüdinnen und Juden aus Polen, aber auch aus anderen von den Deutschen besetzten Ländern und aus Deutschland in die Lager verschleppt. Unter den Opfern waren auch Sinti und Roma. Nur etwa 140 Menschen überlebten ihre Deportation, wenn es ihnen, wie in Sobibór und Treblinka nach Aufständen gegen die Lagerbesatzungen, gelang zu fliehen. Die Täter beseitigten die materiellen Spuren der Massenmorde nahezu vollständig. Die Bauten der Lager wurden abgetragen, die Leichen der Ermordeten verbrannt und ihre Asche verstreut. Die Lagergelände wurden umgenutzt. Zeugenschaft der Verbrechen ist daher nur bruchstückhaft überliefert. Annika Wienert widmet sich in ihrer Dissertation einem dieser Bruchstücke: der Architektur der drei Vernichtungslager. Aus Forschungsliteratur und Quellenbeständen zu den Lagern arbeitet die Autorin deren Baugeschichte heraus. Sie weist auf Details und Kontingenzen in der Entwicklung der einzelnen Lager hin und kann dabei die in der bisherigen Forschung aufgestellten Hypothesen mit Erkenntnissen aus dem von ihr untersuchten Material ergänzen. So veranschaulicht sie, welchen Stellenwert Architektur im Bestreben der Lagerbesatzungen einnimmt, ihr alltägliches Mordhandwerk zu normalisieren. Wienert erarbeitet mit Kategorien der Architekturtheorie und der Urbanistik eine Typologie der Architektur der Vernichtungslager. Damit fordert sie diese Disziplinen dazu auf, die Geschichte der Architektur in Bezug auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen fortzuschreiben und die gebaute Materialität der Vernichtungslager weitergehend zu erforschen. Als Untersuchungsmaterial zieht Wienert insbesondere bildliche Quellen heran, die in insgesamt 70 Abbildungen in der Studie abgedruckt sind. Neben Fotoalben der Täter beschäftigt sie sich eingehend mit Zeichnungen der Lager, die von Überlebenden angefertigt wurden. Den Erinnerungen der Überlebenden schreibt die Autorin eine besondere Evidenz zu, da Baupläne der Todeslager nicht überliefert sind. Sie behandelt die Zeichnungen erstmals als eigenständige Quellen. 78 Mit dem durch den Stadtforscher David Lynch entwickelten Konzept der Mental Map untersucht sie darin, wie die gebaute Materialität der Lager von den Überlebenden wahrgenommen wurde. Anhand ihrer Studie zeigt Wienert auch auf, wie historisches Wissen und medial vermittelte Bilder zu den Vernichtungslagern sich wechselseitig beeinflussen. Dazu stellt sie künstlerische Arbeiten vor, die explizit die Architektur der Vernichtungslager thematisieren, und zeigt anhand der Forschungsliteratur und den Bildproduktionen von Gedenkstätten auf, wie Vorstellungen zu diesen Lagern überwiegend von Motiven anderer nationalsozialistischer Lager dominiert werden. Ein markantes Motiv in den visuellen Darstellungen der Vernichtungslager ist der Stacheldraht der Umzäunungen der Lager. Mit diesem Motiv werde, so Wienert, jedoch weder die bauliche Gestalt der Umzäunung, die von denen anderer Konzentrationslager stark abwich, noch das Geschehen im Lager wiedergegeben. Damit lasse sich das Lager nur als Gefangenschaft symbolisieren. Der Massenmord in Gaskammern und an Erschießungsstätten entziehe sich dagegen einer eigenständigen visuellen Repräsentation. Diesem Umstand gegenüber fasst der Titel der Studie Das Lager vorstellen zwei Ansprüche der Autorin zusammen. Zwar markiere der Tod in den Gaskammern einen radikalen Bruch darin, was vorstellbar ist, doch gerade deshalb gelte es entgegen der Rede von der Unvorstellbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, den Zeugnissen der Überlebenden in ihrer Detailliertheit Aufmerksamkeit zu geben. Zweitens stellt sie ihre Studie gegen Vereindeutigungen in den Darstellungen der Vernichtungslager. Wichtig ist für Wienert, am Begriff des Lagers festzuhalten. Einerseits, um damit auf konkrete Orte und konkrete Täterschaften zu verweisen. Andererseits wendet sie sich damit auch dagegen, die Geschichte des kleinen Teils der Opfer, die nicht unmittelbar nach ihrer Deportation ermordet wurden, sondern zunächst zur Mitarbeit am Mordprozess gezwungen wurden, zu verdrängen: »Nicht zuletzt zeigt der Begriff [des Lagers] an, dass die Opfer keinesfalls direkt in den Gaskammern starben, sondern im Lager beraubt wurden, Zwangsarbeit leisten mussten und misshandelt und gequält wurden.« (S. 16) Die große Leistung von Annika Wienert besteht zuletzt auch darin, dass sie – neben ihrem Beitrag zu einer Grundlagenforschung zur Architektur der Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« – mit ihrer spezifischen Perspektive neue Fragestellungen für Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen skizziert. Martin Mauch Frankfurt am Main Rezensionen Spurensuche – Eine Jüdische Familiengeschichte Lorenz S. Beckhardt Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie Berlin: Aufbau Verlag, 2014, 480 S., € 24,95 Lange wusste Lorenz Schlomo Beckhardt nichts über seine jüdische Familiengeschichte. Dies war insofern erstaunlich, als das gesamte Dorf, in dem er 1961 geboren und aufgewachsen war, – das idyllische Sonnenberg bei Wiesbaden – »darüber« Bescheid wusste. Seine Eltern betreiben ein kleines Lebensmittelgeschäft. Obwohl es in dem Dorf eigentlich eine Monopolstellung hat, bleibt ein Teil der freundlichen Sonnenberger der deutschen Losung »Kauft nicht bei Juden!« treu. Erst als seine Eltern den Laden 1977 verkaufen, betreten diese Sonnenberger wieder das Geschäft. Auch über die Fluchtgeschichte seines Vaters nach England wusste der junge Lorenz nichts. Er wusste nur, dass sein Vater lange in England gelebt hatte. Dorthin gelangt war er als jüdisches Flüchtlingskind. Beckhardts Eltern waren Kaufleute, über ihre schmerzhafte Biografie als Kinder von Verfolgten sprachen sie nicht gerne. In umfänglicher Weise zeichnet der Wissenschaftsjournalist Beckhardt seine jüdische Familiengeschichte nach. Sein Großvater Fritz gehörte als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg zu den höchstdekorierten deutschen Soldaten. Für den Enkel anfangs verstörend war ein Foto, auf dem sein Großvater in einem Doppeldecker saß; auf dessen Rumpf prangte ein großes Hakenkreuz. Für seinen Großvater war dies ein persönliches Glückssymbol. Er verstand sich durch und durch als deutscher Jude. Zu den Anfängen von Beckhardts familiärer Spurensuche: 1972 schicken seine Eltern ihn in ein katholisches Internat in Bonn. Der junge Jude geht regelmäßig in den Gottesdienst, wird Messdiener. Dann, Ende der 1970er Jahre, der politische Aufbruch, der Protest: »Schulterlange hennarote Locken, ein Palästinensertuch um den Hals« (S. 451). Er fühlt sich als Linker, übernimmt als 20-Jähriger auch die antisemitischen – sich irrtümlich als »internationalistisch« gerierenden – Überzeugungen eines nicht unbeträchtlichen Teils der Linken. Als ihn seine Familie zu einem Besuch zu Verwandten nach Israel schickt, lässt der junge »Revolutionär« vernehmen, dass er die Politik Israels ablehne: »›Ihr habt nichts aus der Geschichte gelernt‹, schimpfe ich. ›Die Nazis haben euch unterdrückt. Jetzt macht ihr Einsicht 15 Frühjahr 2016 das Gleiche mit den Palästinensern.‹« (S. 456) Und doch war er mit großer Freude am Ben-Gurion-Flughafen empfangen worden. Das Bemühen von Lorenz, seinen israelischen Verwandten zu beweisen, dass junge deutsche Linke wirklich nichts über ihre Geschichte wissen, bleibt nicht ohne Folgen: Was sollten seine Verwandten mit ihm anfangen? Ob er nichts über das Schicksal seiner Familie wisse? Nein, davon hatte er wirklich keine Ahnung. Wenig später möchte Lorenz den Kriegsdienst verweigern. Zu seinem ungläubigen Erstaunen klärt ihn ein Verwandter darüber auf, dass er doch Jude sei – und als Nachkomme von jüdischen Verfolgten nicht zur Bundeswehr müsse. Diese Erfahrung wird, viele Jahre später, zum Ausgangspunkt einer schmerzhaften Forschung zur Familienbiografie. Bei einem Besuch in einem Antiquariat in Israel übergab man ihm ein Buch über deutsch-jüdische Fliegerhelden, auf dem ein Kampfflugzeug abgebildet war. Geschmückt war es mit einem überdimensionalen Hakenkreuz. Ausführlich porträtiert wurde in diesem Werk Lorenz’ Großvater Fritz, der aus dem Ersten Weltkrieg als der höchstdekorierte Jude zurückkehrte. Lange lebte er in der Illusion, dass er als jüdischer Pilot geschützt sei. 1950 kehrt Fritz Beckhardt gemeinsam mit seiner Frau Rosa Emma und seinem 23-jährigen Sohn wieder nach Deutschland zurück, aus innerer Überzeugung. Er hatte zwei Jahre Untersuchungshaft und das KZ Buchenwald überlebt. Fritz und Emma waren nach Portugal, 1941 nach England emigriert. 1950 dann die Rückkehr in das Heimatdorf. Immer wieder zeigen ihnen die Dorfbewohner, dass sie unerwünscht sind. Die erneute Begegnung mit den von ihnen vertriebenen Juden weckt in ihnen Schuldgefühle. Dies lassen sie die Rückkehrer spüren. Nach mehrjährigen Prozessen erhält Fritz einen Teil seines »arisierten« Vermögens zurück. Die quälenden Prozesse um die »Wiedergutmachung« haben aber seine Gesundheit zerstört. Die Liebe zu Deutschland hat ihn blind gemacht. Auf Fotos und in den Beschreibungen erleben wir einen zunehmend verzweifelnden, schwer traumatisierten Menschen: »Bis zum 8. Mai 945 galten Juden in den Augen der ›arischen‹ Mehrheit ausnahmslos als reich. Tags darauf mussten sie beweisen, jemals etwas besessen zu haben.« (S. 368) Gegen Ende seines Lebens erkennt Fritz die ablehnende Haltung eines Teils der deutschen Bevölkerung und der deutschen Behörden. 1962 stirbt er, verbittert, nach mehreren Schlaganfällen. Dem Anfang wohnt das Ende inne: Beckhardt beginnt seine Spurensuche mit der Szene seiner – sehr verspäteten – Beschneidung: Im Alter von 45 Jahren möchte er seinen ihm früher verwehrten jüdischen Namen tragen, sich auch öffentlich zu seinem Judentum bekennen: »Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an«, lautet der erste Satz seines Buches. Beckhardt hat ein eindringliches, auch bestürzendes Buch vorgelegt. Roland Kaufhold Köln 79 Einheit und Pluralität des Zionismus Samuel Salzborn (Hrsg.) Zionismus. Theorien des jüdischen Staates Baden-Baden: Nomos Verlag, 2015, 211 S., € 39,– Die Publikationsreihe »Staatsverständnisse« (Nomos Verlag) verfolgt das Ziel, klassische Theoretiker und neuzeitliche Ideen des Staates vorzustellen. Im vergangenen Jahr erschien, herausgegeben von dem Göttinger Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, der mittlerweile 76. Band der Reihe. Er widmet sich dem Zionismus. Die dort versammelten Beiträge sollen vor allem, so betont Salzborn einleitend, »die Pluralität in der Diskussion um den jüdischen Staat sichtbar machen« und anhand politischer, kultureller und religiöser Dimensionen nicht nur »die Verbindung zu anderen Überlegungen der staatstheoretischen Diskussion« aufzeigen, sondern auch die »Spezifik des Zionismus« (S. 9) herausstellen. Entsprechend porträtieren die Beiträge zwar einschlägig bekannte, doch aber in vielerlei Hinsicht divergierende Vordenker und Protagonisten des Zionismus. Volker Weiß etwa erinnert in seinem Aufsatz an Moses Hess, den »Pionier einer revolutionären zionistischen Idee«, und dessen »Vision eines demokratischen und sozialistischen Judenstaates« (S. 32), während Kay Schweigemann-Greve Martin Bubers politisch-theologisches Ideal eines libertärsozialistischen »Königtums Gottes« (S. 167) darstellt. Solche unterschiedlichen Vorstellungen über die staatliche Verfassung des zu errichtenden Judenstaates mögen in die staatstheoretische Diskussion überhaupt integrierbar sein und können »oft als allgemeine Folien hinter die Etablierung politischer Systeme gelegt werden […], ohne direkt auf ein konkretes politisches System anwendbar zu sein«. (S. 9) Die Diskussionen über den Zionismus korrelieren indes unmittelbar auch mit der Errichtung des Staates Israel und verknüpfen auf einzigartige Weise philosophische Theorie und politische Praxis. Carsten Schliwski betont entsprechend, dass etwa Leon Pinskers Idee einer säkularen jüdischen Nation und der daran geknüpften Forderung nach »Autoemancipation« zwar »eine eher unbedeutende Episode in der Geschichte des Zionismus« darstelle, dennoch »unabdingbar für den Zionismus seit Herzl sein sollte« (S. 50). Der zum »wichtigsten Symbol des Zionismus« (S. 90) stilisierte Theodor Herzl, führt Andrea Livnat in ihrem Beitrag aus, sei indes kein großer Theoretiker gewesen: »Es sind seine Taten, die in die 80 Geschichte eingingen« (S. 75). So mag sich dessen Staatstheorie zwar zwischen Utopie und Pragmatismus bewegen, von Bedeutung ist aber die Schaffung eines organisatorischen Rahmens, der der pluralen zionistischen Bewegung, »trotz der Konflikte zwischen den unterschiedlichen Parteien, die Möglichkeit eröffnete, als politischer Akteur aufzutreten«. Auch Chaim Weizmann sei vor allem aufgrund seiner pragmatischen Politik zu einer der bedeutenden Figuren des Zionismus geworden. Evyatar Friesel legt dar, dass zwar zunehmend auch Weizmanns ideologische Rolle Anerkennung findet. Seine Idee des »synthetischen Zionismus« habe für Flexibilität im zionistischen Lager gestanden, sei aber selbst pragmatisch motiviert: »Das wahre Leben zwang die Zionisten (und später die Israelis) zum Kompromiss, zum Mittelweg, zur politischen Moderation.« (S. 152) Die einzigartige Spezifik des Zionismus ist darüber hinaus auch durch ein negatives Moment gekennzeichnet. Maßgeblichen Zionisten ging es »nicht um die Erneuerung jüdischer Identität, sondern um die Rettung vor dem Antisemitismus« (S. 83). Entsprechend seien antisemitische Eskalationen für zionistische Pioniere als »Erweckungserlebnis« zu deuten: bei Moses Hess die Ausschreitungen von Damaskus 1840, bei Pinsker die Pogrome 1881/82 in Russland und bei Herzl die Dreyfus-Affäre. Mit Eduard Bernstein findet daher auch einer der führenden Sozialdemokraten der Jahrhundertwende Einzug in den Sammelband, obwohl er selbst sich niemals als Zionisten verstand. Er begriff aber »die jüdische Nationalbewegung als nachvollziehbare und unterstützenswerte Reaktion auf den immer aggressiver werdenden Antisemitismus« (S. 53). Sebastian Voigt illustriert Bernsteins prozionististische Haltung aus dessen Pragmatismus heraus und urteilt, dass er »mit seiner revisionistischen Position […] an der gesellschaftlichen Realität näher dran [war] als seine dogmatischen, theoriefixierten Parteigenossen« (S. 72). Pragmatische Erwägungen spielen für den religiösen Zionismus und sein bis heute vorhandenes Mobilisierungspotential indes eine untergeordnete Rolle. Steffen Hagemann skizziert die in der lurianischen Kabbala fundierte Interpretation des Messianismus durch Abraham Isaak Kook und betont die darin angelegte aktivistische Dimension. Die »eschatologischen Heilserwartungen der passiven, quietistischen Orthodoxie« würden »in ein aktivistisches Programm der Besiedelung des Landes gewendet werden« (S. 134). Salzborn gilt es aber nicht als Widerspruch, dass die pragmatischen Erwägungen zur Abwehr des Antisemitismus sich bisweilen mit religiösen oder kulturellen Motiven in restaurativen wie erneuernden Bestrebungen um das Selbstverständnis jüdischer Identität in der Moderne kombinieren. Er konstatiert: »Gerade die Kombination aus politischen und religiösen Motiven zeigt, dass Israel zu Recht als Staat sui generis gilt, also als einziger und besonderer Staat, der durch sich selbst eine eigenständige Klassifizierung bildet.« (S. 10) Insideranalysen eines Außenseiters Alfred Sohn-Rethel Die deutsche Wirtschaftspolitik im Übergang zum Nazifaschismus. Analysen 1932–1948 Hrsg. von Carl Freytag und Oliver Schlaudt. Freiburg: ça ira Verlag, 2015, 510 S., € 26,– Nico Bobka Frankfurt am Main Obgleich einige der hier versammelten Schriften in Deutschland bei Suhrkamp (1973) und Wagenbach (1992), in England (1987) und Italien (1978), den Niederlanden (1975) und Dänemark (1975) veröffentlicht wurden, gerieten sie in Vergessenheit. Mit dem vorliegenden zweiten Band der Schriften Alfred Sohn-Rethels machen die Herausgeber nicht nur die Texte der beiden vergriffenen deutschen Ausgaben zugänglich, sondern veröffentlichen die erste Edition aller seiner Arbeiten zur politischen Ökonomie des Nationalsozialismus. Neben einem einleitenden Aufsatz Freytags zum biographischen Kontext und zur Rezeption der Schriften zeichnet sich die Ausgabe durch eine sorgfältige Kommentierung der einzelnen Texte, deren Nachweis, ein Glossar und ein Personenregister aus. Zu bemängeln ist lediglich das Fehlen einer Beurteilung der Analysen Sohn-Rethels vom gegenwärtigen Forschungsstand aus. Diese verdienen nach wie vor in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit. Zuallererst aufgrund der Bedingungen ihrer Entstehung, die in der Einleitung Freytags und in Erinnerungen Sohn-Rethels dargestellt werden. Sohn-Rethels Analysen beruhen auf den Beobachtungen, die er während seiner von 1931 bis 1936 währenden Arbeit in Institutionen im Umfeld des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags (MWT) gemacht hat: von 1931 bis 1934 als wissenschaftliche Hilfskraft beim MWT, von 1934 bis 1935 als Sekretär des Deutschen Orient-Vereins und 1935 als Geschäftsführer der Ägyptischen Handelskammer für Deutschland. Auf diesen Stationen erhielt er als marxistischer Intellektueller in Camouflage Einblicke in die Arbeit des MWT, die sonst nur den wirtschaftlichen und politischen Eliten vorbehalten waren. Diese Informationen über die Vermittlungsbemühungen des MWT, die auf den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der neuen technischen und chemischen Industriekonzerne und denjenigen der Schwerindustrie und der Großagrarier zielten, gab er im Rahmen seiner illegalen politischen Arbeit an kommunistische Untergrundgruppen weiter. Um sein geringes Gehalt aufzubessern, verfasste er in dieser Zeit zusätzlich Analysen zur deutschen Wirtschaftspolitik in Mittel- und Südosteuropa, die er in Publikationsorganen des MWT, den Deutschen Führerbriefen Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 und dem Deutschen Volkswirt veröffentlichte. An die Sprache der Abnehmer angepasste Schreibarbeiten aus der Perspektive des deutschen Kapitals, die die erste Werkgruppe des Bandes ausmachen. Eine dieser Arbeiten, eine Klassenanalyse mit dem Titel »Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus«, die er im September 1932 gemäß den Richtlinien der Führerbriefe anonym veröffentlichte, sorgte in der kommunistischen Bewegung für Aufsehen. Dieser spielte er den Aufsatz anonym zu, um sie vor der für die Rekonsolidierung des Kapitalismus notwendige und den Interessen der wirtschaftlichen Eliten entsprechende Spaltung der Arbeiterklasse durch SPD und NSDAP zu warnen und sie zu einer konsequenten revolutionären Praxis zu bewegen. Tatsächlich wurde der Aufsatz von der kommunistischen Presse aufgegriffen und als sensationelle Insiderenthüllung der politischen Strategie des Kapitals für die Agitation benutzt. Erst 1970, als der Text im Kursbuch wieder veröffentlicht wurde, bekannte sich Sohn-Rethel zu seinem Coup, was für Anfeindungen von Seiten derjenigen Marxisten sorgte, die den Text weiterhin als ein Hauptbeweisstück für die Agententheorie behandeln wollten (S. 24 f.). Die auf Georgi Dimitrow zurückgehende Theorie, der zufolge die Nationalsozialisten bloß terroristische Agenten der besonders reaktionären, imperialistischen Teile des Kapitals gewesen seien, bildete lange Zeit das Dogma der sowjettreuen Faschismusanalysen. So wie Sohn-Rethel überhaupt mit seiner intellektuellen Arbeit einen eigenwilligen Weg verfolgte und Zeit seines Lebens Außenseiter blieb, so widersetzen sich auch seine Analysen des Verhältnisses von Politik und Ökonomie im Nationalsozialismus der damals vorherrschenden marxistischen Dogmatik und der fortwährenden interessierten Apologetik, die keinen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise und faschistischer Krisenlösung erkennen will. Diese Arbeiten, die die zweite Werkgruppe des Bandes bilden, verfasste Sohn-Rethel im Exil, angesichts der drohenden Verhaftung war er 1936 geflohen. Auf der Grundlage seiner im MWT gewonnenen Erkenntnisse bemüht er sich um Analysen der Struktur, der Konflikte und der Dynamik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus. Mit klarem Blick analysiert er die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und innerhalb der NSDAP und kommt 1938 zu einer Einschätzung des Verhältnisses zwischen Partei und wirtschaftlicher Elite, die zugleich eine implizite Kritik der Agententheorie ist: »Die Faschistenpartei ist der Knecht der Bourgeoisie, aber nur in dem Verhältnis, daß sie über ihrer Bourgeoisie im Sattel sitzt und diese mit Sporen und Kandare ihre eigenen Bahnen reitet.« (S. 332) Jérôme Seeburger Leipzig 81 Ende der Zeugenschaft Peter Huth (Hrsg.) Die letzten Zeugen. Der AuschwitzProzess von Lüneburg 2015. Eine Dokumentation Hrsg. von Peter Huth unter Mitarbeit von Philipp Heinemann, Kai Feldhaus, Laura Gehrmann, Torsten Hasse, Anne Losensky, Axel Sturm und Anja Wieberneit, mit einem Nachwort von Hans-Christian Jasch. Stuttgart: Reclam Verlag, 2015, 277 S., € 12,95 Selten schreiben Justizjuristen Rechtsgeschichte. Selten auch haben sie den Horizont, rechtsvergleichend zurückzublicken und die herrschende Rechtsprechung kritisch zu untersuchen. 2008 initiierte Thomas Walther, der sich wenige Jahre vor seinem Ausscheiden aus dem Justizdienst an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte versetzen lassen, Vorermittlungen im Fall John Demjanjuk. Der in Israel beinahe einer Personenverwechslung zum Opfer gefallene einstige ukrainische Hilfswillige war nicht »Iwan der Schreckliche« des Vernichtungslagers Treblinka. Doch Demjanjuk war Trawniki-Mann im Todeslager Sobibór gewesen. Sobibór war der bundesdeutschen Justiz nicht unbekannt. 1965/66 hatte das Landgericht (LG) Hagen gegen 12 SS-Angehörige des Lagers verhandelt und war zu dem Urteil gelangt, dass das Vernichtungsgeschehen in der Mordstätte als eine Tat, als natürliche Handlungseinheit im Rechtssinne zu betrachten sei. Mitgewirkt an der Ermordung der ins Lager deportierten Juden hatten alle Mitglieder der SS-Besatzung, gleichviel, welche Tätigkeiten sie ausgeübt hatten. Die Rechtsauffassung war nicht neu. Bereits im Chełmno/ Kulmhof-Prozess 1962/63 vor dem LG Bonn und im TreblinkaProzess 1964/65 vor dem LG Düsseldorf betrachteten die Gerichte den Massenmord in diesen Lagern als ein einheitliches Geschehen, als eine Handlung. Walther, durch seine Arbeit in Ludwigsburg und durch ihre Folgen fraglos zur historischen Gestalt geworden, fragte sich, warum ein Wachmann nicht ebenso wie ein vom LG Hagen verurteilter SobibórBuchhalter Beihilfe zum Mord geleistet habe. Indem er sich auf eine Rechtsauffassung besann, die in den 1960er Jahren Anwendung gefunden hatte und auch vom Bundegerichtshof bestätigt worden war, erweckte er die Zentrale Stelle aus ihrem Tiefschlaf. Man erinnerte sich zum Beispiel an eine Aufstellung von mehr als 4.000 SSAngehörigen von Auschwitz, die die Frankfurter Staatsanwaltschaft 82 erarbeitet hatte. Nunmehr ging die Vorermittlungsstelle nicht mehr nur den vormals allein verfolgten »unerträglichen Fällen« nach, sondern ermittelte gegen jedes »Rädchen« der Vernichtungsmaschinerie. Ein jüngstes Ergebnis des Erwachens der Strafjustiz in Sachen NS-Verbrechen, der Aufgabe einer verheerenden Justizpraxis, ist der Lüneburger Prozess gegen Oskar Gröning gewesen. Der Angeklagte hatte in der »Häftlingseigentumsverwaltung« gearbeitet, Hab und Gut der Deportierten sortiert und zum Wohle des deutschen Volkes ins Reich versandt. Mitte 2015 verurteilte das LG Lüneburg Gröning wegen »Beihilfe zum Mord in dreihunderttausend rechtlich zusammentreffenden Fällen« zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Journalisten der Berliner Tageszeitung B.Z. haben das Verfahren verfolgt und seinen Verlauf dokumentiert. Ihr Anspruch war, »genau das aufzuschreiben, was im Prozess gesagt wurde – unkommentiert, unbewertet und ungewichtet« (S. 7). Für die Prozessberichterstattung in der Zeitung mag diese Methode genügen, nicht aber für eine Buchpublikation, selbst dann, wenn einer der Journalisten die Berichte anhand anderer Quellen ergänzt hat. Statt des Nachwortes des Historikers Hans-Christian Jasch, das nicht frei von Unrichtigkeiten ist, hätte eine umfangreiche Einleitung die Geschichte sowohl von Auschwitz als auch der Auschwitz-Prozesse darstellen müssen. Auf der Grundlage der bereitgestellten Informationen hätten Leserinnen und Leser sodann die Berichterstattung über den durchaus außergewöhnlichen Prozess nachvollziehen können. Die protokollierten Zeugenaussagen bedürfen der Kommentierung. Unklare Angaben über Lagerabschnitte in Birkenau werden nicht verdeutlicht, unvollständige Häftlingsnummern (S. 45) nicht ergänzt, rätselhafte Aussagen (S. 125) nicht richtiggestellt. Die Herausgeber begnügen sich mit gerade mal 19 Anmerkungen (S. 255–257). Wichtig wäre auch gewesen, die spezifische Rolle der Zeugen zu klären, die keine »Tatzeugen« im herkömmlichen Sinne mehr waren, kein »Beweismittel«, dessen Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit hinsichtlich der bekundeten Tatvorwürfe vom Gericht nach Recht und Gesetz geprüft worden wäre. Dieser bemerkenswerte Wandel der Opferzeugen vom Tat- zum Erinnerungszeugen, die als Überlebende und gar als Nachgeborene (die Zeuginnen Judith und Ilona Kalman sowie Henriette Beck) vom erlittenen Leid und vom Trauma des Lebens nach dem Überleben zu erzählen wissen, hätte in dem Buch reflektiert werden müssen. Ein Vergleich mit den milden Strafen im Frankfurter Auschwitz-Prozess für Gehilfen, die direkt und konkret im Sommer 1944 an der »Abwicklung« von Transporten beteiligt gewesen waren, hätte zudem ein Licht auf das im Vorwort zu Recht angeprangerte »Versagen der deutschen Justiz« (S. 7) geworfen. Die unterlassene Kontextualisierung der Dokumentation des Gröning-Prozesses mindert den Wert des ansonsten wichtigen und verdienstvollen Buches. Nicht vergessen und nicht vergeben Ursula Wamser, Wilfried Weinke (Hrsg.) »Ich kann nicht vergessen und nicht vergeben«. Festschrift für Lucille Eichengreen Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2015, 175 S., € 15,– Werner Renz Fritz Bauer Institut Am 1. Februar 2015 wurde Lucille Eichengreen 90 Jahre alt. Wäre es nach den Nationalsozialisten gegangen, hätte sie dieses Alter nicht erreicht. Sie hat ein Getto und mehrere Lager überlebt. Als Cecilie Landau in Hamburg geboren, wurde sie im Herbst 1941 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in das Getto von Litzmannstadt/Łódź verschleppt. Ihre Mutter starb im Sommer 1942 völlig entkräftet im Getto, ihre Schwester wurde wenig später während der dramatischen Tage im September 1942, die die Gettobewohner »Sperre« nannten, ins Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof deportiert und dort in Gaswagen ermordet. Ihren Vater hatten die Nationalsozialisten bereits früher im Konzentrationslager Dachau getötet. Zum runden Geburtstag im letzten Jahr haben zwei langjährige Freunde Lucille Eichengreens aus Hamburg, Ursula Wamser und Wilfried Weinke, ihr zu Ehren eine Festschrift herausgegeben. Freunde, Wissenschaftler und Gedenkstättenleiter, Politiker, Journalisten und Lehrer sind es etwa, die hier über Eichengreen und ihre Begegnungen mit ihr schreiben. Reaktionen von Schülerinnen und Schülern auf Gespräche mit ihr sind abgedruckt. Vorworte zu ihren Büchern finden sich ebenso im Band wie Texte von Eichengreen selbst. Lucille Eichengreen hat in einem Interview gesagt – und dieses Zitat gibt dem Band seinen Titel: »Ich kann nicht vergessen und nicht vergeben.« In einer ihrer Reden, die in der Festschrift abgedruckt sind, erklärt sie: »Ich bin in den letzten Jahren nach Lesungen aus meinen Büchern wiederholt gefragt worden, warum ich so unversöhnlich sei. Zurückgefragt: Ist es wirklich unverständlich, dass mir Versöhnen oder gar Verzeihen so schwer fällt, da mir die liebsten Angehörigen auf menschenverachtende Weise genommen wurden? Ich spreche heute zu Ihnen als einzige Überlebende meiner Familie.« (S. 146) Sie kommt seit Jahren immer wieder nach Deutschland, redet vor Schulklassen und Studierenden über das Furchtbare, das sie erlebt hat; ich selbst traf sie zum ersten Mal in Łódź, als sie einer Gruppe von Studierenden aus Gießen vor Ort vom Getto berichtete. Mehrere Bücher über das Erlebte hat sie, die im Getto im Archiv die Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Sekretärin Oskar Singers war und die uns Forscherinnen und Forschern daher so viele Informationen über die Arbeit in diesem Archiv geben konnte, geschrieben. Sascha Feuchert, einer der Herausgeber der Lodzer Gettochronik, beschreibt in der Festschrift Eichengreens wichtige Rolle bei den Arbeiten an dieser Edition.1 Sie sagt und schreibt auch Unbequemes, redet nicht einer oberflächlichen Gedenkkultur nach dem Mund. Habbo Knoch merkt darüber im vorliegenden Band an: »Sie spricht kontrolliert, nicht emotional, sie bezeugt, sie malt nicht. Sie verweigert sich damit medialen Konventionen des Umgangs mit dem Holocaust, gerade indem und wie sie darüber spricht. Ihre nicht zu verfehlende Sperrigkeit ist nicht nur Ausdruck einer tiefen Unversöhnlichkeit, weil ihr falsche Läuterung der Täter und ihrer Nachkommen zuwider ist, sondern auch ein Medium, um die Distanz zwischen ihren Zuhörern und ihrem vergangenen Erleben des Geschehens aufrechtzuerhalten.« (S. 54 f.) Es ist ein sehr persönliches Buch, herausgegeben von zwei Nachgeborenen, die aber in ihrem einleitenden Text schreiben: »Wir kennen Lucille schon seit ihrer Schulzeit«. Wer wissen möchte, wie dies gemeint ist, der möge in diese schöne Festschrift hineinschauen. Dort abgedruckt ist auch Lucille Eichengreens Rede zur Vorstellung der Lodzer Gettochronik in Gießen am 15. November 2007. Die Rede, in der sie davon spricht, dass die Chronik Teil ihres Lebens und sie selbst ein Teil der Chronik sei, hat mich damals sehr bewegt. Hoffentlich findet sie jetzt noch viele neue Leser. Andrea Löw München 1 Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941–1944 [Bd. 1–4], Supplemente und Anhang [Bd. 5], hrsg. von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried und Jörg Riecke, Göttingen 2007. 83 Zur Topographie der Shoah in Wien Dieter J. Hecht, Eleonore LappinEppel, Michaela Raggam-Blesch Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien Wien: Mandelbaum Verlag, 2015, 380 S., Abb., € 29,90 »Wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht«, schrieb Ruth Klüger, Überlebende mehrerer Lager in ihrer Autobiographie weiter leben über die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Sie weist damit darauf hin, dass die Verknüpfung von historischen Geschehnissen mit konkreten Gebäuden oder Arealen eine eigene Erfahrung oder Wissen voraussetzt. Das »Hier war es« von Erinnerungszeichen und -inschriften, mit denen mittlerweile zahlreiche Ereignisorte im öffentlichen Raum markiert sind, zeugt zwar von einer Sichtbarkeit der Informationen und des Erinnerns, doch bedeutet es immer auch Reduktionen, Auswahl und Auslassungen. Der Publikation Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien gelingt der Versuch, den städtischen Raum von Wien mit den Erzählungen und Dokumenten zur nahezu vollständigen Auslöschung ihrer jüdischen Gemeinde in den Jahren 1938 bis 1945 zu verknüpfen. Wer die Veröffentlichung in die Hand nimmt, ahnt bereits vor dem ersten Blick in das Buch aufgrund des Gewichts und Umfangs einerseits, dass hier ein detaillierter Blick auf die jüdische Geschichte der Stadt und ihre zahlreichen Orte gewährt wird, andererseits aber auch etwas über das Ausmaß und die Auswirkungen der Ereignisse selbst. Dabei ist, und das betonen die Autor-/ innen in ihrem Nachwort, auch diese historische Erzählung von einer Auswahl bestimmt, indem »einzelne Aspekte der Verfolgungsund Überlebensgeschichte an exemplarischen Orten festgemacht« (S. 549) werden, die als »Zentren des Geschehens« (ebd.) oder als »paradigmatische Orte« (S. 550) herausgestellt werden. Wien hatte vor 1938 mit mehr als 167.000 Mitgliedern die drittgrößte jüdische Gemeinde in Europa, rund zwei Drittel von ihnen gelang (zunächst) die Flucht, mehrheitlich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Von denjenigen, die in der Stadt blieben, wurden die meisten ermordet. Im Dezember 1945 gaben in ganz Österreich 3.955 Menschen an, jüdisch zu sein. Die Autor-/innen widmen sich in ihren Darstellungen konsequent der Sicht der Wiener Juden/Jüdinnen. Die Grundlage bilden dabei neben Aktenbeständen und Archivmaterial autobiographische Texte und Briefe der Verfolgten sowie Interviews mit Überlebenden. 84 So werden die Ereignisse sowohl als Überblick als auch aus der Sicht von Individuen dargestellt, die konkret mit den antijüdischen Maßnahmen und Verfolgungen konfrontiert waren und Strategien für ein Leben und Überleben angesichts dieser Bedrohungen zu entwickeln versuchten. Dabei entschieden sich die Autor-/innen für eine chronologische Ordnung ihrer Kapitel, beginnend mit dem »Anschluss«-Pogrom im März 1938 bis zu den Deportationen in die deutschen Vernichtungsstätten in Osteuropa und dem Überleben in der Stadt und bildeten dabei wiederum thematische Schwerpunkte aus, so zur jüdischen Zwangsarbeit oder zu »Sammelwohnungen«. Sie beleuchten so eine Vielzahl von bekannten und bisher unbekannten Aspekten mit Blick auf den öffentlichen und privaten Raum der Stadt. Besonders deutlich werden dabei die Veränderungen in der Nutzung und Bedeutung, die die Räume infolge der antijüdischen Maßnahmen erfahren haben. Um nur drei Beispiele aus den detailreichen Schilderungen hier anzuführen: Der Westbahnhof im XV. Bezirk, für die nichtjüdische Wiener Bevölkerung weiterhin ein Ort des täglichen Nah- und Fernverkehrs, wurde sowohl zu einem Ort nationalsozialistischer Machtdemonstrationen als auch der Deportationen in die Konzentrationslager und Vernichtungsstätten sowie Ausgangspunkt für die (zunächst rettende) Emigration (S. 222 ff.). Jüdische Einrichtungen unterlagen zahlreichen Funktionswandeln; so diente eine Talmud-Thora-Schule in der Malzgasse 2 des II. Bezirks ab dem 20. November 1939 als Altersheim, nach seiner Auflösung im Juni 1942 als Sammellager für Deportationstransporte und ab November 1942 als jüdisches Spital (S. 246), und die großen unbelegten Areale der neu eingerichteten jüdischen Abteilung auf dem Zentralfriedhof (4. Tor) wurden ab Juli 1940 von der Israelitischen Kultusgemeinde zur Durchführung von Sommerkursen für Kinder und Jugendliche sowie zum Anbau von Obst und Gemüse zur Versorgung von Krankenhäusern und Altenheimen genutzt (S. 309 ff.). Der Band zeigt eindrücklich, wie die Entrechtung, Verfolgung und Deportation den öffentlichen und privaten Raum immer weiter beschränkten und einengten – Erzählungen und Erkenntnisse, denen die wenigen materiellen Erinnerungsorte im städtischen Raum kaum gerecht werden können. Es wäre den Autor-/innen zu wünschen, dass zum einen in den kommenden Jahren die Forschungen zu Wien weitergeführt werden und so das Gedächtnis der Stadt immer weiter verfeinert wird und zum zweiten, dass neben Büchern weitere Medien hinzugezogen werden, die helfen, die Verknüpfung von Ort und Erinnerung/Information auch im öffentlichen Raum sicht- und nachvollziehbarer zu gestalten. Alexandra Klei Berlin Rezensionen Kommunalpolitik als Basis demokratischen Handelns Helga Krohn Bruno Asch – Sozialist. Kommunalpolitiker. Deutscher Jude. 1890–1940 Frankfurt am Main: Brandes und Apsel Verlag, 2015, 277 S., € 19,90 Bruno Asch war in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren ein herausragender Kommunalpolitiker und Finanzfachmann. Seine politische Karriere begann in Höchst am Main, wo er zunächst als hauptamtlicher Stadtrat für die SPD, 1923 bis 1925 als Bürgermeister der Stadt tätig war. Im Anschluss wurde er zum Stadtkämmerer der Stadt Frankfurt am Main gewählt und wechselte 1931 nach Berlin, wo er dasselbe Amt bekleidete. Seine Beliebtheit und öffentliche Bekanntheit in den Jahren der Weimarer Republik waren außerordentlich. In Höchst hatte er die schwierige Aufgabe, die Interessen der Stadt gegenüber der französischen Besatzungsmacht (1918–1930) zu vertreten. Als Frankfurter Stadtkämmerer war Asch gemeinsam mit Oberbürgermeister Ludwig Landmann (1924–1933) und dem Siedlungsdezernenten Ernst May (1925–1930) einer der Vertreter des »Neuen Frankfurt«, das die städtische Selbstverwaltung als ein wesentliches Moment in der neuen Weimarer Demokratie sah. Der Wohnungsbau auf gemeinwirtschaftlicher Grundlage wurde für Frankfurt ein zentrales Thema der Kommunalpolitik. In Berlin trat Asch an, um in Zeiten größter wirtschaftlicher Not die katastrophale Haushaltslage der Stadt zu konsolidieren. Sein Ruf als Finanzexperte war ausgezeichnet, als Vertreter der SPD hatte er viele politische Freunde und Bewunderer; seine innovativen und risikofreudigen Ideen riefen aber auch Kritiker und Gegner auf den Plan. Umso erstaunlicher ist es, dass bisher keine Biographie zu dieser herausragenden politischen Persönlichkeit existierte. Diese Lücke schließt Helga Krohn nun mit einem ungewöhnlichen Buch. Es gibt keinen umfangreichen Nachlass von Bruno Asch. Der Sozialist und Jude floh 1933 in die Niederlande, um seiner Verhaftung zu entgehen. Seine Familie folgte ihm ins Exil. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in den Niederlanden sah Asch für sich keine Hoffnung mehr und nahm sich das Leben. Seine Frau und zwei seiner Töchter wurden 1943 im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Lediglich eine Tochter war bereits 1939 nach Palästina emigriert und überlebte die Shoah. In ihrem Besitz befanden sich ein Tagebuch, das Bruno Asch sporadisch seit 1922 führte, und ein stattliches Konvolut von rund 900 Briefen, die Asch seiner Frau Einsicht 15 Frühjahr 2016 Margarete vor allem während seiner Abwesenheit als Soldat im Ersten Weltkrieg schrieb. Diese Unterlagen hatte Margarete Asch zusammen mit wenigen anderen persönlichen Gegenständen vor ihrer eigenen Deportation in einem Koffer im Heizungskeller des Wohnhauses versteckt. Ein Freund der ebenfalls deportierten Tochter Ruth wusste davon und informierte nach 1945 die einzige Überlebende der Familie, Mirjam. Die Originale liegen heute in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Krohn wertete die Quellen aus und schuf eine sehr gut lesbare Mischung aus Briefedition und Biographie, anhand der es gelingt, sich von der Person Aschs ein anschauliches Bild zu machen. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den Briefen. Mit den Augen des 24-jährigen Bruno Asch wird man in den Alltag eines Soldaten eingeführt, der, in relativer Sicherheit in einem Telegraphen-Bataillon hinter der Ostfront eingesetzt, vor allem eines im Übermaß zu haben scheint: Zeit. Der lern- und wissbegierige Asch schreibt mindestens jeden zweiten, wenn nicht jeden Tag an seine Frau, liest sehr viel, unter anderem Zeitungen, die sie ihm schickt. In seinen verschiedenen Einsatzorten kommt er direkt mit der jüdischen Bevölkerung in Kontakt, sieht das Leid vieler Juden, die in den Städten durch den Krieg ihre ganze Habe verlieren, und er nähert sich dem Zionismus an. Auch die antisemitische Stimmung in der Truppe nimmt er sensibel wahr. Zum ersten Mal denkt er über seine eigene Haltung zum Judentum nach und fragt sich und Margarete, welche Rolle das Jüdischsein in der Erziehung ihrer zukünftigen Kinder haben solle. Im Juli 1917 sieht er in Bresk den zu Friedensverhandlungen angereisten Kaiser. Trotz Aschs anfänglicher Zustimmung zum Krieg bedauert er zutiefst, welche Grausamkeiten eine ganze Generation erleben muss. Lange vor Kriegsende solidarisiert er sich mit den demokratischen Kräften in Deutschland und wünscht sich einen raschen Verständigungsfrieden mit Russland, um eine Friedensgesellschaft aufzubauen. Im November 1918 wird er Vorsitzender des »Großen Soldatenrats Kowno« und macht es sich zur Aufgabe, einen geregelten Abzug der Truppen zu organisieren. Politisch schloss er sich nach der Novemberrevolution der USPD an. Die Zusammenstellung aus Briefen, Tagebuchnotizen und Veröffentlichungen Aschs zeugen von einer Intensität des Gesprächs zwischen den Eheleuten, das die Besonderheit der Situation widerspiegelt: Asch war sich bewusst, dass sie in einer Umbruchphase leben, die sie selbst mitgestalten können. Seine Briefe zeigen einerseits seine Sensibilität gegenüber den realen Problemen der Zeit, andererseits seine Überzeugung, die Probleme der Menschen mit einer systematischen Neuordnung lösen zu können. Seine Ansichten waren dabei nie ideologisch, sondern am Menschen orientiert. Das machte ihn zu einem der großen Politiker dieser Epoche. Katharina Rauschenberger Fritz Bauer Institut 85 Bildungsarbeit an Museen und Gedenkstätten Der vorliegende Sammelband diskutiert in 23 Artikeln Selbstverständnis, Rahmenbedingungen, inhaltliche und methodische Zugänge sowie Perspektiven der Bildungsarbeit an Orten der NS-Geschichte. Er richtet sich an Mitarbeitende von Gedenkstätten sowie schulische und außerschulische Lehrkräfte, die mit Gruppen Gedenkstätten besuchen. Diese Gedenkstätten unterscheiden sich in Thematik und Funktion, abhängig jeweils vom konkreten Ort, in Größe, Ausstattung, pädagogischen Angeboten und Besucherzahlen. Sie sind Orte historischer Relikte, Täterorte, Friedhöfe, Denkmäler und Bildungseinrichtungen. Besuchenden soll es ermöglicht werden, »an dem historischen Gegenstand über Geschichte (zu) lernen und Themen (zu) entdecken«, die für sie in der Gegenwart von Bedeutung sind, formuliert Gottfried Kößler das zentrale Anliegen. Das pädagogische Ziel ist es, »die Fähigkeit zur autonomen Meinungsbildung« (S. 78) zu entwickeln sowie, so Christa Schikorra, zu dieser Geschichte eine Haltung zu gewinnen, sich »zu positionieren« (S. 13). Cornelia Siebeck beschreibt die Entwicklungsgeschichte der Gedenkstätten in der BRD, kurz selbiges auch für die DDR und Österreich. Demnach wandelten sich die westdeutschen Gedenkstätten von ehemals »widerborstigen Orten«, die an die NS-Verbrechen und ihre Opfer, dann auch an die Täter/-innen erinnern, hin zu etablierten, staatlich getragenen Einrichtungen – deren jetzt systemstabilisierende Kernaussage laute, verbrecherische Systeme erfolgreich überwunden und das »deutsche Streben nach Freiheit und Einheit« (S. 42) eingelöst zu haben. Zu ergänzen wären diese Überlegungen meines Erachtens um die Perspektiven der vielen kleinen, nicht von der Bundesregierung gestützten Gedenkstätten, die finanziell nicht so gut ausgestattet und häufig von ehrenamtlichem Engagement getragen sind und möglicherweise auch über etwas andere Blickwinkel verfügen. Das Verhältnis von Gedenkstättenpädagogik und schulischen Bildungsanforderungen diskutiert Robert Sigel. Schule sei starken Veränderungen unterworfen, unter anderem hin zum kompetenzorientierten Unterricht anstelle klar definierter Lerninhalte, mit wiederum sehr unterschiedlicher Ausgestaltung in den Bundesländern. »Für die Gedenkstätten bedeutet die curriculare Entwicklung, dass sie mit einem verbindlichen Grundlagenwissen beim Besuch von Schulklassen immer weniger rechnen können.« (S. 47) Die Konsequenz seien erhöhte Anforderungen an die fachliche Kompetenz und Flexibilität im konkreten pädagogischen Setting für die Gedenkstättenpädagog/ -innen – verstärkt noch durch die zunehmende Heterogenität der Schulgruppen. Die Anforderungen an Gedenkstättenarbeit im Rahmen einer heterogenen, zudem auf Inklusion orientierten Gesellschaft debattiert Elke Gryglewski. Sie erläutert, welche Impulse und manchmal auch Irrwege, zum Beispiel einer unbeabsichtigten Re-Ethnisierung von Jugendlichen, auf diesem Weg in die konkrete Praxis gelangt sind, angefangen von pädagogischen Konzepten bis zur Gestaltung von Orten und Materialien. Als konkretes Beispiel benennt sie unter anderem die Einführung von Einstiegssequenzen, die persönliche Zugänge zur Geschichte ermöglichen. Kritisch verweist sie auf die immer noch mangelnde heterogene Zusammensetzung des pädagogischen Personals. Die Frage der Kompetenzorientierung behandelt Wolfgang Meseth. Orientierung an (schulischen) Kompetenzmodellen bei der Vermittlung von NS-Geschichte in Gedenkstätten ist seines Erachtens nicht zielführend, da die NS-Verbrechen auch bei Jugendlichen mit moralischen Erwartungen und Beurteilungen besetzt seien, die ein sachliches Gespräch über die moralischen Implikationen des Themas erschwerten. Außerdem handele es sich bei Gedenkstättenbesuchen anders als in der Schule um ein offenes Lernsetting mit situativen Aushandlungsprozessen. Meseth argumentiert mit zwei bildungspolitischen Polen: einerseits eine bildungstheoretisch orientierte Pädagogik, die das »je spezifische Verhältnis von Sache und Person (Schüler/Teilnehmerin) immer wieder neu in den Blick nimmt«, und andererseits eine Output-orientierte Pädagogik mit dem Ansatz, »Lernsequenzen ergebnisbezogen zu organisieren«. (S. 106) Gottfried Kößler befasst sich mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Museen und Gedenkstätten. Der Unterschied sei primär, dass Gedenkstätten die Erinnerung an Unrecht und Leid bewahren und didaktisch umsetzen möchten, auch im Sinne des Appells an politische Werthaltungen. Museen hingegen sollen im gegenwärtigen Verständnis neben der Pflege von Sammlungen (im Sinne der Bewahrung eines kulturellen Erbes) eine »erfreuliche, eine bildende Erfahrung vermitteln« (S. 69) und bewegten sich in der Nähe zu den Künsten und ihrer Autonomie – Objekte im Museum seien danach nicht nur Belege für historische Ereignisse, sondern hätten ein eigenes Recht. Die Gemeinsamkeit der Institutionen bestehe in der »Faszination des Authentischen«, der Spannung von »sinnlicher Nähe und historischer Fremdheit, dem Ineinander von zeitlich Gegenwärtigem und geschichtlich Anderem« (S. 73). Mehrere Autor/-innen befassen sich mit dem wieder häufiger diskutierten Beutelsbacher Konsens1, zum Beispiel mit dem Spannungsfeld zwischen Orientierung auf Ermächtigung der Adressat/ -innen einerseits und realer Zwangsbespielung im Rahmen von Schulklassenbesuchen andererseits; ein Dilemma, das sich wohl nie lösen, allenfalls aushalten und so konstruktiv wie möglich gestalten lasse. Reflektiert wird ferner das Überwältigungsverbot: Nach Lore Kleiber können die in Gedenkstätten erläuterten Verbrechen bei Besuchenden Emotionen wie Erschütterung und Empörung auslösen. Das Überwältigungsverbot, so verdeutlichen Wolf Kaiser und Kuno Rinke, zielt in diesen Settings allerdings nicht, wie teilweise interpretiert, auf emotionslose Wahrnehmung und damit auf die Verhinderung von Emotionen, sondern »auf die Vermeidung eines manipulativen Einsatzes von Emotionen« (S. 51). Die Autor/-innen des Sammelbandes befassen sich fast ausschließlich mit mehrstündigen Gedenkstättenbesuchen. Einzig Julius Scharnetzky behandelt das pädagogische »Basisangebot« der Gedenkstätten, das am meisten nachgefragt wird: die zwei- bis dreistündige Führung (oft auch als – geführter – Rundgang bezeichnet). Zwar sei der Aufwand seitens der Gedenkstätten hierfür eher gering, doch müssten die Pädagog/-innen über »große Spontanität, Flexibilität und Variantenreichtum« (S. 241) verfügen, um den unterschiedlichen Gruppen, der Spezifik des Ortes und den eigenen inhaltlichen und pädagogischen Ansprüchen gerecht zu werden. Angesichts dieser Ausgangslage sei es verblüffend, dass die Gedenkstättenpädagogik ihr Basisangebot so vernachlässige – wohl, weil eine Führung als die am wenigsten partizipative Methode gilt und entsprechend unbeliebt in der Reflexion ist. Doch gebe es eine wachsende Anzahl von Führungsformaten, die offene und aktivierende Lernformen integrieren, zum Beispiel »Selbstführungen«, »Fotospaziergänge«, »Schüler führen Schüler« (S. 243). Im Weiteren formuliert der Autor Kriterien für »gute Führungen und Rundgänge« (S. 244) und plädiert schließlich dafür, die Potenziale von Führungen stärker in den Blick zu nehmen und weiterzuentwickeln. Der Sammelband diskutiert eine Vielzahl weiterer Themen: Gedenken als zivilisatorische Praxis, Demokratielernen und Menschenrechtsbildung, Einflüsse von und Wechselwirkungen mit internationalen Diskursen, das Phänomen der historischen Vergleichsziehung, Angebote zur Recherche und Reflexion von Familiengeschichte, die Rolle der Bundeszentrale für politische Bildung, die Bedeutung regionaler Gedenkstätten. Schließlich werden einzelne methodische Herangehensweisen erläutert, so 86 Rezensionen Einsicht 15 Frühjahr 2016 Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra (Hrsg.) Gedenkstättenpädagogik – Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen Herausgegeben im Auftrag der AG Gedenkstättenpädagogik. Berlin: Metropol Verlag, 2015, 363 S., € 22,– 1 Der Beutelsbacher Konsens von 1976 formulierte für die politische Bildung das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie eine Orientierung auf die Ermächtigung der Adressat/-innen zu selbständigem Urteilen und Handeln. der Einsatz virtueller Medien oder digitalisierter Berichte von Holocaust-Überlebenden, und spezifische pädagogische Angebote vorgestellt: Mehrtagesangebote, Kunstprojekte, Projekte der internationalen Jugendbegegnung und berufsgruppenspezifische Angebote. In meiner Wahrnehmung sind sich die Autor/-innen des Sammelbandes in einem Punkt einig: Bei Gedenkstättenbesuchen handele es sich immer um eine soziale Interaktion der verschiedenen Beteiligten, also von Besuchenden, ihren Begleiter/-innen und dem oder der Gedenkstättenmitarbeiterin. Diese Interaktion und was sie auf der Ebene von Lernen im Sinne der Erkenntnisgewinnung, Wissensherstellung und Entwicklung politischer Haltung bewirkt, ist, darauf weist Verena Haug hin, allerdings bislang wenig wissenschaftlich untersucht. Mein Fazit lautet: Der Band ist anschaulich geschrieben und gibt einen sehr guten Einblick in den gegenwärtigen Stand der Theoriediskussion und pädagogischen Praxis an Gedenkstätten zur NSGeschichte in Deutschland. Deutlich wird, dass die Gedenkstätten über eine beeindruckende Vielfalt an unterschiedlichen Bildungsangeboten verfügen und dass die Bildungsarbeit im Zuge des gesellschaftlichen Wandels weitgehend erfolgreich professionalisiert wurde – zumindest in den großen, finanziell gesicherten Gedenkstätten, die über eigene Bildungsabteilungen verfügen. Die inhaltlichen und pädagogischen Anforderungen sind hoch und werden vermutlich eher noch wachsen: Zunehmende Diversität in Gruppenzusammensetzungen und Wissensbeständen sowie die Orientierung auf inklusive Bildungspraxis erfordern neben viel Sachkompetenz vor allem viel pädagogische Flexibilität und Freude an offener Kommunikation der Bildungspraktiker/-innen. Die Frage, was an diesen Orten aus ihrer jeweiligen Geschichte für die Gegenwart gelernt werden kann, und wie dieses Lernen zu gestalten ist, auch das zeigt der Band eindrücklich, wird wohl immer wieder neu zu entdecken und zu verhandeln sein.2 Kerstin Engelhardt Berlin 2 Eine etwas ausführlichere Rezension findet sich in Politisches Lernen, Jg. 33 (2015), H. 3/4, S. 56–58. 87 Wieder scheitern, besser scheitern Wolfgang Kaleck Mit Recht gegen die Macht. Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte Berlin: Carl Hanser Verlag, 2015, 224 S., € 19,90 Wie schreibt man eine Rezension über ein Buch, dessen Autor man kennt und schätzt? Vielleicht indem man das zunächst offenlegt und dann seinen ersten Eindruck, unmittelbar nach der ersten Lektüre notiert, wiedergibt. Also: »Etwas weniger Narzissmus hätte es auch getan. Und dennoch, das Engagement gegen Straflosigkeit bei schlimmstem Unrecht ist beeindruckend. Es zeigt, was möglich ist, wenn man an ein Ziel glaubt.« Vor gut zwei Jahrzehnten, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, schien es, als könnten verbrecherische Staatsführer und ihre Handlanger wieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das Vermächtnis von Nürnberg war zwar in der Welt, aber es war ein Präzedenzfall geblieben. Es verhinderte nicht, dass staatliche Souveränität verbrecherisches Agieren von Staatsorganen deckte und jeden ernsthaften Versuch der Ahndung vereitelte. Das sollte sich jetzt ändern. Und von den internationalen Tribunalen zur Aburteilung der Kriegs- und Menschlichkeitsverbrecher im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermörder in Ruanda, 1993 respektive 1994 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzt, führte folgerichtig der nächste Schritt zur Schaffung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, nun nicht mehr durch den Sicherheitsrat, sondern infolge einer Anerkennung seiner Jurisdiktionskompetenz durch einzelstaatliche Erklärungsakte. Am 1. Juli 2002 nahm der Gerichtshof seine Arbeit auf. Noch ist seine Bilanz bescheiden, und vor allem: Er steht in großer Abhängigkeit von Staaten, die seine Arbeit ablehnen. Sind deren Interessen nicht betroffen, kann mit Eifer verfolgt und angeklagt werden, sind sie betroffen, geschieht nichts, ganz so, als ob systematische und massive Menschenrechtsverletzungen noch wie ehedem durch Leugnen oder durch ihre Umbenennung in Politik aus der Welt geschafft werden könnten. Doch der Gedanke an ein Recht, das den Mächtigen entgegentritt und den Schwachen beisteht, lässt sich nicht mehr einfach unterdrücken. Dazu hat er in der Vergangenheit einmal zu oft den Beweis seines Gelingens angetreten. Aber es ist immer noch ein Kampf, und zwar einer, der große Überzeugung sowie – das können wir uns nach 88 der Lektüre des lesenswerten Buchs von Wolfgang Kaleck mühelos vorstellen – ausgeprägte Anfeindungsresistenz erfordert. Auch wenn die Berichte über das weltweite Engagement des Autors leicht den Eindruck entstehen lassen könnten, wir hätten es hier mit einem Weltreisenden in Sachen Recht zu tun, dahinter steht der hartnäckige Versuch, Staaten, deren Organe und – da in ihrer Macht Staaten oft nicht unähnlich – multinationale Konzerne an dem zu messen, was deren Führer so leicht über die Lippen kommt: die Achtung elementarer Menschenrechte, das Bekenntnis zum Völkerrecht und die zugesicherte Strafverfolgung bei massiven Rechtsverstößen. »Unser großes Ziel: Wir wollen dazu beitragen, weltweit Menschenrechte mit juristischen Instrumenten zu schützen und durchzusetzen«, schreibt Kaleck am Anfang seines Buchs (S. 10). Und wenige Seiten weiter: »Uns geht es um einen systematischen Ansatz. Darum, dass im internationalen Strafrecht mit zweierlei Maß gemessen wird« (S. 12), um daraus dann, gewissermaßen als Arbeitsauftrag herzuleiten (S. 13): »Wenn aber nicht gleiches Recht für alle gilt, entfällt der universale Geltungsanspruch dieser Gesetze.« Bis es so weit war, dass aus dem individuellen Engagement ein kollektives wurde, das extrem scheiteranfällige »ich« durch ein »wir« eine Verstärkung erfuhr, war es ein weiter Weg. Von der rheinländischen Provinz nach Berlin, von dort im Anschluss an ein Jurastudium nach Lateinamerika, wieder zurück nach Deutschland, die Chancen justizieller Aktionen erwägend, erneut und immer wieder zurück nach Lateinamerika, um dort, in enger Abstimmung mit den Opfern und Überlebenden staatlicher Gewalt, konkrete Maßnahmen in Gang zu setzen, damit die Täter sich endlich vor Gericht verantworten müssen. Mord, Folter, die Praxis des Verschwindenlassens. Tausendfach. Im Vergleich dazu wirkt das Recht zunächst schwach, zumal seine Schwäche ja durch den massenhaft straflosen Rechtsbruch auf fatale Weise beglaubigt wurde. Mit Energie und der Solidarität anderer gewinnt jedoch eine simple Rechtsnorm, die die Begehung eines Mordes unter Strafe stellt, eine Stärke, die es mit dem Unrecht aufzunehmen vermag. Das zeigt dieses Buch anschaulich an vielen Beispielen. Nicht nur auf Lateinamerika bezogen, auch in anderen Kontinenten wie Asien, Afrika und – Stichwort: Schulterschluss der Politik oder Industrie mit verbrecherischen Regimes – Europa. Dabei lässt uns der Autor teilnehmen an der Erweiterung seines Horizonts, an seiner wachsenden Sensibilisierung für das Unrecht und seinem Bemühen, institutionelle Allianzen zu schaffen gegen die Straflosigkeit derer, die glauben, über dem Gesetz zu stehen. Mittlerweile gibt es diese Allianzen und viele andere, die sich für das gleiche Ziel einsetzen. Das Verdienst des Autors ist es, diese Entwicklung entscheidend gefördert zu haben. Narzissmus? Was soll’s! Gerd Hankel Hamburg Rezensionen Politik und Gedenkstätten KZ-Gedenkstätte Neuengamme Gedenkstätten und Geschichtspolitik Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 16 Bremen: Edition Temmen, 2015, 201 S., € 14,90 Gedenkstätten sind in der Bundesrepublik zu einem zentralen Bezugspunkt von Geschichtspolitik geworden. Das ist ein Indiz für ihren Erfolg und konfrontiert sie zugleich mit erheblichen Herausforderungen und Gefahren. Darum ging es 2013 auf einer Tagung in der Gedenkstätte Ravensbrück, auf die die Hauptbeiträge des Bandes zurückgehen, der auch Projektvorstellungen, Tagungsberichte und Besprechungen enthält. Nach einem von Insa Eschebach und Oliver von Wrochem verfassten Editorial wird die Reihe der Aufsätze durch einen Überblick zur Gedenkstättengeschichte in Deutschland eröffnet, den Thomas Lutz mit Ausführungen zur Rückwirkung internationaler Debatten auf die deutschen Gedenkstätten verbunden hat. Nach seiner Ansicht ist eine nationalstaatliche Eigenständigkeit der Entwicklung wünschenswert. Sie werde durch die internationalen Diskurse bereichert, aber durch den europäischen Totalitarismusdiskurs und die vom Autor als einheitliches Konzept vorgestellte »Holocaust Education« auch gefährdet. Auf der Grundlage einer kritischen Analyse der bundesdeutschen Erinnerungskultur und ihrer Wandlungen warnt Cornelia Siebeck die Gedenkstätten vor dem Verlust ihres Wirkungspotenzials als Orte kritischer Selbstreflexion der Gesellschaft. Dieses gehe im Zuge ihrer Institutionalisierung, Professionalisierung und Musealisierung verloren, wenn sie sich der ihnen zugewiesenen Funktion nicht verweigerten, die geschichtsteleologische Läuterungserzählung zu beglaubigen, die Erlösung durch Erinnerung verspricht. Fabian Schwanzar bemüht sich um eine akteursorientierte Analyse der Gedenkstättenbewegung unter Einbeziehung der Reaktionen und Aktionen von Politikern und Verwaltungen in den 1980er und 1990er Jahren. Seine Ausführungen werden an anderer Stelle des Bandes durch eine Dokumentation der 2008/2009 geführten Auseinandersetzung um den Einsatz eines an der Bundeswehr-Universität studierenden Offiziers als freier Mitarbeiter in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ergänzt. Carola S. Rudnick zeigt, wie die Gedenkstättenpolitik des Bundes und dessen Beteiligung an der dauerhaften Finanzierung von Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus im Zuge der Einsicht 15 Frühjahr 2016 Bemühungen entstand, die Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit zu fördern. Caroline Pearce stellt die geschichtspolitischen Kontroversen nach 1990 als Auseinandersetzung zwischen linksliberalen Anhängern eines »Prinzips der Hierarchisierung« (S. 62) und konservativen Befürwortern eines »Prinzips der Gleichsetzung« (S. 62) dar. Dabei definiert sie allerdings nicht genau, was hier hierarchisiert bzw. gleichgesetzt wird: das Leid der Opfer nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft oder die NS-Diktatur und die SEDDiktatur? An den von ihr gewählten Bespielen für die intendierte Realisierung der genannten Prinzipien – dem Gedenkort in der Nachbarschaft von Fort Zinna in Torgau und der Gedenkstätte Sachsenhausen – wird deutlich, dass sich in beiden Fällen das »Prinzip der Trennung« (S. 66) durchgesetzt hat. Detlef Garbe konstatiert, dass Gedenkstätten in den letzten Jahrzehnten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur gerückt seien, befürchtet aber, dass mit dem Erfolg praktische Folgenlosigkeit einhergehe. Dafür macht er neben politischen Entscheidungsträgern auch die Gedenkstätten selbst verantwortlich. Er kritisiert »Aufarbeitungsstolz« (S. 78) in Gedenkreden von Politikern, aber auch – ohne Beispiele zu nennen – Ausstellungen und Präsentationen, die das Verstörende der Orte zu sehr einebneten, und Vermittlungsformen, die zu wenig zum Fragen und Weiterdenken anregten. Er wendet sich entschieden gegen die Gleichsetzung kommunistischer und nationalsozialistischer Herrschaft und zeigt am Beispiel einer Publikation der Platform of European Memory and Conscience den europaweiten Einfluss eines Geschichtsrevisionismus, der sich von dem eines Ernst Nolte, der vor 30 Jahren den »Historikerstreit« auslöste, durch ungeschützte Direktheit unterscheidet. Verena Haug greift die Hervorhebung der Authentizität der Orte in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes heraus, um daran ihre Problematisierung der Zuschreibung von Authentizität zu knüpfen und deren Bedeutung bei gedenkstättenpädagogischen Veranstaltungen zu analysieren. Corinna Tomberger schließlich thematisiert, wie Gedenkstätten im Streit um das Gedenken an verfolgte Homosexuelle als symbolpolitische Orte fungieren und geschichtspolitisch agieren. Sie plädiert für die Sichtbarkeit weiblicher Homosexualität und größere Transparenz bei gedenkpolitischen Entscheidungen. Das informative Buch enthält kluge Analysen und viele praxisrelevante Überlegungen. Wiederholungen – etwa die häufige Bezugnahme auf die Gedenkstättenkonzeption des Bundes – sind in einem solchen Sammelband vermutlich kaum zu vermeiden. Wolf Kaiser Berlin 89 FRITZ BAUER. DER STAATSANWALT – NS-VERBRECHEN VOR GERICHT Anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt sind folgende Publikationen in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut erschienen: Ein schwarzes Heft voller Hoffnung Edith Jacobson Gefängnisaufzeichnungen Hrsg. von Judith Kessler und Roland Kaufhold. Mit einem Vorwort von Hermann Simon. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2015, 247 S., € 29,90 Wirst du heute zu mir finden/holder, kleiner Sonnenstrahl/Freude künden, Hoffnung zünden/Licht, das mir der Winter stahl? »Sonnenzauber«, aus dem diese Verse der Psychoanalytikerin Edith Jacobson (1897–1978) stammen, ist kein Naturgedicht, wie man annehmen könnte. Und das »kahle böse Dach«, unter dem das lyrische Ich zur Sonne spricht, ist nichts anderes als die Berliner Untersuchungshaftanstalt Moabit, in der Jacobson von 1935 bis 1936 saß. Zugänglich geworden ist uns dieses Gedicht – zusammen mit mehreren weiteren Texten – durch das in der Haft entstandene »Schwarze Heft« Jacobsons. Veröffentlicht wurden diese »Gefängnisaufzeichnungen« erst 2015 dank dem außergewöhnlichen Engagement der Journalisten und Sozialwissenschaftler Judith Kessler und Roland Kaufhold und des Psychosozial-Verlags. Judith Kessler, die das »Schwarze Heft« bereits 1988 mit dem Nachlass ihrer Mutter erhalten hatte, berichtet über die »Verkettung von Zufällen« (S. 13), die dazu führte, dass sie »ein Vierteljahrhundert auf Jacobsons Gefängnisnotizen saß« (S. 11). Roland Kaufhold zeichnet kenntnisreich und ergreifend die Biografie der Jüdin, Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Jacobson nach. Das Dilemma Wissenschaft oder Politik entscheidet Jacobson für sich schnell: »Als ich jung war, habe ich mich für Politik nicht interessiert. Mich interessierte einzig und allein die Wissenschaft […]. Aber dann, Ende der zwanziger Jahre, begann Hitlers Aufstieg, und schon bald hatte er immer größere Massen hinter sich. Hier lauerte eine Gefahr, das spürte ich. Ich hörte seine Reden und las Mein Kampf, und ich war entsetzt.« (S. 52) Jacobson, deren Familie nicht emigrieren wollte, schließt sich der Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« an. Am 24. Oktober 1935 von der Gestapo verhaftet, muss sie für elf Monate in Untersuchungshaft und wird im September 1936 wegen Hochverrats zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. 1938 flieht sie in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1978 erfolgreich als Psychoanalytikerin arbeitet. Das »Schwarze Heft« Edith Jacobsons ist ein bewegendes Dokument über die ersten Monate in der U-Haft. Die tagebuchartigen 90 Notizen (im Buch auch durch Faksimiles einsehbar) – eine beeindruckende Mischung aus wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver Wahrnehmung – gewähren einen Einblick in Alltag und Gemütszustand der Gefangenen. Nach nur wenigen Tagen überwindet sie die ursprüngliche »Schockwirkung« (S. 82) und die darauffolgende narzisstische Selbstüberhöhung: »5. Tag. Zunehmende Einstellung auf die Realität: Beobachtung der Umgebung, der Sträflinge, Gemeinsamkeitsgefühl mit diesen […]. Ausgeglicheneres Empfinden. Tiefe Sorge um Mutter und die nächsten Menschen. Fast angstfrei. Trotziges Widerstandsgefühl: nun gerade laß ich mich nicht unterkriegen. Innerer Schwur Durchzuhalten [sic] um jeden Preis.« (S. 83) Auch Jacobsons Gedichte legen ein beredtes Zeugnis vom Leben im Gefängnis ab. Von Trauer und Schmerz durchdrungen, dienen sie zugleich der Verarbeitung der Schrecken der Haft. Die große Formenvielfalt dieses kostbaren lyrischen Nachlasses (Ballade, Sonett, Parabel, Schüttelreime usw.) ist kein ästhetischer Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Artikulation des humanistischen Ethos der Autorin. Das Motiv der Auferstehung (»Auferstehungslied«), des Frühlings (»Alpen-Frühling. Arosa«), des oben genannten »Sonnenzaubers« und der Sonntagsglocken (»Sonntagsglocken«) – sie alle läuten einen Neubeginn, das »Siegesfeuer« für »die freie Erde« (S. 98) ein. Das Gedicht »Bekenntnis« protestiert gegen die Kluft zwischen Deutschen und Juden, fordert Menschlichkeit jenseits der Volkszugehörigkeit. Jacobson – eine Frau, die »sich diszipliniert, analysiert, reflektiert« (Kessler, S. 19) – verfasst im Gefängnis auch die hier abgedruckte psychoanalytische Studie »Zur Technik der Analyse Paranoider«. Dem Misstrauen der Patienten setzt sie ihre »paedagogische Haltung«, ihre »unerschütterliche Geduld« entgegen, um durch »Hilfsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit« (S. 141) das Vertrauen des Mitmenschen wiederzugewinnen. Das »Schwarze Heft« ist ein Ereignis. Andrea Huppkes Bedenken, ob hier etwas Neues vorliegt und ob dieser Fund die Publikation verdient (Psyche 12/2016), sind unberechtigt und schmälern die Bedeutung und die Brisanz der Publikation keineswegs. Trotz der ausbleibenden Unterstützung vieler ihrer deutschen Kollegen, trotz der Streichung ihres Namens aus der Mitgliedsliste der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und trotz des skandalösen Schulterschlusses der damaligen offiziellen Psychoanalyse mit dem nationalsozialistischen Regime – unrühmliche Tatsachen, die uns hier von Roland Kaufhold wieder ins Gedächtnis gerufen werden – zeigen Jacobsons Haftnotizen die Stärke einer Frau, die sich vom nationalsozialistischen Terror nicht einschüchtern ließ – und das Gesicht und den Zauber der anderen, der freiheitsliebenden, widerständigen Psychoanalyse. Galina Hristeva Stuttgart Rezensionen FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, INTERVIEWS UND REDEN FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, INTERVIEWS AUS DEN FERNSEHARCHIVEN 1961-1968 UND REDEN AUS DEN FERNSEHARCHIVEN 1961-1968 Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen. Erstveröff entlichung historischer Fernsehaufnahmen. 2 DVD, 298 Min., ausführliches Booklet, PDF-Materialien 2Redaktion: DVD, 298Bettina Min., ausführliches Booklet, PDF-Materialien Schulte Strathaus Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Fritz Bauer (1903‒1968), bekannt als Initiator der Frankfurter AuschFritz Bauer (1903‒1968), als Initiator Frankfurter Auschwitz-Prozesse, betrachtetebekannt den Gerichtssaal alsder einen öffentlichen Ort witz-Prozesse, betrachtete den Gerichtssaal als einen öff entlichen der historischen und demokratischen Bewusstwerdung. Weniger Ort beder historischen undInterviewpartner, demokratischenDiskutant Bewusstwerdung. Weniger bekannt ist, dass er als oder Redner auch vor kannt ist, dass er als Interviewpartner, Diskutant oder Redner auch vor den Fernsehkameras Stellung bezog. Er äußerte sich zu den NS-Prozesden Stellung bezog. der Er äußerte sichGeschichtsleugnung zu den NS-Prozessen, Fernsehkameras zur politischen Verantwortung Justiz, zu sen, zur politischen Verantwortung der Justiz, zu Geschichtsleugnung und Rechtsradikalismus, aber auch zu Fragen der Wirtschaftskriminaund auch Fragen der Wirtschaft skriminalität, Rechtsradikalismus, dem Sexualstrafrechtaber oder derzu Humanisierung des Strafvollzugs. lität, dem Sexualstrafrecht oder der Humanisierung des Strafvollzugs. Nicht zuletzt sprach er über seine Biografie als politisch und antisemiNicht zuletzt sprach er über seineRemigrant. Biografie als politisch und antisemitisch Verfolgter und als jüdischer Auch fünfzig Jahre später tisch Verfolgter und als jüdischer Remigrant. Auch fünfzig Jahre später haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren. haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren. »Verfassungsschutz, Wahrung der Freiheitsrechte, Ungehorsam und Kampf »Verfassungsschutz, Wahrung derviel Freiheitsrechte, undsieKampf gegen totalitäre Tendenzen sind zu wichtige Ungehorsam Dinge, als dass amtgegen totalitäre Tendenzen sind viel zu wichtige Dinge, als dass lichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer sie amtlichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013) AUSCHWITZ (2013) STRAFSACHEVOR 4 KsGERICHT 2/63 (1993) STRAFSACHE 4 Ks 2/63 (1993) TEIL 1: Die Ermittlung TEIL 2: Der Prozess TEIL 3: Das Urteil TEILDokumentationen 1: Die Ermittlungvon TEIL Der Prozess TEILWagner 3: Das Urteil Zwei Rolf2:Bickel und Dietrich Zwei Dokumentationen von Rolf Bickel und Dietrich Wagner 2 DVD, 45 + 180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt 2von DVD, 45 +Renz 180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt Werner von Werner Renz Die legendäre Aufbereitung des Auschwitz-Prozesses von Bickel und Die legendäre Aufb ereitungKURZVERSION des Auschwitz-Prozesses Bickel und Wagner in einer aktuellen und dervon ausführlichen Wagner in einer aktuellen KURZVERSION und der ausführlichen ORIGINALDOKUMENTATION aus den 1990er Jahren: ORIGINALDOKUMENTATION 1990er Jahren: Am 20. Dezember 1963 begann vor aus demden Landgericht Frankfurt am Am 20. Dezember 1963 begann vor dem Landgericht am Main der Auschwitz-Prozess. Auf der Anklagebank saßenFrankfurt 21 AngehöMain der Auschwitz-Prozess. Auf der Anklagebank saßen 21 Angehörige der Waffen-SS und ein Funktionshäftling. Die SS-Männer gehörrige der Waff en-SSdes undKonzentrationsein Funktionshäft ling. Die SS-Männer gehörten zum Personal und Vernichtungslagers. Nach ten zum Personal des Konzentrationsund Vernichtungslagers. Nach dem Krieg hatten sie in Deutschland unbehelligt ein ganz normales dem Krieg hatten sie in Deutschland unbehelligt ein ganz normales Leben führen können. Nun konfrontierte man sie mit den Aussagen Leben führenvon können. konfrontierte man siedamals mit den Aussagen ihrer Opfer einst. Nun Die ganze Welt verfolgte dramatische ihrer Opfer von einst. Die ganze Welt verfolgte damals dramatische Verhandlungstage. Der gesamte Prozess wurde – einmalig in der deutVerhandlungstage. Der –gesamte Prozess wurde – einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte auf Tonband aufgenommen. Den Autoren der schen Rechtsgeschichte – auf Tonband aufgenommen. Den Autoren der Dokumentation gelang es, die verschollenen Bänder aufzuspüren und Dokumentation gelang es, die verschollenen Bänder aufzuspüren und auszuwerten. Zusammen mit exklusivem Filmmaterial entstand eine auszuwerten. Zusammen mit exklusivem Filmmaterial entstand eine historisch präzise wie packende Dokumentation. historisch präzise wie packende Dokumentation. gefördert durch gefördert durch Frühjahr 2016 ImEinsicht Buch- 15 oder Fachhandel oder direkt bei Im Buch- oder Fachhandel oder direkt bei www.absolutmedien.de www.absolutmedien.de 91 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle Erste Erfahrungen mit Besuchergruppen Pädagogisches Zentrum Angebote und Kontakt Das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main ist eine gemeinsame Einrichtung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Das Pädagogische Zentrum verbindet zwei Themenfelder: jüdische Geschichte und Gegenwart sowie Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Sein zentrales Anliegen ist es, Juden und jüdisches Leben nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung und des Antisemitismus zu betrachten. Ein gemeinsames pädagogisches Zentrum für jüdische Geschichte und Gegenwart auf der einen und Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust auf der anderen Seite bietet die Chance, folgende Themen differenziert zu bearbeiten: › Deutsch-jüdische Geschichte im europäischen Kontext › Jüdische Gegenwart – Religion und Kultur › Holocaust – Geschichte und Nachgeschichte › Antisemitismus und Rassismus dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das Pädagogische Zentrum hat die Aufgabe, diese Themen voneinander abzugrenzen, und so zu helfen, sie genauer kennenzulernen. Das Pädagogische Zentrum unterstützt Schulen bei der Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Gegenwart sowie bei der Annäherung an die Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Hierzu bietet es Lehrerfortbildungen und Lehrveranstaltungen an der Goethe-Universität Frankfurt, Workshops und Studientage an Schulen und für Institutionen der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie themenbezogene Führungen, Vorträge, Unterrichtsmaterialien und Beratung an. Begleitend zu den aktuellen Ausstellungen des Jüdischen Museums Frankfurt gibt es Fortbildungen mit Perspektiven für den Unterricht. Kontakt Pädagogisches Zentrum Frankfurt Seckbächer Gasse 14 60311 Frankfurt am Main Tel.: 069.212 742 37 [email protected] www.pz-ffm.de Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdische Geschichte wird meist vom Verbrechen des Holocaust aus betrachtet, das ist gerade in Deutschland nicht anders denkbar. Die Dominanz des Holocaust prägt die Annäherung an alle genannten Themen, und 92 Pädagogisches Zentrum Von 1941 bis 1945 benutzte die Geheime Staatspolizei die Frankfurter Großmarkthalle als Sammelplatz für die verfolgten Juden. Nahezu 10.000 Menschen wurden von hier mit Zügen gewaltsam in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet. An diese Ereignisse und die Bedeutung des Ortes erinnert seit Ende 2015 eine Erinnerungsstätte. Ein Kellerraum und ein Gleisfeld mit Stellwerk haben sich als historische Relikte bis heute erhalten. Durch ein portalartiges Bauwerk wird die Zufahrtsrampe zum Kellerraum der Erinnerungsstätte betont. Als zentrale Erinnerungselemente sind über die Wege, die zum Keller führen, im Keller selbst, auf dem benachbarten Gleisfeld und der darüber führenden Fußgängerbrücke 26 Zitate von Opfern und Zeugen der Deporta-tionen verteilt, die das grausame Geschehen an diesem Ort schildern. Das Gelände der ehemaligen Großmarkthalle ist heute Sitz der Europäischen Zentralbank (EZB), die ihren dort neu errichteten Büroturm mit dem historischen Gebäude architektonisch verschränkt hat. Die Sicherheitsanforderungen der EZB und der Status des Geländes als exterritoriales Gebiet bedingen besondere Anforderungen an den Besuch der Gedenkstätte. Ohne vorherige Anmeldung kann das Gelände nicht betreten werden. Jede Besuchergruppe muss durch eine Sicherheitsschleuse, Ausweise und Taschen werden kontrolliert. Auch kann das Gebäude der EZB selbst nicht betreten werden. Der Weg zur Gedenkstätte führt um die ehemalige Großmarkthalle herum, zum östlichen Teil des Geländes. Nach dem erfolgreichen Durchlaufen der Sicherheitsüberprüfung beginnt für die Besucher der Gedenkstätte das Einlassen auf den Ort, das Nachdenken und Fragenstellen: »Wieso beschreibt das eine Zitat, dass die Schulklasse beim Besuch der Erinnerungsstätte Großmarkthalle Menschen bei der Verschleppung so viele Kleidungsstücke übereinander anhatten?«, »Haben andere Leute die Juden, die durch die Stadt zur Großmarkthalle getrieben wurden, gesehen?«, »Sieht der Keller so aus, wie er damals aussah?«, »Warum sehen wir nur einen kleinen Teil des Kellers?«, »Was ist passiert, wenn jemand nicht die 50 Reichsmark für die Deportation bezahlen konnte?«, »Haben die Leute gedacht, sie bekommen ihren Wohnungsschlüssel irgendwann wieder?«, »Wie konnte Berny Lane so viele Lager überleben?« Die in Beton gehauenen Zitate, aber auch Rampe und Keller geben zahlreiche Gesprächsanlässe, um das historische Geschehen an diesem Ort gemeinsam zu rekonstruieren. Nach Betreten der Rampe und Besichtigung des Kellers führt der Rundgang durch einen Hinterausgang des EZB-Geländes auf den öffentlichen Teil der Erinnerungsstätte. Zu sehen sind hier die Gleise, auf denen die Züge Richtung Osten abfuhren, das Stellwerk und die Brücke, auf der wohl Schaulustige, aber auch Angehörige die Abfahrt der Züge begleiteten. Einsicht 15 Frühjahr 2016 Das Konzept der Erinnerungsstätte sieht vor, dass der Ort beiläufig wahrgenommen wird. Unaufdringlich sollen Passanten die Bedeutung des Ortes mit Hilfe der Zitate entdecken können. Diese Beiläufigkeit wurde von Besuchergruppen bisher unterschiedlich aufgenommen. Während einige das Konzept gelungen fanden, betonten andere, dass die Geschichte dieses Ortes zu schlimm gewesen sei, als dass die Erinnerungsstätte nur beiläufig wahrgenommen werden sollte. Noch einmal vorbei an der Rampe führt der Rundgang am Bahndamm entlang Richtung Stadt, die zu Deportierenden mussten in die entgegengesetzte Richtung. Auch hier sind Zitate aus der Sicht der Verfolgten in den Boden eingemeißelt. Der Rundgang mit Schulklassen Für Schulklassen liegt die Chance eines Besuchs der Erinnerungsstätte unter anderem darin, zu erkennen, dass sich die Verbrechen im Nationalsozialismus ganz in der Nähe des eigenen Wohnorts abgespielt haben. »So nah bei uns«, sagte ein Schüler, »bislang habe ich gedacht, dass die Konzentrationslager alle weit weg sind, aber hier hat ja der Weg dorthin begonnen, direkt vor unserer Haustür.« Der Besuch ist auf zwei Ebenen angelegt. Im Sinne des historischen Lernens steht die Frage danach, was sich an dem Ort vor mehr als 70 Jahren abgespielt hat, im Zentrum. Zum anderen geht es aber auch um die Frage, wie der Ort heute genutzt wird. Ziel ist eine Reflexion über das Konzept der Erinnerungsstätte. Der Schulklassenrundgang ist gerahmt durch eine 30-minütige Vorbereitung und einen einstündigen Workshop im Anschluss. Beides findet in einem Seminarraum in der Nähe der Erinnerungsstätte statt. Der im Anschluss an den Rundgang stattfindende Workshop kann drei verschiedene Schwerpunkte haben: 1. Eine Vertiefung des Zugangs zur Perspektive der Verfolgten. Hier wird mit den auf der Erinnerungsstätte positionierten Zitaten und den Biographien der Personen gearbeitet. 2. Ein Nachdenken über Handlungsspielräume und Handlungsmotive von Täter/ -innen anhand von Berichten über den Einsatz im Keller der Großmarkthalle während der Deportationen. 3. Eine Auseinandersetzung mit Formen der Erinnerung anhand von verschiedenen Entwürfen zur Erinnerungsstätte, die bei der Errichtung zur Wahl standen. Weitere Informationen finden sie auf der Website: www.pz-ffm.de Zur Erinnerungsstätte ist ein Katalog erschienen: Raphael Gross, Felix Semmelroth (Hrsg.) Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941–1945 In der Publikation präsentieren die Architekten Marcus Kaiser und Tobias Katz (KatzKaiser, Köln/Darmstadt) ihr künstlerisches Konzept, dessen Realisierung Norbert Miguletz fotografisch dokumentiert. Mit Beiträgen von Alfons Maria Arns, Fritz Backhaus, Heike Drummer, Ursula Ernst, Raphael Gross, Monica Kingreen, Peter Cachola Schmal und Felix Semmelroth. München: Prestel Verlag 2016, 266 S., 150 farbige Abb., € 29,95, ISBN: 978-3-7913-5531-3 93 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation Neueröffnung des Museums Judengasse Pädagogische Angebote zur neuen Dauerausstellung Das Jüdische Museum Frankfurt eröffnete am 20. März 2016 die völlig neu konzipierte Ausstellung des Museums Judengasse. Sie wird mit diesen Worten angekündigt: »Die Frankfurter Judengasse wurde 1462 als erstes Ghetto in Europa eingerichtet und war bis zu dessen Auflösung 1796 eines der bedeutendsten Zentren des europäischen Judentums. Die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums im Museum Judengasse präsentiert die Geschichte und Kultur der Juden vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. In Verbindung mit den archäologischen Zeugnissen eröffnen Gemälde, Ritualobjekte, Bücher und Dokumente ein reiches Bild des Alltagslebens in der Frankfurter Judengasse.« Das didaktische Konzept der Erzählung über jüdische Geschichte, das hier realisiert wird, stellt einige gerade in Schule und Geschichtskultur verbreitete Klischees auf den Kopf. In Frankfurt haben seit dem 12. Jahrhundert bis heute fast ohne Unterbrechung Juden gelebt. Auch nach den Pogromen im späten Mittelalter entstand – anders als in anderen Städten mit alter jüdischer Tradition – eine neue jüdische Gemeinde. Im Katalog zum Museum Judengasse umreißt Fritz Backhaus den Forschungsstand, der Grundlage der Ausstellung ist: »Es ging darum, Juden als eine Gruppe der Gesellschaft wahrzunehmen, die durch vielfältige Beziehungen mit den anderen Gruppen der Gesellschaft verknüpft war und Teil eines gemeinsamen Kulturraums bildete, der ebenso christlich wie jüdisch geprägt war. Abgrenzung und Ghettoisierung bildeten dabei nur eine Facette jüdischer Existenz in der Frühen Neuzeit, ebenso wichtig waren die politischen Verknüpfungen, alltägliche Begegnungen und ein Leben, das in jeder Beziehung durch die religiösen Gebote und Gebräuche durchdrungen war. Die gegenseitige Wahrnehmung war jedoch kontrovers. Von christlicher Seite sah man in die Judengasse mit Ignoranz, Neugier, Scheu oder auch missionarischem Eifer. Von jüdischer Seite wurden Christen häufig als Quelle alltäglicher Bedrohung empfunden, gegen die Schutz durch die Obrigkeit und durch die städtische Gemeinschaft lebensnotwendig, aber auch fragil war.« Die Beziehungen zwischen jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit in der Stadt werden vor allem in einem Zeitschnitt um das Jahr 1700 vorgestellt. So ergibt sich die Möglichkeit, Alltagsleben zu thematisieren und am historischen Beispiel über die Chancen und Probleme nachzudenken, die im Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem, ja sogar konkurrierendem Glauben bestehen. Aus pädagogischer Sicht gewinnt der historische Gegenstand in dieser neuen Erzählung eine brisante Gegenwartsdimension. Das Pädagogische Zentrum wird in diesem Kontext die bereits bestehenden 94 Pädagogisches Zentrum Aus dem Institut Frankfurt am Main, Juli/August 1987: Demonstration gegen den Bau der Stadtwerke auf dem Börneplatz. Bei ersten Erschließungsarbeiten waren dort die Fundamente der historischen Judengasse, Überreste des Judenmarkts und ein rituelles Tauchbad, eine »Mikwe« aus dem 15. Jahrhundert, entdeckt worden. Foto: Seitz/JMF Workshops zu den Themenfeldern Religion und Menschenfeindlichkeit anbieten. Die pädagogischen Angebote zur jüdischen Geschichte bleiben nah am historischen Material. Der Reichtum der Ausgrabungen, des historischen Friedhofs und der Objekte öffnet vielfältige Fenster zur frühneuzeitlichen Stadt. Aus dieser Erfahrung mit dem Ort und den Objekten entwickelt das pädagogische Angebot die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen dieser exemplarischen Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Christen. Demnächst wird es auf der Website des Pädagogischen Zentrums Materialien für die Bildungsarbeit mit dem Museum Judengasse geben. Mehr zur Neueröffnung des Museums Judengasse lesen Sie auf Seite 104 f.: »Neue Dauerausstellung eröffnet spannende Einblicke in das Leben der Frankfurter Judengasse«. Neuausgabe Erste Fritz-Bauer-Biografie wieder verfügbar Irmtrud Wojak Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie München: Buxus Edition, 2016 614 S., € 28,– (zgl. € 4,50 Versand) Bestelladresse: [email protected] Der Versand erfolgt gegen Rechnung. Als erste umfassende biografische Würdigung Fritz Bauers ist das Buch von Irmtrud Wojak 2009 im Münchner C.H. Beck Verlag in der Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 23 erschienen. Ihre Fritz-Bauer-Biografie war seit einigen Jahren vergriffen. Zuletzt ist sie 2011 als broschierte Sonderausgabe im C.H. Beck Verlag erschienen. Einsicht 15 Frühjahr 2016 PD Dr. Irmtrud Wojak war von 1996 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Im Rahmen des Instituts-Projekts »Gerichtstag halten über uns selbst …« hat sie neben dem Verfassen der Fritz-Bauer-Biografie auch die Ausstellung »Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main« kuratiert und den zur Ausstellung erschienenen Katalog (Köln: Snoeck, 2004) herausgegeben. Fritz Bauer – Ankläger und Aufklärer seiner Epoche Fritz Bauer ist eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihm ist es zu verdanken, dass die juristische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Dritten Reichs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Gang kam und bis zu den epochemachenden Frankfurter Auschwitz-Prozessen geführt werden konnte. In einem politischen Klima des Stillschweigens und Wegsehens ging es Fritz Bauer neben der juristischen Verfolgung der Nazi-Verbrechen um die Aufklärung der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und um juristische Richtigstellung – etwa im Hinblick auf die Rehabilitierung des deutschen Widerstands. Auch war es Fritz Bauer, der Israel den entscheidenden Hinweis zu Adolf Eichmanns Aufenthaltsort in Argentinien gab. Die Auseinandersetzung mit den Wurzeln nationalsozialistischen Handelns hielt Bauer für unumgänglich, die NS-Verfahren verstand er als Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft in den Bahnen des Rechts. Fritz Bauer, 1903 in Stuttgart geboren und aus einer jüdischen Familie stammend, trat in den 20er Jahren der SPD bei. Er studierte Rechts- und Volkswirtschaftslehre und wurde 1930 in seiner Heimatstadt mit 26 Jahren jüngster Amtsrichter Deutschlands. Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten wurde Bauer aus dem Amt entlassen und für einige Monate im Konzentrationslager Heuberg inhaftiert. 1936 gelang ihm die Flucht, zunächst nach Dänemark, dann nach Schweden, wo er den Krieg überlebte. 1949 kehrte Bauer mit Unterstützung Kurt Schumachers nach Deutschland zurück. Zunächst wirkte er als Landgerichtsdirektor und ab 1950 als Generalstaatsanwalt am Braunschweiger Oberlandesgericht. 1956 berief ihn der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn auf das Amt des hessischen Generalstaatsanwalts. In dieser Funktion wurde Bauer zum maßgeblichen Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. 1965 eröffnete Fritz Bauer die Voruntersuchung zu einem Prozess, der sich gegen die juristischen Erfüllungsgehilfen der »Euthanasie«-Morde richten sollte. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1968 starb Fritz Bauer in seiner Wohnung in Frankfurt am Main. Der noch in der Vorbereitungsphase stehende Prozess gegen die in die Verbrechen verstrickte NSJustiz fand nie statt. PD Dr. Irmtrud Wojak, geboren 1963, Historikerin und Ausstellungskuratorin, Geschäftsführerin der gemeinnützigen BUXUS STIFTUNG GmbH, München (www.buxus-stiftung.de) und Lehrbeauftragte an der Universität der Bundeswehr in München; 1996–2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main; 2008–2009 Leiterin des Bereiches Forschung beim Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen; 2009–2011 Gründungsdirektorin des NSDokumentationszentrums in München. 95 Aus dem Institut Wilhelm LeuschnerMedaille 2015 Jutta Ebeling ausgezeichnet Jutta Ebeling, Vorsitzende des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V., wurde mit der Wilhelm Leuschner-Medaille 2015 ausgezeichnet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts gratulieren herzlich! Die nach dem von den Nationalsozialisten hingerichteten Gewerkschafter und Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner (1890–1944) benannte Medaille ist die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie wurde aus Anlass des 20. Todestages des ehemaligen hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner am 29. September 1964 durch den früheren Hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn gestiftet. Sie wird jährlich am Verfassungstag des Landes Hessen für außergewöhnliche Verdienste um die demokratische Gesellschaft und ihre Einrichtungen verliehen. Über die Vergabe entscheidet der Hessische Ministerpräsident. Den fünf diesjährigen Preisträgern wurde die Auszeichnung am 1. Dezember 2015 im Rahmen eines Festakts im Wiesbadener Schloss Biebrich von Ministerpräsident Volker Bouffier überreicht. 2013 war (neben den Geisteswissenschaftlern Prof. Dr. Dieter Bingen und Prof. Dr. Harald Müller) Prof. Dr. Raphael Gross, der damalige Direktor des Fritz Bauer Instituts, mit der Wilhelm Leuchner-Medaille ausgezeichnet worden. Im letzten Jahr ging sie an Bundeskanzlerin Angela Merkel. er auch Jura studierte und trotz Verfolgung durch die Nazis promovierte. 1934 flüchtete er zunächst nach Holland, dann nach Palästina. Der 103 Jahre alte Gießener Ehrenbürger engagiert sich seit Jahrzehnten für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland. Er lebt in der israelischen Stadt Netanya. Die Kommune hat eine Städtepartnerschaft mit Gießen, die Bar Menachem als damaliger Oberbürgermeister von Netanya im Jahr 1978 selbst begründet hat. Wir trauern um unsere langjährige Mitarbeiterin, Kollegin, Freundin Iwa Deutsch sel. A. geb. Wieslawa Rosinski 5.1.1948 – 23.11.2015 Bundesverfassungsrichterin in Karlsruhe. Erst kürzlich gab die 65-Jährige ihren Wechsel aus dem Vorstand der Daimler AG in den von Volkswagen zum 1. Januar 2016 bekannt. › Wolfram Dette Der 64 Jahre alte Vorsitzende der FDP Wetzlar kam 1959 mit seinen Eltern aus der DDR nach Wetzlar. Seit 1997 bis Ende dieses Jahres ist Wolfram Dette Oberbürgermeister von Wetzlar. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Liberaler Kommunalpolitiker Hessen e.V. und der Bundesvereinigung Liberaler Kommunalpolitiker sowie Mitglied im Präsidium und im Finanzausschuss des Hessischen Städtetags. › Heinz Riesenhuber Der 79-jährige CDU-Politiker war von 1982 bis 1993 Forschungsminister im Kabinett Helmut Kohl und gehört bis heute dem Deutschen Bundestag als Alterspräsident an. https://staatskanzlei.hessen.de/ueber-uns/ordenehrenzeichen/im-dienste-der-demokratie »Excellent Communications Design – Fair and Exhibition«. Für das Design zeichnet das Gestaltungsbüro SPACE4 aus Stuttgart verantwortlich. Im Frühjahr 2014 wurde die Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt eröffnet. Seitdem wandert sie mit Stationen im Thüringer Landtag sowie in den Landgerichten Heidelberg und Tübingen durch Deutschland. Zuletzt war sie im Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim zu sehen. Von 21. April bis 21. August 2016 wird sie im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln gezeigt. www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer-ausstellung.html Aus dem Förderverein Berufungsverfahren Neue Holocaust-Professur und Direktion des Fritz Bauer Instituts In ehrendem Gedenken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts Die Preisträger 2015 › Abraham Bar Menachem 1912 als Alfred Gutsmuth in Wieseck geboren, verbrachte Abraham Bar Menachem seine Kindheit und Jugend in Gießen, wo › Jutta Ebeling Die 1946 in Streitberg/Oberfranken geborene Politikerin von Bündnis90/Die Grünen war von 2006 bis 2012 Bürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main sowie langjährige Dezernentin in den Ressorts Bildung, Frauen, Multikulturelle Angelegenheiten, Schule und Umwelt. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. › Christine Hohmann-Dennhardt Die Sozialdemokratin war von 1991 bis 1995 Justiz- und dann bis 1999 Wissenschafts- und Kunstministerin in Hessen. Anschließend war sie zwölf Jahre lang 96 Nachrichten und Berichte Aus dem Institut German Design Award Fritz-Bauer-Ausstellung ausgezeichnet Die Ausstellung »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht« ist mit dem German Design Award 2016 ausgezeichnet worden. Der 2012 initiierte German Design Award wird vergeben von der Stiftung Rat für Formgebung/German Design Council in Frankfurt am Main. Jährlich werden hochkarätige Einreichungen aus dem Produkt- und Kommunikationsdesign prämiert, die auf ihre Art wegweisend in der internationalen Designlandschaft sind. Die gemeinsame Ausstellung des Jüdischem Museums Frankfurt und des Fritz Bauer Instituts erhielt den Preis in der Kategorie Auf seiner letzten Sitzung hat der Stiftungsrat – dem das Land Hessen, die Stadt Frankfurt am Main, die Goethe-Universität und der Förderverein angehören – beschlossen, dass seine Leitung bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens für die erste HolocaustProfessur in Deutschland auch weiterhin durch die Vorsitzende des Fördervereins wahrgenommen werden soll. So bin ich in zweifacher Funktion, als Vorsitzende des Fördervereins und als Vorsitzende des Stiftungsrats, derzeit vor allem mit der Arbeit in der Berufungskommission befasst. Die Holocaust-Professur wird am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelt sein, der/die zukünftige Stelleninhaber/-in wird zudem mit der Direktion des Fritz Bauer Instituts betraut. Aus zahlreichen interessanten Bewerbungen aus dem In- und Ausland wurden in einem Einsicht 15 Frühjahr 2016 aufwendigen Bewertungsverfahren sechs renommierte WissenschaftlerInnen ermittelt und zu Probevorträgen am 26. Februar an die Frankfurter Universität eingeladen. Nach der Bewertung der Vorträge und dem Einholen wissenschaftlicher Gutachten kommt die Berufungskommission im Fortgang des Auswahlverfahrens zu einem Ranking von drei KandidatInnen, die der Universitätspräsidentin Birgitta Wolff zur Entscheidung vorgelegt werden. Wir gehen davon aus, dass die Professur bzw. die neue Institutsleitung Anfang 2017 ihre Arbeit aufnehmen wird. Die an das Fritz Bauer Institut angegliederte Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung ist im abgelaufenen Wintersemester sehr erfolgreich von Dr. Nicolas Berg vom Simon-Dubnow-Institut in Leipzig wahrgenommen worden. Seine beiden Lehrveranstaltungen, das Seminar »Zeugenschaft und Wissenschaft. Grundfragen der Holocaustforschung« sowie der Lektürekurs »Jean Améry, Hannah Arendt und Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren«, erfreuten sich regen Zuspruchs der Studierenden. Auch sein öffentlicher Vortrag zu »Das Ich im Wir – Victor Klemperer, Anna Seghers und Hans Mayer in der frühen DDR« stieß auf großes Publikumsinteresse (siehe dazu auch seinen Text auf Seite ##). Derzeit läuft die Ausschreibung zur Fortsetzung der Gastprofessur im Wintersemester 2016/2017. Beides, die neu eingerichtete HolocaustProfessur, finanziert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, und die Gastprofessur, ermöglicht durch die großzügige Spende der Frankfurter Bürger Michael Hauck und Oliver Puhl, stärken die Arbeit des Fritz Bauer Instituts zur Erforschung des Holocaust und seiner Wirkungsgeschichte nachhaltig. Der Förderverein kann viele neue Mitglieder begrüßen. Die Überschreitung der Schwelle von 1.000 Mitgliedern streben wir weiterhin an. Dazu fehlen noch 80 Neueintritte. Helfen sie mit durch Werbung bei Freunden und Bekannten. Jutta Ebeling, Vorsitzende Für den Vorstand 97 Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Micha Brumlik Buber-RosenzweigMedaille 2016 Micha Brumlik Franz-RosenzweigGastprofessur 2016 Im Rahmen der Auftaktveranstaltung zur »Woche der Brüderlichkeit« ist am 6. März in Hannover die Buber-Rosenzweig-Medaille 2016 an den jüdischen Erziehungswissenschaftler und Publizisten Prof. Dr. Micha Brumlik verliehen worden. Mit der undotierten Auszeichnung wurde Brumlik für seinen jahrzehntelangen Einsatz zur Verständigung zwischen Juden und Christen in Deutschland geehrt. In ihrer Laudatio würdigte die Theologin Margot Käßmann den Preisträger als »Seismografen für die Suche nach jüdischer Identität in Deutschland nach der Shoah«. Seit 1952 veranstalten die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im März eines jeden Jahres die »Woche der Brüderlichkeit«. Sie richtet sich gegen weltanschaulichen Fanatismus und religiöse Intoleranz. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto »Um Gottes Willen« und richtete ihr besonderes Augenmerk auf den Missbrauch von Religion. Vom 6. bis 13. März fanden hierzu in ganz Deutschland zahlreiche Veranstaltungen statt. Schirmherr war Bundespräsident Joachim Gauck. In seinem Festvortrag bei der zentralen Eröffnungsfeier richtete er einen dringenden Appell gegen den Rechtsextremismus in der Gesellschaft. Öffentliche Antrittsvorlesung: Prof. Dr. Micha Brumlik, »Franz Rosenzweig und der Zionismus – zwischen Theologie und Politik«, Mittwoch, 20. April 2016, 18.00–19.00 Uhr, im Gießhaus der Universität Kassel, Mönchebergstr. 5 Micha Brumlik bei der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille 2016. Foto: NDR (Screenshot) einen Beitrag für die christlich-jüdische Zusammenarbeit geleistet haben. Zu den Trägern der Medaille gehören der Geigenvirtuose Yehudi Menuhin (1916–1999), der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920–2015), der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer und der in Köln lebende Autor Navid Kermani. 2013 war das Fritz Bauer Institut zusammen mit der Schriftstellerin Mirjam Pressler mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet worden. Buber-Rosenzweig-Medaille Jeweils zum Auftakt der »Woche der Brüderlichkeit« wird seit 1968 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen, in Erinnerung an die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig. Ausgezeichnet werden Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich insbesondere um die Verständigung zwischen Christen und Juden verdient gemacht und im wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen oder sozialen Bereich Deutscher Koordinierungsrat e.V. Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) vertritt als bundesweiter Dachverband die 84 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Deutschland auf nationaler und internationaler Ebene. Er setzt sich ein für die Verständigung zwischen Christen und Juden, den Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus sowie für ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen. Zugleich ist er größtes Einzelmitglied im 98 Nachrichten und Berichte Internationalen Rat der Christen und Juden (ICCJ), in dem 32 nationale Vereinigungen für christlich-jüdische Zusammenarbeit vertreten sind. Prof. Dr. Micha Brumlik Angaben zu biografischen Daten von Micha Brumlik lesen Sie im Artikel zur FranzRosenzweig-Gastprofessur 2016 auf der nachfolgenden Seite. Aktuelle Beiträge und Wortmeldungen Brumliks sowie eine Auflistung seiner zahlreichen Publikationen finden Sie auf der Website: http://michabrumlik.de Kontakt Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Deutscher Koordinierungsrat e.V. Otto-Weiß-Str. 2, 61231 Bad Nauheim Tel.: 06032.91110 [email protected] Informationen zur Buber-Rosenzweig-Medaille: www.deutscher-koordinierungsrat.de/node/1039 Materialien zur Woche der Brüderlichkeit 2016: www.deutscher-koordinierungsrat.de/wdb-service-2016 Die Franz-RosenzweigGastprofessur der Universität Kassel geht in diesem Sommersemester an den Erziehungswissenschaftler, Philosophen und Publizisten Micha Brumlik. Mit Brumlik konnte »eine profilierte Stimme des Judentums in Deutschland« als Inhaber der Gastprofessur gewonnen werden, so Prof. Dr. Ilse Müllner, Mitglied der Findungskommission und Professorin für Katholische Theologie/Altes Testament an der Universität Kassel, »für das jüdischchristliche Gespräch sind seine Beiträge unverzichtbar«. Regelmäßig meldet er sich zu tagespolitischen Themen zu Wort, aktuell zur Debatte um die Integration von Migrantinnen und Migranten, und liefert dazu wichtige und vielbeachtete Beiträge. Der gebürtige Schweizer Micha Brumlik, geboren am 4. November 1947 in Davos, studierte Philosophie an der Hebrew University Jerusalem sowie Philosophie und Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1981 bis 2000 hatte er den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Heidelberg inne und war von 2000 bis 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 amtierte er außerdem als Direktor des Fritz Bauer Instituts. Seit Oktober 2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Neben der öffentlichen Antrittsvorlesung hält Micha Brumlik im Rahmen des Lehrangebots der Universität zwei weitere Einsicht 15 Frühjahr 2016 Veranstaltungen: zum einen eine wöchentliche Vorlesung mit dem Thema »Kritische Geistesgeschichte des Zionismus«. Sie spannt einen Bogen von dem ersten Judenstaatstheoretiker, Moses Hess, über die sozialistischen und revisionistischen Zionisten des beginnenden 20. Jahrhunderts bis zu den letzten, politisch weit rechts stehenden nationalreligiösen Zionisten der Gegenwart und den Debatten um den sogenannten »Postzionismus«. Daneben behandelt das Seminar »Messianismus im Judentum« die Frage nach der Hoffnung auf einen errettenden und erlösenden Gesalbten, einen Messias. Es widmet sich den literarischen und theologischen Motiven und der entsprechenden politischen Diskurse, die darin zum Ausdruck kommen. Franz-Rosenzweig-Gastprofessur Die deutschlandweit einmalige Franz-Rosenzweig-Gastprofessur erinnert an Werk und Vermächtnis des aus Kassel stammenden jüdischen Religionsphilosophen. Die Professur wird jeweils zum Sommersemester vergeben. Mit der Gastprofessur wurden zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, u. a. der Philosophie, Geschichts-, Kunst-, Literatur- und Religionswissenschaft aus Israel, Europa und Nordamerika geehrt. Inhaber der Gastprofessur der letzten Jahre waren u. a.: Prof. Dr. Frank Stern, Wien (2013), Prof. Liliane Weissberg, PhD, Philadelphia (2012); Prof. Dr. Karol Sauerland, Thorn (2008); Prof. Moshe Zimmermann PhD, Jerusalem (2007). Die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur wird von der Universität Kassel seit 1987 verliehen. Sie wurde im Anschluss an einen internationalen Kongress ins Leben gerufen, der zum 100. Geburtstag des bedeutenden Religionsphilosophen stattfand. In den letzten Jahren diente die Professur verstärkt der Vergegenwärtigung der durch den Nationalsozialismus zerstörten Kultur des europäischen Judentums und der Auseinandersetzung mit der jüdischen Gegenwart. Website: www.uni-kassel.de/uni/acartdemy/literatur/ franz-rosenzweig-gastprofessur.html Neuerscheinungen Leseproben unter www.v-r.de 2016. 288 Seiten, mit 2 Grafiken und 6 Tab., gebunden Schriften des Hannah-Arendt-Instituts, Band 59 € 60,– D | ISBN 978-3-525-36971-5 eBook: € 49,99 D Vergleichende Studie zum Umgang mit den Opfern der europäischen Diktaturen Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 24 2016. 440 Seiten, mit 1 Abb., gebunden € 70,– D | ISBN 978-3-525-37039-1 eBook: € 59,99 D Neue und erhellende Einsichten in die Verhaltensweisen und Erwartungshorizonte deutscher Juden angesichts des sich radikalisierenden NS-Regimes www.v-r.de 99 Aus Kultur und Wissenschaft Tom Segev Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung 2015 Am 6. Dezember 2015 erhielt der israelische Historiker und Journalist Tom Segev den Friedenspreis der Geschwister Korn und GerstenmannStiftung verliehen. Der Festakt fand statt im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Raphael Gross, ehemaliger Direktor des Fritz Bauer Instituts, scheidender Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt und neuer Direktor des Simon Dubnov-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Mit dem Preis wird Segevs Lebenswerk als Autor zahlreicher Bücher gewürdigt, die auf der Grundlage von neu erschlossenem Archivmaterial, unpublizierten Privatdokumenten und Zeitzeugeninterviews zur neuen Bewertung sehr komplexer Zusammenhänge und in der Folge zur kritischen Revision des bis in die 1990er Jahre herrschenden Geschichtsbildes in und über Israel beitrugen. Er wird zur Gruppe der sogenannten »Neuen Historiker« gezählt, die in den späten 1980er Jahren einen israelischen »Historikerstreit« auslösten. Durch seine hohe persönliche Integrität konnte er in seinem Land ebenso wie im Ausland eine selbstkritische Öffnung der Geschichtsdebatte über entscheidende Phasen der Geschichte Palästinas und Israels entscheidend anregen und den Geschichtsdiskurs über Israel bis heute prägen. Seine vorbehaltlose Offenheit zur Neubetrachtung der Vorgeschichte und ersten Jahrzehnte des israelischen Staates und seine Arbeiten über den Holocaust und dessen Nachwirkungen begründeten seine Glaubwürdigkeit und Anerkennung als Historiker und Kommentator weit über Israel hinaus. Diese doppelte Beschäftigung mit israelischer und deutscher Geschichte macht Tom Segev wurde am 1. März 1945 kurz vor Kriegsende in Jerusalem geboren. Seine Eltern wanderten 1933 aus Deutschland aus und ließen sich 1935 in Palästina nieder. Sein Vater Heinz Schwerin war Architekt, seine Mutter Ricarda Meltzer Fotografin, beide lernten sich als Studenten am Bauhaus in Dessau kennen. Segev studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem und promovierte an der Universität Boston. In den 1970er Jahren war er Deutschlandkorrespondent für die israelische Tageszeitung Maariv und danach langjähriger Kolumnist für Haaretz. Tom Segev lebt in Jerusalem. Seine Dissertation (Boston University, MA/USA, 1988) widmete Tom Segev den Soldaten des Bösen – Zur Geschichte der KZ-Kommandanten (Rowohlt Verlag, 1992). Mit Die siebte Million. Der Holocaust und 100 Nachrichten und Berichte Überreichung der Urkunde (v. l.): Dr. Jan Gerchow, Tom Segev, Prof. Dr. Salomon Korn. Foto: Werner Lott ihn zugleich für das deutsche Publikum zu einem der einflussreichsten Vermittler der israelischen Geschichtsdebatte und viel gefragten Analysten des deutsch-israelischen Verhältnisses hierzulande. Israels Politik der Erinnerung (Rowohlt Verlag, 1995), seinem zweiten in Deutschland erschienenen Buch, setzte er die Beschäftigung mit dem Holocaust mit einem anderen Fokus fort: Er vertrat die provokante These, dass die zionistische Bewegung vor und auch lange nach der israelischen Staatsgründung 1948 der Auslöschung und den Leiden der europäischen Juden nahezu passiv oder sogar gleichgültig gegenüberstand. Auch den Ambivalenzen der nach dem Eichmann-Prozess von 1961 in Israel einsetzenden Integration des Holocaust in die nationale Erinnerungspolitik ist das Buch gewidmet. In dem vergleichsweise schmalen Band Elvis in Jerusalem. Die moderne jüdische Gesellschaft (Siedler Verlag, 2003) beschrieb Segev den Post-Zionismus und die Amerikanisierung Israels. In Es war einmal in Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels (Siedler Verlag, 2005) griff er einen weiteren Grundpfeiler des bis dahin geltenden Geschichtsbildes an: Die Rolle der britischen Mandatsmacht (1917–1948) in Palästina wird von ihm radikal neu bewertet. Sie sei nicht proarabisch gewesen, vielmehr hätten die Briten das zionistische Staatsprojekt gefördert. Segev erhielt dafür den National Jewish Book Award. In 1967, Israels zweite Geburt (Siedler Verlag, 2007) stellte Segev einen weiteren Pfeiler im israelischen Geschichtsbild in Frage: Der Sechstagekrieg war nicht unvermeidbar und die Truppen der arabischen Nachbarn nicht überlegen. Mit über 20-jähriger Verspätung liegt inzwischen auch die deutsche Übersetzung von Segevs bereits 1984 in Israel erschienen Erstlingswerk vor: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates (Siedler Verlag, 2008) schildert die dramatischen Bedingungen, unter denen Israel gegründet wurde, und seine ersten formativen Jahre. Derzeit schreibt Segev an einer Biografie des israelischen Staatsgründers David Ben Gurion, mit dessen Rolle er sich seit seiner Studentenzeit beschäftigt. Sie wird die zweite große Biografie in seinem Oeuvre nach Simon Wiesenthal. Die Biographie (Siedler Verlag, 2010) sein. Die Bücher Tom Segevs verbinden stilistische Eleganz mit Erzählfreude und scharfsinniger Analyse, unter Einbeziehung einer ungewöhnlichen Breite und Vielfalt von Materialien als Quellen. In angelsächsischer Tradition richten sie sich an eine breite Öffentlichkeit und werden in der Tagespresse diskutiert. Segevs Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung Der Preis würdigt literarische, publizistische und kulturelle Bemühungen um den Frieden in Israel und darüber hinaus in der ganzen Welt. Er wird alle drei Jahre vergeben und ist zurzeit mit 50.000 Euro dotiert. Gestiftet haben ihn Abraham Korn und seine Schwester Rosa Gerstenmann im Jahr 1987 zum Gedenken an ihre im Konzentrationslager Majdanek ermordete Nichte Sarah Gerstenmann. Bisherige Preisträger waren: Shimon Peres (2001), Amos Oz (2003), Daniel Barenboim und Edward Said (2006), Sari Nusseibeh und Itamar Rabinovich (2009), Avi Primor (2012). Einsicht 15 Frühjahr 2016 Aus Kultur und Wissenschaft Eine Ausnahme Überleben. Freundschaft. Widerstand Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn im Portrait. Ein Medienprojekt von Adrian Oeser http://eine-ausnahme.de Wie können die Erzählungen von zwei beeindruckenden Zeitzeuginnen des Nationalsozialismus medial vermittelt werden? Wie kann man junge Menschen dazu motivieren, sich mit diesen Berichten auseinanderzusetzen? Und wie lassen sich jene authentischen Zeugnisse bewahren in einer Zeit, in der wir langsam Abschied nehmen von der Generation der ZeitzeugInnen des Nationalsozialismus? Das Medienprojekt des Frankfurter Filmemachers Adrian Oeser schlägt Antworten auf diese Fragen vor. Die Widerstandskämpferin Irmgard Heydorn und die Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Irmgard Heydorn war 16 Jahre alt, als sie sich der Widerstandsgruppe des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes anschloss, und arbeitete von da an gegen die Nazis. Trude Simonsohn wuchs in der damaligen Tschechoslowakei auf, war in der zionistischen Jugendbewegung organisiert und wurde 1942 von den Nazis verhaftet. Sie überlebte das Ghetto Theresienstadt, das Vernichtungslager Auschwitz und weitere Konzentrationslager. In den 1950er Jahren lernte sie in Hamburg Irmgard Heydorn kennen. Retrospektiv sagt Trude Simonsohn, dass es ihr das Leben in Deutschland ungemein erleichterte, in Irmgard Heydorn und deren Mann Menschen kennengelernt zu haben, die in Deutschland Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten. Der Film erzählt auf sehr persönliche Weise das Leben und die Freundschaft von Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn. Dabei lässt der Film, den Adrian Oeser noch als Schüler drehte, bewusst Lücken, um Raum für Fragen zu lassen. Deshalb beschloss Adrian Oeser, die Interviews, die er mit den beiden beeindruckenden Zeitzeuginnen 2007 führte, auf einer Website zugänglich zu machen. Daraus entstand das crossmediale Web-Projekt »Eine Ausnahme. Überleben. Freundschaft. Widerstand. Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn im Portrait«. Als Einstieg in die Website soll der Film bei den BesucherInnen Interesse wecken und zum Weiterschauen, Weiterfragen und Weiterlesen anregen. In über 60 Interviewsequenzen berichten Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn über ihr Leben, ihre Freundschaft, ihr politisches Engagement. Ergänzt werden diese Erzählungen durch Texte zu historischen Themen, persönliche Fotografien der Protagonistinnen und historische Originalmaterialien. Auf diese Weise entsteht ein zugleich informatives wie persönliches Porträt der beiden Frauen und der Zeit ihrer Erzählungen. Das Projekt wurde gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung und dem Studentischen Projektrat an der Frankfurter GoetheUniversität, es wurde unterstützt von der Bildungsstätte Anne Frank und der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Eine DVD des Projekts für den Einsatz im Unterricht (Laufzeit: 150 Min.) ist im Vertrieb Filmsortiment erschienen. Bezug: www.filmsortiment.de Glückwünsche zum Geburtstag Am 25. März feierte Trude Simonsohn ihren 95. Geburtstag. Ein Tag zuvor feierte Irmgard Heydorn die Vollendung ihres 100. Lebensjahres. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts gratulieren herzlich! Kontakt Adrian Oeser c/o Bildungsstätte Anne Frank e.V. Hansaallee 150 60320 Frankfurt am Main [email protected] 101 Aus Kultur und Wissenschaft Den Auftakt der Rauminszenierung bilden jüdische Zeremonialobjekte und Druckzeugnisse aus der Frühen Neuzeit. Sie eröffnen einen Einblick in die Traditionen, die in der Judengasse gepflegt und weiterentwickelt wurden, sowie in die damaligen Beziehungen zwischen Juden und Christen. Die wirtschaftsgeschichtlichen Zeugnisse, die an anderer Stelle präsentiert werden, legen nahe, dass Juden das Ghetto häufig verließen, um Geschäften nachzugehen. In Anlehnung an jüngere Forschungsergebnisse zeigt die Ausstellung, dass die Judengasse kein in sich geschlossenes Wohngebiet mit eigenen Regeln war. Sie präsentiert anstatt dessen ein differenziertes Geschichtsbild, das verschiedene Formen der Zusammenarbeit und wechselseitigen Einflussnahme zwischen den jüdischen Einwohnern der Gasse und den christlichen Stadtbewohnern thematisiert. Dass Juden in Frankfurt trotz kaiserlichen Schutzes auch antijüdischen Maßnahmen Wiedereröffnung Museum Judengasse Neue Dauerausstellung bietet spannende Einblicke in das Leben der Frankfurter Judengasse Am Sonntag, den 20. März 2016, wurde das Museum Judengasse nach rund zweijähriger Schließung wieder eröffnet. Die neue Dauerausstellung thematisiert die jüdische Geschichte und Kultur Frankfurts vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts und bildet den ersten Teil der Neukonzeption des Jüdischen Museums. Der zweite Teil der Dauerausstellung, der die Zeit von der Emanzipation bis zur Gegenwart präsentiert, wird ab 2018 im frisch sanierten und erweiterten Rothschild-Palais zu sehen sein. Der Festakt zur Museumseröffnung im Casino der Stadtwerke Frankfurt stand unter dem Motto »Massel und Broche – Glück und Segen«. Neben der neu berufenen Direktorin des Jüdischen Museums, Dr. Mirjam Wenzel, sprachen Kulturdezernent Prof. Dr. Felix Semmelroth, Oberbürgermeister Peter Feldmann, der frühere Oberbürgermeister Andreas von Schoeler in seiner Funktion als Vorsitzender der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums und Prof. Dr. Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. »Die Neugestaltung des Museums Judengasse zeigt, wie gut es gelungen ist, die beiden Standorte des Museums zusammenzuführen und aufeinander abzustimmen. Die in den Jahren 2012 bis 2014 von der Stadtverordnetenversammlung gefassten Beschlüsse zur Sanierung und Erweiterung des Jüdischen Museums ermöglichten den Umbau hin zu einer zeitgemäßen Ausstellungskonzeption am authentischen Schauplatz«, sagt Semmelroth. »Am Börneplatz ist durch die räumliche Nähe des Museums Judengasse mit der Gedenkstätte für die deportierten und ermordeten Frankfurter Juden und dem alten jüdischen Friedhof ein historisches Ensemble entstanden, das die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte Frankfurts auf besondere Weise ermöglicht. Frankfurt ist die einzige Großstadt in Deutschland, in der die jüdische Gemeinschaft vor Ort bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht. Das neue Jüdische Museum ist ein Lernort gerade auch für die junge Generation. Die interaktive Ausstellung trägt dazu bei, das Verständnis füreinander und ein tolerantes Miteinander zu fördern«, so Semmelroth weiter. »Mit der multimedialen Installation zu Beginn der Ausstellung und dem besonderen Angebot für Kinder werden insbesondere Familien zu einem Museumsbesuch eingeladen«, ergänzt Museumsdirektorin Dr. Mirjam Wenzel. »Die zeitgemäße Inszenierung soll dabei vor allem den Ort selbst zum Sprechen bringen und unseren Besuchern einen vielseitigen und abwechslungsreichen Einblick in die 102 Nachrichten und Berichte und Gewalt ausgesetzt waren, verdeutlichen rechtliche Anordnungen und die Spuren von Pogromen an geraubten und geschändeten Schriften. Mit diesen Dokumenten der jiddischen wie auch hebräischen Schriftkultur und den vertonten Gesängen und Gedichten aus der Judengasse findet der Ausstellungsrundgang seinen Abschluss. Das Vermittlungsangebot in der Ausstellung umfasst sowohl mediale wie auch interaktive Elemente. Der Multimediaguide, der als App auf mobilen Geräten installiert werden kann, bezieht eine der bedeutendsten jüdischen Grabstätten Europas in den Ausstellungsrundgang mit ein. Eine multimediale Installation zu Beginn sowie mehrere Medienstationen innerhalb der Ausstellung geben einen Überblick über die jüdische Alltagskultur der Frühen Neuzeit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren können die Ausstellung mit spielerischen Mitmachangeboten, einem eigenen Katalog und einer Audioführung erkunden. Das Kinderprogramm, organisiert vom Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, sowie besondere Führungen ergänzen das Angebot für Familien. Die Frankfurter Judengasse Geschichte, Politik, Kultur Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt, hrsg. von Fritz Backhaus, Raphael Gross, Sabine Kößling und Mirjam Wenzel München: C.H. Beck Verlag, 2016, 232 S., 81 teils farb. Abb., ISBN 978-3-406-68987-1, € 14,95, erscheint auch in engl. Sprache, ab 11. Mai 2016 Kontakt Museum Judengasse Battonnstr. 47, 60311 Frankfurt am Main Tel.: 069.212-70790, Fax: -730705 [email protected] www.museumjudengasse.de Mehr zu den Angeboten des Pädagogischen Zentrums zur neuen Dauerausstellung lesen Sie auf Seite 94. Blick in die historischen Fundamente der Frankfurter Judengasse, Foto: Norbert Miguletz, Jüdisches Museum Frankfurt jüdische Alltagskultur der Frühen Neuzeit geben.« Bereits der erste Raum der neuen Dauerausstellung betont die Vielschichtigkeit des Platzes: Neben Zeugnissen aus der Börneplatzsynagoge und Fotos von deren Zerstörung thematisiert er die Protestkundgebungen, die hier im Jahr 1987 stattfanden. Damals stieß man bei Bauarbeiten auf die Fundamente von zwei Mikwen und mehreren Häusern der Judengasse. Daraufhin entbrannte eine heftige Auseinandersetzung um das öffentliche Verantwortungsbewusstsein der Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit jüdischem Kulturgut. Der Konflikt führte zur Bewahrung der archäologischen Zeugnisse von fünf Häusern sowie zur Entstehung des Museums Judengasse. Die neue Dauerausstellung eröffnet verschiedene Zugänge zum alltäglichen Leben im ersten jüdischen Ghetto Europas. Inmitten von Ruinen werden Objekte anschaulich gezeigt, die einst vor Ort gefertigt oder genutzt wurden. Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung des Holocaust Hier könnte Ihre Anzeige stehen! Formate und Preise Doppelseite Umschlagseite U4 Umschlagseite U2 / U3 Ganzseitige Anzeige 1/2-seitige Anzeige vertikal 1/2-seitige Anzeige horizontal 1/3-seitige Anzeige vertikal 1/4-seitige Anzeige vertikal 460 x 295 mm + Beschnitt 230 x 295 mm + Beschnitt 230 x 295 mm + Beschnitt 230 x 295 mm + Beschnitt 93 x 217 mm 192 x 105,5 mm 60 x 217 mm 93 x 105,5 mm 1.090,– 950,– 850,– 690,– 390,– 390,– 320,– 270,– Auflage: 5.500 Exemplare, Preise in Euro, zuzügl. gesetzl. MwSt. Kontakt: Dorothee Becker, Tel.: 069.798 322-40, [email protected] Einsicht 15 Frühjahr 2016 103 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts Aus Kultur und Wissenschaft Jubiläumsjahr 2015 Zwei Publikationen zum deutsch-israelischen Jugendaustausch Moving Moments / Connecting for Life Deutsch-Israelischer Jugendaustausch in Forschung und Praxis ckenschlag zwischen Israel und Deutschland beigetragen. Neben Fragen nach der konkreten Mitgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Beziehungen durch den deutsch-israelischen Jugendaustausch stehen auch der Wandel von Erwartungen, Zielen und Konzepten sowie die Zukunftsvisionen für die deutsch-israelischen Jugendkontakte im Mittelpunkt. Fragen zur Gegenwartsbedeutung der Geschichte und Herausforderungen beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebenswelten in Europa und Nahost bei Begegnungen junger Deutscher und Israelis werden ebenfalls beleuchtet. 50 Jahre Diplomatische Beziehungen Deutschland – Israel / 60 Jahre Deutsch-Israelischer Jugendaustausch Geschichte(n) – Einblicke – Informationen Kompendium mit Forschungsergebnissen und Fachbeiträgen aus 60 Jahren Praxis im DeutschIsraelischen Jugendaustausch Hrsg. von ConAct – Koordinierungszentrum DeutschIsraelischer Jugendaustausch, Lutherstadt Wittenberg und der Israel Youth Exchange Authority, Tel Aviv, 2015, 250 S., Deutsch/Hebräisch. Das Fachbuch ist kostenlos. Es kann gegen Übernahme der Versandkosten in Höhe von € 2,40 bei ConAct bestellt werden. In diesem reich bebilderten Fachbuch zum deutsch-israelischen Jugendaustausch werden historische Entwicklungen und Forschungsergebnisse aus sechs Jahrzehnten intensiver deutschisraelischer Begegnungsarbeit seit Mitte der 1950er Jahre zusammengetragen. Der Jugendaustausch stellt einen Versuch dar, die unmöglich erscheinende Annäherung zwischen Deutschland und Israel nach der Shoah und den durch deutsche Nationalsozialisten begangenen Verbrechen an den europäischen Juden zu initiieren. Die Kontakte zwischen den unterschiedlichen Generationen beider Länder, die sich innerhalb und außerhalb organisierter Begegnungen bewegen, haben wesentlich zu einem Brü104 Hrsg. von ConAct – Koordinierungszentrum DeutschIsraelischer Jugendaustausch, Lutherstadt Wittenberg und der Israel Youth Exchange Authority, Tel Aviv, 2015, 160 S., Deutsch/Hebräisch. Die Broschüre ist kostenlos. Sie kann gegen Übernahme der Versandkosten in Höhe von € 2,40 bei ConAct bestellt werden. Die deutsch-hebräische Broschüre zu »60 Jahre deutschisraelischer Jugendaustausch« führt kurzweilig und informativ in die Geschichte und Gegenwart des bilateralen Begegnungsprogramms ein. In einem historischen Abriss werden den wichtigen Stationen der politischen Entwicklung historische Fotografien und Hintergrundinformationen hinzugefügt, visuell angelehnt an die Website »Exchange-Visions« (www.exchange-visions.de). Übersichtliche Schaubilder und Grafiken versammeln Daten und Zahlen und geben somit Aufschluss über die Veränderungen und Strukturen der vergangenen Jahrzehnte im deutsch-israelischen Nachrichten und Berichte Jugend- und Fachkräfteaustausch. Nur mit allen Beteiligten – den Teamer/-innen, Teilnehmenden, Verbänden, Zentralstellen, Ministerien und beiderseitigen Koordinierungszentren in Deutschland und Israel – wird der Austausch getragen und wächst die Qualität der deutsch-israelischen Jugendkontakte. Davon berichten zum einen die Stimmen bekannter Akteure im deutsch-israelischen Jugendaustausch. Zum anderen zeugen die Berichte über die bilaterale Zusammenarbeit von ConAct mit der Israel Youth Exchange Authority von der fortdauernden Weiterentwicklung und Erweiterung des Jugendaustausches und werfen Schlaglichter auf eigens entwickelte Veranstaltungsformate und die großen Highlights der letzten Jahrzehnte. Download der digitalen Version des Fachbuchs und der Broschüre, jeweils in deutscher und hebräischer Sprache: www.conactorg.de/materialien/conact-materialien ConAct ist ein bundesweites Service- und Informationszentrum für Jugendkontakte zwischen Deutschland und Israel mit Sitz in Lutherstadt Wittenberg. Es fördert bestehende Kontakte durch die Beratung zur Planung und Finanzierung von deutsch-israelischen Jugendbegegnungen und regt neue Ideen für den Austausch an. Das im Oktober 2001 eröffnete Koordinierungszentrum unterstützt jedes Jahr rund 300 Projekte der außerschulischen Bildungs- und Austauscharbeit finanziell und pädagogisch. Partnerorganisation in Israel ist die Israel Youth Exchange Authority in Tel Aviv. ConAct ist eine Einrichtung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit Unterstützung der Länder Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern, in Trägerschaft der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt. Kontakt ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch Altes Rathaus – Markt 26 06886 Lutherstadt Wittenberg Tel.: 03491.4202-60, Fax: -70 [email protected] www.conact-org.de sechzig. Sie entstehen auf der Basis weiterer Recherchen und an manchen Orten in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern. Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Geschichte des legalisierten Raubes, in die Biografien von Tätern und Opfern. Die Tafeln im Hauptteil der Ausstellung entwickeln die Geschichte der Tätergesellschaft, die mit einem Rückblick auf die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung nach einer Enteignung der Juden gab es nicht erst seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf weitverbreitete antisemitische Klischees zurückgreifen, insbesondere auf das Bild vom »mächtigen und reichen Juden«, der sein Vermögen mit List und zum Schaden des deutschen Volkes erworben habe. Vor diesem Hintergrund zeichnet das zweite Kapitel die Stufen der Ausplünderung und die Rolle der Finanzbehörden in den Jahren von 1933 bis 1941 nach. Im nachgebauten Zimmer eines Finanzbeamten können die Ausstellungsbesucher in Aktenordnern blättern: Sie enthalten unter anderem Faksimiles jener Vermögenslisten, die Juden Einsicht 15 Frühjahr 2016 vor der Deportation ausfüllen mussten, um den Finanzbehörden die »Verwaltung und Verwertung« ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich mit den kooperierenden Interessengruppen in Politik und Wirtschaft, aber auch mit dem »deutschen Volksgenossen« als Profiteur. Schließlich wird nach der sogenannten Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die Rückerstattung vor sich, wie erfolgreich konnte sie angesichts der gesetzlichen Ausgangslage und der weitgehend ablehnenden Haltung der Bevölkerungsmehrheit sein? Die Ausstellung wandert seit dem Jahr 2002 sehr erfolgreich durch Hessen und darüber hinaus. Sie wurde an bisher 26 Stationen gezeigt. Da für jeden Präsentationsort neue regionale Vitrinen entstehen, die sich mit der Geschichte des legalisierten Raubes am Ausstellungsort beschäftigen, »wächst« die Ausstellung. Waren es bei der Erstpräsentation 15 Vitrinen, die die Geschichten der Opfer erzählten, sind es heute weit über Publikationen zur Ausstellung › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung. Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Heft 8, 2002, 72 S., € 5,– › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 › DER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,– Ausstellungsexponate Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen im Format 100 x 70 cm, 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, 2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das Konzept zu übernehmen. www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html Ausstellungsstationen / Termine Aktuelle Ausstellungsorte und -zeiten für unsere Wanderausstellungen finden Sie auf Seite 11. Ausstellungsausleihe Unsere Ausstellungen können gegen Gebühr ausgeliehen werden. Wir beraten Sie gerne bei der Organisation des Begleitprogramms. Weitere Informationen und ein Ausstellungsangebot senden wir Ihnen auf Anfrage zu. Kontakt Fritz Bauer Institut Manuela Ritzheim Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41 [email protected] 105 Ein Leben aufs neu Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Ausstellung »Ein Leben aufs neu« im Alten Goethegymnasium in Neu-Isenburg, veranstaltet von der Seminar- und Gedenkstätte BerthaPappenheim-Haus in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv NeuIsenburg, der Evangelisch-Reformierten Gemeinde Neu-Isenburg und der Jüdischen Volkshochschule Frankfurt am Main. (1. Jan. ‒ 29. Feb. 2016) Fotos: Werner Lott Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fanden jüdische Überlebende der NS-Terrorherrschaft im Nachkriegsdeutschland Zuflucht in sogenannten Displaced Persons (DP) Camps. Die Fotoausstellung porträtiert das tägliche Leben und die Arbeit der Selbstverwaltung in dem in der amerikanischen Besatzungszone gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim. Der aus Polen stammende Ephraim Robinson hatte seine ganze Familie im Holocaust verloren. Als DP kam er 1945 nach Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebensunterhalt im Lager verdiente er sich als freiberuflicher Fotograf. In eindrücklichen Bildern hielt er fest, wie die geschundenen Menschen ihre Belange in die eigenen Hände nahmen, ihren Alltag gestalteten, »ein Leben aufs neu« wagten. Als Ephraim Robinson 1958 in den USA verstarb – in die er zehn Jahre zuvor eingewandert war –, hinterließ er nicht nur viele hunderte Aufnahmen, sondern auch ein Album, das die Geschichte der jüdischen DPs in exemplarischer Weise erzählt. Über das vertraut erscheinende Medium des Albums führt die Ausstellung in ein den meisten Menschen unbekanntes und von vielen verdrängtes Kapitel der deutschen und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein: Fotografien von Familienfeiern und Schulunterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport und Feste, Zeitungen und Theater, zionistische Vorbereitungen auf ein Leben in Palästina – Manifestationen eines »lebn afs nay«, das den Schrecken nicht vergessen macht. Das Konzentrationslager der IG Farbenindustrie AG in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Kooperation zwischen Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus. Die komplexe Geschichte dieser Kooperation, ihre Widersprüche, ihre Entwicklung und ihre Wirkung auf die Nachkriegszeit (die Prozesse und der bis in die Gegenwart währende Streit um die IG Farben in Liquidation), wird aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert. Strukturiert wird die Ausstellung durch Zitate aus der Literatur der Überlebenden, die zu den einzelnen Themen die Funktion der einführenden Texte übernehmen. Gezeigt werden Reproduktionen der Fotografien, die von der SS anlässlich des Besuchs von Heinrich Himmler in Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 angefertigt wurden. Die Bildebene erzählt also durchgängig die Tätergeschichte, der Blick auf die Fabrik und damit die Technik stehen im Vordergrund. Die Textebene hingegen wird durch die Erzählung der Überlebenden bestimmt. Die Ausstellung ist als Montage im filmischen Sinn angelegt. Der Betrachter sucht sich die Erzählung selbst aus den Einzelstücken zusammen. Um diese Suche zu unterstützen, werden in Heftern Quellentexte angeboten, die eine vertiefende Lektüre ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer Institut einen Reader zur Vorbereitung auf die Ausstellung an. Ausstellungsrealisation Konzept: Gottfried Kößler; Recherche: Werner Renz; Gestaltung: Werner Lott Unterstützt von der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, New York. Ausstellungsexponate › Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm) › Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm) › Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm) › Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm) › Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm) Ausstellungsexponate › 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm) › ein Lageplan des Lagers Buna/Monowitz › ein Lageplan der Stadt Oświęcim www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html 106 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus Ausstellungsangebote Einsicht 15 Frühjahr 2016 Fritz Bauer. Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht Fritz Bauer gehört zu den juristisch einflussreichsten jüdischen Remigranten im Nachkriegsdeutschland. Als hessischer Generalstaatsanwalt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess auf den Weg brachte, hat er bundesrepublikanische Geschichte geschrieben. Die Ausstellung nimmt den Prozess, der sich 2013 zum fünfzigsten Mal jährte, zum Anlass, Fritz Bauer einem größeren Publikum vorzustellen. Bauers Leben blieb nicht unberührt von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung dokumentiert seine Lebensgeschichte im Spiegel der historischen Ereignisse, die ihn auch persönlich betrafen. Als Jude blieb Fritz Bauer vom Antisemitismus nicht verschont. Als Sozialdemokrat glaubte er dennoch an den Fortschritt, dann trieben ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins Exil. Als Generalstaatsanwalt hat er das überkommene Bild dieses Amtes revolutioniert. Nicht der Gehorsam der Bürger gegenüber dem Staat stand im Vordergrund. Bauer verstand sich stets als Vertreter der Menschenwürde vor allem auch gegen staatliche Gewalt – ein großer Schritt auf dem Weg der Demokratisierung in der frühen Bundesrepublik. Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Joachim Gauck. Sie wird gefördert durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft, die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, das Hessische Ministerium der Justiz, für Integration und Europa, die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung, die Fazit-Stiftung sowie Christiane und Nicolaus Weickert. Kuratoren der Ausstellung › Monika Boll (Fritz Bauer Institut): Konzeption und Aufbau der Erstausstellung in Frankfurt › Erik Riedel (Jüdisches Museum Frankfurt): Betreuung der Wanderausstellung Ausstellungsstationen › 10. April bis 7. September 2014 Jüdisches Museum Frankfurt am Main › 9. Dezember 2014 bis 15. Februar 2015 Thüringer Landtag in Erfurt › 26. Februar bis 17. April 2015 Landgericht Heidelberg › 7. Mai bis 26. Juni 2015 Landgericht Tübingen › 10. März bis 10. Mai 2016 Ministerium der Finanzen RheinlandPfalz und Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Mainz › 21. April bis 21. August 2016 NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln Zur Ausstellung sind erschienen: Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Fritz Bauer. Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 ISBN: 978-3-5935-0105-5 Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 32 Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden aus den Fernseharchiven 1961‒1968 Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 ISBN: 978-3-8488-4017-5 www.absolutmedien.de www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer-ausstellung.html 107 Publikationen des Fritz Bauer Instituts Werner Konitzer und Raphael Gross (Hrsg.) Moralität des Bösen Ethik und nationalsozialistische Verbrechen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2009, 272 S., € 29,90, EAN 978-3-59339021-5; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2009, Band 13 Ulrich Wyrwa (Hrsg.) Einspruch und Abwehr Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung des Antisemitismus (1879–1914) Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, 372 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39278-3; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2010, Band 14 Das Fritz Bauer Institut veröffentlicht mehrere Publikationsreihen, darunter das Jahrbuch und die Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Campus Verlag, und die Schriftenreihe, die in verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben gibt es Publikationsreihen, die im Eigenverlag verlegt sind, darunter die Pädagogischen Materialien und die Reihe Konfrontationen. Video-Interviews, Ausstellungskataloge und andere Einzelveröffentlichungen ergänzen das Publikations-Portfolio des Instituts. Eine komplette Auflistung aller bisher erschienenen Publikationen des Fritz Bauer Instituts finden Sie auf unserer Website: www.fritz-bauer-institut.de Bestellungen bitte an die Karl Marx Buchhandlung GmbH Publikationsversand Fritz Bauer Institut Jordanstr. 11, 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9 [email protected] www.karl-marx-buchhandlung.de Liefer- und Zahlungsbedingungen Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig. Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten berechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betragen die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Für Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Versandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandgewicht in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland erhalten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang wird das Paket versendet). 108 Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Gesetzliches Unrecht Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Micha Brumlik, Susanne Meinl und Werner Renz. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2005, 244 S., € 24,90, ISBN 3-593-37873-6; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2005, Band 9 Fritz Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.) Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Bernd Fechler, Gottfried Kößler, Astrid Messerschmidt und Barbara Schäuble. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006, 378 S., € 29,90, ISBN 978-3-593-38183-1; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2006, Band 10 Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Zeugenschaft des Holocaust Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Michael Elm und Gottfried Kößler. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007, 286 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38430-6; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2007, Band 11 Katharina Stengel und Werner Konitzer (Hrsg.) Opfer als Akteure Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2008, 308 S., € 29,90, EAN 978-3-593-38734-5; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2008, Band 12 Publikationen Liliane Weissberg (Hrsg.) Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011 236 S., 18 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39490-9; Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2011, Band 15 Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.) Holocaust und Völkermorde Die Reichweite des Vergleichs Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, 248 S., € 24,90, EAN 9783593397481 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2012, Band 16 Fritz Bauer Institut, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, 240 S., € 29,90, EAN 9783593399805 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2013, Band 17 Fritz Bauer Institut, Werner Konitzer (Hrsg.) Moralisierung des Rechts Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Normativität Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, 248 S., € 29,90, EAN 99783593501680 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2014, Band 18 Katharina Rauschenberger, Werner Konitzer (Hrsg.) Antisemitismus und andere Feindseligkeiten Interaktionen von Ressentiments Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 197 S., kartoniert, € 29,90, EAN 978-3-593-50469-8 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2015, Band 19 Das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust erscheint mit freundlicher Unterstützung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Mitglieder des Fördervereins können das aktuelle Jahrbuch zum reduzierten Preis von € 23,90 (inkl. Versandkosten) im Abonnement beziehen. Wissenschaftliche Reihe Claudia Fröhlich Wider die Tabuisierung des Ungehorsams Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006, 430 S., € 39,90, ISBN 3-593-37874-4 Wissenschaftliche Reihe, Band 13 Thomas Horstmann, Heike Litzinger (Hrsg.) An den Grenzen des Rechts Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006, 233 S., € 19,90, ISBN 3-593-38014-5 Wissenschaftliche Reihe, Band 14 Katharina Stengel (Hrsg.) Vor der Vernichtung Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38371-2 Wissenschaftliche Reihe, Band 15 Christoph Jahr Antisemitismus vor Gericht Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879–1960) Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011, 476 S., € 39,90, EAN 978-3-593-39058-1 Wissenschaftliche Reihe, Band 16 Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.) Das »Großdeutsche Reich« und die Juden Nationalsozialistische Verfolgung in den »angegliederten« Gebieten Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, 438 S., , € 39,90, EAN 978-3-593-39168-7 Wissenschaftliche Reihe, Band 17 Micha Brumlik, Karol Sauerland (Hrsg.) Umdeuten, verschweigen, erinnern Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, 257 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39271-4 Wissenschaftliche Reihe, Band 18 Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) »Der Letzte der Ungerechten« Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Filmen 1942–1975 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011 208 S., 36 Abb., € 24,90 EAN 978-3-593-39491-6 Wissenschaftliche Reihe, Band 19 Einsicht 15 Frühjahr 2016 Werner Renz (Hrsg.) Interessen um Eichmann Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, 332 S., € 34,90, EAN 9783593397504 Wissenschaftliche Reihe, Band 20 Katharina Stengel: Hermann Langbein Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, 635 S., € 34,90, EAN 9783593397887 Wissenschaftliche Reihe, Band 21 Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.) Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) Kommentierte Quellenedition Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, 1.398 S., Hardcover, gebunden, Edition in zwei Teilbänden, € 78,–, EAN 9783593399607 Wissenschaftliche Reihe, Band 22 Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.) Unternehmer und NS-Verbrechen Wirtschaftseliten im »Dritten Reich« und in der Bundesrepublik Deutschland Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 2014, 416 S., € 34,90, EAN 9783593399799 Wissenschaftliche Reihe, Band 23 Katharina Rauschenberger, Werner Renz (Hrsg.) Henry Ormond – Anwalt der Opfer Plädoyers in NS-Prozessen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015, 364 S., 27 Abb., € 34,90, EAN 978-3-593-50282-3 Wissenschaftliche Reihe, Band 24 Werner Renz (Hrsg.) »Von Gott und der Welt verlassen« Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 300 S., gebunden, 24 s/w-Fotos, € 29,90 EAN 978-3-593-50468-1 Wissenschaftliche Reihe, Band 25 Birgit Erdle, Werner Konitzer (Hrsg.) Theorien über Judenhass – eine Denkgeschichte Kommentierte Quellenedition (1781–1931) Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 361 S., gebunden, € 39,90, EAN 978-3-593-50470-4 Wissenschaftliche Reihe, Band 26 Isabell Trommer Rechtfertigung und Entlastung Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, 320 S., gebunden, € 34,90, EAN 9783593505299 Wissenschaftliche Reihe, Band 27 Schriftenreihe Hanno Loewy (Hrsg.) Holocaust. Die Grenzen des Verstehens Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 256 S., € 9,60, ISBN 3-499-19367-1; Schriftenreihe, Band 2 Oskar Rosenfeld Wozu noch Welt Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz Hrsg. von Hanno Loewy. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main, 1994, 324 S., € 25,–, ISBN 3-8015-0272-4; Schriftenreihe, Band 7 Martin Paulus, Edith Raim, Gerhard Zelger (Hrsg.) Ein Ort wie jeder andere Bilder aus einer deutschen Kleinstadt. Landsberg am Lech 1923–1958 Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1995, 224 S., 168 Abb., € 15,–, ISBN 3-499-19913-0; Schriftenreihe, Band 9 Knut Dethlefsen, Thomas B. Hebler (Hrsg.) Bilder im Kopf / Obrazy w glowie Auschwitz – Einen Ort sehen Oswiecim – Ujecia pewnego miejsca Edition Hentrich, Berlin, 1996, 146 S., 134 Abb., € 9,90, ISBN 3-89468-236-1 Schriftenreihe, Band 12 Hanno Loewy, Andrzej Bodek (Hrsg.) »Les Vrais Riches« – Notizen am Rand Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lodz (Mai bis August 1944) Reclam Verlag, Leipzig, 1997, 165 S., € 9,20, ISBN 3-379-01582 Schriftenreihe, Band 13 Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hrsg.) Lachen über Hitler – Auschwitz Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust München: Edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 2003, 386 S., 40 s/w Abb., € 27,50, ISBN 3-88377-724-2 Schriftenreihe, Band 19 Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich (Hrsg.) Verunsichernde Orte Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag, 2010, 208 S., € 19,90; ISBN 978-3-86099-630-0 Schriftenreihe, Band 21 109 Jaroslava Milotová, Zlatica Zudová-Lešková, Jiří Kosta (Hrsg.): Tschechische und slowakische Juden im Widerstand 1938–1945 Metropol Verlag, Berlin, 2008, 272 S., € 19,–, ISBN 978-3-940938-15-2 Schriftenreihe, Band 22 Irmtrud Wojak Fritz Bauer 1903–1968 Eine Biographie Verlag C.H. Beck, München, 2009, 24 Abb., 638 S., € 34,–, ISBN 978-3-406-58154-0; Schriftenreihe, Band 23 Broschierte Sonderausgabe 2011: Verlag C.H. Beck, München, 2011, € 28,– ISBN 978-3-406-62392-9 Neuausgabe 2016: Buxus Edition, München, 2016 614 S., € 28,– (zuz. € 4,50 Versand) Bestelladresse: [email protected] Der Versand erfolgt gegen Rechnung. Joachim Perels (Hrsg.) Auschwitz in der deutschen Geschichte Offizin-Verlag, Hannover, 2010, 258 S., ISBN 978-3930345724, € 19,80; Schriftenreihe, Band 25 Raphael Gross Anständig geblieben Nationalsozialistische Moral Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010, 288 S., € 19,95, ISBN 978-3-10-028713-7; Schriftenreihe, Band 26 Rolf Pohl, Joachim Perels (Hrsg.) Normalität der NS-Täter? Eine kritische Auseinandersetzung Hannover: Offizin Verlag, 2011, 148 S., € 14,80 ISBN 978-3-930345-71-7 Schriftenreihe, Band 27 Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.) »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2013, 384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0 Schriftenreihe, Band 28 Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.): Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 224 S., 64 überw. farb. Abb., € 19,90, ISBN: 978-3-8353-1081-0 Schriftenreihe, Band 29 Raphael Gross November 1938 Die Katastrophe vor der Katastrophe München: Verlag C. H. Beck, 2013, 128 S., € 8,95 110 Beck`sche Reihe: bsr – C.H. Beck Wissen; 2782 ISBN 978-3-406-65470-1; Schriftenreihe, Band 31 Eine Publikation des Leo Baeck Institute London Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Fritz Bauer. Der Staatsanwalt NS-Verbrechen vor Gericht Begleitband zur Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, in Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 ISBN: 978-3-5935-0105-5 Schriftenreihe, Band 32 Martin Liepach, Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte Darstellungen und didaktische Herausforderungen Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2014, Reihe Geschichte unterrichten, 192 S., € 19,80 ISBN: 978-3-7344-0020-9 Schriftenreihe, Band 33 Pädagogische Materialien des Pädagogisches Zentrums des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Mirjam Thulin Von Frankfurt nach Tel Aviv Die Geschichte der Erna Goldmann Materialheft zum Filmporträt Redaktion: Gottfried Kößler, Manfred Levy Frankfurt am Main, 2012, 48 S., € 5,– ISBN 978-3-932883-34-7 Pädagogische Materialien Nr. 01 Wolfgang Geiger, Martin Liepach, Thomas Lange (Hrsg.) Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsprojekt »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« Frankfurt am Main, 2013, 76 S., € 7,– ISBN 978-3-932883-35-4 Pädagogische Materialien Nr. 02 Dagi Knellessen Novemberpogrome 1938 »Was unfassbar schien, ist Wirklichkeit« Mit einem Vorwort von Raphael Gross Redaktion: Gottfried Kößler Frankfurt am Main 2015, 116 S., € 10,– IBAN 978-3-932883-36-1 Pädagogische Materialien Nr. 03 Publikationen Reihe »Konfrontationen« Zeitzeugen-Videos auf DVD DVD/DVD-ROM Sonstige Veröffentlichungen Die Video-Interviews sind für die pädagogische Arbeit mit Zeitzeugenaussagen konzipiert. Sie sind für den Einsatz in der Schule (ab Klasse 8), der Erwachsenenbildung, der Lehrerfortbildung und der außerschulische Bildungsarbeit geeignet. Die DVD-Reihe wird fortgeführt. Veröffentlichung elektronischer Medien des Fritz Bauer Institut und Veröffentlichungen, die mit Unterstützung des Fritz Bauer Instituts erschienen sind. Kersten Brandt, Hanno Loewy, Krystyna Oleksy (Hrsg.) Vor der Auslöschung… Fotografien gefunden in Auschwitz Hrsg. im Auftrag des Staatlichen Museums AuschwitzBirkenau. Gina Kehayoff Verlag, München, 2001, 2. überarb. Aufl., Bildband, 492 S., ca. 2.400 Farbabb. und Textband, 158 S., € 124,95; ISBN 3-934296-13-0 Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust Gottfried Kößler, Petra Mumme Identität › Individuum und Gesellschaft › Anfänge des Nationalsozialismus Frankfurt am Main, 2000, 56 S., ISBN 3-932883-25-X Konfrontationen Heft 1 Jacqueline Giere, Gottfried Kößler Gruppe › Gemeinschaft und Ausschluss › Volksgemeinschaft und Verfolgung von Minderheiten Frankfurt am Main, 2001, 56 S., ISBN 3-932883-26-8 Konfrontationen Heft 2 Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme Ausschluss › Voraussetzungen und Zusammenhänge des Ausschlusses von Minderheiten aus der NS-Volksgemeinschaft › NS-»Euthanasie«-Verbrechen › Verfolgung schwarzer Deutscher in der NS-Zeit › Der Weg zum Völkermord an den Sinti und Roma Frankfurt am Main, 2003, 80 S., ISBN 3-932883-27-6 Konfrontationen Heft 3 Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke Ghetto › Vernichtung durch Arbeit: das Ghetto Lodz › Theresienstadt – ein »Musterghetto«? › Der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto Frankfurt am Main, 2002, 88 S., ISBN 3-932883-28-4 Konfrontationen Heft 4 Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Deportationen › Leben zwischen Novemberpogrom und Deportation › Ausplünderung › Verschleppung Mit einem Beitrag von Peter Longerich: Deportationen. Ein historischer Überblick. Frankfurt am Main, 2003, 64 S., ISBN 3-932883-24-1 Konfrontationen Heft 4 Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer Todesmärsche und Befreiung › Todesmärsche › Befreiung der Lager › »Ein Leben auf’s Neu« – Jüdische Displaced Persons 1945 bis 195 Frankfurt am Main, 2003, 56 S., ISBN 3-932883-29-2 Konfrontationen Heft 6 Alle Hefte der »Konfrontationen«-Reihe sind zum Preis von € 7,60 (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich. »Ich habe immer ein bisschen Sehnsucht und Heimweh …« Marianne Schwab, geboren 1919 in Bad Homburg, Öffentlicher Vortrag 1992 »Meine Eltern haben mir den Abschied leicht gemacht« Dorothy Baer, geboren 1923 in Frankfurt am Main Interview 1992 »…dass wir nicht erwünscht waren« Martha Hirsch, geboren 1918 in Frankfurt am Main, und Erwin Hirsch, geboren in Straßburg Interview 1993 »Rollwage, wann willst Du endlich aufwachen?« Erinnerungen an die Kinderlandverschickung 1940–1945 Herbert Rollwage, geboren 1929 in Hamburg Ausschnitte aus einem Gespräch im Rahmen eines Seminars des Fritz Bauer Instituts 1996 »Returning from Auschwitz« Bernhard Natt, geboren 1919 in Frankfurt am Main Interview 1999 Ein Leben zwischen Konzentrations-lager und Dorfgemeinschaft Ruth Lion, geboren 1909 in Momberg (Hessen) Interview 1998 Kindheit und Jugend im Frankfurter Ostend 1925–1941 Norbert Gelhardt, geboren 1925 in Frankfurt am Main, Interview 2000 »Heim ins Reich« Margarethe Eichberger, geb. Drenger; geboren 1926 im Baltikum (heute Lettland), Interview 2001 Die DVDs können entliehen werden über: Medienzentrum Frankfurt e.V., Ostbahnhofstr. 15, 60314 Frankfurt am Main, Tel.:. 069.949424-0, [email protected] www.medienzentrum-frankfurt.de Die DVDs können erworben werden (€ 5,– plus Versandkosten), Bestelladresse: Karl Marx Buchhandlung, Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main, Tel.: 069.778807, [email protected] www.karl-marx-buchhandlung.de Einsicht 15 Frühjahr 2016 Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.): Der Auschwitz-Prozess Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente DVD-ROM, ca. 80.000 S. Berlin: Directmedia Verlag, 2004, Die Digitale Bibliothek 101, € 45,– ISBN 3-89853-501-0 Eine Neuauflage der DVD ist für € 19,90 (zzgl. Versand) zu beziehen über: www.versand-as.de Hessischer Rundfunk (Hrsg.) Der große Raub (D 2002) Wie in Hessen die Juden ausgeplündert wurden Ein Film von Henning Burk und Dietrich Wagner, Hrsg. in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut DVD zur Ausstellung »Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933– 1945« des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks DVD, hr media, 2007, 45 Min., € 10,– ISBN 978-3-89844-311-1 Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Fritz Bauer Gespräche, Interviews und Reden aus den Fernseharchiven 1961‒1968 Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt: »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt – NS-Verbrechen vor Gericht« Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 ISBN: 978-3-8488-4017-5 http://absolutmedien.com/film-1565 Fritz Bauer Institut, Absolut MEDIEN (Hrsg.) Auschwitz vor Gericht (D 2013) Strafsache 4 Ks 2/63 (D 1993) Zwei Dokumentationen von Rolf Bickel und Dietrich Wagner DVD-Booklet mit einem einführenden Text von Werner Renz, Fritz Bauer Institut Extras der DVD-ROM: ergänzende Texte und Materialien zum Auschwitz-Prozess (pdf-Dateien), zusammengestellt von Werner Renz. Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4021 Regie: Rolf Bickel und Dietrich Wagner (hr) 2 DVDs, PAL, Mono, codefree, 4:3, Farbe + s/w, 220 Min., € 24,90, EAN: 978-3-8488-4021-2 http://absolutmedien.com/film-1569 Hrsg. von Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main Katalog zur gleichnamigen historisch-dokumentarischen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts Snoeck Verlag, Köln, 2004, 872 S., 100 farb. und 800 s/w Abb., € 49,80, ISBN 3-936859-08 Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.): Der Auschwitz-Prozess Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente DVD-ROM, ca. 80.000 S., Directmedia Verlag, Berlin, 2004, Digitale Bibliothek, Band 101, € 45,– ISBN 978-3-89853-801-5. Eine Neuauflage der DVD ist für € 10,– (zzgl. Versand) zu beziehen bei Versand-AS, Berlin: www.versand-as.de Eine Rettergeschichte. Arbeitsvorschläge zum Film »Schindlers Liste« Pädagogisches Begleitheft zum Oskar und Emile Schindler Lernzentrum im Museum Judengasse Frankfurt am Main Hrsg.: Jüdisches Museum Frankfurt und Fritz Bauer Institut. Texte ausgewählt und bearbeitet von Gottfried Kößler und Martin Liepach. Pädagogische Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Band 5. Frankfurt am Main 2005, DIN-A 4 Broschüre, 28 S., € 4,– (zzgl. Versand), ISBN 3-9809814-1-X. Zu beziehen: www.juedischesmuseum.de/408.html Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.) Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik Essayband zur Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2010, 192 S., 100 farb. Abb., € 24,95, ISBN 978-3-89479-583-2 Fritz Backhaus, Liliane Weissberg, Raphael Gross (Hrsg.) Juden. Geld. Eine Vorstellung Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt und des Fritz Bauer Instituts. Ausstellung vom 25. April bis 6. Oktober 2013 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, 436 S., zahlr. Abb., € 19,90 ISBN 978-3-59339-923-2 111 Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Impressum Kontakt: Fritz Bauer Institut Norbert-Wollheim-Platz 1 D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de Besuchen Sie uns auch auf facebook: www.facebook.com/fritz.bauer.institut Einsicht 15 Bulletin des Fritz Bauer Instituts Frühjahrsausgabe, April 2016 8. Jahrgang ISSN 1868-4211 Titelabbildung: Armenische Bevölkerung flieht vor türkischen Massakern in Anatolien, 1915. Foto: ullstein bild – Pictures from History Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse SWIFT/BIC: HELADEF1822 IBAN: DE91 5005 0201 0000 3219 01 Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Finanzamt Frankfurt am Main III Redaktion: Werner Konitzer (V.i.S.d.P.), Werner Lott, Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, Werner Renz Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Lektorat: Gerd Fischer Gestaltung/Layout: Werner Lott Herstellung: Vereinte Druckwerke Frankfurt am Main Erscheinungsweise: zweimal jährlich (April/Oktober) Auflage: 5.500 Manuskriptangebote: Textangebote zur Veröffentlichung in Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts bitte an die Redaktion. Die Annahme von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer Begutachtung durch die Redaktion. Für unverlangt eingereichte Manuskripte, Fotos und Dokumente übernimmt das Fritz Bauer Institut keine Haftung. QR-Code: Link zu allen bisher erschienenen Ausgaben von Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts als pdf-Dateien. [fritz-bauer-institut.de/ einsicht.html] 112 Impressum Copyright: © Fritz Bauer Institut Stiftung bürgerlichen Rechts Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Einsicht erscheint mit Unterstützung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Foto: Schindler-Foto-Report Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main. Aufgaben des Fördervereins Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegründet worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das ideelle und finanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Der Verein sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und die Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Öffentlichkeit die Erkenntnisse, die das Institut im universitären Raum mit hohen wissenschaftlichen Standards erarbeitet hat. Er schafft neue Kontakte und stößt gesellschaftliche Debatten an. Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zunehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Projekte und den Ausbau des Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Bestand langfristig zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen reflektieren und bereichern sollen. Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts zum Vorzugspreis im Abonnement beziehen. Vorstand des Fördervereins Jutta Ebeling (Vorsitzende), Brigitte Tilmann (stellvertretende Vorsitzende), Gundi Mohr (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Eike Hennig (Schriftführer), Beate Bermanseder, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Mai, Klaus Schilling, David Schnell (Beisitzer/innen) Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürgerschaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stiftungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. Werden Sie Mitglied! Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! Frankfurter Sparkasse, SWIFT/BIC: HELADEF1822 IBAN: DE43 5005 0201 0000 3194 67 Werben Sie neue Mitglieder! Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Gerne senden wir Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-39 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de NEUERSCHEINUNGEN FRÜHJAHR 2016 METROPOL VERLAG | ANSBACHER STR. 70 | 10777 BERLIN T: (030) 23 00 46 23 | F: (030) 2 65 05 18 | M: [email protected] GÖTZEN Die Autobiografie von Adolf Eichmann Herausgegeben und kommentiert von Raphael Ben Nescher ISBN: 978-3-86331-291-6 557 Seiten · Hardcover · 39,00 Euro 1960 wird Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst in Argentinien entführt, nach Israel gebracht und dort vor Gericht gestellt. Im Gefängnis verfasst er seine Memoiren »Götzen«, ein Täterzeugnis, in dem der millionenfache Mord nicht geleugnet, aber gerechtfertigt wird. Die umfassend kommentierte Edition gibt Einblick in das Denken eines Mannes, der eifrig und pflichtbewusst eine zentrale Rolle bei der Durchführung des Massenmordes eingenommen hat. Oliver von Wrochem (Hrsg.) unter Mitarbeit von Christine Eckel NATIONALSOZIALISTISCHE TÄTERSCHAFTEN Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie ISBN: 978-3-86331-277-0 535 Seiten · 24,00 Euro Der Sammelband bündelt mit 34 Beiträgen Forschungsergebnisse der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu NSTäterschaft und ihren Folgen. Neben wissenschaftlichen Artikeln sind Berichte von Täter-Nachkommen enthalten, die ihre Sicht auf die Wirkungen in Familie und Gesellschaft darlegen. Die beiliegende DVD versammelt zehn filmische Porträts, in denen Kinder und Enkel von NS-Tätern von ihrer Auseinandersetzung mit Täterschaft in der Familie erzählen. Konzentrationslager. Studien zur Geschichte des NS-Terrors , Heft 1 Detlef Garbe · Günter Morsch (Hrsg.) KRIEGSENDVERBRECHEN ZWISCHEN UNTERGANGSCHAOS UND VERNICHTUNGSPROGRAMM ISBN: 978-3-86331-282-4 167 Seiten · 16,00 Euro Die im Auftrag der AG der KZ-Gedenkstätten herausgegebene Zeitschrift versteht sich als Forum zur Erforschung der NS-Zwangslager, das allen mit dem Lagersystem und seiner Nachgeschichte verbundenen Themen Raum geben und die Debatte über den Nationalsozialismus und staatliche Massengewalt im 20. Jahrhundert anregen möchte. Heft 1 befasst sich mit der Endphase des NS-Regimes, die mit einer kaum noch für möglich gehaltenen Steigerung von Terror und Gewalt einherging. International Holocaust Remembrance Alliance (Ed.) BYSTANDERS, RESCUERS OR PERPETRATORS? The Neutral Countries and the Shoah ISBN: 978-3-86331-287-9 336 Seiten · 19,00 Euro The volume offers a trans-national, comparative perspective on the varied reactions of the neutral countries to the Nazi persecution and murder of the European Jews. It examines the often ambivalent policies of these states towards Jewish refugees as well as towards their own Jewish nationals living in German-occupied countries. By breaking down persistent myths, it contributes to a more nuanced understanding of an under-researched chapter of Holocaust history. Günter Morsch (Hrsg.) Insa Eschebach · Katharina Zeiher (Hrsg.) Verena Haug Mendel Szajnfeld DIE KONZENTRATIONSLAGER-SS 1936–1945: EXZESS- UND DIREKTTÄTER IM KZ SACHSENHAUSEN Eine Ausstellung am historischen Ort RAVENSBRÜCK 1945 – DER LANGE WEG ZURÜCK INS LEBEN Ausstellungskatalog AM »AUTHENTISCHEN« ORT Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik ERZÄHL, WAS MIT UNS GESCHEHEN IST! Erinnerungen an den Holocaust ISBN: 978-3-86331-288-6 304 Seiten · 24,00 Euro Der Eingangsturm A war der zentrale Bezugspunkt einer »Geometrie des totalen Terrors«. Hier hatte die Abteilung »Schutzhaftlager« der KZ-Kommandantur ihren Sitz. Zu ihr gehörten der Lagerführer sowie die Rapport- und Blockführer, die mit absoluter Gewalt über die Häftlinge herrschten. Den Exzess- und Direkttätern konnten die Häftlinge jederzeit zum Opfer fallen. Der Katalog enthält alle Texte und zahlreiche Abbildungen der Dauerausstellung. ISBN: 978-3-86331-270-1 264 Seiten · 22,00 Euro Nach der Befreiung kehrten viele der ca. 35 000 Überlebenden des KZ Ravensbrück und seiner Außenlager zurück in die Heimat oder gingen ins Exil. Der Band versammelt Erinnerungen Überlebender an die Auflösung des KZ und an die ersten Schritte in die Freiheit. Er dokumentiert die Gefahren und Herausforderungen, denen die Frauen auf ihrem Weg durch das zerstörte Europa begegneten, und schildert die ersten Versuche eines neuen Lebens. ISBN: 978-3-86331-267-1 320 Seiten · 22,00 Euro Gedenkstätten gelten vor allem wegen ihrer »Authentizität« als geeignete Lernorte für die Auseinandersetzung mit Verbrechen der Vergangenheit. Dies suggeriert eine unmittelbare Begegnung und verschweigt die aufwendigen Aushandlungen von Geschichte vor Ort, die erst zum Verstehen beitragen. Was in den Führungen und Seminaren geschieht, entzog sich bisher der Analyse. Die Studie gibt einen Blick in die gedenkstättenpädagogische Praxis zu NS-Verbrechen. ISBN: 978-3-86331-275-6 304 Seiten · Hardcover · 22,00 Euro Als junger Mann erlebt Mendel Szajnfeld den Holocaust im besetzten Polen in einem Kleinstadt-Ghetto, als Zwangsarbeiter sowie als Häftling des Lagers Plaszów. Szajnfeld zeichnet ein eindringliches Bild vom Leben und Leiden abseits der bekannten Gettos und Lager wie Warschau oder Auschwitz, von der Befreiung sowie vom verschlungenen Weg eines Überlebenden von Polen über Deutschland nach Norwegen. A L L E W E I T E R E N T I T E L F I N D E N S I E U N T E R : W W W. M E T R O P O L-V E R L A G . D E
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