Einsicht 15 - Fritz Bauer Institut

Einsicht 15
Bulletin des
Fritz Bauer Instituts
,
Fritz Bauer Institut
Geschichte und
Wirkung des Holocaust
Der Völkermord an den Armeniern 1915/16
Mit Beiträgen von Rolf Hosfeld,
Andreas Meier und Rainer Huhle
06.04. — 01.06.2016
Bildungsstätte Anne Frank
Ein kleines in Bächlein
Beispiel Um
»Es sind noch zu
viele Fragen offen…« *
Um ein triviales Beispiel zu nehmepn,
von uns unterzieht sich
Verhandlungen über den NSU-Komplex
Aber wer hat irgend ein Recht
einen Menskkchen zu tadeln, der die Entscheidung trifft, eine Freude zum
Die Copy warnte
das Blindtextchen, da, wo
Ausstellung &
Veranstaltungen
Weitere Informationen: bs-anne-frank.de/nsu & boell-hessen.de Weit hinten, hinter dendass Wortbergen, frn
der Länder Vokalin und Konsonandt Öffnungszeiten: Dienstag – Freitag: 12.30 — 17 Uhr, Sonntag: 12 — 18 Uhr.
tien lebe n die Blin Ort: Bildungsstätte Anne Frank, Hansaallee 150, Frankfurt/Main. Semantik, eines Es packte
Gefördert u.a. vom Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt. h sein Initial in deni Ge ürtel
seinund * Gamze Kubasik, Tochter des achten Mordopfers, Mehmet Kubasik, zitiert nach SZ-Magazin 10/2013
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
1915/16 fielen im Osmanischen Reich
Hunderttausende Armenier systematischen Vertreibungen und organisierten
Massakern zum Opfer. Ihre genaue
Zahl lässt sich nicht mehr ermitteln, die
Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen Toten. Vor dem Ersten Weltkrieg
hatten vermutlich etwa zwei Millionen
Armenier im Osmanischen Reich gelebt.
Zahlreiche Staaten erkennen mittlerweile an, dass es sich hierbei um
einen geplanten Genozid gehandelt
hatte. Ende April 2015 sprachen mit
Bundespräsident Joachim Gauck und
Bundestagspräsident Norbert Lammert
erstmals auch hochrangige Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland
bei offiziellen Veranstaltungen unmissverständlich von einem Völkermord.
In der Türkei wird dieser bis heute von
staatlicher Seite bestritten. Es werden
bis zu 300.000 Opfer eingestanden,
die im Zuge von Deportationen ums
Leben gekommen seien, die zum Schutz des Staates notwendig
gewesen seien. Wer anderes behauptet, dem drohen strafrechtliche
Konsequenzen. In einem 2011 bestätigten Urteil etwa war mit dem
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ein führender türkischer
Intellektueller zu einer (geringen) Geldstrafe verurteilt worden, weil
er 2005 in einem Interview von der Ermordung von einer Million
Armeniern und 30.000 Kurden gesprochen hatte.
Diese Ausgabe der Einsicht widmet sich »Aghet«, der »Katastrophe«, wie Armenier heute den Massenmord während des Ersten
Weltkriegs bezeichnen. Dabei geht es nicht um Fragen der vergleichenden Genozidforschung. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich
vielmehr auf ereignis- und gedächtnisgeschichtliche Verbindungslinien zwischen den Morden an den Armeniern und den von Deutschen
im Nationalsozialismus begangenen Massenverbrechen.
Rolf Hosfeld befasst sich mit den Ereignissen im Osmanischen
Reich selbst. Er skizziert die Vorgeschichte, die politische und militärische Entwicklung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und dem daraus
resultierenden Entschluss zur Deportation der armenischen Minderheit sowie dessen Umsetzung. Besonderes Augenmerk widmet er der
Haltung deutscher Diplomaten und Offiziere im Osmanischen Reich,
das ein enger Verbündeter des Deutschen Kaiserreichs gewesen war.
Zum Zeugen des Massenmords war 1915/16 auch der promovierte Jurist Armin T. Wegner geworden, der als Angehöriger einer
deutschen Sanitätseinheit vorübergehend im Osmanischen Reich
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Dienst geleistet hatte. In seinen Tagebüchern und mit dem Fotoapparat hielt er das Schicksal der Armenier fest. Andreas Meier schildert,
wie neben Wegner auch Franz Werfel plante, den Massenmord in
einem Roman zu verarbeiten. Während Werfels Die vierzig Tage
des Musa Dagh schließlich zu einem Welterfolg wurde, vollendete
Wegner, der als Pazifist 1933/34 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert worden war, sein Werk nicht.
Rainer Huhle befasst sich mit der Entstehung und Entwicklung
des Begriffs »Genozid« bzw. »Völkermord«. Dieser geht auf den
jüdisch-polnischen Juristen Raphael Lemkin zurück, der in seinem
1943 im amerikanischen Exil entstandenen Buch über die NS-Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg ein Kapitel mit »Genozid«
überschrieben hatte. Darin skizzierte er nicht allein das Schicksal
der europäischen Juden, sondern jenes zahlreicher nationaler und
ethnischer Gruppen. Lemkin war nach dem Zweiten Weltkrieg – nach
eigener Aussage nicht nur geprägt vom Völkermord an der europäischen Judenheit, sondern auch vom Massenmord an den Armeniern
– maßgeblich an der Formulierung der Genozid-Konvention der
Vereinten Nationen von 1948 beteiligt.
Unser Gastprofessor im Wintersemester 2015/16, Nicolas Berg,
dem wir noch einmal herzlich für sein Wirken im und für das Institut
danken möchten, befasst sich in seinem Beitrag mit »Anna Seghers
und Victor Klemperer in der frühen DDR«. Beide Intellektuelle
handelten nach 1945 mit sich selbst das Verhältnis ihrer deutschen
und jüdischen Identität neu aus. Dies taten sie aber, wie Berg zeigt,
nicht in ihren Hauptwerken, sondern vielmehr in Briefen, Tagebuchnotizen und anderen nicht für die Öffentlichkeit gedachten Schriften.
Werner Renz ist ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fritz
Bauer Instituts der ersten Stunde. Seit 1995 war er nicht nur als
Leiter des Archivs und der Bibliothek eine zentrale Säule des Hauses, sondern er trug mit seinen zahlreichen und pointierten Beiträgen vor allem zur Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse
und zu Fritz Bauers Werk und Wirken entschieden zur inhaltlichen
Profilierung des Instituts bei. Am 31. März 2016 ist Werner Renz in
den Ruhestand getreten. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
Instituts möchten ihm für seine Arbeit ganz herzlichen Dank sagen
und hoffen sehr, dass er uns nicht nur mit seiner Expertise, sondern
auch in der Projektarbeit weiter eng verbunden bleibt.
Wir möchten Sie gerne auch auf zwei Neuerscheinungen in
unserer Wissenschaftlichen Reihe aufmerksam machen. Im Juni erscheint Isabell Trommers Studie Rechtfertigung und Entlastung, die
sich mit »Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland« befasst.
Und im September wird die Dissertation unserer Kollegin Jenny
Hestermann zum Thema »Inszenierte Versöhnung. Diplomatische
Reisen und die Entwicklung deutsch-israelischer Beziehungen in
den Jahren 1957 bis 1984« in den Buchhandel kommen.
apl. Prof. Dr. Werner Konitzer und Dr. Jörg Osterloh
Frankfurt am Main, im März 2016
Abb. oben: Werner Konitzer, unten: Jörg Osterloh
Fotos: Werner Lott
1
Inhalt
Neuerscheinungen
Aktuelle Publikationen des Instituts
12
12
13
Isabell Trommer: Rechtfertigung und Entlastung.
Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland
Jenny Hestermann: Inszenierte Versöhnung. Diplomatische
Reisen und die Entwicklung deutsch-israelischer
Beziehungen in den Jahren 1957 bis 1984
Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.): Zeugnisformen. Berichte,
Künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten
Nachrichten und Berichte
Information und Kommunikation
95
96
96
96
97
Einsicht
Forschung und Vermittlung
Fritz Bauer Institut
Im Überblick
4
Das Institut / Mitarbeiter / Gremien
14
22
Veranstaltungen
Halbjahresvorschau
6
7
8
8
8
9
10
10
11
11
11
2
Lehrveranstaltungen
Festakt: Nur die Spitze des Eisbergs. Einweihung des
Fritz Bauer-Denkmals von Tamara Grcic
Vortrag von Susanne Heim: Die Judenverfolgung
in Deutschland 1938 und die internationale
Flüchtlingskonferenz von Evian
Vortrag von Marianne Leuzinger-Bohleber: Psychoanalytische Überlegungen zum Projekt Step-by-Step in der
Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Darmstadt
Buchvorstellung: Raul Hilberg, Anatomie des Holocaust –
Essays und Erinnerungen
7. Blickwinkel-Tagung: Kommunikation.
Latenzen – Projektionen – Handlungsfelder
Fortbildungstag: Zwangsarbeit im Nationalsozialismus.
Archivpädagogische Zugänge mit Dokumenten aus dem
International Tracing Service (ITS), Bad Arolsen
Symposium: Generations and Transfer of Knowledge.
German History and Literature between Israel and Germany
Vortrag von Joachim Tauber: Holocaust in Litauen.
Historisches Geschehen und der schwierige Umgang mit
der Vergangenheit
Ausstellung in Mainz: Legalisierter Raub
Ausstellung in Köln: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt
30
38
Der Völkermord an den Armeniern 1915/16
Unter den Augen der Weltöffentlichkeit
Der Völkermord an den Armeniern / Rolf Hosfeld
Aghet. Wie der armenische Völkermord zum
Romanstoff wurde / Andreas Meier
Völkermord. Kurze Geschichte eines unglücklichen
Begriffs / Rainer Huhle
Das Ich im Wir. Anna Seghers und Victor Klemperer
in der frühen DDR / Nicolas Berg
Rezensionen
Buchkritiken
50
52
Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher
Rezensionen: Aktuelle Publikationen
zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
98
99
100
101
102
104
Aus dem Institut
Neuausgabe: Erste Fritz-Bauer-Biografie wieder verfügbar
Wilhelm Leuschner-Medaille 2015: Jutta Ebeling
German Design Award: Fritz-Bauer-Ausstellung
In ehrendem Gedenken: Iwa Deutsch sel. A.
105
Aus dem Förderverein
Berufungsverfahren: Neue Holocaust-Professur und
Direktion des Fritz Bauer Instituts
107
Aus Kultur und Wissenschaft
Micha Brumlik: Buber-Rosenzweig-Medaille 2016
Micha Brumlik: Franz-Rosenzweig-Gastprofessur 2016
Tom Segev: Friedenspreis der Geschwister Korn und
Gerstenmann-Stiftung 2015
Eine Ausnahme: Überleben. Freundschaft. Widerstand
Wiedereröffnung: Museum Judengasse
Jubiläumsjahr 2015: Zwei Publikationen zum deutschisraelischen Jugendaustausch
94
Inhalt
Angebote und Kontakt
Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle.
Erste Erfahrungen mit Besuchergruppen
Neueröffnung des Museums Judengasse.
Pädagogische Angebote zur neuen Dauerausstellung
106
107
Legalisierter Raub. Der Fiskus und die
Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945
Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album.
DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948
Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz.
Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus
Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht
Publikationen
des Fritz Bauer Instituts
108
Jahrbuch / Wissenschaftliche Reihe / Schriftenreihe u.a.
112
Impressum
Ein Dokument
der Zeitgeschichte
2015 wurde der frühere SS-Mann Oskar
Gröning vom Landgericht Lüneburg
wegen Beihilfe zum Mord in 300 000
Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Die
letzten Zeugen dokumentiert
d
den Prozess
Tag für Tag: die Aussagen des Angeklagten, die Plädoyers von Staatsanwaltschaft,
Nebenklägern und Verteidigern und die
Aussagen der Holocaust-Überlebenden
und ihrer Nachkommen.
Pädagogisches Zentrum
Frankfurt am Main
92
92
Ausstellungsangebote
Wanderausstellungen des Instituts
Paperback
Hrsg. von Peter Huth
277 S. · 8 Abb. · € 12,95
ISBN 978-3-15-011057-7
Hrsg. von Peter Huth
277 S. · 8 Abb. · € 4,80
ISBN 978-3-15-017088-5
Schulausgabe
www.reclam.de
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Reclam
3
Fritz Bauer Institut
Im Überblick
Mitarbeiter und Arbeitsbereiche
Kommissarischer Direktor
apl. Prof. Dr. Werner Konitzer
Administration
Dorothee Becker (Sekretariat)
Werner Lott (Technische Leitung/Digital- und Printmedien)
Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements)
Das Fritz Bauer Institut
Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, unabhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und
dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis in die
Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968)
und ist seinem Andenken verpflichtet. Bauer widmete sich als jüdischer
Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechtssystems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt
hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen.
Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land
Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz
Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben gerufen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität
assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus
Westend in Frankfurt am Main.
Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Bereiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit
dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut
das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das
Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus
diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte
sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie
für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung.
Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wissenschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust
und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Dr. Christoph Dieckmann (Zeitgeschichtsforschung)
Dr. des. Jenny Hestermann (Zeitgeschichtsforschung)
Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung)
Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination)
Bibliothek, Archiv und Dokumentation
N.N. (Archiv und Dokumentation)
N.N. (Bibliothek)
Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts
und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main
Dr. Türkân Kanbıçak
Gottfried Kößler (stellv. Direktor)
Manfred Levy
Dr. Martin Liepach
Sophie Schmidt
Wissenschaftliche Hilfskräfte
Maximilian Eigner
Laura S. Tittel
Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Projekten
Dr. des Irene Aue-Ben-David, Dr. Kata Bohus, Rolf Erdorf,
Dr. Lena Folianty, Dr. Wolfgang Geiger, Dr. Iwona Guść,
Dr. David Johst, Monica Kingreen, Dagi Knellessen,
Dr. Sharon Livne, Ursula Ludz, Dr. Ingeborg Nordmann,
David Palme, Werner Renz, Dr. Katharina Stengel,
Diane Webb, Dr. Gerben Zaagsma
Rat der Überlebenden des Holocaust
Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin)
Siegmund Freund, Inge Kahn, Dora Skala
Stiftungsrat
Wissenschaftlicher Beirat
Für das Land Hessen:
Volker Bouffier
Ministerpräsident
Boris Rhein
Minister für Wissenschaft und Kunst
Prof. Dr. Joachim Rückert
Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Moritz Epple
Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Prof. Dr. Wolfgang Benz
Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen
Universität Berlin
Prof. Dr. Dan Diner
Hebrew University of Jerusalem
Prof. Dr. Atina Grossmann
The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York
Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber
Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main
Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. Walter H. Pehle
Verlagslektor und Historiker, Dreieich-Buchschlag
Prof. Dr. Peter Steinbach
Universität Mannheim
Für die Stadt Frankfurt am Main:
Peter Feldmann
Oberbürgermeister
Prof. Dr. Felix Semmelroth
Dezernent für Kultur und Wissenschaft
Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.:
Jutta Ebeling
Vorsitzende
Herbert Mai
2. Vertreter des Fördervereins
Abb.: Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main, im Vordergrund
das IG Farben-Haus. Dort hat das Fritz Bauer Institut seinen Sitz im 5. Obergeschoss
des 3. Querriegels von links. Foto: Goethe-Universität Frankfurt am Main
Wir trauern um unser Ratsmitglied
Dr. Siegmund Kalinski sel. A. (geboren am 21. März 1927 in
Krakau, gestorben am 10. Dezember 2015 in Frankfurt am Main)
Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main:
Prof. Dr. Birgitta Wolff
Universitätspräsidentin
Prof. Dr. Susanne Schröter
Dekanin, Fachbereich Philosophie und
Geschichtswissenschaften
4
Fritz Bauer Institut
Einsicht 15 Frühjahr 2016
5
Veranstaltungen
Halbjahresvorschau
Lehrveranstaltung
Lehrveranstaltung
Festakt
Jüdische Geschichte
im Schulbuch
Gedenkstätte Buchenwald –
viertägige Exkursion
Pädagogische Angebote für
Haupt- und Realschüler
Nur die Spitze des Eisbergs
Einweihung des Fritz-BauerDenkmals von Tamara Grcic
Dr. Martin Liepach, Übung, Donnerstag,
16.00–18.00 Uhr (14. April bis 14. Juli 2016),
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus
Westend, IG Farben-Haus, Raum 4.401
Lehrveranstaltung
Hitlers Weltanschauung
Dr. Jörg Osterloh, Übung, Blockseminar, einführende
Sitzung Mittwoch, 13. April 2016, 14.00–16.00 Uhr,
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus
Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401
Quellen befassen sich mit den zentralen Aspekten seiner Weltanschauung, vor allem
»Volk«, »Blut«, »Rasse«, »Lebensraum«,
Antisemitismus und Antibolschewismus.
Die Teilnehmerzahl ist auf 25 begrenzt;
Teilnahme ausschließlich nach persönlicher
Anmeldung per Mail an: [email protected]
Bereits im September 1919
erklärte Adolf Hitler in einem Brief, »letztes Ziel muß aber unverrückbar die Entfernung der Juden sein«.
Bei dem Schreiben handelt es sich um die
erste überlieferte politische Stellungnahme
von ihm. Nach dem gescheiterten Putschversuch im November 1923 verfasste er im
darauffolgenden Jahr in der Landsberger
Festungshaft den ersten Band von Mein
Kampf, 1925/26 den zweiten Band. Er schilderte hierin, ebenso lückenhaft wie teilweise falsch, seine Autobiographie, aus der er
seine Anschauungen herleitete, beklagte
die politische und gesellschaftliche Lage in
Deutschland und erörterte seine politischen
Standpunkte.
Neben Mein Kampf nimmt die Übung
auch weitere Reden und Veröffentlichungen
Hitlers in den Blick. Die zu analysierenden
Einführende Literatur:
Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–
1924, hrsg. von Eberhard Jäckel zusammen
mit Axel Kuhn, München 1980; Eberhard
Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf
einer Herrschaft, Stuttgart 1991 (zuerst.
Tübingen 1969); Barbara Zehnpfennig,
Mein Kampf. Weltanschauung und Programm, Studienkommentar, München 2011;
Christian Hartmann, Otmar Plöckinger,
Roman Töppel, Thomas Vordermayer
(Hrsg.), Hitler, Mein Kampf. Eine kritische
Edition, München, Berlin 2016; Othmar
Plöckinger (Hrsg.), Quellen und Dokumente zur Geschichte von »Mein Kampf«
1924–1945, Stuttgart 2016.
6
Veranstaltungen
In der Veranstaltung werden
einschlägige Geschichtslehrbücher im Hinblick auf die Thematisierung der jüdischen Geschichte im historischen Längsschnitt (Mittelalter bis NS-Zeit)
und damit verbundener Themen analysiert.
Jüdische Geschichte wird im Geschichtsunterricht vorrangig in Verbindung
mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust unterrichtet. Die Materialien in den
gegenwärtigen Schulbüchern werfen dazu
zahlreiche Fragen auf. Aber nicht nur für
diese Epoche gibt es Fragen an die jüdische
Geschichte: Wie werden Antisemitismus
und Verfolgungsgeschichte im Vergleich
zur allgemeinen jüdischen Geschichte thematisiert und in welchem Verhältnis stehen
sie zueinander? Erscheinen Juden nicht
nur als Objekte und Opfer von Geschichte,
sondern auch als Träger einer eigenen Kultur und Mitgestalter der Moderne? Erfolgt
die Thematisierung auf der Grundlage einer Wissenschaftsorientierung, um gegen
stereotype Bilder anzugehen, oder werden
diese unreflektiert reaktiviert?
Die Analyse der Schulgeschichtsbücher wird Aspekte der historisch-sachlichen
Faktizität und ihrer politisch-moralischen
Bewertung mit den Formen ihrer didaktischen Umsetzung im Lehrbuch (Autorentext, Text- und Bildquellen, Arbeitsaufträge)
verknüpfen.
Voraussetzung: Grundkenntnisse über die
zu behandelnden Epochen.
Voranmeldung erforderlich wegen begrenzter Teilnehmerzahl! Bitte E-Mail an:
[email protected]
Gottfried Kößler, Exkursion: Dienstag, 17. Mai bis
Freitag, 20. Mai 2016 in der Gedenkstätte Buchenwald, Vor- und Nachbereitungssitzungen: montags,
18. April, 2. und 30. Mai, jeweils 10.00–12.00 Uhr,
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus
Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401
Die Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar umfasst
das Gelände und die Relikte des ehemaligen Konzentrationslagers, der SS-Kasernen
und des ehemaligen stalinistischen Speziallagers, das Mahnmal aus der DDR-Zeit, die
im April 2016 neu eröffnete Ausstellung zur
Geschichte des Konzentrationslagers und
weitere Ausstellungen. Der Ort wird vorgestellt und mit Methoden erkundet, die auch
für Schülergruppen Anwendung finden. Der
Schwerpunkt liegt auf der selbständigen,
pädagogisch unterstützten Aneignung. Die
Angebote der pädagogischen Abteilung der
Gedenkstätte werden erläutert und erprobt.
Unterschiedliche historische Quellen und
Konzepte der pädagogischen Arbeit werden
diskutiert. Die Vor- und Nachbereitung dient
der Einführung in die Gedenkstättenpädagogik, in Grundlagen der Geschichte des KZ
Buchenwald und der Gedenkstätte.
Unterbringung und Verpflegung: Jugendbegegnungsstätte Buchenwald auf dem Gelände der Gedenkstätte;
Anreise: individuell, wird bei der Vorbereitung organisiert;
Kosten: ca. 100 Euro für Unterkunft und
Verpflegung, 30 Euro Anzahlung in der
ersten Sitzung.
Voranmeldung erforderlich wegen begrenzter Teilnehmerzahl! Bitte E-Mail an:
[email protected]
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Freitag, 13. Mai 2016, 14.00 Uhr, vor dem
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Zeil 42
Eine Kooperation des Fritz Bauer Instituts mit dem
Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und dem
Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, Dezernat
Kultur und Wissenschaft.
Vor vier Jahren entstand auf
Initiative des Fritz Bauer
Instituts die Idee für ein Denkmal, das an
das Wirken des Generalstaatsanwalts Fritz
Bauer und seine maßgebliche Rolle für das
Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses
in Frankfurt am Main erinnern soll. Im Auftrag des Magistrats entwarf die in Frankfurt
lebende Künstlerin Tamara Grcic ein Kunstwerk für den öffentlichen Raum, das aus
zwei miteinander korrespondierenden Teilen besteht: einem unbearbeiteten Naturstein
und zwei großen Bronzetafeln mit Texten.
Die kurzen Textfragmente sind Gedanken,
Zitate, in denen sich das Denken und die
Überzeugungen von Fritz Bauer abbilden.
Platz findet das Denkmal auf der Zeil vor
dem Oberlandesgericht Frankfurt.
Es sprechen:
› Dr. Roman Poseck, Präsident Oberlandesgericht Frankfurt am Main
› Prof. Dr. Helmut Fünfsinn, hessischer
Generalstaatsanwalt
› Prof. Dr. Felix Semmelroth, Dezernent für
Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt am Main
› Prof. Dr. Raphael Gross, ehemaliger
Direktor des Fritz Bauer Instituts
Die Künstlerin ist anwesend.
Kontakt
Kulturamt Frankfurt am Main
Dr. Jessica Beebone, Kunst im öffentlichen Raum
Brückenstr. 3–7, 60594 Frankfurt am Main
Tel. 069.212-74068, [email protected]
www.kultur-frankfurt.de
Zeitzeugen
des 20. Jahrhunderts
Armin T. Wegner
Die Austreibung
des armenischen
Volkes in die Wüste
Ein Lichtbildvortrag
Hg. von Andreas Meier.
Mit einem Nachwort
von Wolfgang Gust
215 S., 103 Abb., geb.,
Schutzumschlag
24,– € (D); 24,70 € (A)
ISBN 978-3-89244-800-6
»Armin T. Wegner war einer der mutigsten,
weltläufigsten, interessantesten deutschen
Schriftsteller des letzten Jahrhunderts.«
Volker Weidermann, FAZ
Armin T. Wegner
Rufe in die Welt
Manifeste und
Offene Briefe
Hg. von Miriam Esau
und Michael Hofmann.
Mit einem Nachwort
von Michael Hofmann
248 S., 1 Abb., geb.,
Schutzumschlag
24,90 € (D); 25,60 € (A)
ISBN 978-3-8353-1273-9
Armin T. Wegner war ein exemplarischer
Zeuge des 20. Jahrhunderts. Er hat die Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten des Totalitarismus buchstäblich am eigenen Leibe erfahren und hat Zeit seines Lebens Widerstand
geleistet – Widerstand des Geistes, wie er ihn
verstanden hat.
Jan Taubitz
Holocaust Oral
History und das
lange Ende der
Zeitzeugenschaft
332 S., 4 Abb., geb.,
Schutzumschlag
29,90 € (D); 30,80 € (A)
ISBN 978-3-8353-1843-4
Wie überlebt man das Überleben? Interviews mit Zeitzeugen des Holocaust in ihrem
historischen, institutionellen und medialen
Kontext.
www.wallstein-verlag.de
7
Fortsetzung der Vortragsreihe
Grenzen, Flucht,
Menschenrecht
Historische, psychoanalytische und sozialtheoretische
Aspekte der Flüchtlingsdiskussion
Vortragsreihe des Fritz Bauer Instituts in Kooperation
mit dem Institut für Sozialforschung an der GoetheUniversität Frankfurt, dem Sigmund-Freud-Institut –
Forschungsinstitut für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Frankfurt am Main und dem Förderverein
Fritz Bauer Institut e.V..
Die in die Europäische
Union flüchtenden Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen
Regionen stellen die einzelnen Länder vor
eine schwierige Situation. Wie soll das politische Handeln aussehen, wenn es einerseits um die Sicherung der Grundrechte,
andererseits um die Zunahme von Ängsten
und politische Verschiebungen geht? Aus
historischer, psychoanalytischer und politikwissenschaftlicher Perspektive soll die
aktuelle Debatte um das Asyl für Flüchtlinge
diskutiert werden.
PD Dr. Susanne Heim, Berlin
Die Judenverfolgung in
Deutschland 1938 und die
internationale Flüchtlingskonferenz von Evian
dem nationalsozialistischen Deutschland
und dem seit kurzem »angeschlossenen«
Österreich. Statt der erhofften internationalen Lösung war das Ergebnis der Konferenz
jedoch eine Kettenreaktion der Abschottung: Kein Staat war bereit, die überwiegend jüdischen Flüchtlinge, die durch die
Verfolgung mittellos geworden waren, in
größerer Zahl aufzunehmen. Antisemitismus
und die Rücksichtnahme auf den mächtigen
NS-Staat spielten dabei gewiss eine Rolle.
Hinter den Kulissen aber ging es wesentlich
darum, wer für die Kosten der Ansiedlung
und Integration der Flüchtlinge aufkommen
würde. Der Triumph des nationalstaatlichen
Egoismus hatte verheerende Folgen, zumal
die Zahl der Flüchtlinge mit jedem deutschen Expansionsschritt wuchs.
Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber,
Frankfurt am Main
Psychoanalytische
Überlegungen zum Projekt
Step-by-Step in der
Erstaufnahmestelle für
Flüchtlinge in Darmstadt
Dienstag, 21. Juni 2016, 18.15 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend,
Casino am IG Farben-Haus, Raum 1.801
Im Juli 1938 berieten im
französischen Evian die
Delegierten aus 32 Staaten über Aufnahmemöglichkeiten für die Flüchtlinge aus
Viele der Flüchtlinge aus
den Kriegsgebieten kommen traumatisiert nach Deutschland. Wie
können wir den belasteten Menschen helfen,
sich hier zurechtzufinden?
Der Vortrag vermittelt einen Einblick
in die psychoanalytische Arbeit in einem
Erstaufnahmelager im Rahmen eines Pilotprojekts. Anhand eines konkreten Beispiels
wird illustriert, was eine »aufsuchende«
Psychoanalyse in diesem gesellschaftlichen
Kontext bedeutet.
8
Veranstaltungen
Dienstag, 10. Mai 2016, 18.15 Uhr, Sigmund-FreudInstitut, Myliusstr. 20, Frankfurt am Main
Buchvorstellung
Raul Hilberg
Anatomie des Holocaust –
Essays und Erinnerungen
Zum 90. Geburtstag von Raul Hilberg
– Wiederentdeckte Texte und persönliche Essays. Buchvorstellung durch die
Herausgeber Walter H. Pehle und René
Schlott, Moderation: Nicolas Berg
Montag, 6. Juni 2016, 18.15 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend,
IG Farben-Haus, Raum 411
Raul Hilberg war der Erste, der verlässlich aus den
Quellen rekonstruierte, wie unfassbar viele
Juden in Europa während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Seitdem gilt er als
Doyen der Holocaust-Forschung. Für diesen
Band wurden zentrale, aber noch wenig bekannte Texte Hilbergs erstmals ins Deutsche
übersetzt. Darin behandelt er bis heute kontroverse Themen wie die Motive, die zum
Holocaust führten, oder die Rolle der Judenräte; er schildert aber auch seine bewegende
Reise 1979 nach Auschwitz und erzählt, wie
sein großes Werk Die Vernichtung der europäischen Juden entstand. Eine Mischung aus
historischen und sehr persönlichen Texten,
die uns den Forscher und Menschen Hilberg
neu entdecken lassen.
Raul Hilberg wurde am 2. Juni 1926 in
Wien geboren, 1939 musste er mit seinen
Eltern über Kuba in die USA auswandern.
Er gehörte zu den ersten Historikern, die
mit den in die USA überführten deutschen
Akten aus der NS-Zeit arbeiten konnten.
Sein dreibändiges Werk Die Vernichtung
der europäischen Juden (Fischer TB Band
24417) gehört zu den großen Meilensteinen
der Holocaust-Forschung. Hilberg lehrte bis
zu seiner Emeritierung 1991 Politikwissenschaften an der University of Vermont in
Burlington. Er starb am 4. August 2007 in
Williston, Vermont, USA.
Prof. Dr. Walter H. Pehle, Historiker und
Verlagslektor, Begründer und bis 2011 Herausgeber der sogenannten »Schwarzen
Reihe«: Die Zeit des Nationalsozialismus.
Dr. René Schlott, Historiker am Zentrum für
Zeithistorische Studien in Potsdam, arbeitet
derzeit an einer Biografie Raul Hilbergs.
Dr. Nicolas Berg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, war
zuletzt Gastprofessor am Fritz Bauer Institut.
Raul Hilberg
Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen
Hrsg. von Walter H. Pehle und René Schlott.
Aus dem Engl. von Petra Post und Andrea von Struve
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2016,
ca. 320 S., € 24,99, ISBN: 978-3-10-002505-0,
erscheint am 25. Mai 2016
Tagung
Kommunikation:
Latenzen – Projektionen –
Handlungsfelder
7. Tagung der Reihe
»Blickwinkel. Antisemitismuskritisches
Forum für Bildung und Wissenschaft«
Donnerstag, 9. bis Freitag, 10. Juni 2016
Rathaus der Stadt Kassel, Obere Königsstr. 8
Die Ablehnung des Antisemitismus ist Staatsräson der
Bundesrepublik Deutschland. Auch deshalb
werden antisemitische Ressentiments und
Vorurteile selten offen geäußert. Das heißt allerdings nicht, dass der Antisemitismus überwunden ist – weder in medialen, politischen
und pädagogischen noch in privaten Diskursen. Vielmehr artikuliert sich Antisemitismus
heute häufig in einer Form, die in der Forschung mit dem Konzept der »Kommunikationslatenz« beschrieben wird. »Gerüchte über
Juden« erscheinen als vorhandene, aber sozial
Einsicht 15 Frühjahr 2016
unerwünschte Einstellungen und Meinungen,
die in der Gesellschaft kommuniziert werden.
Dabei wird die Kommunikation im
Netz, in Internetforen und im Social Web
immer wichtiger. Im Jahr 2014 war laut jugendschutz.net vor dem Hintergrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nahen
Osten eine Zunahme antisemitischer Posts
in Sozialen Netzwerken festzustellen. Die
Neuen Medien fordern von der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Strategien: Die
Kommunikation erfolgt schneller und häufig
anonym, der Ton ist oft besonders aggressiv,
verletzend und manchmal sogar bedrohlich.
Vor diesem Hintergrund möchten wir
den Austausch von Wissenschaft und Praxis
aktiv fördern: Wie äußert sich Antisemitismus in der Alltagskommunikation, in der Gesellschaft und in der Bildung? Wie können
Wissenschaftler*innen und Pädagog*innen
mit Kommunikationslatenz umgehen? Wie
hat sich die Artikulation antisemitischer Stereotype und Weltbilder im digitalen Zeitalter
verändert – und was kann man dagegen tun?
Die Tagung widmet sich der Frage, wie Antisemitismus heute kommuniziert wird, und
setzt sich dabei auch mit dem Potential der
»alten« und »neuen« Medien in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit auseinander.
Veranstalter: Bildungsstätte Anne Frank,
Frankfurt am Main, Stiftung »Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft«, Zentrum für
Antisemitismusforschung der TU Berlin, Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main
Anmeldung: Begrenzte Teilnehmerzahl!
Ein Teilnahmebeitrag wird nicht erhoben.
Die Veranstalter übernehmen die Unterkunftskosten für eine Übernachtung in
Kassel bis zu einem begrenzten Kontingent.
Anmeldeschluss ist der 23. Mai 2016.
Kontakt
Bildungsstätte Anne Frank e.V., Ricarda Wawra
Hansaallee 150, 60320 Frankfurt am Main
Tel.: 069.56 000 233, [email protected]
www.bs-anne-frank.de
Tagungsmaterial und Berichte
www.stiftung-evz.de/blickwinkel
288 S., 18 Abb. u. 1 Karte. Geb.
€ 24,95
ISBN 978-3-406-67451-8
Rolf Hosfeld schildert eindringlich und historisch
genau den Völkermord an
den Armeniern, erläutert die
Hintergründe und klärt auf
über ein Thema, das immer
noch zu den Tabus der Geschichtsschreibung gehört.
„Eine vorzügliche Gesamtdarstellung.“
Martin Kröger, F.A.Z.
„Ein erstklassig recherchiertes, gut nachvollziehbares
historisches Panorama.“
Ingo Arend, die tageszeitung
C.H.BECK
WWW.C H BE C K. D E
9
Fortbildungstag
Symposium
Zwangsarbeit im
Nationalsozialismus
Archivpädagogische
Zugänge mit Dokumenten
aus dem International
Tracing Service (ITS),
Bad Arolsen
Generations and Transfer
of Knowledge
German History and
Literature between
Israel and Germany
Mittwoch, 15. Juni 2016, 9.00–17.00 Uhr, GoetheUniversität Frankfurt am Main, Campus Westend,
Norbert-Wollheim-Platz 1, IG Farben-Haus, Eisenhowersaal, Raum 1.314
Eine Kooperation mit dem ITS Bad Arolsen
Mehr als 13 Millionen Menschen aus den besetzten
Staaten mussten in Deutschland Zwangsarbeit leisten. Sie waren in Fabriken, Handwerksbetrieben, Kommunen, bei Landwirten, in Klöstern und Kirchen tätig. Oft
wurden sie von der deutschen Bevölkerung
abgesondert und strenger staatlicher Reglementierung unterworfen.
An diesem Fortbildungstag werden
archivpädagogische Zugänge zum Thema
»Zwangsarbeit im Nationalsozialismus«
vorgestellt. Anhand von Praxisübungen
soll vermittelt werden, wie Dokumente über
Zwangsarbeit aus dem ITS im Unterricht
und in der Bildungsarbeit eingesetzt werden können. Einen Schwerpunkt bildet die
Auseinandersetzung mit lokalhistorischen
Quellen zum Rhein-Main-Gebiet.
Montag, 18., und Dienstag, 19. Juli 2016
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus
Westend, Casino am IG Farben-Haus, Raum 823
Veranstalter: Fritz Bauer Institut in Zusammenarbeit
mit The Van Leer Institute Jerusalem und dem Franz
Rosenzweig Minerva Center Jerusalem, gefördert
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Die Veranstaltung findet überwiegend in englischer
Sprache statt.
Als die Disziplinen Deutsche Geschichte und Germanistik an israelischen Universitäten ab
den frühen 1970er Jahren sukzessive eingeführt wurden, war dies ein Politikum und
sorgte zum Teil für hitzige Debatten. Im
Laufe der Jahrzehnte formten und stifteten
die entstehenden Kontakte und Freundschaften die deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen. Sie führten in vielen Fällen zu
einer institutionalisierten Kooperation. Die
Zusammenarbeit in Forschungsprojekten
und Tagungen ist heute ebenso eingespielt
wie umfangreich.
Die zweite internationale Tagung in
unserem bilateralen Forschungsprojekt
beschäftigt sich mit der Frage, auf welche
Weise der deutsch-israelische Wissenstransfer in den Disziplinen Geschichte und Germanistik begann und sich etablierte. Wir
möchten insbesondere untersuchen, inwiefern der generationelle Wandel Einfluss
auf den Verlauf der Zusammenarbeit hatte.
Theoretische Überlegungen aus der allgemeinen Generationenforschung begleiten
daher unsere inhaltliche Auseinandersetzung. Im Zentrum der Beiträge stehen die
beiden großen Forschungsfragen unseres
Projekts: Wie wirkte die Kooperation auf
die israelische Wissenschaftslandschaft?
Sind Rückwirkungen auf die Forschungsentwicklung in Deutschland erkennbar und
wie sehen diese aus? Nach einem einführenden theoretischen Panel steht zunächst
die Germanistik im Fokus. Wie hat sie sich
in Israel in welchen Zeiträumen entwickelt?
Welche Themen wurden bearbeitet, mit welchen Debatten und welcher Finanzierung
wurden die Zentren gegründet? Im zweiten
Teil geht es um die Anfänge der »Deutschen
Geschichte« als wissenschaftliche Disziplin
und ihre Hauptakteure in Israel. Der Wissenstransfer insbesondere in der deutschen
Geschichtswissenschaft wird vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Holocaust
analysiert, die für die Protagonisten eine
zentrale Rolle spielte. Zum Abschluss soll
diskutiert werden, welche Konsequenzen in
der bundesdeutschen Forschungslandschaft
der Kontakt deutscher Wissenschaftler mit
israelischen Kollegen hatte und ob sich ein
inhaltlicher Wandel in den Themen verzeichnen lässt.
Weitere Informationen finden Sie auf
der Website des Projekts »German-Israeli
Research Cooperation in the Humanities
(1970–2000), Studies on Scholarship and
Bilaterality«: http://gih.vanleer.org.il/de
Kontakt
Fritz Bauer Institut
Dr. des. Jenny Hestermann
Norbert-Wollheim-Platz 1
D-60323 Frankfurt am Main
Tel.: +49(0)69.798 322-32, Fax: -41
[email protected]
Referenten
Dr. Akim Jah und Elisabeth Schwabauer
(beide ITS, Bad Arolsen)
Erstes internationales Symposium des Zentrums für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv
am 21. April 1975. Thema: »Germany and the Middle East 1835–1939«.
Foto: The Archives for the History of the Tel Aviv University
Informationen zu weiteren Vorträgen und
anderen Veranstaltungen des Fritz Bauer Instituts entnehmen Sie bitte unserem
dreimal jährlich erscheinenden Veranstaltungsprogramm, das Sie gegen eine kurze
Anforderung (E-Mail an: [email protected]) kostenlos abonnieren können,
oder den Ankündigungen auf unserer Website: www.fritz-bauer-institut.de.
Veranstaltungen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Anmeldung und Auskunft
[email protected]
10
Vortrag
Wanderausstellung
Holocaust in Litauen
Historisches Geschehen
und der schwierige
Umgang mit der
Vergangenheit
Legalisierter Raub
Der Fiskus und die
Ausplünderung der Juden
in Hessen 1933–1945
Vortrag von PD Dr. Joachim Tauber,
Hamburg
Mittwoch, 22. Juni 2016, 19.00 Uhr
Goethe-Universität Frankfurt am Main,
Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1,
Casino-Gebäude, Raum 1.801
Vilnius war bis zum Einmarsch deutscher Truppen
im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum religiösen, kulturellen und politischen jüdischen
Lebens. Schon kurz nach der Besetzung
begann die Vernichtung der jüdischen
Stadtbevölkerung. Bis zum Einmarsch der
Roten Armee im Sommer 1944 überlebten
nur rund 2.000 der etwa 70.000 Jüdinnen
und Juden die Selektionen und Massenexekutionen. Die Sowjetunion unterband
die Aufarbeitung der Judenvernichtung.
Erst seit der Unabhängigkeit Litauens im
Jahr 1990 diskutiert das Land über die
schwierige Vergangenheitsbewältigung.
Der Vortrag bereitet auf die Studienreise
der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums im September
2016 vor.
Eine Kooperationsveranstaltung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. und der
Gesellschaft der Freunde und Förderer des
Jüdischen Museums Frankfurt e.V.
Donnerstag, 10. März bis Dienstag, 10. Mai 2016
Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, KaiserFriedrich-Str. 5 und Ministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz, Ernst-Ludwig-Str. 3, 55116 Mainz
Eine Ausstellung des Fritz Bauer
Instituts und des Hessischen Rundfunks.
Mit Unterstützung der SparkassenKulturstiftung Hessen-Thüringen und des
Hessischen Ministeriums für Wissenschaft
und Kunst.
www.fritz-bauer-institut.de/legalisierterraub.html
Wanderausstellung
Fritz Bauer.
Der Staatsanwalt
NS-Verbrechen vor Gericht
Donnerstag, 21. April bis Sonntag, 21. August 2016
NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Appellhofplatz 23–25, 50667 Köln
Eine Ausstellung des Fritz
Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main.
www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauerausstellung.html
Weitere Informationen/Ausleihe
Weitere Informationen zu unseren Wanderausstellungen und ihrer Ausleihe finden Sie
auf den Seiten 105 f.
11
Neuerscheinungen
Aktuelle Publikationen
des Instituts
Jenny Hestermann
Inszenierte Versöhnung
Diplomatische Reisen und
die Entwicklung deutschisraelischer Beziehungen in
den Jahren 1957 bis 1984
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016,
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts,
Band 28, Erscheinungstermin: September 2016,
auch als E-Book erhältlich
Isabell Trommer
Rechtfertigung und
Entlastung
Albert Speer in der
Bundesrepublik
Deutschland
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016,
320 S., gebunden, € 34,90, EAN 978-3-593-50529-9
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts,
Band 27, Erscheinungstermin: 9. Juni 2016,
auch als E-Book erhältlich
12
Mit der Entlassung Albert
Speers aus dem Spandauer
Kriegsverbrechergefängnis am 1. Oktober
1966 beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten der Nachkriegszeit: Bis zu seinem
Tod am 1. September 1981 war der einstige Architekt und Rüstungsminister Hitlers
ein Entlastungszeuge in der Bundesrepublik Deutschland und ein Zeitzeuge in der
Welt. Seine Erinnerungen (1969) und seine
Spandauer Tagebücher (1975) waren in den
Medien und Buchhandlungen überragende
Erfolge.
In ihrer Studie untersucht Isabell Trommer die Wahrnehmung Speers in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er Jahren
bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen
dabei Rechtfertigungsdiskurse, die nicht nur
den Umgang mit Speer selbst geprägt haben,
sondern auch viel über das Verhältnis der
Bundesrepublik zum Nationalsozialismus
und die Grundzüge ihrer politischen Kultur
verraten.
Isabell Trommer, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitet als Lektorin.
Neuerscheinungen
In den 1960er Jahren präsentierten sich deutsche
Politiker auf »privaten Pilgerreisen« in
Israel als Vertreter eines moralisch erneuerten Deutschland. Nach Aufnahme der
diplomatischen Beziehungen (1965) belegten die nun offiziellen Reisen den deutschen Anspruch auf »Normalisierung«; die
israelische Regierung wiederum sah darin
ein Zeichen für die spezifische moralische
Verantwortung der Deutschen. Hinter den
Kulissen verstanden beide Seiten von Beginn an ihre Wiederannäherung als ein pragmatisches Projekt. Die deutsche Regierung
sah darin einen wichtigen Schritt zu ihrer
Westintegration. Die israelische Regierung
erhoffte sich von den Deutschen dringend
benötigte Wirtschaftshilfe.
Die Studie analysiert, wie die historische Wiederannäherung nach dem »Zivilisationsbruch« der NS-Diktatur in eine
Rhetorik der Moral und Versöhnung gekleidet wurde, um dem Unbehagen im deutschjüdischen Verhältnis zu begegnen.
Jenny Hestermann, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut im Rahmen des Forschungsprojekts
»Deutsch-israelische Beziehungen in den
Geisteswissenschaften zwischen 1970 und
2000. Studien zu Wissenschaft und Bilateralität«.
Mitarbeiterpublikation:
Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.):
Zeugnisformen
Berichte, Künstlerische
Werke und Erzählungen
von NS-Verfolgten
Reihe »Bildungsarbeit mit Zeugnissen«, Band 1
Hrsg. im Auftrag der Stiftung »Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft« (EVZ)
Redaktion: Verena Haug
Berlin 2016, 308 S., € 18,35
ISBN: 978-3-9813377-3-0
Online-Publikation (pdf-Datei, 4,8 MB):
ISBN: 978-3-9813377-2-3, kostenlos
www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/downloads/2015_Knellessen-Possekel_Zeugnisformen.pdf
Was bleibt, wenn die Zeuginnen und Zeugen der nationalsozialistischen Verbrechen gestorben
sein werden? Seit Jahren ist diese Frage in
allen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen
und pädagogischen Debatten über den Umgang mit der NS-Geschichte präsent.
Was bleibt, sind die Zeugnisse, die Überlebende in ganz unterschiedlicher Form abgelegt haben: ihre Berichte, ihre literarischen,
musikalischen und bildnerischen Verarbeitungen, ihre lebensgeschichtlichen Erzählungen, ihre Zeugenaussagen vor Gericht. Sie
vermitteln eindrücklich die Auswirkungen
und Schrecken der nationalsozialistischen
Verfolgung. Aber sind sie Garanten dafür,
dass die spezifische Erfahrungsgeschichte
der NS-Opfer auch künftig in der öffentlichen Erinnerungskultur und in der Bildung
bewahrt werden wird? Welchen Stellenwert
haben sie in der Geschichtsforschung zu Nationalsozialismus und Holocaust? Und wie
lassen sie sich in der Bildungspraxis am besten einsetzen?
Der Sammelband »Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen
von NS-Verfolgten« enthält Aufsätze und
Beispiele zu den vielfältigen Zeugnissen,
die die Opfer des Nationalsozialismus hinterlassen haben: Briefe und Tagebücher,
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Autobiografien, Zeichnungen und Gedichte sowie Videointerviews und Zeugenaussagen vor Gericht. Der Band gibt erstmals
einen Überblick über diese Zeugnisse, die
die Auswirkungen und Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung vermitteln.
Expertinnen und Experten präsentieren den
Stand der Forschung und stellen pädagogische Konzepte für die historisch-politische
Bildungsarbeit vor.
Dies ist der erste von drei Bänden aus der
Reihe »Bildungsarbeit mit Zeugnissen« der
Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft« (EVZ). Mit der Publikationsreihe
will die Stiftung EVZ die Perspektiven der
NS-Verfolgten in der Erinnerungskultur stärken und die Bildungsarbeit mit ihren Zeugnissen fördern und qualifizieren. Die Reihe
dokumentiert die Ergebnisse der bundesweiten Seminarreihe von 2009: »Entdecken und
Verstehen. Bildungsarbeit mit Zeugnissen
von Opfern des Nationalsozialismus.«
Dagi Knellessen, Studium der Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie, bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Forschungen
zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess.
Anschließend freie Wissenschaftlerin mit
den Arbeitsschwerpunkten juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, juridische
Zeugenschaft, Oral History, Bildungskonzepte zu Zeugenschaft und Zeugnissen.
Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig im
DFG-Forschungsprojekt »Opferzeugen in
NS-Prozessen – eine Analyse ihrer wechselhaften Rolle in sechzig Jahren Bundesrepublik«.
Dr. Ralf Possekel, 1984 Abschluss in
Geschichte an der Staatlichen Moskauer
Universität; 1985–1991 Historiker an der
Akademie der Wissenschaften in Ostberlin;
1990 Promotion; 1991–2000 Historische
Forschung zur deutschen Zeitgeschichte;
seit 2000 Programmleiter bzw. seit 2006
Programmbereichsleiter der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«.
Vom Scheitern
der Demokratie
nach 1918
Am Ende des Ersten Weltkriegs schien
sich in ganz Europa die Demokratie als
Staatsform durchgesetzt zu haben.
Doch die neuen Systeme hatten keinen
Bestand: Die Machtübernahme des
Faschismus in Italien (1922) und der
Untergang der Weimarer Republik
durch die »Machtergreifung« des
Nationalsozialismus in Deutschland
(1933) stellten nur die spektakulärsten
Beispiele für den Kollaps parlamentarischer Regierungsformen dar.
Barth untersucht die tieferen Ursachen,
die zum Niedergang der europäischen
Demokratien in der Zwischenkriegszeit
führten. Seine Darstellung folgt dabei
nicht den Nationalgeschichten einzelner
Länder, sondern ist problemorientiert
angelegt und umfasst alle wichtigen
Themenfelder der Zwischenkriegszeit –
vom Versailler Vertrag über den Revisionismus und die Gewalterfahrungen
des Ersten Weltkriegs bis hin zur Weltwirtschaftskrise.
2016 · 361 S. · € 34,95 · ISBN 978-3-593-50521-3
Auch als E-Book erhältlich
campus.de
13
Einsicht
Forschung und Vermittlung
Unter den Augen der Weltöffentlichkeit
Der Völkermord an den Armeniern
von Rolf Hosfeld
Dr. Rolf Hosfeld ist freier Autor
und wissenschaftlicher Leiter
des Lepsiushauses in Potsdam.
Zuletzt erschienen: Heinrich Heine.
Die Erfindung des europäischen
Intellektuellen, München 2014;
Tod in der Wüste. Der Völkermord
an den Armeniern, München 2015;
zus. mit Stephan Schaede (Hrsg.),
Der Genozid an den Armeniern.
Interdisziplinäre Perspektiven auf
die historische und aktuelle Rolle
des Protestantismus (Loccumer
Protokolle, Band 40/15), RehburgLoccum 2016.
Es lässt sich mit Rückblick auf den hundertsten Gedenktag an den Völkermord am
24. April 2015 festhalten: Die Diskussion
um eine Anerkennung des Genozids an den
Armeniern findet vor einem ganz anderen Wissensstand statt als
noch vor zehn Jahren. Es geht in der Regel nicht mehr darum, ob,
sondern in welcher Form und in welcher Verantwortung der Völkermord durchgeführt wurde und was die Ursachen dafür waren.
Die Öffentlichkeit in Deutschland ist heute weit besser über die
Ereignisse informiert und sensibilisiert. In allen größeren deutschen,
österreichischen und Schweizer Zeitungen erschienen im letzten Jahr
längere Artikel und Interviews; Rundfunk und Fernsehen berichteten.
Klare Worte fand insbesondere Bundestagspräsident Norbert Lammert. Seine mit zweifelsfreier Gewissheit im Deutschen Bundestag
vorgetragene Aussage – »Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im
Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Welt1
öffentlichkeit, war ein Völkermord« – kann sich nicht nur auf eine
Mehrheitsmeinung unter internationalen Historikern berufen.
Der Völkermord an den Armeniern von 1915/16, der mit systematischen Vertreibungsmaßnahmen im Frühjahr 1915 einsetzte,
ist ein außerordentlich gut und präzise dokumentierter Vorgang.
Osmanische und armenische Quellen wurden in den letzten 20 Jahren in umfangreichen Forschungsarbeiten ausgewertet. Wichtige
Quellen stammen auch von amerikanischen Beobachtern des Geschehens, von Missionaren und Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen, insbesondere aber von Beobachtern aus Deutschland
und Österreich-Ungarn, die mit dem Osmanischen Reich im Ersten
Weltkrieg verbündet gewesen waren. Sie ergeben ein nicht nur eindeutiges, sondern auch breit gefächertes und in erstaunlichem Maß
detailgenaues Bild.
Das beginnt mit der konfliktgeladenen »armenischen Frage«
im 19. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit nach dem Berliner
Kongress von 1878 und setzt sich durch die gesamte Zeit des Ersten
Weltkriegs fort. Dabei gibt es Schlüsselbeobachtungen und daraus
folgende weitreichende Schlussfolgerungen und Urteile. Am 6. Juni
1915 beispielsweise erklärte Mehmet Talaat, der osmanische Innenminister, dem in Istanbul ansässigen deutschen Generalkonsul Dr.
Johann Heinrich Mordtmann gegenüber offen, es sei die Absicht
seiner Regierung, den Weltkrieg zu benutzen, »um mit ihren inneren
Feinden – den einheimischen Christen aller Konfession – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des
2
Auslands gestört zu werden«. Botschafter Hans von Wangenheim
telegraphierte am 7. Juli an Reichskanzler Theobald von BethmannHollweg, aufgrund von präzisen Informationen aus allen Landesteilen stehe es nun außer Zweifel, »dass die Regierung tatsächlich
den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche
3
zu vernichten«. Das war eine eindeutige Aussage, und Wangenheim, ein geschulter Diplomat mit langjährigen Erfahrungen im
Auswärtigen Dienst, war kein Mann, der ein solches Urteil über
einen Kriegsverbündeten leichtfertig fällte.
Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die deutsche Politik spätestens Anfang Juli 1915 zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Deportationen und Massaker, die man verstärkt
seit den Frühlingsmonaten in den anatolischen Provinzen beobachten konnte, dem erklärten Ziel dienten, eine ethnische Gruppe (die
osmanischen Armenier) systematisch zu vernichten – und dies als
Ergebnis einer staatlich gelenkten Politik. Diese Feststellung ist seit
nunmehr über 100 Jahren deutsches Regierungswissen.
Weltkrieg und Staatssicherheit
Im Frühjahr 1915 wurden die ersten deutlichen Anzeichen der bevorstehenden Katastrophe bemerkbar. Am 16. März 1915 hatte der
deutsche Konsul Paul Schwarz im zentralanatolischen Harput eine
4
Unterredung mit dem dortigen Gouverneur Sabit Bey , bei der er
sich sagen lassen musste, »dass die Armenier in der Türkei vernichtet
werden müssten und vernichtet werden würden. Ihr Reichtum und
ihre Zahl hätten sich so vermehrt, dass sie eine Bedrohung für die
2
3
4
1
14
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw17_de_armenier/369868
Einsicht
Notiz Mordtmann. Rößler an Botschaft Konstantinopel, 6.6.1915. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), BoKon, 169. Die Dokumente aus dem
Auswärtigen Amt werden in der Regel zitiert nach: Wolfgang Gust (Hrsg.), Der
Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005.
Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 7.7.1915, PA AA, R 14086.
Johannes Ehmann, »Die Stellung des Valis und der türkischen Regierung in ElAziz (Mesereh) zu den armenischen Ereignissen während des Weltkrieges«, zit.
nach Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede, Zürich 2000, S. 42.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
herrschende türkische Rasse geworden seien, (und) dagegen gäbe
5
es nur das Mittel der Ausrottung.« An dieser Begegnung ist der
Zeitpunkt bemerkenswert, denn er steht am Beginn einer einschneidenden Radikalisierung der Politik gegenüber den osmanischen Armeniern, die kurz zuvor in der Hauptstadt Konstantinopel (Istanbul)
auf die Agenda gesetzt wurde.
Der Anlass war die paranoide Verarbeitung einer militärischen
Niederlage. Im Winter 1914/15 scheiterte ein von Eroberungsträumen im russischen Kaukasus getragener Feldzug unter enormen
Verlusten. Die Niederlage war umfassend, und sie bekräftigte im
dramatischen Gegensatz zu den hochfliegenden Erwartungen einer
»Befreiung« der zentralasiatischen Turkvölker vom russischen Joch
noch einmal alle alten Bilder des osmanischen Niedergangs, so dass
es niemandem unter der Androhung von harten Strafen erlaubt wur6
de, öffentlich darüber zu sprechen. Zumal die Russen nun jederzeit
den Osten Anatoliens bedrohen konnten, während gleichzeitig die
englische und französische Flotte einen Angriff auf die Dardanellen
vorbereiteten, was im Erfolgsfall eine Auflösung des Osmanischen
Reichs zur Folge gehabt hätte. Obwohl über 200.000 Armenier in
den Reihen der osmanischen Armee kämpften und es auch armenische Soldaten waren, die im Januar geschlagen zurückkehrten,
setzte sofort unter ihnen die Suche nach den Schuldigen des Desasters ein. Man unterstellte ihnen Illoyalität und die klammheimliche
bis offene Unterstützung des russischen Feindes. Eine armenische
Dolchstoßlegende, so Ronald Grigor Suny, die pathologische Annahme, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe kollektiv eine »Gefahr für
7
die Staatssicherheit darstellte« , war damit aus der Taufe gehoben.
In den folgenden Monaten wuchs sie sich bei den Führungseliten
des Osmanischen Reichs zu der paranoiden Vision eines in Anatolien bevorstehenden gesamtarmenischen Aufstands aus. Tatsächlich
war die Kriegslage besorgniserregend. Die Möglichkeit eines militärischen Untergangs vor Augen, erklärte Innenminister Mehmet
Talaat Anfang Februar 1915 gegenüber dem deutschen Botschafter
Wangenheim, dass die Armenier sich im weiteren Kriegsverlauf in
jedem Fall auf die Seite der Gegner schlagen würden. Man müsse
rechtzeitig etwas gegen diese Bedrohung unternehmen. Wangenheim
erklärte den Zeitpunkt für ungünstig gewählt, aber Talaat antwortete: C’est le seule moment proprice – Das sei der einzige richtige
8
Augenblick. Es war, mit dem Blick des Historikers gesehen, aber
auch der richtige Augenblick für eine Gelegenheit.
5
6
7
8
»Statement Made by Miss (Hansina Marcher), A Danish Lady in the Service of
the German Red Cross at (Harpout)«, zit. nach James Bryce, Arnold Toynbee,
The Treatment of the Armenians in the Ottoman Empire 1915–1916, Princeton
2000 (zuerst: London 1916), S. 286 (Dok. 64).
William Yale, The Near East. A Modern History, Ann Arbor 1958, S. 219.
Ronald Grigor Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«. A History
of the Armenian Genocide, Princeton, Oxford 2015, S. XX.
Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 2.2.1915, PA AA, R 14085.
15
Gestaltende Ideologie
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es immer wieder türkisch-nationalistische Wellen gegeben, die mit einer fortschreitenden
Ethnifizierung der Religion verbunden waren. 1903 wurde in Kairo das Journal Türk gegründet, das zum ersten Mal die »türkische
Rasse« zum Thema machte. Für Türk war der osmanische Staat
immer ein türkisch-muslimisches Reich gewesen, das es ohne das
Recht des Eroberers, ohne die großen türkischen Siege wie auf dem
kosovarischen Amselfeld oder die Einnahme von Konstantinopel im
Jahre 1453 nie gegeben hätte. Aus dieser Perspektive betrachtete
9
man die Türken als »allein herrschende Nation« im Osmanischen
Reich und die alteingesessenen christlichen Völker im Diskurs eines
imperialen Nationalismus lediglich als geduldete »Gäste«. Johann
Markgraf Pallavicini, der k.u.k. Botschafter in Istanbul, fasste diese
Sichtweise später in die Formel, »die numerisch schwache türkische Nation« – ethnische Türken waren vor dem Weltkrieg eine
Minderheit – solle offenbar die künftige »Basis für die Oligarchie«
10
im Osmanischen Reich werden , eines Imperiums mit führender
türkischer Staatsnation. Türk war strikt antiarmenisch eingestellt
und machte den Armeniern den Vorwurf, ihren Reichtum im Bündnis mit den westlichen Mächten auf Kosten der Türken erlangt zu
haben. 1904 erschien in Türk unter der Überschrift »Drei Arten der
Politik« ein Aufsatz des Wolgatataren Yusuf Akchura, der von vielen
wie ein erlösendes Grundsatzprogramm wahrgenommen wurde und
der zum ersten Mal »die Idee eines türkischen Nationalismus, der
11
auf ethnischen Prinzipien beruht«, ausformulierte. Alle Versuche,
unterschiedliche Rassen und Religionen in einem Staatsgebilde zu
vereinen, so Akchura, seien in der Vergangenheit gescheitert. In
12
solchen »österreichischen« Verhältnissen sah man zunehmend
den Hauptgrund für den Niedergang einer einstmals heroischen
und starken Kämpfernation. Sämtliche nichttürkischen Elemente,
beobachtete der britische Botschafter in Istanbul im August 1910,
sollten in Zukunft »in einem türkischen Mörser« zerstampft – das
heißt assimiliert oder vertrieben – werden. Er bezog sich dabei auf
Talaat, der kurz zuvor auf einem Konklave der Führung des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt (Comité Union et
Progrès, CUP) das Scheitern des osmanischen – ethnoreligiösen
– Multikulturalismus verkündet hatte. Talaats Hauptargument war
die für ihn stets fragwürdige Loyalität der nichtmuslimischen Bevöl13
kerungsgruppen. Der nationalistische Ideologe Ziya Gökalp ging
einen Schritt weiter, indem er dieses Argument mit dem Konzept
einer organischen Nation verband. Für verschiedene Völker, meinte
er, könne es in Wahrheit »kein gemeinsames Zuhause und Vaterland
14
geben«.
In einer so vorbereiteten mentalen Lage und in den Schemen
dieses ethnonationalistischen Diskurses wurde in den Tagen zwischen dem 13. und 16. März 1915 auf einer geheimen Tagung in
Istanbul die – wie auch immer geartete – Ausschaltung der osmanischen Armenier als eines vorgeblich existenzgefährdenden inneren
15
Feindes während des Weltkriegs beschlossen. Seit dem Beginn des
Weltkriegs – und das war für das Osmanische Reich November 1914
– hatte sich die Stimmung gegenüber den osmanischen Armeniern
spürbar verschlechtert. Es hatte Hausdurchsuchungen, irreguläre
Requisitionen, Verhaftungen und politische Morde gegeben. Im
Winter wurden armenische Siedlungen im Grenzgebiet zum Iran
mit Massakern überzogen. Im späten Frühjahr 1915 begann dann die
systematische Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem
Osten Anatoliens. Das alles blieb nicht unbemerkt.
Mehmed Talaat Pascha (1872–1921) war Innenminister und Großwesir des
Osmanischen Reichs sowie Führer der jungtürkischen Nationalisten.
Auf dem Bild ist er als Leiter der osmanischen Delegation bei den
Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Januar 1918 zu sehen.
Am 24. April 1915 ordnete er die Verhaftung armenischer Intellektueller in
Istanbul an, was den Völkermord an der armenischen Bevölkerung im
Osmanischen Reich eingeleitet hat. Foto: ullstein bild - AKG
Öffentliche Hinrichtung von Armeniern im Osmanischen Reich, ca. 1916.
Foto: bpk / Coll. Casagrande / adoc-photos
Kontext
Armenische
Waisenkinder werden
auf einem Schiff
verschleppt,
Osmanisches Reich
1915.
Foto: Rue des Archives/
PVDE/Süddeutsche
Zeitung Photo
Was während des Ersten Weltkriegs 1915/16 im Osmanischen Reich
stattfand, stellt den Beginn eines ganzen europäischen Jahrhunderts
von Gewaltverbrechen dar, eines Jahrhunderts, das gekennzeichnet
ist durch Völkermorde und gewaltsame ethnische Vertreibungen
von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß. Zivilisten waren in diesem Krieg – wie schon in den vorausgegangenen Balkankriegen
– von Anfang an Ziele der Kriegsführung. Der Erste Weltkrieg
begann im August 1914 mit den sogenannten belgischen Gräueln,
als während der deutschen Invasion insgesamt 6.427 Zivilisten
einer Paranoia über angebliche Hinterhalte von Freischärlern zum
16
Opfer fielen. Galizien und die Bukowina erlebten bereits in den
ersten Kriegsmonaten 1914 die Deportation Zehntausender national
9 Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 24.2.1913, PA AA, R 14078.
10 Pallavicini an Baron Burian, 8.4.1916, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA),
PA XII 210. Die österreichisch-ungarischen Quellen werden zitiert nach: Artem
Ohandjanian, Österreich-Ungarn und Armenien 1912–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Jerewan 2005.
11 Yusuf Akchura, »Three Types of Policies«, in: H. B. Paksoy (Hrsg.), Central
Asian Reader: The Rediscovery of History, London 1994, S. 106 f.
12 So das führende Mitglied des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt
Mehmet Nazim gegenüber dem Zionisten Max Nordau. Nordau an Wolffsohn,
Paris, 25.11.1908. Nach: M. Sükrü Hanioglu, Preparation for a Revolution. The
Young Turks 1902–1908, Oxford, New York 2001, S. 260.
13 Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, 3. Aufl., New York, Oxford
16
Einsicht
2002, S. 218 f.
14 Ziya Gökalp, »The Ideal of Nationalism«, in: Niyazi Berkes (Hrsg.), Turkish Na-
tionalism and Western Civilisation. Selected Essays of Ziya Gökalp, London
1959, S. 81.
15 Taner Akcam, Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die
türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S. 59 ff.
16 John Horne, Alan Kramer, German Atrocities. 1914, New Haven, London 2001,
S. 74.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
17
17
»unzuverlässiger Elemente« in österreichische Internierungslager.
In Russland wurden während des Krieges Hunderttausende von
Juden, deutsche Minderheiten, Bewohner der baltischen Gebiete,
Roma und Muslime aus dem Kaukasus und Zentralasien, die man
alle aus ethnischen Gründen als potenzielle innere Feinde und »unzuverlässige« Bevölkerungsteile betrachtete, Opfer einer militärischen
18
Deportationspolitik.
Die Ankündigung von Innenminister Talaat am 6. Juni 1915
bedeutete aber weit mehr als die einer kriegsbedingten Deportation
oder partiell extremer militärischer Maßnahmen. Talaat galt als ein
Mann mit rücksichtsloser Energie und als Vertreter extremer Modernisierungsideen, die eingebunden waren in das Konzept eines nati19
onaltürkischen Chauvinismus. Seine Ankündigung beinhaltete die
Vision einer neuen und im Kern türkischen Ordnung nach dem Krieg.
Sie hatte, im Unterschied zu der zweifellos ebenfalls rücksichtslosen
militärischen Politik der Habsburger und Russen, die ausgesprochen
apokalyptische Komponente einer finalen sicherheitspolitischen Lösung an sich, die sich in einem als existentiellen Überlebenskampf
empfundenen Krieg zu einem ethnopolitisch aufgeladenen Bedrohungsszenario auflud. Die Armenier waren nicht nur eine unmittelbare militärische Bedrohung an der Kaukasusfront. Sie galten
unabhängig davon wegen ihrer kulturellen und organisatorischen Fähigkeiten und ihres wirtschaftlichen Erfolgs als eine grundsätzliche
20
Bedrohung für die Vorherrschaft der türkischen Ethnie überhaupt.
Die Armenier galten im Weltbild radikaler Jungtürken als »eine Menge schädlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes befallen
21
hatten«. Solche fest in der Vision des harmonischen Gesamtentwurfs einer nationalen Volksgesundheit verankerten biologistischen
Ressentiments führten in der modernen Geschichte immer zu höchst
22
explosiven und potenziell genozidalen Konfliktlösungsphantasien.
Die Führungseliten des Osmanischen Reichs waren zu Beginn des
Weltkriegs stark von ideologischen Motiven dieser Art beherrscht.
Sie befanden sich zudem seit den Balkankriegen in der mentalen
Verfassung eines permanenten Ausnahmezustands.
Seit 1913 herrschte in Istanbul das System einer radikalnationalistischen Einparteiendiktatur und die damit verbundene tendenziell
absolute Herrschaft einer Partei über einen zunehmend gleichgeschalteten Staat und seine Apparate, also etwas, das Mittel- und
Osteuropa unter verschiedenen Vorzeichen erst in den 1920er und
23
1930er Jahren kennenlernen würde. Ein geografischer Raum für
politische Gewaltlösungen war das Osmanische Reich ohnehin seit
Jahrzehnten. 1894 bis 1896 waren weit mehr als 100.000 Armenier in
den anatolischen Ostprovinzen organisierten Massakern zum Opfer
24
gefallen. Niemand war hierfür zur Rechenschaft gezogen worden.
Ethnische Gewalt und kollektive Diskriminierung auf allen Seiten
bildeten das beherrschende Element der Balkankriege. Die Rede
vom survival of the fittest, über das konservative und nationalistische
Intellektuelle in Europa – wie auch die jungtürkische Elite – damals
gern in sozialdarwinistischer Perspektive philosophierten, gehörte
zu den ganz unphilosophischen Alltagserfahrungen der an diesen
schmutzigen Kriegen Beteiligten. Die Folge war eine Kultur der
macht- und gewaltorientierten Regellosigkeit, die sich in dieser Zeit
unter den militärischen und politischen Akteuren des Osmanischen
Reichs etablierte und zunehmend allgemeine Akzeptanz fand.
Die Militärs, die in Russland für die großflächigen Deportationen vermeintlicher »innerer Feinde« verantwortlich waren, blieben in
Petrograd dagegen weitgehend einem traditionellen bürokratischen
25
System von checks and balances unterworfen. Dieser Unterschied
ist für das Verständnis der Vorgänge von wesentlicher Bedeutung. Im
Osmanischen Reich handelten 1915 nicht reguläre politische oder
militärische Institutionen, sondern ein durch ideologische Motive
getriebener irregulärer »tiefer Staat«.
Systematik
Dem politischen Vernichtungswillen fielen allein während der
Kriegsjahre 1915/16 etwa 1,1 Million Armenier und in geringerem
Ausmaß auch andere orientalische Christen zum Opfer. Wahrscheinlich mehr als 150.000 Armenier überlebten durch Zwangskonversion
zum Islam, indem sie sich zu Türken assimilierten. Einer unbestimmten Zahl – etwa 300.000 – gelang die Flucht, meist über die
26
russische Grenze. Die direkte physische Vernichtung setzte im
Osten Anatoliens oft schon unmittelbar nach der Vertreibung aus
17 Michael Schwartz, Ethnische »Säuberungen« in der Moderne. Globale Wechsel-
18
19
20
21
22
18
wirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 273.
Peter Gatrell, A Whole Empire Walking, Bloomington 2005, S. 3.
Telegramm Joseph Pomiankowski, 6.2.1917, Kriegsarchiv Wien, KM Präs.,
47-1/13.
Rößler an Wolff-Metternich, 34.1.1916, Anlage 1, 8.11.1915, PA AA, R 14090.
Salahattin Güngör, Bir Canli Tarih Konusuyor, Resimli Tarih, 5.7.1953. Nach
Hans-Lukas Kieser, »Dr. Mehmet Reshid (1873–1919). A Political Doctor«, in:
ders., Dominik Schaller (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern und die
Shoah/The Armenian Genocide and the Shoa, Zürich 2002, S. 262.
Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit,
Hamburg 1992, S. 52.
den Dörfern und Städten im späten Frühjahr ein und betraf zunächst
in erster Linie Männer. Die langen, oft Wochen und Monate dauernden Zwangsdeportationen in die mesopotamische Wüste gingen
27
mit kalkuliert hohen Todesraten einher.
Zeitweilig hatte man eine Massenausweisung ins Auge gefasst.
Das Oberkommando der osmanischen Armee brachte noch am
2. Mai 1915 den Gedanken ins Spiel, die armenische Bevölkerung
28
der anatolischen Ostprovinzen nach Russland zu vertreiben. Doch
solche Pläne erwiesen sich schnell aus verschiedenen Gründen als
29
undurchführbar. Sie machten in kürzester Zeit der radikaleren
Lösung einer totalen Verschickung in die Wüste Platz, die dann
hauptsächlich unter der bevölkerungspolitischen Ägide von Mehmet
Talaats Innenministerium stattfand und einen abrupten Übergang von
Konzepten militärischer Deportationen und ethnischer »Säuberung«
zu genozidalen Maßnahmen einleiteten. Der Bestimmungsort hatte
außerdem eine weitreichende Signalwirkung anderer Art. Man trieb
die Armenier über eine demographische Grenze hinaus in eine Region, die nicht mehr zum »türkischen« Kernland Anatolien gehörte,
und sortierte sie so territorial als nationalen Fremdkörper aus.
Die Armee, so der türkische Historiker Taner Akcam, wurde
von Aufgaben bei der Deportation entbunden, auch wenn sie sich
30
– vor allem im Osten Anatoliens – an Massakern beteiligte und in
Kämpfen gegen sogenannte armenische »Aufstände« wie in Van,
Musch, Urfa oder am Musa Dagh, die in Wirklichkeit verzweifelte
Selbstverteidigungsaktionen waren, eine verheerende Rolle spielte.
Entscheidende Organe der genozidalen Politik waren das Innenministerium, seine bevölkerungspolitischen Planungsabteilungen und
seine Polizeikräfte, besonders aber die hybriden Organe des jungtürkischen »tiefen Staats«. »Die aus den Reihen der Comitémänner
(des herrschenden CUP) hervorgegangenen Valis und Mutessarifs«,
so der k.u.k Botschafter Pallavicini, »gehorchen nur den Verordnungen, die ihnen vom Comité zukommen, nicht aber jenen, die ihnen
31
die Regierung erteilt«. Das CUP steuerte auf diese Weise über
seine Parteikanäle einen Gleichschaltungsprozess. Überall waren es
ideologische Hardliner des herrschenden jungtürkischen Komitees
– ethnonationalistische »Politkommissare« –, die extreme exterminatorische Maßnahmen teilweise gegen den Widerstand einzelner
Provinzgouverneure und Militärs durchzusetzen versuchten.
Die tödlichen Deportationen des Jahres 1915 begannen
in drei verschiedenen Gebieten in drei aufeinanderfolgenden
23 M. Sükrü Hanioglu, A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton,
Oxford 2008, S. 151.
24 Im Gegenteil: »There emerged a mentality which had elements of a cryptic cul-
ture sanctioning massacres as an instrument of state policy.« Vahakn N. Dadrian,
The History of the Armenian Genocide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus, New York, Oxford 2003, S. 173.
25 Donald Bloxham, The Final Solution. A Genocide, Oxford 2013, S. 76.
26 Hilmar Kaiser, »Genocide at the Twilight of the Ottoman Empire«, in: Donald
Bloxham, Dirk Moses (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, New
York 2010, S. 382.
Einsicht
27 Rößler an Botschaft Konstantinopel, 12.8.1915, PA-AA/BoKon/170.
28 Office of the Supreme Commander of the Ottoman Army to the Ministry of Inte-
rior, Top Secret, 2.5.1915, in: Documents on Ottoman Armenians. Vol. 1. Prime
Ministry. Directorate General of Press and Information, Ankara o.J., S. 89.
29 Trauttmansdorff an Baron Burián, 30.9.1015, HHStA, PA XII 209.
30 Akcam, Armenien, S. 65 f., 74 f.
31 Pallavicini an Baron Burian, 7.11.1915, Beilage zum Bericht Nr. 92/p.c., HHStA,
PA XII 463.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Zeitabschnitten, wobei während des zweiten Zeitabschnitts ab Ende
Mai, ausgelöst durch zentral gelenkte parteipolitische Initiativen
außerhalb der regulären staatlichen und militärischen Institutionen,
eine spürbare Radikalisierung zu beobachten war. Das hatte auch
32
mit der aktiven Rolle von Bahaeddin Schakir , dem Führer der
Teskilat-i-Mahsusa (TM) genannten parteigebundenen Spezialorganisation zu tun, die als politische Polizeitruppe und Sicherheitsdienst in einer außerstaatlichen Grauzone operierte. In den späten
Wintermonaten Anfang 1915 hatte die TM eine Personalstärke von
über 30.000 Mann erreicht, die von 700 politischen Kommandeuren
33
des herrschenden jungtürkischen Komitees angeführt wurden.
Im Sommer 1915 waren es vermutlich deutlich mehr, aber dafür
liegen keine Zahlen vor.
Schakir hatte seit 1905 eine führende Rolle bei der Umwandlung
des jungtürkischen Exilkomitees in eine streng zentralisierte und
hierarchisch geführte Kampforganisation mit ethnonationalistischer
Ausrichtung gespielt. Der türkische Historiker Serif Mardin nannte
34
ihn deshalb einmal den »Stalin« des Komitees. Er war seit dem
Frühjahr 1915, als Mastermind der TM im ostanatolischen Erzurum
stationiert, der Hauptarchitekt der organisierten Massaker an den
35
Armeniern , die seit Ende Mai, zunächst in den östlichen Grenzregionen, zu einem systematischen Bestandteil der Deportationen
wurden. Das Ergebnis waren von der TM organisierte Killing Fields,
von denen es an verschiedenen Stellen der Deportationsrouten meh36
rere gab. Meist befanden sie sich in abgelegenen Gebieten, deren
geografische Beschaffenheit so war, dass die Deportierten keine
37
Fluchtmöglichkeiten hatten. Auch sie waren Bestandteil einer kalkulierten Systematik.
Das Ergebnis der Deportationen war »eine im größten Maßstab durchgeführte Expropriation von anderthalb Millionen
38
Staatsbürgern«. Die Vermögenswerte, um die es dabei ging, wurden
während der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 auf 7,9 Milliar39
den französische Francs (Stand von 1919) geschätzt. Ein wesentliches strategisches Motiv bestand darin, so die jungtürkische
32 Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei,
Potsdam 1916, S. 43.
33 Hew Strachan, The First World War. To Arms, Oxford 2003, S. 705.
34 Serif Mardin, »Jörn Türklerin Siyasi Fikirleri«, nach: M. Sükrü Hanioglu, Preparation for a Revolution. The Young Turks 1902–1908, Oxford, New York 2001,
S. 140.
35 Erik Jan Zürcher, The Young Turk Legacy. From the Ottoman Empire to Atatürk’s
Turkey, London, New York 2013, S. 197.
36 Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München
2015, S. 159 und passim, insbes. S. 184–190, S. 210–215.
37 Donald Miller, Lorna Touryan Miller, Survivors. An Oral History of the Armenian Genocide, Berkeley, Los Angeles, 1999, S. 81.
38 Lepsius, Bericht, S. 152.
39 Christian Gerlach, »Nationsbildung im Krieg«, in: Kieser, Schaller (Hrsg.), Völkermord, S. 347–422, hier S. 368.
19
Schriftstellerin Halide Edib in ihren Memoiren, die wirtschaftliche
Vorherrschaft der Armenier mit dem Ziel des Aufbaus einer »nationa40
len« Bourgeoisie zu brechen , und die Expropriationen waren, neben
dem Beitrag, den sie zur Finanzierung des Krieges leisteten, dafür
so etwas wie eine ursprüngliche »türkische« Kapitalakkumulation.
Die deutsche Haltung
Ohne den Weltkrieg wäre der Völkermord an den Armeniern kaum
denkbar gewesen. Dies gilt zunächst einmal in dem allgemeinen
kulturellen Sinn, dass die entgrenzte Gewalt an allen Fronten eine
Möglichkeit schuf, die in Friedenszeiten nicht gegeben war. Ende
September 1915 machte sich der k.u.k. Agent Heinrich Alberstall
Gedanken darüber, ob nicht eine »geschickte Kundgebung« des
Wiener Kaisers Franz-Joseph I. die Türken zum Einhalten bewegen
könne. »Wahrscheinlich nicht«, so seine Schlussfolgerung, denn
die Türken seien von dem Glauben durchdrungen, »dass sie nur in
der jetzigen Kriegszeit, in welcher alle Moralwerte selbst von den
kriegführenden Kultur-Nationen ersten Ranges missachtet werden,
sich von den diversen bisherigen staatlichen Fesseln und Ballasten
befreien können, und daher die sich vielleicht nie mehr bietende
41
Gelegenheit unbedingt benutzen müssten.« Regelmäßig verwiesen
führende Jungtürken deshalb auf die Vorbildfunktion der deutschen
42
Gräuel in Belgien und der habsburgischen in Bosnien , um damit
ihre »kriegsbedingten« Maßnahmen zu legitimieren. Und regelmäßig wurden sie von deutscher oder österreichischer Seite zurückgewiesen. Botschafter Paul Wolff-Metternich ließ beispielsweise den
Großwesir Anfang Dezember 1915 mit Bestimmtheit wissen, »dass
die Verfolgung und Misshandlung von Hunderttausenden unschuldiger Personen keine legitime Abwehrmaßnahme eines Staates«
43
bilde. Sein Vorgänger Hans von Wangenheim war weniger deutlich. Nach anfänglichen Irritationen übernahm er im Mai 1915 mehr
oder weniger die türkische Sichtweise, von der er Ende Juni wieder
Abstand nahm. Nie, so Isabel Hull, verließ er jedoch die Parameter
44
vorgeblicher »militärischer Notwendigkeiten«.
Einige deutsche Offiziere – insgesamt gibt es fünf dokumentierte
Fälle unter den 200 Offizieren, die sich in den entscheidenden Monaten 1915/16 in der Türkei befanden – waren aktiv in antiarmenische
Aktivitäten involviert. So insbesondere Oberstleutnant Karl Anton
Böttrich, der eigenhändig und unautorisiert einen Deportationsbefehl
im Bewusstsein der tödlichen Folgen unterzeichnete. Von dem Marineattaché Hans Humann schließlich stammt die Äußerung, die
Vernichtung der Armenier sei »hart, aber nützlich«. Ähnlich äußerten
sich der deutsche Generalstabschef im türkischen Großen Hauptquartier, Fritz Bronsart von Schellendorf, und auch die Admirale Wilhelm
45
Souchon und Guido von Usedom. Dies sind alles Beispiele eines
sozialdarwinistisch infizierten militaristischen Extremismus, dem
jegliche ethischen Maßstäbe abhandengekommen waren.
Reichen diese Handvoll Individuen aus, um Deutschlands
Rolle bei der Vernichtung der Armenier als »Beihilfe zum Völkermord« zu beschreiben, wie Jürgen Gottschlich in einem jüngst
46
erschienenen Buch behauptet? Donald Bloxham und Isabel Hull
haben schon vor Jahren darauf verwiesen, dass es sich bei diesen
schon länger bekannten Fällen um motivisch völlig unterschiedlich
gelagerte regionale Vorkommnisse handelt, die zeitlich teilweise
in den Wintermonaten 1914/15, also vor dem Beginn der genozidalen Radikalisierung, zu verorten sind. Es gibt zwischen diesen
Individuen auch keinen nachweisbaren Zusammenhang, der sie als
agierende Gruppe mit politischen Einflussmöglichkeiten ausweisen
47
könnte.
Gottschlich übernimmt aber unhinterfragt nicht nur die 1918
von Henry Morgenthau, dem amerikanischen Botschafter in Istanbul, überlieferte Ansicht, die Deportationspolitik sei von den Deutschen inspiriert worden, sondern auch dessen Schlussfolgerung,
nur das Deutsche Reich hätte den Völkermord an den Armeniern
48
verhindern können. Morgenthaus noch während des Krieges erschienenes und Woodrow Wilson gewidmetes Buch ist nicht frei
von Selbststilisierungen und sachlich fragwürdigen, politisch mo49
tivierten Stereotypen und Kurzschlüssen. Doch es begründete, so
Ronald Suny, das einflussreichste und bis heute vielfach wirksame
50
Nachkriegsnarrativ. Ob das Deutsche Reich den Völkermord an den
Armeniern selbst um den Preis einer Auflösung des Bündnisses hätte
verhindern können, ist in jedem Fall stark umstritten. Der Leiter der
österreichisch-ungarischen Militärmission im Osmanischen Reich,
Joseph Pomiankowski, beantwortete die Frage mit einem klaren
Nein und warf Morgenthau vor, den Einfluss Deutschlands auf die
45 Dadrian, History, S. 248–300.
46 Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Ver47
40 Memoirs of Halide Edib, London 1926, S. 386.
41 Alberstall an das literarische Bureau des k.u.k Ministerium des Äußeren,
25.9.1915, HHStA, PL 246.
48
49
42 Kwiatkowski an Baron Burian, 31.7.1915, HHStA, PA XXXVIII 368.
43 Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 9.12.1915, PA AA, R 14089.
44 Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practises of War in
Imperial Germany, Ithaka, London 2005, S. 279–283.
20
innenpolitischen Verhältnisse der Türkei weit zu überschätzen. Nur
eine rechtzeitige Kriegserklärung der Vereinigten Staaten, so Pomiankowski, hätte die armenische Katastrophe vielleicht verhindern
können. Die USA erklärten Konstantinopel aber nie den Krieg, und
51
nicht einmal Sanktionen wurden in Erwägung gezogen.
Extreme Gewalt gegen Zivilbevölkerungen zu akzeptieren, zu
entschuldigen und zu rationalisieren, war allerdings Teil der Militärkultur des Wilhelminischen Reichs. Deutschland, so Isabel Hull,
wandte im Ersten Weltkrieg auf allen Kriegsschauplätzen in extremer
Weise die Standards einer existenziellen militärischen Auseinandersetzung an und nahm mit dieser Mentalität auch den Völkermord an
52
den Armeniern in Kauf.
Humann begrüßte die Vernichtung der Armenier weniger aus
militärischen Gründen denn als Maßnahme einer gewaltsamen türkischen Nationsbildung. Die maßgebliche deutsche Haltung im Ersten
Weltkrieg war aber eine andere. »Die Verschickung war eine militärische Maßnahme«, so ein Memorandum des Botschaftspredigers in
Konstantinopel, Siegfried von Lüttichau, vom Sommer 1918: »Aber
die Vernichtung der Vertriebenen, die nur allzu gut gelungen ist, war
eine politische Maßnahme der Regierung.« Lüttichau begrüßte diese
Maßnahme nicht, aber das Deutsche Reich, so seine Ansicht, habe
53
aus zwingenden Kriegsgründen dazu schweigen müssen. Dies war
54
auch die Haltung von Reichkanzler Bethmann-Hollweg.
Insgesamt, so Ulrich Trumpener, dessen Urteil von der Forschung im Wesentlichen geteilt wird, hat die deutsche Reichsregierung die Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkriegs
weder unterstützt noch willkommen geheißen. Allerdings müsse
man ihr eine extreme moralische Gleichgültigkeit und einen grundsätzlichen Mangel an entschiedenen Maßnahmen vorhalten, selbst
im Rahmen des politisch Möglichen gegen die Verbrechen ihres
55
Bündnispartners vorzugehen. Es gab keine »Beihilfe« in Gestalt
einer aktiven Unterstützung der jungtürkischen Vernichtungspolitik.
Aber die Art und Weise, wie Menschenrechtsfragen auf der Ebene
von »Realpolitik« verhandelt wurden, kam aktiver Zustimmung
zweifellos sehr nahe und prägte Mentalitäten mit, die sozialtechnische Gewaltmaßnahmen in einem ethikfreien Raum zu akzeptieren
lernten.
50
nichtung der Armenier, Berlin 2015.
Donald Bloxham, »Power Politics, Prejudice, Protest and Propaganda. A Reassessment of the German Role in the Armenian Genocide in WWI«, in: Kieser,
Schaller (Hrsg.), Völkermord, S. 213–244; Hull, Destruction, S. 275–279.
Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthaus’s Story, Garden City, New York
1918, S. 365, 381.
Margaret Lavinia Anderson, »Helden in Zeiten eines Völkermords? Armin T.
Wegner, Ernst Jäckh, Henry Morgenthau«, in: Rolf Hosfeld (Hrsg.), Johannes
Lepsius – eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Göttingen 2013, S. 147–159.
Suny, »Desert«, S. 367.
Einsicht
Nach dem Krieg, das zeigt Stefan Ihrig in seiner jüngst erschienenen Studie, gab es eine wichtige und lebhafte Genozid-Debatte in
Deutschland. Sie wurde ausgelöst durch Johannes Lepsius’ Publikation deutscher diplomatischer Akten unter dem Titel Deutschland
56
und Armenien vom Frühjahr 1919 , die publizistische Aktivität des
57
Schriftstellers Armin T. Wegner sowie die Ermordung Mehmet
Talaats durch einen armenischen Attentäter in Charlottenburg 1921
58
und den nachfolgenden Prozess. Doch danach, so Ihrig, wurden die
Leugnungsdiskurse in der Öffentlichkeit umso stärker und gingen
immer mehr in Rechtfertigungsdiskurse (»hart, aber nützlich«) des
59
Humann’schen Typus über. Adolf Hitler berief sich im Prozess vor
dem Münchner Volkgericht 1924 unter anderem ausdrücklich positiv auf Enver Pascha und die Jungtürken. Enver, so Hitler vor dem
Gericht, habe eine neue Nation aufgebaut und das multikulturelle
60
Gomorrha Konstantinopel erfolgreich entgiftet. Das zeigt eine
tiefe Übereinstimmung in grundlegenden politischen Säuberungsphantasien. Hitlers »erwachendes« Deutschland sah in den nationalradikalen Jungtürken und ihren Nachfolgern, den Kemalisten, ein
61
wahlverwandtes Vorbild.
56 Deutschland und Armenien 1914–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke,
hrsg. u. eingel. v. Dr. Johannes Lepsius, Potsdam 1919.
51 Joseph Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches, Graz
1969 (zuerst: Wien 1928), S. 163 f.
52 Hull, Destruction, S. 290.
53 Axenfeld an AA, 18.10.1918, Anlage: Bericht des Pfarrers Grafen von Lüttichau,
PA AA, R 14104.
54 »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu
halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.« Notiz
Bethmann-Hollweg: Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 7.12.1915, PA AA,
R 1489.
55 Ulrich Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1914–1918, Princeton
1968, S. 204 f.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
57 Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein
Lichtbildvortrag, hrsg. v. Andreas Meier, Göttingen 2011.
58 Armin T. Wegner (Hrsg.), Der Prozess Talaat Pascha. Stenographischer Bericht
über die Verhandlung gegen den des Mordes an Talaat Pascha angeklagten armenischen Studenten Salomon Teilirian vor dem Schwurgericht des Landgerichts
III zu Berlin, Aktenzeichen: C.J. 22/21, am 2. und 3. Juni 1921, Berlin 1921.
59 Stefan Ihrig, Justifying Genocide. Germany and the Armenians from Bismarck to
Hitler, Cambridge/Mass., London 2016
60 Harold J. Gordon (Hrsg.), The Hitler Trial before the Peopleʼs Court in Munich,
Vol. 1, Arlington 1976, S. 180.
61 Stefan Ihrig, Atatürk in the Nazi Imagination, Cambridge/Mass., London 2014.
21
8
Aghet1
Wie der armenische Völkermord
zum Romanstoff wurde2
von Andreas Meier
apl. Prof. Dr. Andreas Meier ist seit
2004 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Bergischen Universität
Wuppertal, an der er die Else-LaskerSchüler-Arbeitsstelle leitet. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte
sind, neben der Gegenwartsliteratur,
vor allem die Literatur der Klassischen
Moderne und der Goethezeit.
Zu seinen wichtigsten neueren Buchpublikationen zählen, jeweils von ihm
herausgegeben: Christian August Vulpius. Eine Korrespondenz zur Kulturgeschichte der Goethezeit, 2 Bde., Berlin
2003; Armin T. Wegner. Die Austreibung des armenischen Volkes in die
Wüste. Ein Lichtbildvortrag, Göttingen
2011; Martin Walser. Unser Auschwitz.
Auseinandersetzung mit der deutschen
Schuld, Reinbek 2015.
Als119892Edgar Hilsenraths später vielfach
ausgezeichnetes Märchen vom letzten Ge3
danken erschien, folgte binnen kürzerer
Zeit eine große Zahl weiterer Romane über
den Völkermord an den Armeniern, die den Eindruck entstehen
ließen, Hilsenrath habe das literarische Potenzial des Stoffes wieder
neu entdeckt, nachdem es über Jahrzehnte durch Franz Werfels 1933
veröffentlichten Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh und dessen
4
ungeheuren Erfolg erschöpft schien. Noch im selben Jahr, 1989,
erschien Doğan Akhanlis Kiyamet günü yargiļari, das seit 2007, dem
Jahr der Ermordung des armenischstämmigen Journalisten Hrant
Dink in Istanbul durch eine jungen türkischen Rechtsradikalen, in
einer deutschen Übersetzung, Die Richter des Jüngsten Gerichts,
5
6
vorliegt; 1997 publizierte Peter Balakian Black Dog of Fate (2000
unter dem Titel Die Hunde vom Ararat ins Deutsche übersetzt), und
ebenfalls im Jahr 2000 veröffentlichte Ahmet Ümit seine Kriminaler7
zählung Patasana , von der bis 2013 eine gleichnamige Übersetzung
in mehreren Auflagen herauskam; auf Jochen Mangelsens Ophelias
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Mit seinem 2010 produzierten Dokumentarfilm AGHET, benannt nach dem armenischen Wort für »Katastrophe«, gab Eric Friedler in Anlehnung an Claude Lanzmanns Dokumentation SHOAH über den Genozid an der europäischen Judenheit dem
Völkermord an den Armeniern einen in der Sprache der Opfer eingeführten Begriff.
Der Essay beruht in Ausschnitten auf folgenden Beiträgen des Verfassers: »Nachwort«, in: Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, hrsg. von Andreas Meier, Göttingen 2011, und: »Franz
Werfel und Armin T. Wegner in Palästina. Zur Entdeckung des Armenienthemas
in der deutschen Literatur«, in: Roy Knocke, Werner Treß (Hrsg.), Franz Werfel
und der Genozid an den Armeniern, Berlin 2015, S. 59–75.
Das Märchen vom letzten Gedanken. Roman, München 1989.
Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. Bd.1: Das Nahende, Bd. 2: Die
Kämpfe der Schwachen, Berlin 1933.
Übers. von Hülya Engin, Klagenfurt 2007.
New York 1997; übers. von Jörg Trobitius, Wien 2000.
Deutsche Ausgabe: Patasana. Übers. von Recai Hallac, Berlin 2009 (als Paperback unter dem Titel Patasana – Mord am Euphrat, Berlin 2013).
Einsicht
Reise nach Berlin (2001) folgte 2004 – mit großem Erfolg auch
Dank der Verfilmung durch die Brüder Paolo und Vittorio Taviani
– Antonia Arslans La masseria delle allodole zugleich auch in der
9
deutschen Übersetzung unter dem Titel Das Haus der Lerchen; 2009
veröffentlichte Varujan Vosganian einen Band kurzer Erzählungen,
10
Cartea soaptelor , 2013 als Buch des Flüsterns ins Deutsche übertragen, und zwei Jahre später publizierte Fethiye Çetin ihren Roman
11
Anneannem, von dem seit 2011 eine deutsche Fassung unter dem
Titel Meine Großmutter vorliegt. Chris Bohjalians The Sandcastle
12
Girls wurde 2012 ein US-amerikanischer Bestseller, und 2014
13
griffen sowohl Martin von Arndts Tage der Nemesis wie Thomas
14
Hartwichs Die Armenierin den Völkermord als Thema auf, dessen
Aktualität im zeitgenössischen literarischen Feld auch die Auswahl
der Gedichte von Jeghische Tscharenz, die 2010 unter dem Titel
15
Mein Armenien erschien, dokumentiert.
Für die Rezeption des armenischen Völkermords in der deutschen Literatur kommt hier den politischen Ereignissen im Jahre
1933, dem Jahr der Veröffentlichung von Werfels Musah Dagh, eine
nicht unbedeutende Rolle zu, verhinderten sie doch nicht nur auf
lange Zeit die Wirkung Werfels in Deutschland, sondern – indirekt
– auch noch ein weiteres umfangreiches Romanprojekt, das der in
dieser Zeit als Lyriker und Reiseschriftsteller recht bekannte Dichter
Armin T. Wegner angegangen war.
Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh
Eine wichtige Rolle spielte in diesem Kontext der 1924 in Wien gegründete Paul Zsolnay Verlag, dessen geschäftlicher Erfolg auf Franz
Werfels Roman Verdi gegründet war. Hier erschien auch 1933 Werfels
großer historischer Roman, der nicht unwesentlich durch seine zwei
Palästinareisen angeregt worden war. Am »16. Jänner 1925« traten der
34-jährige Franz Werfel und seine 46-jährige Lebensgefährtin Alma
Mahler an Bord der »Vienna« eine erste, auf mehrere Wochen angelegte Reise in den Vorderen Orient an, die sie von Triest nach Alexandria,
Kairo, die Königsgräberstädte Luxor und Theben und schließlich über
El Kantara nach Jerusalem führte. Ein kleines, 19 Seiten umfassendes,
16
17
handschriftliches Notizbuch , das so genannte Ägyptische Tagebuch,
bot ihm in den nächsten Wochen nicht nur Raum für Reiseimpressionen, sondern wurde auch zum Reflexionsmedium der modernen »con18
ditio judaicia« und damit zugleich Ort einer Konfrontation Werfels
mit seinem eigenen Judentum. Hier in Palästina nämlich begegnet er
vor allem in den neuen Siedlungen kollektiven Lebensformen, die ihn
19
an Ideen gemahnten, »für die er selbst so viele Jahre gestritten« hatte
und die von Alma sowohl aus einer antisemitischen als auch aus einer
antikommunistischen Einstellung heraus heftig abgelehnt wurden. In
ihren (leider nicht immer zuverlässigen) autobiographischen Erin20
nerungen Mein Leben, hielt sie neben zahlreichen Trivia, wie etwa
dass man »Tee in verrosteten Eierschalen« servierte, besonders fest,
dass ihnen »die Familiensiedlungen besser als die kommunistischen
21
Kwuzahs« gefielen. Leider ist man für die zweite Palästinareise des
seit 1929 verheirateten Ehepaars (Mahler-)Werfel gänzlich auf diese
Aufzeichnungen Almas angewiesen, die schon den Beginn der Reise
falsch, nämlich auf das Jahr 1929 datieren. Tatsächlich reiste man
Anfang 1930 entlang der Route ihrer ersten Reise nach Jerusalem und
fand »ein ungemein gewachsenes, verschönertes, viel interessanteres
22
Palästina«. Auf Werfels Wunsch organisierte man von Jerusalem aus
eine Weiterfahrt nach Syrien und in den Libanon, nach Damaskus,
Baalbek und Beirut. Während des Aufenthalts in Damaskus besichtigte
man auch »die größte Teppichweberei« der Stadt:
»Der Besitzer erschien und übernahm die Führung durch sein
riesiges Etablissement. Wir gingen die Webstühle entlang, und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden
herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal
den Boden mit einem Besen rein.
Franz Werfel frug den Besitzer, was das für merkwürdige Kinder
seien. Er antwortet: ›Ach, diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf
der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht
verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen
Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und
niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu.‹
16 Vgl. u.a. Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos (Hrsg.), Franz Werfel. 1890–1945.
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Bremen 2001.
Mailand 2004; dt.: Das Haus der Lerchen. Übers. von Maja Pflug, München
2004. Der Film der Brüder Taviani lief auf der Berlinale 2007 außer Konkurrenz.
Buch des Flüsterns. Übers. von Ernest Wichner, Wien 2013 (zuerst: Iasi 2009).
Dt.: Meine Großmutter. Übers. von Christina Tremmel-Turan und Tevfik Turan,
Engelschoff 2011.
New York 2012 ff.
Cadolzburg 2014.
Köln 2014.
Übers. von Konrad Kuhn, Wuppertal 2010.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
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22
Katalog einer Ausstellung, gemeinsam veranstaltet vom Bundesministerium für
Auswärtige Angelegenheiten und von der Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur in Wien, Wien 1990, S. 42 ff.
Franz Werfel, Gesammelte Werke. Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher,
Aphorismen, Literarische Nachträge. Aus dem Nachlass hrsg. von Adolf A.
Klarmann, 2. Aufl., München 1975, S. 705–742.
Lunzer, Lunzer-Talos (Hrsg.), Franz Werfel, S. 42.
Werfel, Gesammelte Werke, S. 738.
Alma Mahler-Werfel, Mein Leben. Biographie, 34. Aufl., Frankfurt am Main
1998 [zuerst 1963], S. 164.
Ebd., S. 166.
Ebd., S. 207.
23
Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte
23
uns nun wichtig oder schön erscheinen.«
Von nun an gingen Franz Werfel »die Armenier […] nicht aus
dem Sinn«, und auf seinem »Bett häuften sich […] die Notizen über
24
die an den Armeniern begangenen Greuel.« Auch auf der Fahrt durch
den Libanon, von Baalbek nach Beirut, nahm das Ehepaar die Spuren der Vertriebenen wahr: »Früh fuhren wir an vielen armenischen
Dörfern vorbei, von Überlebenden erbaut, die sich von den türkischen
25
Siedlungen durch Reinlichkeit und Blumenpracht abhoben […].«
Trotz aller Reisewidrigkeiten und Zollschikanen »blieb in Franz
Werfels Seele haften: das Unglück der Armenier. Er skizzierte noch
während der Reise eine Romanidee. Unser Freund, der Gesandte
Graf Clauzel, sandte Werfel auf seine Bitte alle Protokolle über die
türkischen Greuel aus dem Pariser Kriegsministerium, und Werfel
schrieb später von 1932 bis 1933 den Roman: ›Die vierzig Tage des
26
Musa Dagh‹ nieder.«
Wenngleich Werfel seine große Erzählung in das Kostüm eines
traditionellen historischen Romans kleidete, war ihm stets präsent,
dass es mit diesem Stoff nicht nur ein geschichtliches Datum in das
kulturelle Gedächtnis seiner Zeit einzuschreiben galt, sondern dass es
zugleich auch um die mythischen Wurzeln des armenischen Volkes
in Sprache und Poesie ging: »Die Geistesgeschichte eines Volkes
beginnt mit seiner Schrift. Die politische und kulturelle Geschichte
der Armenier freilich ist weit älter […] es gab noch keine Schrift,
aber es gab Dichter. Sie zogen von Ort zu Ort und prägten ins Gehör
des Volkes ihre schwermütig schönen Strophen […] Die Poesie war
27
da und damit im höchsten Sinn die Nation.«
wie Werfel wurde die Begegnung mit Palästina zu einer ihr weiteres
Leben geistig prägenden Erfahrung.
Landau und Wegner reisten in einer der Werfel’schen Route
entgegengesetzten Richtung. Sie landeten in Haifa und durchquerten von dort aus Palästina, befuhren den Jordan, den See Genezareth und das Tote Meer, um nach einem Abstecher ins benachbarte
Syrien über Damaskus und schließlich über den Sinai bis zu den
Cheops-Pyramiden bei Kairo zu kommen. Auch Wegners lernten ein
von Gegensätzen geprägtes Land kennen, Gegensätze die nicht nur
zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung sich aufbauten, sondern auch die eingewanderten Juden tief zu spalten schienen: »Ein junger Pionier […] lächelte: ›Sabbatruhe? … Wir spielen
28
Fußball!‹« Diese auch für Armin T. Wegner ungeheure Faszination
29
des modernen jüdischen Lebens, des »neuen jüdischen Menschen«,
scheint sich von heute aus rückblickend auch darin auszudrücken,
dass sich Erinnerungen an die Gräuel des armenischen Völkermords,
dessen Augenzeuge Wegner zwischen 1915 und 1916 war, weder in
30
31
Jerusalem noch in Damaskus einstellten.
Wegner war im Frühjahr 1915 als Mitglied der Deutsch-Ottomanischen Sanitätsmission unter Leitung des Barons Fritz von Trützsch32
ler von Falkenstein ins Osmanische Reich gekommen und war von
April bis August 1915 in Konstantinopel, später in Rodosto und auf
Gallipoli stationiert. Vermutlich erfuhr er, an Typhus erkrankt, im Juni
1915 im deutschen Lazarett in Pera durch Pastor Hans Bauernfeind
33
von den ersten »Austreibung[en]« der Armenier aus ihren Wohnsitzen. Auf einer Reise während des anschließenden Genesungsurlaubs
lernte Wegner »im Sommer 1915 einen Kaufmann aus der Schweiz«
kennen, der ihm erneut von der Vertreibung der armenischen Bevölkerung berichtete, woraufhin Wegner bis nach Konia, dem Startbahnhof
Armin T. Wegner als Augenzeuge und Chronist
des Genozids an den Armeniern
Ein Jahr vor der zweiten Palästinareise des Ehepaars Werfels hatte
sich auch ein anderes Schriftstellerpaar auf eine Reise nach Palästina begeben, die damals 36-jährige Lyrikerin Lola Landau und der
mit ihr in zweiter Ehe verheiratete 44-jährige Lyriker, Erzähler und
Publizist Armin T. Wegner. Wie die Werfels schiffte man sich in
Triest ein und wie sie hatte man auch auf der Passage vergleichbare Erlebnisse, wenngleich mit umgekehrten Rollen. Denn wie der
Altersunterschied verhielt sich auch die religiöse Rollenverteilung
reziprok zu den Werfels. Landau war Jüdin, Wegner ein christlich
getaufter intellektueller deutscher Kulturpatriot. Doch für Landau
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24
Ebd., S. 208.
Ebd.
Ebd., S. 209.
Ebd., S. 210.
Werfel, Gesammelte Werke, S. 537 f.
28 Armin T. Wegner, Jagd durch das tausendjährige Land, Berlin 1932, S. 200; vgl.
ähnlich auch S. 53.
29 Ebd., S. 158; ähnlich auch S. 110 f.
30 Anders als bei Werfel finden sich in Wegners Aufzeichnungen vom Aufenthalt in
Damaskus keinerlei Hinweise auf die Armenier. Vgl. ebd., S. 127 f.
31 Bei der Besichtigung des syrischen Waisenhauses in Jerusalem ist ihm »die Ge-
stalt eines armenischen Knaben […], der hier erzogen wurde, und den ich während des Krieges unter den armenischen Flüchtlingen in der mesopotamischen
Wüste traf«, zwar vertraut. Wegner, Jagd, S. 42. Wie die früheren Publikationen
Wegners aber dokumentieren, muss ihm durchaus bewusst gewesen sein, dass es
sich bei den Armeniern in der mesopotamischen Wüste keineswegs um Flüchtlinge, sondern um gewaltsam Deportierte handelte, die man in der Wüste ihrem
Schicksal überlassen hatte.
32 Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Nachlass (NL) Wegner, Wegner an
Gerda Maurer, 31.3.1915: »Und meine Mutter verhalf mir dazu. Sie war eine Jugendfreundin der Frau von Tirpitz, des großen Admirals der deutschen Flotte. Mit
ihren Kindern hatten wir zusammen, als wir selbst klein waren, so zwischen
sechs und acht Jahren, ständig gespielt.« Hier zit. nach: Martin Tamcke, Armin T.
Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Hamburg 1996, S. 31.
33 Vgl. den kleinen Briefwechsel mit Bauernfeind zwischen 1915 und 1919, Tamcke, Wegner, S. 86.
Einsicht
links: Armin T. Wegner als Sanitäter im Ersten Weltkrieg, Foto: unbekannt
oben: Armemische Flüchtlinge auf dem Tauruspass, Foto: Armin T. Wegner
unten: Leichen in der Wüste, Foto: Armin T. Wegner
Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Wegner, copyright: Wallstein-Verlag
Einsicht 15 Frühjahr 2016
25
der Bagdadbahn reiste, um sich selbst »von dem Ausmaß der Verfol34
gungen zu überzeugen«. Anschließend kehrte er nach Berlin zurück,
wo er sich einerseits von September bis in den Oktober hinein von
den Folgen der Krankheit erholte, andererseits sich zugleich leider
erfolglos bemühte, Ansprechpartner, Multiplikatoren für seine Nachrichten über die Massaker an den Armeniern zu finden.
Nach der Auflösung der von Trützschler’schen Sanitätsmission
im Sommer 1915 wechselte Wegner als Sanitäter in die neu aufgestellte 6. Osmanische Armee unter der Leitung von Feldmarschall
Colmar von der Goltz, der von Bagdad aus die Front gegen die von
Basra vorrückenden britischen Truppen organisieren sollte. Sowohl
auf seiner Hinreise nach Bagdad im November 1915 wie auch auf
seiner erneut durch eine schwere Erkrankung erzwungene Rückreise
im Oktober 1916 wurde Wegner Zeuge der grausamen Deportationen
von Armeniern. Insbesondere auf seiner Rückreise konnte er die
Lager Maden, Tibini, Abu Herera und Rakka besichtigen und machte
im Waisenhaus von Aleppo zudem die Bekanntschaft der Krankenschwestern Anna Jensen und Beatrice Rohner, einer Schwester der
Evangelischen Hilfs-Mission für christliches Liebeswerk im Orient
35
und »Leiterin des bedeutendsten humanitären Widerstands gegen
36
den Völkermord in der Provinz Aleppo«. Mit ihrer Hilfe konnte er
sich in den Flüchtlingslagern um Aleppo bewegen, ihre Sprachkenntnisse ermöglichten ihm, Aufzeichnungen von konkreten Schicksalen
37
der Deportierten zu machen. Aus den Flüchtlingslagern in Meskené
und Aleppo schmuggelte Wegner, wie er selbst später berichtet, im
Herbst 1916 einige Bittbriefe, die er der amerikanischen Botschaft
in Konstantinopel überbrachte. Seine Aufzeichnungen trug Wegner
in ein »Kriegstagebuch«, das »Tagebuch 1915 und 1916« ein, wo
sie neben Agenda-Noten und summarischen Tagesberichten stehen.
Sie gingen später auszugsweise in das Kapitel »Die vierzig Tage und
Nächte der Heimkehr. Aus dem Tagebuch« seines Reisebuchs über
die Expedition mit der 6. Osmanischen Armee ein, Der Weg ohne
38
Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen.
Erst nach dem Krieg war es Wegner möglich, sein erfahrungsbasiertes Wissen um den Völkermord an den Armeniern systematisch
39
zu erweitern. Als erstes Dokument seiner von nun an entschieden
proarmenischen öffentlichen Äußerungen gilt der im Februar 1919
im Berliner Tageblatt mit dem Titel »Armenien« erschienene »offene
Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen
40
Volkes in die Wüste«. Wegner zitierte bereits hier mehrfach aus
den von Johannes Lepsius und Martin Niepage 1916 publizierten
Büchern zum Völkermord und bediente sich zudem in Ernst Sommers Heft Die Wahrheit über die Leiden des armenischen Volkes in
41
der Wüste während des Weltkriegs. Er nutzte auch seine Stellung
als Schriftleiter des Neuen Orient, um seinen eigenen, unter Lebensgefahr aus dem Land geschmuggelten Bestand an Bildern des Genozids zu erweitern. Seine umfangreichen Recherchen münden dann
in den am 19. März 1919 im Vortragssaal der Berliner »Urania«Gesellschaft gehaltenen Vortrag »Die Austreibung des armenischen
Volkes in die Wüste«, zu welchem er neben eigenem auch fremdes
fotografisches Material unterschiedlicher Provenienzen heranzog.
Tatsächlich wählte Wegner das Illustrationsmaterial so aus, dass
nicht nur seine eigenen Erfahrungen bildlich repräsentiert, sondern
auch der fiktive Erzählfaden seines Vortrags, der Weg eines Deportationszugs vom Nordosten der Türkei in die Mesopotamische Wüste,
mit historischen wie geographischen Aufnahmen anschaulich wurde.
Zu dieser Literarisierung des Themas fügte sich, dass bereits seine
erste größere Publikation zum Thema, »Der Weg ohne Heimkehr«
(1919), die armenische Deportation durch die mythische Aufladung
des landschaftlichen Raumes in eine menschheitsgeschichtliche Dimension rückt: »Mein Haupt ruht in Mossul, meine Füße rühren an
die Trümmer von Babylon. Meine rechte Hand liegt auf den Dächern
von Damaskus, und mit der linken greife ich in die Schneeberge
42
von Luristan. Durch mich rinnt eine unendliche Ader, der Tigris.«
Im späteren Gedichtband Die Straße mit den tausend Zielen
(1924) greift Wegner dieses Bild leicht variiert in der Zeile »Es schläft
34 DLA, NL Wegner, Brief Wegners an Azarian, 24.9.1975. Hier zit. nach: Tamcke,
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38
26
Wegner, S. 87.
Vgl. Tessa Hofmann, Gerayer Koutcharian, »›Images that horrify and indict‹.
Pictorial Documents on the Persecutions and Exermination of Armenians from
1877 to 1922«, in: Armenien Review, Jg. 45 (1992), Nr. 1–2, S. 177–178 und
53–184; Hilmar Kaiser, At the Crossroad of Der Zor. Death, Survival and Humanitarian Resistance, Princeton 2001; Tamcke, Wegner, S. 118–131.
Hans-Lukas Kieser: »Einleitung«, in: ders., Elmar Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. The Armenian Genocide, Turkey
and Europa, Zürich 2006, S. 9; vgl. auch Kaiser, At the Crossroad of Der Zor.
Vgl. Armin T. Wegner, Der Weg ohne Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen, Berlin 1919, S. 169; Transkriptionen einiger dieser Berichte im »Kriegstagebuch«
Wegners finden sich bei Tamcke, Wegner, S. 131–148.
Vorabdrucke einzelner Teile hieraus finden sich schon 1918, noch während des
Krieges: »Der Weg ohne Heimkehr«, in: Der Höllenfahrer. Novellen schlesischer
Dichter, Teil 2, hrsg. von Walter Meckauer, Konstanz 1918, S. 21–29.
43
mein Haupt im Berge Ararat« des Gedichts »Der Riese Landschaft«
auf.
Nahezu zeitgleich mit der Arbeit am »Urania«-Vortrag entstehen
kleinere epische Miniaturen, welche Bilder, wie sie etwa während
des Vortrags gezeigt wurden, zum erzählerischen Ausgangspunkt
nehmen. So geraten etwa die schon im »Tagebuch 1915 und 1916«
beschriebenen öffentlichen Hinrichtungen zum literarischen Motiv
und spielen auch in der Erzählung »Der Erhängte« in Im Hause
44
der Glückseligkeit eine wichtige Rolle. Dieses Motiv findet sich
wenig später auch in der Erzählung »Der Bankier«, die 1921 in
der Sammlung der Türkischen Novellen erschien. Hierzu gehörten außerdem die Texte »Der Knabe Hüssein«, »Osman« und »Der
Sturm auf das Frauenbad«. Während Wegner in seiner Novelle »Der
Bankier« den Völkermord nicht unmittelbar thematisierte, sondern
das Klima des im Kriege wachsenden Misstrauens zwischen den
Volksgruppen schilderte, in welchem auch die armenischen politischen Komitees, die Daschnaks, auf eine Befreiung durch die russischen Truppen hofften, ging er in der Erzählung »Der Sturm auf das
45
Frauenbad« das Thema direkt an und griff ein bereits von Johannes
Lepsius in seiner Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte
über die Pogrome von 1895/96 erwähntes Ereignis in Cäsarea am
46
30. November 1895 auf. In Wegners Erzählung rettet hier ein türkischer Offizier namens Lutfi die junge Armenierin Sirpuhi vor dem
plündernden Mob seiner Landsleute und lässt beide am Ende einer
idyllisch verklärten Flucht zueinanderfinden.
Diese Erzählungen müssen zugleich als erste Hinweise auf ein
größeres Romanprojekt verstanden werden, das Wegner wohl spätestens ab dieser Zeit, ab Beginn der 1920er Jahre unter dem Titel
»Die Austreibung« plante. So begegnet die Figur des Lutfi als Lutfi
Omer (gelegentlich auch Oemer geschrieben) in einem in diesem
Kontext entworfenen zweiten Band, wo sie zu den Häuptern einer
multi-ethnischen Verschwörungsgruppe gegen Abdul Hamid II. gehört, die als utopische Romanfiktion an die bis 1914 tatsächlich noch
politisch kooperierenden armenischen wie türkischen Komitees,
den armenischen Daschnak-Bund und die jungtürkischen CUP, erinnert. Wie sehr das Projekt bereits 1922 an Stoff wie thematischem
Umfang zugenommen, Wegner die spezifisch armenische Frage zur
Frage von Nationenbildung und staatlicher Souveränität abstrahiert
und auf Deutschland übertragen, ja sukzessive zur menschheitsgeschichtlichen Problematik überhöht hatte, dokumentiert eine größere
Stichwortskizze ,»Deutschland als Kulturland für die armenische
47
Frage«, mit dem Datum »1922« . Neben Stichworten wie »Gerhard [!] Hauptmanns Bedeutung für das armenische Volk« interessierten Wegner zu diesem Zeitpunkt Fragestellungen wie die
Stellung Deutschlands zu Kemalisten; die armenische Dichtung in
Deutschland; Armenien und die deutsche Wissenschaft; Armenien
48
als Transitland für deutsche Ausfuhr; die Gestalt Kemal Paschas.
Auch notierte Wegner schlicht Namen von Autoren, die er wohl
49
lesen wollte, wie etwa »Liman von Sanders (Das Buch)« oder »Leh50
mann Haupt«. Umfangreiche Lektürelisten wie »Bücher für die
51
Geschichtsdeutung meines Romans« oder »Liste der Bücher für
52
Roman (unterstes Brett von rechts angefangen bis Anatolien)« verzeichnen Titel, die ihm später dann sein Stiefsohn Andreas entweder
aus der Staatsbibliothek in die Berliner Wohnung bringen musste
oder von der Berliner Wohnung zu seinem Zeltarbeitsplatz im Wald
am kleinen Sacrower See zwischen Groß-Glienicke und Potsdam.
Noch deutlicher wird sein Bestreben, das Schicksal des armenischen
Volkes in eine menschheitsgeschichtlich exemplarische Dimension
rücken zu wollen, in seinem 1924 erschienenen Gedichtband Die
Straße mit den tausend Zielen, in welchem sich das in »Meskene am
Euphrat, Oktober 1916, im Angesicht der armenischen Deportation«
entstandene Gedicht »Die Austreibung der Menschheit« findet.
»Auf einem Totenhügel saß ich da,
Am Rand der Wüste, wo der Fluß sich träumte
Durch greise Ebenen. Und es geschah,
Daß vom Gebirg ein Strom von Menschen schäumte.
[…]
Und in der Wolken aufgeblühtem Strauß
Erkannte ich, voll Fluch und Schuldbeschwerde,
Durch der Jahrtausende gewölbtes Haus
53
Der Menschheit Zug von Anbeginn der Erde.«
43 Armin T. Wegner, »Der Riese Landschaft«, in ders., Die Straße mit den tausend
Zielen, Dresden 1924, S. 29.
39 So bietet etwa Wegners Exemplar des von ihm intensiv gelesenen Berichts über
die Lage des armenischen Volkes in der Türkei (Potsdam 1916) von Johannes
Lepsius den Besitzervermerk: »Armin T. Wegner [/] Berlin [/] Jan. 1919«; sein
Handexemplar befindet sich heute mit seiner gesamten Bibliothek im WegnerArchiv der Stadtbücherei Wuppertal (Sign.: 88/5189).
40 Vgl. Armin T. Wegner, »Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten«, in:
Die Frau der Gegenwart, XI. [= N. F. Vl] (1919), Nr. 2. S. 11–14; auch: ders.,
»Armenien. Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen Volkes
in die Wüste«, in: Berliner Tageblatt, 23.2.1919 u.ö.
41 Frankfurt am Main 1919; Wegners Handexemplar im Wegner-Archiv der Stadtbücherei Wuppertal (Sign.: 88/5184) weist Spuren intensiver Lektüre auf.
42 Hier zit. nach: Armin T. Wegner, »Weg ohne Heimkehr«, in ders., Das Zelt, Berlin 1926, S. 113.
Einsicht
44 Armin T. Wegner, Im Hause der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei,
Dresden 1920; in Auszügen auch in: Wegner, Zelt, hiernach im Folgenden zitiert.
45 Armin T. Wegner, »Der Sturm auf das Frauenbad. Novelle«, in Fortsetzungen in: Berli-
ner Tageblatt. September bis Oktober 1921; im gleichen Jahr aufgenommen in:
ders., Der Knabe Hüssein. Türkische Novellen, Dresden 1921, auch in: Armin T.
Wegner, Am Kreuzweg der Welten. Lyrik, Prosa, Briefe, Autobiographisches,
hrsg. von Ruth Greuner, Berlin 1982, S. 176–189, hiernach im Folgenden zitiert.
46 Vgl. Johannes Lepsius, Armenien und Europa. Eine Anklage-Schrift wider die
christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin
1896, S. 29: »Der Pöbel von Cäsarea, der 30 Häuser von Armeniern mit ihren Insassen verbrannte, nahm auch teil an dem saubern Geschäft, das Frauenbad der
Stadt zur Stunde des Bades zu stürmen.« Und später auf S. 239: »Die Bäder werden erstürmt, Frauen und Kinder misshandelt, nackt auf die Straße gejagt, umgebracht und verstümmelt.«
Einsicht 15 Frühjahr 2016
DLA, B 78. 1. 295.
Ebd.
Otto Liman von Sanders, Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920.
C. F. Lehmann-Haupt, Armenien einst und jetzt, 3 Bde., Berlin 1910, 1926 und
1931.
51 DLA, B 78. 1. 295.
52 Ebd.
53 Armin T. Wegner, »Die Austreibung der Menschheit«, in: ders., Die Strasse mit
den tausend Zielen, Dresden 1924, S. 82–84.
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Während Werfel aber in einer intensiven Schreibphase zwischen Juli
54
1932 und März 1933 seinen geplanten Roman vorantrieb, ihn klug
um ein im Zentrum des Geschehens platziertes Gespräch zwischen
Johannes Lepsius, dem Gründer des Armenischen Hilfswerks sowie
der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, und Enver Pascha, dem
Oberbefehlshaber der Armeen des Osmanischen Reiches aufbaute,
rang Wegner mit den ungeheuren Stoffmassen, die sich im Laufe
seiner langjährigen, wenngleich immer wieder unterbrochenen Arbeit an seinem Roman Die Austreibung angehäuft hatten.
So muss die Ankündigung eines Armenier-Romans von Franz
Werfel und mehr noch dessen Lesereise im November 1932 bei Wegner eine gewisse Bestürzung ausgelöst haben. Am 19. Dezember 1932
schreibt er aus Charlottenburg an seine Geliebte und spätere zweite
Frau Irene Kowaliska, dass ihn »schwere Sorge […] erfüllt und gelähmt hat. Es ist der schwerste Schicksalsschlag, der mich in diesem
55
Augenblick treffen konnte.« Wegner versuchte umgehend, seinen
Namen wieder in Zusammenhang mit dem Schicksal des armenischen
Volkes zu bringen, und reichte beim Berliner Tageblatt seine kleine
Erzählung »Der Knabe Atam« ein, die auch am Sonntag, den 25. Dezember 1932 gedruckt wurde. Gleichzeitig nahm er mit Franz Werfel
Kontakt auf und muss ihn in einem leider nicht überlieferten Brief von
vermutlich Mitte Dezember 1932 auf sein literarisches Projekt und
die ihn dazu legitimierende Augenzeugenschaft hingewiesen habe.
Werfels Antwort hierauf datiert vom 23. Dezember und ist gelassen,
beinahe jovial dem älteren Kollegen gegenüber:
»Recht besehen besitzen Sie in Ihrem großen Erlebnis und Ihrer
schicksalhaften Verbundenheit einen ungeheuren Vorteil mir gegenüber, der nicht aus Erfahrung, Lebensdetail, Sinneswissen sein Werk
schaffen kann, sondern nur aus Phantasie, Erfindungskraft und aus
einigen geschichtlichen Dokumenten. Bei einem derartigen Wettbewerb müßte demnach die Unruhe weit mehr auf meiner Seite sein.
Ich glaube aber, lieber Wegner, daß wir beide sehr ruhig sein
können, denn unsere Werke werden sicherlich ganz und gar verschieden sein. Das meine benutzt von den dokumentierten Tatsachen
nur eine einzige Episode, die in der Aktensammlung von Lepsius
einige wenige Seiten umfaßt. Diese Episode dient mir zum weiten
Rahmen für ein allgemein menschliches Geschehen, für symbolhafte
Entwicklung, für die Geschichte rein erfundener Gestalten, sie ist
56
nicht Selbstzweck, sondern nur Anlaß.«
Werfel, der hier wohl auf die von ihm literarisch gestaltete und
historisch dokumentierte Begegnung zwischen Lepsius und Enver
Pascha im Jahre 1915 anspielt, jene Episode, die er wohl auch bei
seinen Lesungen öffentlich vortrug, scheint Wegner jedoch keineswegs beruhigt zu haben. Man kann annehmen, dass eine eingerückte
Notiz im Berliner Tageblatt vom 30. Dezember 1932 von Wegner
veranlasst worden war, in welcher neben der Ankündigung einer
Lesung Werfels in der Akademie auch auf Wegners, hier zum ersten Mal öffentlich beim Titel genannten »drei- oder vierbändigen«
57
Roman »Die Austreibung« hingewiesen wird. Ein weiteres Mal
muss sich Wegner im Januar an Werfel gewandt haben, doch ein
58
kurzes Billet von Alma Mahler-Werfel an ihn vom 12. Januar 1933
beendet diese Korrespondenz.
Tatsächlich kann Wegners Erzählung »Der Knabe Atam« als
Keimzelle des ersten Bandes seines großen epischen Mehrteilers gelten, wie er heute im Wegner-Nachlass des Deutschen Literaturarchivs
in Marbach vorliegt. Er beginnt mit der Geschichte Atam Akinians,
der nach dem Armenier-Pogrom von 1896/97 als einziger Überlebender seiner Familie in Karputh in das Haus Konstantin Worperians
aufgenommen wird, einer literarischen Figur, die derjenigen Gabriel
Baghradians in Werfels Musa Dagh nicht unähnlich ist und über
welche es im bislang unveröffentlichten Romanmanuskript heißt:
»Konstantin Worperian hatte vor dreißig Jahren Vorlesungen in
Edinburgh über Philosophie und Geschichte gehört und gemeinsam
mit einer Russin den Preis für die Lösung einer wissenschaftlichen
Aufgabe erhalten. Diese Russin wurde später seine Frau. Fast zehn
Jahre hatten beide in England zugebracht, Worperian hatte sogar die
englische Staatsangehörigkeit erworben und drückte sich noch jetzt
mit Vorliebe in englischer Sprache aus. Seine Kleidung, von ausgeprägt europäischem und vornehmem Geschmack, erhöhte das Aussehen seiner schlanken männlichen Gestalt, dabei vermochte niemand
hinter die unbeweglichen Züge seines schönen regelmäßigen Gesichts
zu sehen. Seine vier erwachsenen Kinder hatte er nach englischem
Muster erzogen; aber weit mehr als diese Erziehung, die vor allem
in kalten Abreibungen und im Lesen Dickensscher Romane bestand,
erregte das Erscheinen einer Badewanne unter den Einwohnern Meserehs Aufsehen, die er nach Kharput kommen ließ, sowie der vergeb59
liche Versuch, in seiner Wohnung ein Wasserklosett einzurichten.«
Der große Armenien-Roman, zu dem die ersten Vorstufen bereits
im »Kriegstagebuch 1916« nachweisbar sind und auf den 1919 auch
Glossen in Wegners Arbeitsexemplar von Johannes Lepsius’ Bericht
60
über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei hinweisen, sollte
aber nicht vollendet werden. Lola Landau fuhr Mitte Januar 1933 einige Tage mit ihrer Mutter nach Ober-Schreiberhau ins Riesengebirge.
Wegner blieb in Berlin und schrieb ihr am 22. Januar 1933: »Ich
arbeite jetzt angestrengt an meinem Roman [»Die Austreibung«];
aber leider geht es nur sehr langsam vorwärts. Es fehlt mir nicht an
Gestaltungskraft, im Gegenteil eine Fülle von Ideen drängt sich mir
in unaufhaltsamem Strom auf, beglückende und fruchtbare Gedanken; aber ich arbeite zersplittert, kann mich nur schwer beschränken
und zusammenhalten und wie in der Schule irren meine Gedanken
immerzu ab. Ich wünschte, ich könnte auf dem Lande sein, wo es mir
61
immer besser gelingt, nur bei einer Sache tatkräftig zu bleiben.«
Tatsächlich dokumentiert Wegners Tagebuch aus dem Jahre 1933
diese schockartig gesteigerte Betriebsamkeit. Findet sich noch unter
dem 8. Januar eine lange Namensliste von Kritikern, denen er sein
Reisebuch Jagd durch das tausendjährige Land zukommen lassen
wollte, so beginnt der 9. Januar mit dem schlichten Eintrag »Die 40
62
Tage des Musa Dagh« – und von da an dominieren im Tagebuch
Exzerpte, Entwürfe und Materialsammlungen, die mitunter täglich
unter der Überschrift »Für Austreibung« zu finden sind. Diese letzte
Arbeitsphase, die im Sommer im Sacrower Wald in seinem »Zeltschloss Krähenorgel« fortgesetzt wird, endete abrupt am 11. August
1933. Nachdem bereits im Mai seine Werke bei den Bücherverbren63
nungen den Flammen zum Opfer gefallen waren, wurde er an diesem Tag durch die Gestapo verhaftet. Nach einer Odyssee durch
diverse Gefängnisse und frühe Konzentrationslager wie Oranienburg,
Börgermoor und Lichtenburg, nach Folter und seiner Haftentlassung
1934, stürmten gleich mehrere Projekte gedanklich auf ihn ein, die
das Armenienbuch für lange Zeit in den Hintergrund drängten. Nun
wollte Wegner seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern in einem
Roman mit dem Titel »Die Peitsche« und den Aufstieg des Nationalsozialismus in seinem Erzählprojekt Die Mühle Gottes weitgehend
parallel gestalten. »Die Austreibung« blieb schließlich dauerhaft
Fragment – während Werfels Roman weltberühmt wurde.
61 DLA, Nachlass Wegner, Wegner an Lola Landau, 22.1.1932. Ich danke Thomas
63 So findet sich sein Name unter den Autoren, die in der Abteilung »Schöne Litera-
Hartwig für diesen Hinweis!
62 DLA, Nachlass Wegner, Tagebuch 1933.
70 Jahre nach dem Holocaust ist in Deutschland der
Rechtspopulismus laut und deutlich geworden:
Sichtbar bei den Pegida-Demonstrationen, hörbar
in öffentlichen Debatten und politisch in Verbindungen zu neuen Parteien wie AfD und Alfa. Er hetzt
gegen Juden, Muslime und Flüchtlinge, verachtet
Politik und Medien, propagiert einen Nationalismus, der zur Abschottung führt, und sehnt sich nach
Autorität sowie einer homogenen »Gemeinschaft«.
Dietmar Molthagen / Ralf Melzer (Hg.)
Andreas Zick / Beate Küpper
Wut, Verachtung, Abwertung
Rechtspopulismus in Deutschland
genausgabe).
(Hrsg.), Franz Werfel. An austrian writer reassessed, New York u.a. 1989,
S. 175–191.
55 DLA, Nachlass Wegner, Wegner an Irene Kowaliska, 19.12. 1932.
56 DLA, Nachlass Wegner, Werfel an Wegner, 23.12.1932.
58 DLA, Nachlass Wegner.
59 DLA, Nachlass Wegner.
60 Vgl. Arbeitsexemplar in der Bibliothek ATWs, Stadtbibliothek Wuppertal; hier
28
Einsicht
2. Auflage
im April
Der Sammelband analysiert die unterschiedlichen Erscheinungsformen des
neuen Rechtspopulismus sowie die Einstellungen in der Bevölkerung, die ihn
begünstigen. Mit weiteren Beiträgen von Frank Decker, Alexander Häusler,
Gideon Botsch, Christoph Kopke, Andreas Hövermann u.a.
57 »Franz Werfel und Armin T. Wegner«, in: Berliner Tageblatt, 30.12.1932 (Mor54 Peter Stephan Jungk, »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, in: Lothar Huber
tur« auf jener berüchtigten Schwarzen Liste erscheinen, die der Bibliothekar
Wolfgang Hermann am 2. Mai 1933 dem Deutschen Studentenbund vorlegt.
224 Seiten | 16,90 Euro
ISBN 978-3-8012-0478-5
www.dietz-verlag.de
sind etwa »Atam« und »Karput« als Glossen am Rand zu finden.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
29
Völkermord
Kurze Geschichte eines
unglücklichen Begriffs
von Rainer Huhle
Dr. Rainer Huhle, Politikwissenschaftler in Nürnberg mit den Arbeitsschwerpunkten Menschenrechte,
Erinnerungspolitik und Lateinamerika; Vorstandsmitglied des Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V.,
stellvertretender Vorsitzender des
Kuratoriums des Deutschen Instituts
für Menschenrechte; Mitglied des
UN-Ausschusses gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von
Personen; 1982–2007 tätig in der
Jugend- und Erwachsenenbildung
bei der Stadt Nürnberg; 1986–1989
im Entwicklungsdienst der EKD im
Bereich der Menschenrechtsarbeit in
Südamerika; 1997–1999 als Experte
im Kolumbienbüro des Hochkommissariats für Menschenrechte der
Vereinten Nationen.
Zahlreiche Publikationen zu
Menschenrechtsfragen, zu
Erinnerungskultur und zu Politik
und Kultur Lateinamerikas. Zuletzt:
Nürnberger Menschrechtszentrum
(Hrsg.): Das Internationale
Militärtribunal von Nürnberg 1945/46.
Die Reden der Hauptankläger. Neu
gelesen und kommentiert, Hamburg:
Europäische Verlagsanstalt, 2015.
30
Grundlegende Rechtsbegriffe haben für
gewöhnlich eine lange Entstehungsgeschichte. Sie sind das Ergebnis vieler politischer Polemiken, langer akademischer
Diskurse und zäher juristischer Debatten, ehe sie schließlich breite
Anerkennung finden.
Mit einer gewichtigen Ausnahme: Der Begriff genocide (deutsch
als »Völkermord«1 bezeichnet) ging auf den Vorschlag eines einzigen
Juristen zurück und benötigte nicht mehr als vier Jahre, um einer
eigenen Konvention den Namen zu geben. In den mehr als siebzig
Jahren seit seiner Erfindung hat er sich wachsender Popularität erfreut, und im jungen 21. Jahrhundert gibt es jedes Jahr neue Kampagnen um die »Anerkennung« bestimmter Verbrechen als Genozid.
Nach seiner Rückkehr vom Nordatlantik, wo er sich mit Präsident Roosevelt getroffen und die Atlantik-Charta unterzeichnet
hatte, berichtete Winston Churchill im August 1941 in der BBC von
dieser Begegnung. In einer Passage schilderte er in heftigen Worten
– »barbaric fury», »most brutal exhibitions of ruthlessness« etc. –
die damals bekannten Nazigräuel gegen die europäischen Völker.
Seit den Invasionen der Mongolen habe es keine vergleichbaren
Verbrechen in Europa gegeben. »Wir haben es mit einem Verbrechen
ohne Namen zu tun«, schließt er diese Passage seiner Ansprache.2
1
2
Fritz Bauer fand genocide »mehr oder minder gut mit ›VöIkermord‹ ins Deutsche
übertragen« (Fritz Bauer, »Kriminologie des Völkermords«, in: Rechtliche und
politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Kolloquium mit Peter Schneider
u.a., hrsg. von Peter Schneider und Hermann J. Meyer, Mainz 1968, S. 22 ff.) Im
Nürnberger Prozess und dem Schrifttum der 1940er und 1950er Jahre finden sich
verschiedenste Eindeutschungen dieses Neologismus. Ich folge in diesem Aufsatz
Fritz Bauers Meinung und verwende »Genozid« oder genocide statt »Völkermord«, außer in wörtlichen Zitaten.
»Atlantic Charter, August 24, 1941, Broadcast, London«, in: Robert Rhodes
James (Hrsg.), Winston S. Churchill, His Complete Speeches 1897–1963, Vol. 6,
S. 6474, New York, London 1974.
Einsicht
Zwei Jahre später beginnt im amerikanischen Exil der jüdischpolnische Jurist Raphael (Rafał) Lemkin (1900–1959) sein Buch
Axis Rule in Occupied Europe3 zu schreiben. Land für Land dokumentiert er dort die zerstörerischen Folgen der deutschen Besatzung.
Vorangestellt sind Kapitel mit Analysen über die juristischen und
administrativen Techniken der Deutschen für die Unterwerfung der
eroberten Nationen. Das letzte dieser Eingangskapitel ist mit »Genocide« überschrieben und beginnt mit dem Satz: »Neue Konzepte
brauchen neue Begriffe. Mit ›genocide‹ meinen wir die Zerstörung
einer Nation oder einer ethnischen Gruppe.« Wie Lemkin gleich im
ersten Absatz betont, wurde der Begriff genocide von ihm eingeführt,
um diese Praktiken zu beschreiben.
Der von Lemkin geschaffene Gründungsmythos des Genozidkonzepts liegt in der Verknüpfung dieser beiden Elemente, die
freilich nichts miteinander zu tun haben. Churchill wollte nicht
mehr sagen, als dass es einem bei der Betrachtung der Naziverbrechen die Sprache verschlägt. Und Lemkin nimmt in seinem
Buch 1944 keinerlei Bezug auf Churchill. Erst 1946 interpretierte
er Churchills Satz als Aufforderung, seinen Begriff des genocide
zu prägen.4 Zum Gründungsmythos gehört weiter die Behauptung,
beide Autoren hätten bei der Forderung nach einem neuen Begriff
die Vernichtung der Juden im Auge gehabt. Doch in Churchills
Rede werden fast alle europäischen Völker genannt, nicht jedoch
die Juden. Aber auch in Lemkins Buch ist von den Juden nur als
einer von zahlreichen nationalen oder ethnischen Gruppen die Rede. »Die Technik der Massentötung wird vor allem gegen Polen,
Russen und Juden angewandt«, schreibt er.5 Lemkin hatte fast seine
gesamte Familie durch die NS-Mörder verloren und war selbst nur
knapp in einer Odyssee um die halbe Welt über Schweden, die
Sowjetunion und Japan in die USA entkommen. Seinen Schriften
ist davon nichts anzumerken, streng und sachlich versuchte er,
einen allgemeinen Begriff für das zu formulieren, was er als neue,
besondere Qualität an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, bald
aber auch in der Menschheitsgeschichte überhaupt zu erkennen
glaubte. Wie auch Hersch Lauterpacht, allerdings mit ganz anderer
juristischer Perspektive, blendete Lemkin konsequent jeden Bezug zu seiner persönlichen Leidensgeschichte als Jude aus seinen
rechtstheoretischen Überlegungen aus. Nicht als Jude, als Jurist
wollte er argumentieren, seine Begrifflichkeit sollte universell sein,
die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen. So stellte er
die Vernichtung der Juden konsequent in die Reihe anderer »Genozide«, seien sie von den Nazis begangen worden oder auch in
früheren Epochen.
3
4
5
Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, Washington 1944.
Raphael Lemkin, »Genocide«, in: The American Scholar, Vol. 15, No. 2 (April
1946), S. 227–230.
Ebd., S. 88.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Lemkin selbst wies darauf hin, dass ihn als jungen Mann der
Genozid an den Armeniern entscheidend geprägt habe.6 Das Völkerrecht sah er, zweifellos zu Recht, als schlecht gerüstet für die
Verfolgung solcher Verbrechen, die auf die Zerstörung ganzer Völker
zielten. Lange vor den Verbrechen der Nazis machte er es sich daher
zur Aufgabe, ein allgemeines völkerrechtliches Instrumentarium
zur Bekämpfung solcher Verbrechen zu schaffen. Dazu bedurfte
es nach Lemkins Ansicht zweierlei: eines adäquaten Begriffs und
eines völkerrechtlichen Regelwerks zur Durchsetzung des Verbots.
Der neue Begriff: Genocide
Schon 1933 hatte Lemkin auf einer internationalen Strafrechtskonferenz in Madrid im Rahmen des Völkerbunds zwei neue Begriffe
zur Einfügung in die nationalen Strafgesetzbücher der Mitgliedstaaten des Bundes vorgeschlagen: den Straftatbestand der »Barbarei«
für die »Ausrottung ethnischer, nationaler, konfessioneller, sozialer
Menschheitsgruppen« und den des »Vandalismus« für die Zerstörung
von Kulturgütern, um damit die »geistige Leistungsfähigkeit der
Gemeinschaft« einer solchen Gruppe zu zerstören.7 Diese frühere
Begrifflichkeit referierte er im Buch 1944 selbst, als er sich für den
Begriff genocide entschied, den er fortan durchzusetzen suchte.
Lemkin war polyglott und vielleicht deshalb geradezu besessen von der Bedeutung von Wörtern.8 Dass die mit seinem Begriff
genocide bezeichneten Verbrechen bisher »ohne Namen« gewesen
seien, begründete er nie. Denn Begriffe, die die Massentötung von
Bevölkerungen auch mit Lemkins Kriterien beschrieben, gab es. Im
englischen Sprachbereich war dies seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem der Begriff der »atrocities« oder »atrocity crimes«.
Die Massaker der Türken in Bulgarien um 1876 wurden im Westen weithin als »Bulgarian Atrocities«9 bzw. »Turkish Atrocities«
bezeichnet. Sein einflussreiches Buch über den Genozid an den
Armeniern betitelte Arnold Toynbee 1915 »Armenian Atrocities«.10
Der Teil des Moskauer Abkommens der Alliierten von 1943, in dem
sie den NS-Tätern Strafe ankündigten, ist »Statement on Atrocities«
Raphael Lemkin, Totally Unofficial: The Autobiography of Raphael Lemkin, hrsg.
v. Donna-Lee Frieze, New Haven 2013, S. 19 f.
7 Raphael Lemkin, »Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium«, in: Internationales Anwaltsblatt (Wien), Jg. 6 (1933), Nr. 12, S. 117–119.
8 Der Plan für sein nie geschriebenes Buch über Genozid sah insgesamt 14 Kapitel
über die Entstehung von neuen Wörtern und die Bedeutung dieser Prozesse vor;
siehe Lemkin on Genocide, hrsg. v. Steven L. Jacobs, Lanham 2012, S. 20–26.
9 So z.B. in Lord Gladstones berühmter Streitschrift Lessons in Massacre, London
1877.
10 Arnold Toynbee, Armenian Atrocities, the Murder of a Nation, London u.a. 1915;
die dt. Ausg. (Lausanne 1916) hat den Titel Die Gewalttätigkeiten in Armenien.
Der Mord eines Volkes, lange bevor aus Lemkins »genocide« das deutsche »Völkermord« wurde.
6
31
überschrieben, dementsprechend wird der Begriff auch in den Nürnberger Prozessen und im Tokyo-Prozess ausgiebig gebraucht, ist im
Kontrollratsgesetz Nr. 10 enthalten und bis heute als Bezeichnung
für Massenverbrechen an Zivilbevölkerungen in nationalen und
internationalen Gerichten gängig, wenn auch nicht in deren Statuten.
Anders der Begriff der Crimes against Humanity, der eines der
drei in Nürnberg angeklagten Verbrechen war und sich auch heute
in den Statuten aller internationalen Strafgerichtshöfe findet. Crimes
against Humanity war ebenfalls schon zur Beschreibung der Verbrechen an den Armeniern gebraucht worden, gelegentlich auch für
andere Verbrechen während des Ersten Weltkriegs. Die Bühne großer
Rechtsbegriffe betrat er aber erst mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (IMT). Dort ergänzte er die Tatbestände des Verbrechens gegen den Frieden und der Kriegsverbrechen, um »Mord,
Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche
Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder
während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder
religiösen Gründen« als internationales Verbrechen anklagen zu
können. Dieser Begriff umfasst, vor allem in seiner heutigen weiter
ausgebauten Fassung etwa im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), auch die Verbrechen, die Lemkin als Akte des
genocide verstand. Gelegentlich sprach man im IMT auch von genocide, ohne ihn aber von Crimes against Humanity zu unterscheiden.11
Genocide gelangte immerhin in die Nürnberger Anklage, seltsamerweise unter dem Punkt Kriegsverbrechen. Doch im Urteil des
Gerichts kam der Begriff nicht vor, und so beschrieb Lemkin den Tag
der Urteilsverkündung als den schwärzesten seines Lebens.12 Fortan
wollte er nichts mehr von »Nürnberg« wissen und konzentrierte
sich darauf, innerhalb des UN-Systems eine Konvention gegen den
genocide zu erreichen. Lemkins Argumente gegen die Nürnberger
Rechtsprechung und für die Notwendigkeit einer eigenen GenozidKonvention waren:
› Das Nürnberger Tribunal habe kein zukunftsweisendes Konzept
entwickelt, es sei ein Urteil nur gegen Hitler, aber »nichts gegen
die künftigen Hitlers«.13 Aus Nürnberg sei kein internationaler
Strafgerichtshof erwachsen. Einen solchen Strafgerichtshof sah
dann die Genozid-Konvention zwar als eine Möglichkeit vor, er
wurde jedoch nie eingerichtet.
› Die Koppelung des Tatbestands Crimes against Humanity an
die Kriegsvorbereitung bzw. den Krieg, die im Statut des IMT
angelegt war und dann von den Richtern im Urteil sehr eng ausgelegt wurde. Auch die Formulierung der »Nürnberger Prinzipien«
durch die UNO 194614 und ausführlicher 1950 durch die Völkerrechtskommission hielt diese eingeschränkte Anwendbarkeit
des Tatbestands Crimes against Humanity auf Verbrechen im
Zusammenhang mit Kriegen aufrecht. Andererseits war diese
Koppelung schon früh, etwa im Kontrollratsgesetz Nr. 10, dem
ersten Strafgesetzbuch im Nachkriegsdeutschland, und in einigen
der Nürnberger Nachfolgeprozesse aufgelöst worden. Nicht nur
Lemkin, auch viele andere zeitgenössische Juristen, darunter die
französischen Richter und Ankläger von Nürnberg, kritisierten
sie. Ab 1954 emanzipierte sich der Begriff der Crimes against
Humanity von der Koppelung an den Krieg und umfasste alle
politischen Großverbrechen gegen Zivilpersonen.15 Dies war der
Weg, für den die »Nürnberger« Juristen und zahlreiche zeitgenössische Völkerrechtler plädiert hatten.
› Im IMT habe man keine qualitative Unterscheidung zwischen den
verschiedenen Opfergruppen der Nazis getroffen. Diese Kritik
führt unmittelbar in die mit dem Genozid-Konzept verbundene
problematische Hervorhebung besonders schützenswerter Gruppen.
› Bei genocide gehe es nicht nur um Mord, sondern auch um andere
Methoden der Zerstörung einer Gruppe wie zum Beispiel durch
Sterilisierung.16 Das IMT hatte allerdings solche Verbrechen der
indirekten Methoden der Zerstörung von Gruppen durchaus im
Blick. Selbst die Frage der Sterilisierung wurde immer wieder
aufgegriffen, überwiegend im Kontext der Menschenversuche
durch die NS-Mediziner, aber auch als Instrument der »Erhaltung
der Rassereinheit«.
rechts: Raphael Lemkin 1948
Foto: creative commons/public domain
unten: Unterzeichnung der UN-Genocide-Konvention
(Lemkin steht hinten rechts). Das Ȇbereinkommen
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes«
ist eines der ältesten Menschenrechtsabkommen der
Vereinten Nationen. Sie wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember
1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft.
Foto: creative commons/public domain
Konkurrierende Modelle des Menschenrechtsschutzes
Lemkins enttäuschte Abwendung von der Nürnberger Rechtsprechung und seine Konzentration auf eine Konvention gegen den Genozid trugen dazu bei, dass der ursprünglich in der jungen UNO anvisierte Dreiklang von einer Deklaration von Menschenrechten, ihrer
Verfestigung in Verträgen und eines Systems zu ihrer Durchsetzung17
11 Vgl. John Barrett, »Raphael Lemkin and ›Genocide‹ at Nuremberg, 1945–1946«,
in: Christoph Safferling, Eberhard Conze (Hrsg.), The Genocide Convention Sixty
Years after its Adoption, The Hague 2010, S. 35–54; Rainer Huhle, »›Recht ist
ein lebendiges, wachsendes Wesen.‹ Zur Schlussrede des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross«, in: Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg
1945/46. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert, hrsg. von
Rainer Huhle im Auftrag des Nürnberger Menschenrechtszentrums, Hamburg
2015, S. 329–366, hier S. 348–353.
12 William Korey, An Epitaph for Raphael Lemkin, New York 2001, S. 25.
13 Lemkin, Totally Unofficial, S. 118.
32
14 UN-Resolution 95 (1) vom 11.12.1946.
15 Siehe Rainer Huhle, Vom schwierigen Umgang mit »Verbrechen gegen die
Menschheit« in Nürnberg und danach, auf: http://www.menschenrechte.org/lang/
de/verstehen/verbrechen-gegen-die-menschheit [20.1.2016].
16 Raphael Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law«, in: The American Journal of International Law, Vol. 41, No. 1 (Jan. 1947), S. 145–151, hier
S. 147.
17 UN-Resolution 217 (III) »International Bill of Human Rights« v. 10.12.1948,
Einsicht
Einsicht 15 Frühjahr 2016
33
schon bald in seine Bestandteile zerfiel. Nachdem die völkerrechtliche Ächtung des genocide in seinen Augen in Nürnberg gescheitert
war, machte er sich sofort daran, dieses Ziel nun nicht mehr mittels
der Durchsetzung einer internationalen Strafrechtsnorm, sondern
durch einen – freiwilligen – völkerrechtlichen Vertrag zu verfolgen.
Die Weiterentwicklung der »Nürnberger Prinzipien« sah er dabei
ebenso wie die Arbeit an einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als störende konkurrierende Projekte. So entwickelten
sich innerhalb der UNO drei parallele Stränge des internationalen
Menschenrechtsschutzsystems, die nebeneinander herliefen und sich
bisweilen mehr behinderten als ergänzten. Erst ein halbes Jahrhundert später entwickelten sich wieder Berührungspunkte.
Die »Konvention zur Verhütung und
Bestrafung des Völkermordes«
Am 11. Dezember 1946, also wenige Wochen nach dem Ende des
IMT, hatte Lemkins energische Lobbyarbeit bereits einen ersten
großen Erfolg zu verzeichnen. Die erste UN-Generalversammlung
verabschiedete eine Resolution, in der es unter anderem hieß:
»Die Generalversammlung bekräftige daher, dass Genozid ein
Verbrechen gemäß Völkerrecht ist, das die zivilisierte Welt verurteilt
und für dessen Begehung Haupttäter und Komplizen zu bestrafen
sind – unabhängig davon, ob sie Privatpersonen, öffentliche Bedienstete oder Staatsmänner sind, und ob das Verbrechen aus religiösen,
rassischen, politischen oder anderen Gründen begangen wird.«18
Gleichzeitig rief die Generalversammlung den Wirtschafts- und
Sozialrat auf, eine entsprechende Konvention auszuarbeiten. Allerdings verfuhr die Generalversammlung zweigleisig, denn in der
gleichen Sitzung hatte sie zuvor auch die Rechtsgrundlagen des IMT
als »Nürnberger Prinzipien« des Völkerrechts bekräftigt.19
Welche Gruppen sind schützenswert?
Gruppen ein. Und in seiner Präambel nahm dieser Entwurf ausdrücklich Bezug auf das IMT, das »unter einer anderen juristischen
Bezeichnung«21 die von der Konvention gemeinten Taten bestraft
habe. Die Verbindungslinien zwischen Nürnberg und der Konvention
waren also noch nicht ganz zerschnitten.
Die Resolution von 1946 feierte Lemkin noch als großen Erfolg seiner Bemühungen und formulierte keinen Einwand gegen die
Definition der zu schützenden Gruppen.22 1948 dagegen sprach er
sich als beigezogener Experte gegen die Einbeziehung politischer
Gruppen aus, unter anderem mit dem Argument, sie seien keine
beständigen Gruppen und hätten andere Charakteristika. Der zweite
der drei herangezogenen Experten, der französische Völkerrechtler
und ehemalige Richter des IMT, Donnedieu de Vabres, vertrat die
gegenteilige Meinung: Alle Gruppen seien schützenswert, und wenn
man einige ausnehme, sähe das wie eine Rechtfertigung des Mords
an solchen Gruppen aus.23
Auch unter den Staaten war die Frage höchst umstritten. Abstimmungen ergaben wechselnde Mehrheiten, am Ende aber blieben
die politischen Gruppen aus der Definition der Konvention ausgeschlossen: Nach Art. II »bedeutet Völkermord eine [Handlung], die
in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische
oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«.
Was der Unterschied zwischen einer ethnischen und einer rassischen
Gruppe sei, war vielen auch damals nicht klar. Im Ganzen aber entsprach diese Formulierung Lemkins Vorstellungen, die er zwar oft
unscharf formulierte, die aber immer um die Begriffe »national«,
»rassisch« und »religiös« kreisten.
Für diese positive Diskriminierung nationaler, »rassischer«
bzw. ethnischer und religiöser Gruppen als besonders schützenswerten hat Lemkin eine Reihe von Argumenten angeführt, die vor
allem aus dem Arsenal einer Geschichtsphilosophie im Sinne Johann Gottfried Herders und von Anthropologen wie James George
Fraser und Bronisław Malinowski stammen.24 »Die Philosophie
der Genozid-Konvention» – so Lemkin – »beruht auf der Formel
des menschlichen Kosmos.« Dieser bestehe aus vier Gruppen:
Auffällig an der noch recht allgemein formulierten Resolution 96
(I) ist, dass sie zweimal auch auf politische Gruppen als Opfer von
genocide Bezug nimmt. Auch der letzte Vorentwurf der Genozidkonvention 194820 schloss noch politische unter die zu schützenden
21
22
enthält nach dem Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Hinweis, dass die »Bill of Human Rights« drei Elemente, »a Declaration, a Covenant
on Human Rights and measures of implementation« enthalten solle. Dies hatte
die Menschenrechtskommission bereits zu Beginn ihrer Arbeit so beschlossen.
18 General Assembly (GA) Res. 96 (I). The Crime of Genocide.
19 GA Res. 95 (I). Affirmation of the Principles of International Law recognized by
the Charter of the Nürnberg Tribunal.
20 Ad Hoc Committee Draft E/AC.25/12, Draft Convention on Prevention and Pun-
34
23
24
ishment of the Crime of Genocide (Mai 1948), in: The Genocide Convention. The
Travaux Préparatoires, hrsg. v. Hirad Abtahi und Philippa Webb, Leiden/Boston
2008, S. 1161 ff.
Gemeint ist der Anklagepunkt Crimes against Humanity.
Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law«, S. 148–150; in seinem
Projekt eines internationalen Verbots von Akten der Barbarei und des Vandalismus hatte er 1933 sogar selbst »soziale Kollektive« in die zu schützenden Gruppen einbezogen (Internationales Anwaltsblatt (Wien), Jg. 6 (1933), Nr. 12,
S. 117–119).
Secretariat Draft (26.6.1947), UN Dok. E/447, in: The Genocide Convention,
S. 209–281, hier S. 230.
Dirk Moses, »Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide«, in: The
Oxford Handbook of Genocide Studies, hrsg. v. Donald Bloxham und Dirk Moses, Oxford 2010, S. 19–41.
Einsicht
nationale, rassische, religiöse und ethnische Gruppen, die deshalb
besonders geschützt werden müssten, weil sie das Überleben der
»spirituellen Ressourcen der Menschheit« garantierten.25 Schon in
seiner ersten Schrift über genocide hatte er geschrieben: »Nationen
sind essentielle Elemente der Weltgemeinschaft. Die Welt hat nur
so viel Kultur und Geisteskraft wie von den sie konstituierenden
nationalen Gruppen geschaffen wird.« Jede Nation leiste »originelle Beiträge auf der Basis genuiner Traditionen, genuiner Kultur
und einer gut entwickelten nationalen Psychologie. Die Zerstörung
einer Nation hat daher den Verlust ihrer zukünftigen Beiträge für
die Welt zur Folge.«26 Von diesem ideellen Standpunkt eines Bewahrers der Menschheit stellt Lemkin geradezu utilitaristische
Kalküle an:
»Würden alle 125.000 Isländer ausgerottet, so würde dies nicht
nur die Vernichtung von 125.000 Menschen bedeuten, sondern auch
die Vernichtung der isländischen Kultur mitsamt ihrer alten Sprache, ihren alten Institutionen, ihren alten nationalen Bestrebungen
und aller Beiträge, die die isländische Nation für die Menschheit
geleistet hat oder in Zukunft zu leisten vermag. Es ist klar, dass
eine Massenvernichtung von 125.000 Menschen in irgendeinem
anderen Land nicht derart erhebliche Verluste für die Menschheit
zur Folge hätte, auch wenn die menschlichen Verluste nicht allein
für die einzelnen Nationen, sondern auch für die Angehörigen der
Opfer beklagenswert sind.«27
In Lemkins Vorstellung sind diese Gruppen daher grundsätzlich
stabil und daher als solche zu erhalten – auf der Formel »Gruppe als
solche«, wie sie in Art. II der Konvention erscheint, hat er immer
heftig bestanden. Bis heute wird vielfach argumentiert, die Privilegierung dieser Gruppen in der Genozid-Konvention rechtfertige
sich dadurch, dass man in sie hineingeboren sei, gewissermaßen
»unschuldig« der Verfolgung aufgrund objektiver, nicht selbst bestimmter Kriterien ausgesetzt sei, während andere, insbesondere
politische Gruppen, volatiler seien und man ihnen auf freiwilliger
Basis angehöre. Das Argument ist nur auf den ersten Blick stichhaltig. Denn ebenso wie Religionszugehörigkeit, Nationalität und
selbst ethnische Identität auch gewechselt werden können und werden, ist die Zugehörigkeit etwa zu einer politischen Gruppe, in der
vielleicht schon Generationen vorher verwurzelt waren, nicht weniger schwierig. Auch die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der
Armen ist in weiten Teilen der Welt sehr stabil. Erst recht gilt das
25 Raphael Lemkin, »Introduction to the Study of Genocide«, in: Lemkin on Geno-
cide, S. 3.
26 Ders., Axis Rule in Occupied Europe, S. 91.
27 Ders., »La signification du terme et du concept génocide au procès des criminels
de guerre«, undat. Typoskript (Nr. 11959), Bibliothek des Centre de documentation juive contemporaine (CDJC), Paris; zit. nach Jean-Michel Chaumont, Die
Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001,
S. 192.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
für andere Gruppen wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen oder Homosexuelle. Aus anthropologischer Sicht wurde denn
Lemkins Definition von Gruppen auch stark kritisiert.28
Die inzwischen sehr umfangreiche soziologische und historische Literatur über Genozid und Genozide weist gleichfalls ganz
überwiegend die Lemkin’sche und von der Konvention übernommene Einschränkung der zu schützenden Gruppen zurück. Die juristische Literatur und die Urteile der internationalen Gerichtshöfe,
die sämtlich den Tatbestand Genozid in ihren Statuten haben, zeigen
ein uneinheitliches Bild. Nicht selten gehen dabei auch Gerichte
weit über die Vorgaben der Konvention hinaus und schließen zum
Beispiel politische Gruppen mit ein oder dehnen den Begriff der
»nationalen Gruppe« bis zur Unkenntlichkeit aus. In Argentinien
entwickelte der Soziologe Daniel Feierstein eine Theorie, wonach
die argentinische Junta durch die Eliminierung eines Teils der argentinischen Bevölkerung »die sozialen Beziehungen innerhalb
der argentinischen Nation« verändern und damit das argentinische
Volk »als solches« neu definieren wollte und daher Genozid im
Sinne der Konvention begangen habe29, eine Theorie, die selbst
in einigen Urteilen der argentinischen Justiz ausdrücklich aufgenommen wurde.30 Der spanische (Ex-)Richter Baltazar Garzón
führte das Argument weiter und sprach vom »Auto-Genozid« durch
Regime wie das argentinische oder das der Roten Khmer.31 Und
schon 1967 hatte Jean-Paul Sartre auf dem Russell-Tribunal über
den Vietnamkrieg unter explizitem Bezug auf die Völkermordkonvention die USA beschuldigt, die Absicht zu verfolgen, mittels der
vietnamesischen Nation die Gruppe der Menschheit insgesamt zu
vernichten.32
Der Widerspruch zwischen der engen völkerrechtlichen Definition und dem Streben nach gleichem Schutz für alle Gruppen hat
auch dazu geführt, dass in zahlreichen Staaten die nationale Gesetzgebung, abweichend von der internationalen Konvention, politische
und andere Gruppen in die Definition des Genozids einschließt.33
28 Ausführlich dazu: Alexander Laban Hinton (Hrsg.), Annihilating difference: the
anthropology of genocide, Berkeley u.a. 2002.
29 Siehe z.B. Daniel Feierstein, »Sobre conceptos, memorias e identidades: guerra,
genocidio y/o terrorismo de Estado en Argentina«, in: Política y Sociedad, Jg. 48
(2011), Nr. 3, S. 571–586.
30 Z.B. Fallo completo contra Etchecolatz, La Plata, September 2006, auf:
http://www.rodolfowalsh.org/spip.php?article2378 [8.1.2016].
31 Baltazar Garzón, »Las fronteras de la impunidad«, in: Puentes, Marzo 2002,
S. 29–39.
32 Jean-Paul Sartre, »Genocide«, in: New Left Review I/48, March–April 1968,
S. 13–25 (überarb. Fassung der Rede auf dem Tribunal): »…the present act of
genocide – as a reply to a people’s war – is conceived and perpetuated in Vietnam
not only against the Vietnamese but against humanity«.
33 David L. Nersessian, Genocide and Political Groups, Oxford 2010, führt 20 Staaten auf (S. 272 f.), die politische Gruppen in ihre nationalen Gesetze gegen Genozid einschließen, darunter Frankreich, Kolumbien und Kambodscha.
35
Nimmt man dazu die zahllosen sozialwissenschaftlichen Definitionen von genocide hinzu, erweist sich der von Lemkin intendierte
und in der Konvention verankerte spezifische Gruppenschutz als
inkohärent und inzwischen jedenfalls obsolet. Mit dem menschenrechtlichen Gebot der Nicht-Diskriminierung ist er unvereinbar.
Worin besteht das Verbrechen des Genozids?
Nach Artikel II der Konvention »bedeutet Völkermord eine der
folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz
oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe,
die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise
herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung
innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere
Gruppe.«
In dieser Tatbestandsdefinition findet sich besonders deutlich
Lemkins Handschrift. Sie ist zugleich extrem eng und extrem
weit, worin wesentliche Gründe für die so überaus schwierige
Handhabung des Begriffs im Völkerrecht liegen, die dazu geführt hat, dass die Konvention rechtlich praktisch wirkungslos
geblieben ist.
Eng ist das Erfordernis, dass die Absicht nachgewiesen werden muss, eine der genannten Gruppen »ganz oder teilweise« zu
zerstören. Es genügt also nicht die Absicht, wie im Fall der Crimes
against Humanity, eine größere Zahl von einzelnen Menschen zu
töten, die Absicht muss auf die Vernichtung der Gruppe als solcher
zielen. Fehlt diese Absicht, ist auch ein Massenmord kein Genozid,
während umgekehrt schon die Tötung einer geringen Zahl, zum
Beispiel für die Gruppe wichtiger Personen, als Genozid gilt, wenn
sie auf die Zerstörung der Gruppe zielt.
Weit hingegen ist die Beschreibung der übrigen Taten, deren
Bewertung letztlich immer von der damit verbundenen Absicht
abhängt. In den Debatten um die Konvention war, ganz in Lemkins
Sinn, der Vorschlag auf dem Tisch, auch »kulturellen Genozid« in
den Straftatbestand einzuschließen. Das scheiterte aber am Widerstand vieler Staaten, die erkannten, dass mit einer vagen Definition
»kulturellen Genozids« ihre Politik kultureller Assimilierung von
Minderheiten in die Schusslinie geraten wäre. Manche, wie der
dänische Delegierte Federsen im Rechtsausschuss der Generalversammlung, vermissten aber auch einfach den »Sinn für Verhältnismäßigkeit, wenn man in derselben Konvention Massenmord in
36
Gaskammern und die Schließung von Bibliotheken abhandeln«34
wollte.
Rechtsbegriff oder politischer Kampfbegriff?
Der Jurist Lemkin war sich der begrenzten Bedeutung seines Neologismus genocide als Rechtsbegriff zweifellos bewusst. Das Argument der »Nürnberger Juristen«, dass eine Konvention ein schwaches Mittel zur Bekämpfung des Genozids sei, da es den Staaten ja
freistelle, sich ihr anzuschließen, hat er nie aufgenommen. Für ihn
war der »rhetorische Mehrwert«35 seines Wortes, den er von Anfang
an gezielt einsetzte, vielleicht sogar wichtiger als der juristische
Wert. Unter Berufung auf die chilenische Dichterin Gabriela Mistral
sprach er davon, dass »Wörter ein moralisches Urteil enthalten«
könnten.36 Als Völkerrechtsbegriff ist genocide bis zur Schaffung der
internationalen Strafgerichtshöfe in den 1990er Jahren wirkungslos
geblieben. In die Statuten des Jugoslawien- und Ruandagerichtshofs sowie in das Römische Statut des IStGH wurde genocide zwar
jeweils als Straftatbestand aufgenommen, alle drei Gerichtshöfe
erfuhren jedoch die erheblichen Schwierigkeiten, die der Tatbestand
mit sich brachte, und kamen zu teils recht improvisierten Lösungen
dieser Schwierigkeiten.37 Dass der Ruanda-Gerichtshof dabei die
von Lemkin geprägte Formel vom Genozid als »Crime of Crimes«38
wieder aufnahm39, half juristisch nicht weiter. Schon 1946 hatte Hans
Kelsen in einer Besprechung von Axis Rule nüchtern konstatiert, der
neue Begriff genocide sei eher politisch als rechtlich bedeutsam.40
Doch als William Schabas41 den Ausdruck »Crime of Crimes«
in den Titel seines Standardwerks über die Völkermordkonvention
übernahm, trat er einen weltweiten Siegeszug als politisch-propagandistischer Kampfbegriff an. Ein Verbrechen scheint erst dann
als schrecklich zu gelten, wenn es das Prädikat »Genozid« erhält,
um das erbitterte, teils absurde Streite geführt werden. Der enge
34 6th Committee, 83d Session, 25, Oktober 1948 (UN Doc. A/C.6/SR.83), in: The
Genocide Convention, S. 1508.
35 Anson Rabinbach, »Genozid«, in: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus,
Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009, S. 43–72.
36 Lemkin on Genocide, S. 22 f.
37 Payam Akhavan, Reducing Genocide to Law. Definition, Meaning, and the Ulti-
mate Crime, Cambridge 2012.
38 Raphael Lemkin, »Genocide as a Crime under International Law, Center for Jew-
ish History«, Raphael Lemkin Collection, Box 6, Folder 2. In diesem unveröffentlichten Entwurf schrieb Lemkin: »Indeed, genocide must be treated as
the most heinous of all crimes. It is the crime of crimes.«
39 The Prosecutor versus Jean Kambanda, Case no.: ICTR 97-23-S, § 16; das Berufungsgericht hat allerdings diese Hierarchisierung explizit zurückgewiesen.
40 Hans Kelsen, »Review of Lemkin, Raphael. Axis Rule in Occupied Europe«, in:
California Law Review, Jg. 34 (1946), Nr. 1, S. 271 f.
41 William A. Schabas, Genocide in International Law. The Crime of Crimes, Cambridge 2000, dt.: Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003.
Einsicht
Rechtsbegriff der Konvention spielt dabei keine Rolle mehr, nicht
Gerichte, sondern Regierungen werden als Instanz der »Anerkennung« von Völkermorden angerufen. Solche »Anerkennung« von
Völkermord wurde in den letzten Jahren immer häufiger gefordert,
zum Beispiel für Armenien, Namibia, Katyn, Ukraine (»Holomodor«), Ruanda, Jugoslawien, Sri Lanka, Tibet, Gujarat, Syrien,
Bangladesch, Kambodscha, Guatemala, Argentinien, Kolumbien,
Ecuador, die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa, Morde an
Weißen in Südafrika und viele Situationen mehr. In einigen Fällen handelt es sich um Großverbrechen, für die mit guten Gründen
die juristische Kategorie des Genozids herangezogen werden kann.
Andere Massenmorde zeigen schmerzhaft die Probleme auf, wenn
versucht wird, ihnen die juristische Zwangsjacke der Genoziddefinition der Konvention überzustülpen. Und nicht wenige benutzen den
Begriff offensichtlich nur, um Aufmerksamkeit zu erregen. Auf der
Website einer spanischen Internetzeitung kann man inzwischen aus
einer Liste von 14 »Genoziden«, deren Auswahl weder erklärt wird
noch sich erschließt, per Abstimmung »seinen Favoriten wählen«.42
Der so entstandene Wettlauf um die Anerkennung des eigenen (oder auch fremden) Leids als Ergebnis des schlimmsten aller
Verbrechen, des Crime of Crimes, hat fatale Konsequenzen. Auf
der juristischen Ebene beschäftigt er Gerichte und Gelehrte damit,
einen von Anfang an problematischen Rechtsbegriff auszudeuten, für
Verbrechen, die nach anderen Tatbeständen, die aber wegen des Symbolgehalts von genocide den Erwartungen der Öffentlichkeit nicht
mehr entsprechen, strafrechtlich ebenso hart zu ahnden wären. Die
unterschiedlichen Bewertungen etwa der Verbrechen in Darfur oder
in Jugoslawien haben diese Diskrepanz zwischen einer nüchternen
juristischen Analyse der Ereignisse und ihrer politischen Bewertung
vor Augen geführt. Großverbrechen, wie etwa die Ermordung von
fast zwei Millionen Kambodschanern durch die Roten Khmer, juristisch korrekt nicht als Genozid zu bezeichnen, fällt regelmäßig
unter den Verdacht der Verharmlosung.
Paradoxerweise entwertet aber die Transformation des Rechtsbegriff genocide in einen politischen Kampfbegriff ihn auch als
solchen. Sein inflationärer Gebrauch in der politischen Öffentlichkeit für nahezu jedes Übel, ohne Rückbindung an die Autorität und
sachliche Kontrolle der juristischen Instanzen, gibt ihn der beliebigen Verfügbarkeit preis. Gewinner des Prädikats genocide ist dann,
wer sich in der publizistischen Arena und der politischen Lobby
durchzusetzen vermag.
Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass auch die durchaus notwendige Bemühung der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung, nach den unterschiedlichen Motiven und Praktiken von politischen Großverbrechen zu suchen, inzwischen fast
nur noch unter dem Label »genocide research« stattfindet. Dieses
enorm schnell angewachsene, inzwischen von mehreren Fachzeitschriften getragene Forschungsgebiet hat sich großenteils weit vom
juristischen Begriff des Genozids entfernt und zahllose neue Definitionen ins Spiel gebracht. Es trägt damit nicht zur Entwirrung der
Begrifflichkeiten bei.
Auswege aus diesem unbefriedigenden Zustand können hier nur
angedeutet werden. Im Völkerstrafrecht ist die in Nürnberg noch
unzureichend entwickelte und vor allem angewandte Kategorie der
Crimes against Humanity längst ausdifferenziert worden und zum
Beispiel im Rom-Statut des IStGH durch nahezu alle Tatbestände,
die auch in der Genozid-Konvention enthalten sind, präzisiert worden. Statt des kaum zu führenden Nachweises, dass die Täter eine
Gruppe »ganz oder teilweise vernichten« wollten, gelten für die
Crimes against Humanity zwei Maßstäbe, die wesentlich besser
überprüfbar sind: Es muss sich um Taten handeln, »die im Rahmen
eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen« worden sind.
Daneben etabliert sich als Oberbegriff für politische Großverbrechen zunehmend ein alter Bekannter: das »Atrocity Crime« bzw.
die »Atrocities«, für die noch ein geeigneter deutscher Begriff zu entwickeln wäre. »Atrocities« ist hinreichend unbestimmt, dass darunter
sehr verschiedene Arten von Verbrechen gezählt werden können,
ohne dass zwischen einzelnen Taten und vor allem verschiedenen
Opfergruppen unterschieden werden müsste. Der Begriff kann Taten
umfassen, die juristisch als Genozid, Kriegsverbrechen oder Crime
against Humanity zu bewerten sind, aber auch weitere, und muss
nicht sofort eine rechtliche Bewertung bedeuten. Er diskriminiert
nicht zwischen Verbrechen gegen Menschen als solche und Menschen als Repräsentanten bestimmter Gruppen. Sein Gebrauch durch
den Sicherheitsrat oder im Rahmen der »Responsibility to Protect«43
verweist auf die internationale Dimension und die Schwere dieser
Verbrechen und kann damit politische Relevanz entwickeln, ohne
eine rechtliche, politische oder ethische Bewertung dieser Taten
vorwegzunehmen. Es ist zu begrüßen, dass dieser offene Sprachgebrauch auch in den Sozialwissenschaften vermehrt Eingang findet.
43 The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Inter42 http://listas.20minutos.es/lista/genocidios-del-siglo-xx-344800/ [23.1.15].
Einsicht 15 Frühjahr 2016
vention and State Sovereignty, Ottawa 2001; vgl. Gareth Evans, The responsibility to protect: ending mass atrocity crimes once and for all, Washington 2008.
37
Das Ich im Wir
Anna Seghers und Victor Klemperer
in der frühen DDR
von Nicolas Berg
»In einem heimgesuchten Land«
Dr. Nicolas Berg ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am SimonDubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig. Aktuell
forscht er zum Projekt »Das Rätsel
Produktivität. Völkerpsychologie, Kulturtheorie und jüdische Geschichte in
der deutschsprachigen Nationalökonomie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts«. 2003 erschien seine an der
Universität Freiburg abgeschlossene
Dissertation Der Holocaust und die
westdeutsche Geschichtswissenschaft
– Erforschung und Erinnerung im
Göttinger Wallstein Verlag. Sie liegt
inzwischen in dritter Auflage und in
englischer Übersetzung vor. 2008 erschien bei Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen sein Buch Luftmenschen.
Zur Geschichte einer Metapher.
Im Wintersemester 2015/2016 hatte
Nicolas Berg die Gastprofessor für
interdisziplinäre Holocaustforschung
am Fritz Bauer Institut an der Goethe-Universität Frankfurt inne. Der
vorliegende Text entstand während
dieser Monate. Die Vortragsfassung
vom 19. November 2015 wurde für die
Drucklegung überarbeitet und gekürzt.
38
Im Jahr 1965 reiste der Auslandskorrespondent der israelischen Tageszeitung Haaretz,
Amos Elon, mehrere Monate lang durch Deutschland. Stationen
seiner Reise waren München und Hamburg, Köln, das Ruhrgebiet
und Berlin, aber auch Dresden, Weimar und Halle an der Saale.
Seine Beobachtungen erschienen 1967 als Buch unter dem Titel
In einem heimgesuchten Land – Reise eines israelischen Journalisten in beide deutschen Staaten.1 Dieser sprach zwar von zwei
Staaten, aber von einem Land und offenbarte so einen den deutschen Verhältnissen gegenüber stärker Distanz wahrenden Blick:
Der Autor richtete sein Augenmerk hier weniger auf den Systemkonflikt, der kurz zuvor zum Mauerbau geführt hatte; vielmehr betrachtete er im Singular »das Land«, seine NS-Vergangenheit und
deren in Politik, Medien, Literatur und Alltag verlängerten Folgen.
So sah er die neue deutsche Gegenwart unter dem Blickwinkel einer von Ost und West dementierten gemeinsamen Vergangenheit.
Durch diese Perspektive kam nicht die deutsche Teilung, dafür
aber ein anderer Riss in der deutschen Geschichte zur Sprache;
Elon begann und beendete sein Buch nämlich mit Eindrücken aus
Auschwitz, das in diesem Bericht als zwar exterritorialer, aber als
ein zu Deutschland gehörender Ort Thema ist: Er blickte von hier
aus, von einem deutschen Ort außerhalb Deutschlands und über eine
1
Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten
in beide deutsche Staaten, München 1966; auszugsweise auch u. d. T.: »Der Esel
aus dem Schoss des Tigers. Beobachtungen in der Bundesrepublik und in der
DDR«, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 26.9.1966, S. 68–83; die englische Übersetzung sprach im Untertitel vom »neuen Deutschland«, vgl. ders., Journey
Through a Haunted Land. The new Germany, London 1967; die französische
Übersetzung von Pierre Barbaud vom »zerrissenen Land«, vgl. ders., Allemagne,
terre déchirée: Voyage d’un journaliste israélien dans les deux états allemands,
Paris 1967.
Einsicht
jüdische »Stunde Null« hinweg auf die Gegenwart eines Landes,
das insgesamt, ständig und überall von seiner NS-Vergangenheit
»heimgesucht« wurde und wird.
Elon nahm seine Gespräche mit Lehrern, Journalisten, Historikern und Schriftstellern, mit Vorständen in Wirtschaftsunternehmen
und mit Universitätsprofessoren, mit Direktoren und Politikern nicht
selten »surrealistisch« wahr,2 sie zeigten ein »deutsches Potpourri«,3
das in Westdeutschland eine betriebsame Selbstamnesie durch den
Wirtschaftsaufschwung und im Osten das Vergessen durch einen
Geschichtseskapismus erkennen ließ. Hier wie dort erkannte er dabei
»Selbstzufriedenheit«.4 Während seines Besuchs im DDR-Presseamt
im Gebäude des ehemaligen Propagandaministeriums von Joseph
Goebbels in Berlin hörte er den Satz, den die östliche Hälfte des
Landes politisch internalisiert hatte: »Wir haben mit dem Faschismus
gründlich aufgeräumt.«5 In der westlichen Hälfte, so Elon, hätten
jüngere Intellektuelle zwar damit begonnen, die »Vergangenheit zu
bewältigen«6, doch seien sie eine verschwindende Minderheit; im
Ganzen erschien es ihm hier, als sei Hitler für die meisten Menschen
eine historische Figur aus einer lange vergangenen Zeit. Im Osten
wiederum machte er eine weit verbreitete Haltung aus, als habe
sich das »Dritte Reich« räumlich weit weg abgespielt. Hier wie dort
herrschte in Bezug auf die Nazi-Jahre ein Formel-Denken vor, im
Westen vor allem die Wendung von der »Katastrophe von 1945«7,
im Osten wiederum jener »Parteijargon«, der mit gestanzten Begriffen wie »Junker« oder »Großindustrielle« die Illusion hegte, alles
erklärt zu haben.8 Und bei allen Unterschieden zwischen Bonn und
Ostberlin entging dem Autor aus Israel nicht das Gemeinsame beider
Teilstaaten: Hier wie dort hatten Nazis zum Teil hohe Positionen in
Staat, Wirtschaft und Kulturleben inne, weswegen für ihn feststand:
Ein »roter Strich unter die Vergangenheit« ist keineswegs »besser
als ein andersfarbiger«.9
Für den israelischen Autor war dies »eine der erstaunlichsten
Entdeckungen, die man auf einer Reise durch die DDR macht«:
Hier fehlte jemand, »der sich irgendwie für die Vergangenheit verantwortlich fühlt«.10 Indem er 1965 mit einem ethnologischen Blick
auf ein Land sah, das seine Juden verjagt und ermordet hatte, sprach
er auch über sich und seine Familie, denn er war 1926 in Wien geboren worden, konnte als Siebenjähriger mit seinen Eltern Europa
im letzten Moment verlassen und in Jerusalem ein neues Leben
beginnen. Das Buch enthielt diese autobiographische Essenz, doch
hatte er sie seinem Bericht unsichtbar eingeschrieben, ohne sie auf
der Oberfläche des Texts auszuweisen. Indem er als Protokollant der
deutschen Selbstbilder sein »Ich« oder »Wir« unausgesprochen ließ,
verwandelte sich das Individuelle in erkenntnisleitende Fragen, die
autobiographische Erfahrung wurde in die zeitdiagnostische Energie
der Wahrnehmung transformiert, eine Wahrnehmung, die offenkundig vom Ende der zu erzählenden Geschichte auf das Deutschland
der 1960er Jahre schaute.11
Verwandelte deutsch-jüdische »Ich«- und »Wir«-Erzählungen
Solche Ich- und Wir-Erzählungen, wie sie sich als Folge des Holocaust häufig gänzlich neu bildeten und ausformten, sind mit den
Methoden der Geschichtswissenschaft nicht leicht zu fassen.12 Im
Folgenden soll dies am Beispiel von Anna Seghers und Victor Klemperer untersucht werden, die nach 1945 ihre deutsche und jüdische
Herkunft, ihr jeweiliges Verhältnis von »Ich« und »Wir«, neu ausformulierten. In ihrer Korrespondenz, in ihren Tagebüchern und
Erinnerungstexten werden Gedanken festgehalten und auch Ängste
beschrieben, in denen sie – trotz ihrer Rückkehr und ungeachtet
ihres Engagements im neuen Staat – Distanz und Dissonanz zum
Land ihrer Herkunft ausdrücken.13 Diese Ambivalenz war nun zu
einer »Existenzerfahrung« geworden, wie dies Henryk Niether in
10 Ebd., S. 184.
11 Vgl. Amos Elon, Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche
2
3
4
5
6
7
8
9
Elon, In einem heimgesuchten Land, S. 17.
Ebd., S. 25–46.
Ebd., S. 186; vgl. schon zuvor den Reisebericht von Hannah Arendt, »The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany«, in: Commentary, Vol. 10 (1950),
S. 342–353 (dt. u.d.T. »Besuch in Deutschland«, in: dies., Zur Zeit. Politische
Essays, Hamburg 1999, S. 43–70); in der Tradition von Elon steht, bis in die
Wiederholung des englischen Untertitels hinein, auch noch Jane Kramer, The
Politics of Memory. Looking for German in the New Germany, New York 1996.
Elon, In einem heimgesuchten Land, S. 151.
Ebd., S. 179.
Ebd., S. 41.
Ebd., S. 181; und S. 185: »Vielleicht ist das der größte Propagandaerfolg des
Regimes. Man spricht von den Greueln der nationalsozialistischen Zeit fast so,
als hätten sie sich bei einem anderen Volk zugetragen, mit dem man nichts zu tun
hat.«
Ebd., S. 181.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
(1743–1933), München 2003 [engl. Orig.: The pity of it all, New York 2002].
Dieser Rückblick auf die deutsch-jüdische Erfahrung behandelt das Thema als
eine gänzlich abgeschlossene Epoche, die der Autor mit Hannah Arendts Weg ins
Exil im Jahr 1933 enden lässt.
12 Vgl. als Vorbild: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977 [zuerst 1966]; Vivian Liska, »Wenn
Kafka ›Wir‹ sagt«, in: dies., Fremde Gemeinschaft: Deutsch-jüdische Literatur
der Moderne, Göttingen 2011, S. 25–68.
13 Aus der Forschung genannt seien exemplarisch die Bücher von Claus-Dieter
Krohn, Patrick von zur Mühlen (Hrsg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschland, Marburg 1997;
Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker
in der frühen DDR, Weimar, Wien 2001; Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes
Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001; Monika Boll,
Raphael Gross (Hrsg.), »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«.
Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2013.
39
seiner Studie über die Leipziger Juden nach 1945 genannt hat.14 Sie
zog auch eine Selbstverwandlung nach sich, die deshalb nötig war,
weil die Fraglosigkeit des deutsch-jüdischen Selbstverständnisses
zerbrochen war. Sichtbar wird nun immer häufiger und stärker eine
ganz andere Wir-Bedeutung, die auch das Ich veränderte, das sich
zwar neuen Gruppen, Gemeinschaften und Ideen der Zeit anschloss,
nicht aber mehr einem wie immer begründeten deutschen KollektivWir. So sind die hohen Hoffnungen, die Seghers und Klemperer
mit der jungen DDR verbanden, auch als eine Entterritorialisierung
Deutschlands erkennbar, als ein imaginärer Versuch sozusagen, in
einer Idee von Deutschland oder einem nichtdeutschen Deutschland
zu leben. Die Kontrastierung ihrer in persönlichen Texten sichtbar
gemachten komplexen Innengeschichte mit ihrer Parteinahme für
den Kommunismus macht einen Hiatus erkenn- und beschreibbar,
der zum Milieu ihrer jüdischen Erfahrung im frühen Ostdeutschland
wird. Das neue Deutschland unter sowjetischer Besatzung und sowjetischem Schutz war sozusagen gar kein Land, denn mit diesem
kamen sie gar nicht mehr zusammen. Es war ein Ort, dem sie zwar
ihr »Ich«, nicht aber mehr ihr »Wir« widmen konnten.15
Beide wuchsen in jüdischen Familien auf, aber sie wurden
ganz unterschiedlich erzogen und beruflich und politisch sehr verschieden sozialisiert. Die Nazizeit überlebte die Mainzerin Anna
Seghers im Exil in Frankreich und Mexiko. Hans Mayer, dessen
Büchner-Buch sie, wie übrigens auch Klemperer16, über alle Maßen
schätzte17, lud sie zu Vorträgen nach Leipzig ein und rühmte immer
wieder ihre Erzählung »Aufstand der Fischer von St. Barbara«, mit
der sie 1928 bekannt geworden war. Sein Porträt der Freundin fügte
er später nicht in sein DDR-Buch ein, sondern in Der Widerruf, in
sein rückblickendes Werk über die deutsch-jüdische Symbiose.18
Seghers besuchte mit Mayer im Herbst 1948 zusammen Auschwitz,
»sprachlos, fast blicklos«, wie er sich erinnerte.19 Häufig trafen sie
als offizielle Delegierte oder Teilnehmer von Konferenzen aufeinander, etwa im August 1948 in Wrocław auf dem Weltfriedenskongress,
14 Hendrik Niether, Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im
Kalten Krieg, Göttingen 2015.
wo sie dem Vortragssaal entflohen und miteinander am Ufer der
Oder spazieren gingen, nachdem sie zuvor erlebt hatten, wie der
Bus, in dem die deutschen Teilnehmer in Polen angereist waren,
»Feindseligkeiten in der Bevölkerung erregt; dann wurde die deutsche Aufschrift überdeckt mit den Plakaten des Congresses […].«20
Victor Klemperer, 1881 in Landsberg an der Warthe als Sohn eines
Rabbiners geboren, kannte Seghers persönlich; ihren Roman Das
siebte Kreuz las er eher in der Haltung eines pflichtschuldigen
Nachholens21, die von ihr angewandte schriftstellerische Technik
lobte er, das Thema selbst erschien ihm »doch eng und partiell«22;
im Tagebuch betrachtet er Seghers als »Prominenz«, als eine »der
jetzigen Großen« und als Aushängeschild »unsere[r] Autoren«.23
Als er ihr dann erstmals persönlich begegnete, wirkte sie, so seine
Notiz im Tagebuch, »etwas chinesisch« auf ihn24, was insofern auch
einen Punkt traf, da sie als offizielle DDR-Kulturrepräsentantin
für viele Außenstehende häufig geheimnisvoll, unpersönlich und
undurchschaubar blieb. »Man glaubt erst, sie lese vor, danach: sie
habe auswendig gelernt. Vollkommen durchgeformte, geradezu
ciceronische Schriftperioden fließen ohne Pause, ohne Zögern,
ohne alle Betonung, ohne allen Affekt, absolut gleichförmig u[nd]
endlos. Der Inhalt, soweit ich ihn auffaßte, war ebenso einförmig u.
gestaltlos: sie erzählte, mit wem sie in Sowjetland bei ihrer neuerlichen Delegationsfahrt zusammen gewesen. Ich bekam kein Bild
u. schlief immer wieder ein.«25 Nicht wissen konnte Klemperer,
dass Anna Seghers als junge Studentin noch unter dem Namen
Netty Reiling in den 1920er Jahren in Heidelberg nicht nur bei
Friedrich Gundolf, Karl Mannheim, Karl Jaspers und Georg Lukács
studiert, sondern auch Kurse für chinesische Sprache und Literatur
belegt hatte. Klemperer wurde von vielen, etwa von Hans Mayer,
vor allem wegen seines 1947 erschienenen Buches LTI (Lingua
Tertii Imperii) geschätzt, das zu einem Gründungsbuch der DDR
wurde.26 Klemperer überlebte bekanntlich das »Dritte Reich« nicht
im Exil, wie Seghers, sondern in Deutschland. Die Jahre hindurch
protokollierte er, vom öffentlichen Leben ausgegrenzt, als Chronist
des Dresdner NS-Alltags Erlebnisse und Erfahrungen als »Sternenträger« und beobachtete das Alltagsverhalten der Menschen in
der Diktatur, deren ständiger Vernichtungsandrohung er nur knapp
oben links/oben Mitte: Amos Elon, In einem
heimgesuchten Land. Reise eines israelischen
Journalisten in beide deutsche Staaten, Titelseite
und Foto des Autors auf der Umschlagsrückseite der
bei Kindler erschienenen Erstausgabe von 1966.
der Feierstunde zum »Tag des freien Buches«. Zur
gleichen Zeit schrieb sie in einer Tagebuchnotiz:
»Ich war traurig, weil meine Sprache Deutsch ist.
Weil ich in dieser Kultur und Sprache groß wurde.«
Foto: SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo
oben rechts: Anna Seghers hatte die Nazizeit im
französischen und mexikanischen Exil überlebt.
Das Bild zeigt sie kurz nach ihrer Rückkehr nach
Deutschland am 10. Mai 1947 während einer
Ansprache vor der Berliner Universität anlässlich
unten links: In ihrem persönlichen Austausch mit
Freunden und Bekannten – meist außerhalb
Deutschlands – zeigt sich jedoch ein anderes Bild.
Die Entfremdung von ihrer Heimat, in der sich die
Menschen weigerten, persönliche und politische
Verantwortung für die Verfolgung und Vernichtung
der Juden zu übernehmen, wurde zum dominierenden
Thema ihrer Briefe. Im brandenburgischen
Dichterschloss Wiepersdorf erholte sich Anna Seghers
öfter für einige Tage oder Wochen von ihrem
politischen Tagesgeschäft, nicht zuletzt bei ihrer
umfangreichen Korrespondenz (hier eine Aufnahme
von 1950). Foto: bpk, Jochen Moll
unten rechts: Die Schriftstellerin wurde in beiden
deutschen Staaten und im Ausland als treue
Repräsentantin der DDR wahrgenommen. Ihre Reden,
Artikel und ihre Funktionen im Kulturbetrieb wie
auch die vielen offiziellen Ehrungen durch Partei
und Staat erweckten den Eindruck ihrer völligen
Übereinstimmung mit der Politik. Am 27. März 1950
erhielt sie von Wilhelm Pieck, dem Präsidenten der
DDR, ihre Urkunde zur Aufnahme in die Akademie
der Künste. Foto: Illus/Süddeutsche Zeitung Photo
15 Aus der breiten Literatur zum Gesamtthema: Georg Schuppener (Hrsg.), Jüdische
16
17
18
19
40
Intellektuelle in der DDR. Politische Strukturen und Biographien, Leipzig 1999;
Moshe Zuckermann (Hrsg.), Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR,
Göttingen 2002.
Hier notierte Klemperer noch den Namen falsch (»Alfred«), meinte aber Hans
Mayer, vgl. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher
1945–1959, 2 Bde., hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian
Löser, Berlin 1999, hier Bd. I, S. 476; vgl. auch ebd., S. 480 u. 602.
Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946.
Hans Mayer, Der Widerruf. Über Deutsche und Juden, Frankfurt am Main 1994,
S. 271–286; Mayer hat die drei Bücher Der Turm zu Babel (1991), Wendezeiten
(1992) und Der Widerruf (1994) als seine »Deutsche Trilogie« bezeichnet, in:
ders., Der Widerruf, S. 449.
Mayer, Der Widerruf, in Teil V: »Deutsche, Juden, Kommunisten«, das mit einem
Porträt von Anna Seghers beginnt, S. 271–285, hier S. 271.
20 Diese Episode berichtet Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen,
21
22
23
24
25
26
Bd. I, S. 587.
Ebd., Bd. I, S. 391.
Ebd., Bd. I, S. 294.
Ebd., Bd. II, S. 125, 303 u. 346.
Ebd., Bd. I, S. 383 u. 558.
Ebd., Bd. I, S. 558 f.
Vgl. ebd., Bd. I, S. 602; Klemperers LTI war in der DDR ein Klassiker und erschien mehrfach, 1947 im Aufbau-Verlag, 1957 beim VEB Max Niemayer-Verlag
Halle/Saale und dann noch einmal als Taschenbuch in der Reihe Universalbibliothek im Reclam-Verlag Leipzig.
Einsicht
Einsicht 15 Frühjahr 2016
41
»Urteilslos und deformiert« –
Anna Seghers über die Nachkriegsdeutschen
Anna Seghers ist politisch als Staatsschriftstellerin, als Gründungsmitglied der Akademie der Künste und Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, als »gläubige Kommunistin«, ja Stalinistin
im Gedächtnis geblieben, als Mitglied der SED und Trägerin des
Nationalpreises.27 Der politisch abtrünnige Hans Sahl etwa errichtete
seiner ehemaligen Parteigenossin Seghers in seinen Exil-Memoiren
ein bitteres Denkmal. Sie hatte mehrmals versucht, ihn im persönlichen Gespräch zur Parteiräson zu bringen, er rechnete rückblickend
mit ihr ab, indem er die »somnambule Eindringlichkeit« ironisierte,
mit der sie Parteibeschlüsse verbreitete und dabei »in eine Art transzendenten Singsang verfiel, wenn es darum ging, die letzten Beschlüsse des Politbüros bekannt zu machen.«28 Seghers gehörte der
Gruppe »Freies Deutschland« an, die in Mexiko im Exil gewesen
war.29 Mit anderen kommunistischen Remigranten etablierte sie
sich schnell im neuen Staat und nahm bald hohe Funktionen in der
Kulturpolitik ein. Im Juli 1945 wurde etwa der »Kulturbund zur
demokratischen Erneuerung Deutschlands« gegründet, auf dem
Seghers eine Hauptsprecherin war. Doch ungeachtet ihrer Karriere
als Repräsentantin des sozialistischen Musterstaates und als Funktionärin der Partei dominierte bei ihr eine große Fremdheit vor
Deutschland und den Deutschen. Diese Fremdheit war das Grundgefühl für die Schriftstellerin, die im April 1947 aus Mexiko über
Amerika, Stockholm und Paris nach Deutschland zurückkehrte. In
Briefen, die ihrer Rückkehr vorausgingen oder die Freunden vor
allem außerhalb Deutschlands ihre ersten Eindrücke schilderten,
wiederholte sie ein ums andere Mal ihre Fassungslosigkeit über
die Menschen ihrer Umgebung und deren Gegenwartsverhältnis
zur NS-Vergangenheit und zum »Abschlachten der Juden« wenige
Jahre zuvor.30 Sie nannte diese Zeit, als sie in das »kalte Land« der
Deutschen zurückkehrte, wortwörtlich eine »Eiszeit«.31 Bevor und
während sie im offiziellen Kulturleben aufstieg und zur Staatsschriftstellerin des kommunistischen Neuanfangs wurde, drückte sie
in Privatbriefen an Freunde und ihr nahestehende Bekannte ihren
Ärger über die Deutschen aus, »die den Nazifaschismus oder den
Monopolkapitalismus usw. so darstellen, als sei er ueber das deutsche Volk gekommen wie die Conquista und die Cortes und seine
Spanier …«32 Sie selbst habe »bis auf ein paar Freunde niemand
Lebendes in Deutschland.«33 Der alles dominierende Eindruck war
29 Philipp Graf, »Habsburger Residuen. Bruno Frei und Leo Katz im kommunist-
30
31
ischen Exil in Mexiko-Stadt, 1941–1946«, in: Nicolas Berg u.a. (Hrsg.), Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner
zum 65. Geburtstag, Göttingen, Oakville 2011, S. 365–382; ders., »Angesichts
des Holocaust: Das deutschsprachige kommunistische Exil in Mexiko-Stadt
1941–1946«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute
Yearbook, Vol. 8 (2009), S. 451–479.
Seghers, Brief an Jürgen Kuczynski vom 25.6.1945, in: Anna Seghers, Briefe
1924–1952, hrsg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, Berlin 2008,
S. 160–163, hier S. 161; Anna Seghers Mutter war in einem Lager in Polen ermordet worden. An einen Freund schrieb sie: »Wie alle habe ich sehr geliebte,
sehr teure Menschen verloren.« (Brief an Nico Rost vom 20.2.1946, in: ebd.,
S. 181–184, hier S. 183).
Vgl. insgesamt die Biographie von Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine
Biographie, Bd. 1: 1900–1947, Berlin 2000; Bd. 2: 1947–1983, Berlin 2003; außerdem: Alexander Stephan, »›Ich habe das Gefühl, ich bin in eine Eiszeit geraten…‹. Zur Rückkehr von Anna Seghers aus dem Exil«, in: ders., Überwacht,
Ausgebürgert, Exiliert. Schriftsteller und der Staat, Bielefeld 2007, S. 322–343;
Monika Melchert, Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis
1952, Berlin 2011; Doris Danzer, »Eiszeit im Nachkriegsdeutschland: Anna
Seghers’ Suche nach Geborgenheit und Wärme im ›Volk der kalten Herzen‹«, in:
dies., Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960), Göttingen 2012, S. 417–434.
Seghers, Brief an Jürgen Kuczynski vom 3.12.1945 (aus Mexiko-Stadt), in: Seghers, Briefe 1924–1952, S. 168–173, hier S. 171.
Seghers, Brief an Lore Wolf vom 30.9.1946 (aus Mexiko-Stadt), ebd., S. 199–
202, hier S. 200.
27 Peter Merz, Und es wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller
32
mit Westdeutschland, München 1985, S. 36; Krauss, Heimkehr in ein fremdes
Land, S. 117.
28 Hans Sahl, Das Exil im Exil, Frankfurt am Main 1990, 2. Aufl., S. 302.
33
42
Einsicht
für sie nicht der deutsch-deutsche politische Antagonismus, dem
sie rhetorisch Tribut zollte, sondern die große Differenz zwischen
ihrer alten Heimat und der Welt jenseits der deutschen Grenzen. Aus
Berlin schrieb sie etwa: »Für jemand, der von außen kommt, wirkt
Deutschland oft fremder als die fremden Laender.«34 Sie sagte Ende
1947 über die Deutschen, »die Menschen sind andere Menschen
als in den romanischen Ländern«.35 Victor Klemperer schildert im
November 1949 eine Szene in einer Präsidiumssitzung des Kulturbunds, die das verbreitete Bild der Seghers als DDR-Repräsentantin
zu erschüttern geeignet ist. Es ging hier um ihre Wiederwahl. Im
Gremium wollte man ihres großen Namens wegen an ihr festhalten.
Alexander Abusch, Johannes R. Becher und andere zeigten jedoch
»erbitterte Ablehnung«, so schildert Klemperer: »Becher: es sei
gegen die Würde des Kulturbunds. Sie habe nichts für ihn übrig.
Sie lebe für SU, Friedensidee, ihre Kinder, sie sei von Moskau nach
Paris in diesem letzten Jahr, ohne sich um uns zu kümmern. Abusch:
in Paris während des Friedenscongresses habe sie sich den Deutschen betont ferngehalten, nur französisch gesprochen, auf ihren
mexikanischen Paß dort gewesen, ganz international getan. Abusch
griff sie fast unverhüllt als Deutschlandfeindin an. Sie scheint ihm
eher Sowjetbürgerin u. internationale Kommunistin. Sie wurde dann
mit allen Stimmen gegen die Havemanns nicht mehr auf die Liste
gesetzt.«36 Die Art und Weise, in der hier im Herbst 1949 DDRKulturpolitik in der antisemitischen Rhetorik des »Dritten Reichs«
praktiziert wurde, macht deutlich, dass Seghers mit Gründen an
einem Wir festhielt, das Frankreich und Mexiko und die Internationale des Kommunismus weit mehr umfasste als Deutschland.
Als einen der ersten Stoffe für eine literarische Arbeit nach ihrer
Rückkehr schwebte Seghers »die Mentalität eines Dorfes [vor], das
an einem Massenmord mitschuldig ist, aber dicht haelt, damit seine
Schuld nicht herauskommt, das waere etwas, was ich anstaendig
schreiben koennte.«37 Der Eindruck »einer schwer erklaerbaren und
beschreibbaren Finsternis, die sich aber anders dartut als wir es
uns vorstellen konnten«, wird von Seghers immer wieder mit Blick
auf die älteren Deutschen erklärt, die »urteilslos und deformiert«
auf sie wirkten.38 Den raschen Beginn des äußeren Wiederaufbaus
34 Seghers, Brief an Christfriede Gebhardt vom 5.6.1947 (aus Berlin), ebd., S. 214–
216, hier S. 214.
35 Seghers, Brief an Katharina Schulz vom 16.12.1947, ebd., S. 262–266, hier
S. 265.
36 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 700 f.
37 Seghers, Brief an Karl Kleinschmidt vom 12.6.1947 (aus Berlin), in: Briefe
1924–1952, S. 216 f., hier S. 216 f.
Kulturwissenschaften
in der edition text+kritik
Irene Below
Burcu Dogramaci (Hg.)
entkam, geschützt vor allem durch die Ehe mit seiner Frau Eva.
Bei Seghers und Klemperer veränderte sich das Verhältnis von
Ich und Wir vor, während und nach der NS-Zeit. Der protestantisch
getaufte Klemperer meinte bis zur NS-Zeit mit »Wir«, je nach Situation, Deutsche, Akademiker oder auch Gebildete, während es
im Selbstverständnis von Seghers die Partei, den Staat, die Schicht
oder Klasse, selten das Judentum und die eigene jüdische Herkunft
bezeichnete. Gemeinsam war ihnen, neben ihrem Beruf als Schriftsteller und Wissenschaftler, dass sie nach 1945 in Deutschland Zukunft suchten, zurückkehrten und davon überzeugt waren, dass die
Gründung der DDR die bessere Antwort auf die zwölf Jahre der
Diktatur darstellte als die Bundesrepublik. Klemperer suchte in Berlin, Greifswald, Halle und vor allem Dresden einen Neuanfang und
fand in der DDR im hohen Alter erstmals breite öffentliche berufliche
Anerkennung. Seghers wählte mit Berlin ebenfalls Ostdeutschland
als neue Wirkstätte, und auch sie repräsentierte und pries den neuen
sozialistischen Staat in der Öffentlichkeit, wo und wann immer sie
darum gebeten wurde. Gemeinsam war beiden auch, dass sie sich
immer wieder genötigt sahen, ihre jüdischen Erfahrungen im sozialistischen neuen Gemeinwesen aufgehen lassen, also unsichtbar
machen zu müssen. In ihren Briefen und Tagebüchern spricht sich
bei ihnen deshalb eine widerständige Gedächtnisgrammatik aus, in
der das Erinnerungs-Ich sich dem politischen Wir der Nachkriegsdeutschen verweigerte.
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38 Seghers, Brief an Kurt Stavenhagen vom 12.6.1947 aus Berlin, ebd., S. 218–221,
hier S. 218 f.; im Brief an Bruno Frei vom 9.10.1947, ebd., S. 248–250, hier
S. 249 u. 250, spricht sie von »einer grossen Dunkelheit« und von der »dunklen
und kalten Stadt« Berlin; in einem Brief an Helene Weigel vom 23.10.1947 wiederholt sie den Eindruck, die Deutschen erschienen ihr »seltsam deformiert«,
ebd., S. 254 f., hier S. 255.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
43
betrachtete sie, ganz ähnlich wie kurz später auch Hannah Arendt
bei ihrem Besuch in Deutschland39, mit den Gefühlen größter Ambivalenz und bezeichnete ihn als einen »Eifer, der teuflisch wirkt,
da er auch fuer den Teufel in Betrieb gesetzt wurde«40; dabei aber
empfand sie die Deutschen als ein »Volk der ›kalten Herzen‹«41 und
als »so komisch immobil im Denken«42: »Was sie denken und sagen,
ist recht verworren […].«43 Am tiefsten verstörte sie dabei »[dieses]
sich bei einer Obrigkeit lieb Kind machen zu wollen. Dadurch ist
meine Mutter, und dadurch ist auch mein Freund Scheffer tot.«44 Die
meisten Deutschen empfand sie als »so stumpf, so verdummt, wie
man sich das vorgestellt hat, manchmal eher schlimmer«, einmal
wählte sie sogar den Begriff »verwildert«, um die Gesellschaft um
sich herum und den Grund ihrer zunehmenden Distanz zur ehemaligen Heimat zu beschreiben.45 Im Juni 1948 berichtet sie von einer
Depression, die auf ihr laste.46
Nicht nur die Menschen waren ihr fremd, auch das positive
Gefühl für Landschaft und für die deutsche Sprache entglitt ihr.
In der Erzählung »Der Besuch« heißt es noch 1956, dass auch sie,
unabhängig von der über Jahre hinweg geltenden Sehnsucht im
Exil, »eine harte, kahle Sprache« geworden sei. Das eigene »tiefe
kindliche Heimatgefuehl« sei ihr, so bilanziert sie bereits im November 1947, abhanden gekommen, die vertraute Landschaft sei »zu
sehr an Grausamkeit gebunden an die Vernichtungen der liebsten
Menschen meiner Jugend.«47 Immer wieder betont Seghers die sie
umgebenden Kälte, »die Menschen« empfand sie als »sonderbar
kalt«.48 Sie spricht Freunden gegenüber von »greulichen Menschen«
um sie herum und davon, wie »vollkommen unwirklich« alles sei49,
und sie fügte als Erklärung hinzu: »Es geht ihnen allen so verdammt
dreckig, sie sind so fürchterlich schuld daran, sie kapieren das absolut
nicht […].«50 In einem anderen Brief drückt sie denselben Gedanken
noch genauer aus: »Die Menschen verstehen jeden Tag weniger, dass
sie irgendwie, dass sie auch nur im geringsten Schuld haben sollen
an dem Hunger, den sie tatsächlich haben.«51 Deutschland – das
war für Anna Seghers nun »dieses verhexte Land« geworden, ein
Land, in dem die Menschen »um keinen Preis einen Zusammenhang verstehen wollen«, darunter auch viele Bekannte von früher,
nicht nur Mitläufer, sondern auch Opfer des NS-Regimes, mit stark
»verschrobenem und reduziertem Denkvermögen«; das Ganze sei
»schwer zu schildern«.52 Nach der Rückkehr aus Paris, wo sie ihre Kinder besucht hatte, wird der schon zuvor heftig empfundene
Albdruck ihrer deutschen Umwelt stärker und stärker, Deutschland
kommt ihr »noch viel sonderbarer vor wie am Anfang«, vor allem
in Bezug auf den »merkwuerdige[n] intellektuellen Bruch«.53 Ihrer
Freundin Erika Friedländer ruft sie in einem Brief fast verzweifelt
zu: »Was dieses Europa einen schönen Rand hat und ein unangenehmes Mittelstueck.«54 Deutschland – das war für sie nun nicht
mehr die Heimat, sondern »das denkbar beste Exerzierfeld fuer den
Faschismus«.55 Es ist die in ihren Privatbriefen dieser Jahre erkennbar werdende zunehmende Entfremdung, die Seghers wiederholt
ihre mexikanische Staatsangehörigkeit hervorheben lässt, immer
öfter betont sie, dass sie »ja keine Deutsche« sei56, dass sie seit ihrer
Heirat »keine deutsche Staatsangehoerigkeit« besitze57 und »aus
einem anderen Volk komme«.58 Auch ihre fast beiläufig gemachte
39 Hannah Arendt, Besuch in Deutschland. Mit einem Vorwort von Henryk M.
Broder, Berlin 1993; zu Arendts Deutschland-Reise 1949/50 vgl. Elisabeth Gallas, »Im Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2012, S. 234–245.
40 Ebd., S. 220.
41 Im Orig. spanisch »el pueblo de ›los corazones fríos‹«, vgl.: Anna Seghers, Brief
an Clara Porset-Guerrero vom 22.6.1947, in: Seghers, Briefe 1924–1952,
S. 228 f., hier S. 229 (dt. Übersetzung des Briefes: Anna Seghers, »Hier im Volk
der kalten Herzen«. Briefwechsel 1947, hrsg. von Christel Berger, Berlin 2000,
S. 77–79, hier S. 79); an Georg Lukács heißt es im Juni 1948: »Ich habe manchmal das Gefuehl, dass ich bald vereise. Ich habe das Gefuehl, ich bin in eine
Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor.« Seghers, Brief an Georg Lukács
vom 28.6.1948, ebd., S. 308–311, hier S. 310.
42 Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 256–258, hier S. 257; sie
könnten sich, so Seghers, weiter über diesen sie stark irritierenden Grundzug der
Deutschen, »schwer in was reindenken«.
43 Seghers, Brief an Sally David Cramer vom 16.6.1947, ebd., S. 221–223, hier
S. 222.
44 Ebd., S. 223.
45 Seghers, Brief an Erika Friedländer vom 16.6.1947, ebd., S. 223–227, hier
S. 223 f.
46 Seghers, Brief an Kurt Stern vom 9.6.1948, ebd., S. 300 f., hier S. 301.
47 Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 258.
48 Ebd.
49 Im Orig. spanisch: »completamente irreal«, vgl. Anna Seghers, Brief an Clara
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Porset-Guerrero vom 22.6.1947, ebd., S. 228 f., hier S. 229 (dt. Übersetzung in:
dies., »Hier im Volk der kalten Herzen«, S. 77–79, hier S. 79).
Seghers, Brief an Sally David Cramer vom 31.7.1947, ebd., S. 232–234, hier
S. 233 f.
Seghers, Brief an Irene With vom 7.8.1947, ebd., S. 240–242, hier S. 241.
Seghers, Brief an Irene With vom 24.9.1947, ebd., S. 246–248, hier S. 247.
Seghers, Brief an Egon Erwin und Gisela Kisch vom 22.12.1947, ebd., S. 272–
274, hier S. 272.
Seghers, Brief an Erika Friedländer von Mitte Dezember 1947, ebd., S. 267–269,
hier S. 269.
Seghers, Brief an Bruno Frei vom 11.2.1948, ebd., S. 282–284, hier S. 283.
Seghers, Brief an Lore Wolf vom 1.11.1947, ebd., S. 256–258, hier S. 257; ähnliche Formulierungen auch in: Brief an Erika Friedländer vom 19.11.1947, ebd.,
S. 258–260, hier S. 259; Brief an Bruno Frei vom 11.2.1948, ebd., S. 282–284,
hier S. 282.
Seghers, Brief an den Deutschen Volksrat vom 7.5.1948, ebd., S. 290.
Seghers, Brief an Elisabeth Zakowski vom 16.12.1947, ebd., S. 270 f., hier
S. 271; weiter heißt es hier: »Schlechte und Teuflische gibt es ueberall, aber eine
so gleichmaessige Senkung nicht nur des moralischen, des politischen usw.
Niveaus, sondern des gesamten Intellekts, ist wirklich ein Phaenomen. Ich glaube
nur, dass man diese Sache nicht sich selbst ueberlassen kann, dass etwas geschieht oder nicht geschieht in der Richtung, in der man selbst handelt oder nicht
handelt.«
Bemerkung an Nico Rost, sie wolle nicht in Deutschland sterben,
steht in diesem Zusammenhang.59
»Vom gleichen Faschismus verseucht« –
Victor Klemperer über die geteilte Heimat
Viktor Klemperer bezeichnete die Zeit nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands zunächst als »Wirrwarr«, immer wieder gebrauchte er
in seinem Tagebuch den Ausdruck »schwankend«.60 Er hatte aber die
Hoffnung, dazu beizutragen, mit dem vorangegangenen Inferno der
Nazizeit aufzuräumen. In einem Brief von Juni 1946 an einen nach
New York emigrierten Freund schrieb Klemperer in drastischen
Worten über sein Motiv, in Deutschland zu bleiben: »Ich möchte gar
zu gerne am Auspumpen der Jauchegrube Deutschland mitarbeiten,
daß wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.«61 1950
wurde er als Abgeordneter des DDR-Kulturbunds auch Mitglied der
Volkskammer. Nur ein Jahr später, dem Todesjahr seiner Frau Eva,
verlieh ihm die Technische Universität Dresden anlässlich seines
70. Geburtstages die Ehrendoktorwürde. Kurz darauf erhielt er auch
den Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur. 1956 hält ein
bekanntes Fotodokument den Augenblick fest, in dem Klemperer
den Vaterländischen Verdienstorden aus den Händen von Wilhelm
Pieck, Präsident der DDR, entgegennimmt.62 Drei Jahre zuvor hatte
Klemperer in dem Vortrag »Zur gegenwärtigen Sprachsituation in
Deutschland« im Klub der Kulturschaffenden in Berlin »Stalins
Genialität«63 gepriesen. Der Vortrag begann mit der Ausdeutung
eines Stalin-Zitats über die Nation und über seine These von der
Einheit der Nation durch die »Einheit der Sprache« aus dessen
1913 erschienen »Marxismus und nationale Frage«. Hier ist die
59 Anna Seghers, Brief an Nico Rost vom 1.6.1948, ebd., S. 297–299, hier S. 298.
60 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, passim.
61 Siegfried Heimann, Politische Remigranten in Berlin, in: Krohn, von zur Mühlen
(Hrsg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 189–210, hier S. 210; zu Klemperers
Tagebuch-Werk insgesamt v.a.: Steven E. Aschheim, »Victor Klemperer and the
Shock of Multiple Identities«, in: ders., Scholem, Arendt, Klemperer. Intimate
Chronicles in Turbulent Times, Bloomington & Indianapolis 2001, S. 70–98;
Kornélia Papp, Deutschland von innen und von außen. Die Tagebücher von
Victor Klemperer und Thomas Mann zwischen 1933 und 1955, Berlin 2006;
Denise Rüttinger, Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor
Klemperer, Bielefeld 2011; Lothar Zieske, Schreibend überleben, über Leben
schreibend. Aufsätze zu Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1959,
Berlin 2013.
62 Vgl. etwa Abb. 29, in: Peter Jacobs, Victor Klemperer. Im Kern ein deutsches
Gewächs. Eine Biographie, 3. Aufl., Berlin 2010.
63 Victor Klemperer, Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Vortrag,
gehalten im Klub der Kulturschaffenden Berlin, Berlin: Aufbau-Verlag 1953,
S. 4. Die Titelei weist den Autor als »Nationalpreisträger Prof. Dr. phil. Dr. paed.
h.c.« aus. Der Vortrag wurde auch an den polnischen Universitäten in Warschau,
Krakau und Wroclaw gehalten.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Rede von der »Feindseligkeit der Vereinigten Staaten« und von der
»verräterischen Adenauerregierung«, der Klemperer eine Politik
der »geistigen Entdeutschung des deutschen Westens«64 vorwirft.
Der Vortrag kann heute als Dokument zweifach ausgelegt werden:
Eine erste, wörtliche Lektüre kommt zum Schluss, dass Klemperer
hier selbst in die »LQI« wechselte, dass er sozialistischen Jargon
spricht, sich an die Sprache und Gedanken der neuen Macht anpasst;
die zweite Lesart offenbart einen etwas weniger opportunistischen
Sprecher: Klemperer ist auch in dieser Perspektive durchdrungen
von der im »Dritten Reich« erworbenen Überzeugung, dass Unheil in Politik und Öffentlichkeit seinen Eingang über die Sprache
nimmt. Er bleibt seiner These treu, dass die Sprache als Seismograph
das Grobe, Falsche und das politisch Schlechte erkennbar macht.
Liest man den Text nicht deutsch-deutsch (wie er sich selbst gibt),
sondern mit dieser von ihm im »Dritten Reich« durchlebten jüdischen Erfahrung, so hält man mit diesem Vortrag die fundamentale
Lehre des jüdischen Überlebenden des Holocaust in die Passform
der neuen politischen Opportunität in den Händen. Sein Appell der
»Bewahrung der deutschen Kultur« und das von ihm verteidigte
»Gebot der Ehrfurcht vor dem klassischen Literaturerbe«65 evoziert
das andere, das klassisch-idealistische Erbe Weimars. Sprache, so
Klemperer, ist nie »das Werk nur einer Epoche, nur eines gesellschaftlichen Zustandes«, sondern »Generationen über Generationen
[haben] an ihr geschaffen«, sie ist »das Gemeinschaftswerk eines
ganzen Volkes«.66 Tatsächlich kritisiert Klemperer hier – ungeachtet der Anrufung Stalins – das dogmatische Sprachverständnis
des Marxismus, für den Sprache ein neutraler Befund ist. Nur die
Sonderinteressen von Klassen prägten ihre je eigenen Begriffe.
Klemperer distanziert sich von dieser These mit der wiederkehrenden Berufung auf Stalin: »Sprache ist Ausdruck, Gefäß, Körper der
gesamten Denkarbeit einer Nation.«67
Dieser durch Vortrags- und Lehrmöglichkeiten in Dresden,
Halle, Leipzig und Berlin sowie durch vielfältige Vortragseinladungen und Publikationsmöglichkeiten und allerlei Komfort (etwa
einem Dienstwagen mit Fahrer) noch unterstrichene Aufstieg in
der DDR wird im Tagebuch vielfach konterkariert. Im »Wirrwarr
der Zeit« nach 1945 wird Deutschland zum Land »der versunkenen Judenwelt« für Klemperer: »Nie mehr werde ich unbefangen
sein.«68 Für ihn, so schreibt er, kann es nicht mehr anders sein, als
dass »ich nun alles, ich mag wollen oder nicht, sub specie Judaeorum betrachten muss.«69 Er muss sich zur »Beglücktheit«70 über
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Ebd., S. 25.
Ebd., S. 25 f.
Ebd., S. 5.
Ebd., S. 7.
Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 56.
Ebd., S. 13 u. 16.
Ebd., S. 62.
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die wiedererlangte Freiheit nach dem Ende des Krieges regelrecht
zwingen; einmal nennt er das Überleben sogar einen »Sieg des
Judentums«71: »Ich muß mir ein bisschen oft sagen«, so heißt es
weiter, »du bist jetzt im Paradiese, verglichen mit dem vergangenen Zustand.«72 Doch das Tagebuch vermerkt schon ab Sommer
1945 immer häufiger die enttäuschte Hoffnung auf das erwartete »Ausmisten«73 im System der politischen Elite. Das Erstarren
über »die grausige Fülle« von Todesnachrichten nimmt nicht ab,
sondern zu74; der Frieden war nun Wirklichkeit, aber »mit wieviel
Millionen Toten erkauft!«, so sein Ausruf im Privatraum der eigenen Notizen.75 Immer wieder unterbricht er Eintragungen der
Zuversicht und des Aufbruchs und fällt sich selbst in den Arm, ruft
sich zu »Zurückhaltung« auf und schiebt Bemerkungen ein wie
jene, die Juden dürften sich »nicht vordrängen und als Nutznießer
und Sieger aufspielen«.76 »Ich mag nur nicht als jüdischer Rachegeist und Triumphator erscheinen.«77 Durch die Veröffentlichung
dieses Tagebuch-Dokuments von Klemperer können wir heute
den inneren und intellektuellen Widerstreit verfolgen, in dem er
sich in der Frühzeit der DDR wähnte. Einerseits wollte er nun aus
dem Erlebten allgemeine Schlüsse ziehen. Im Januar 1950 notiert
er etwa: »Ich mag nicht die Judenerinnerung schreiben, ich muß
mich allgemein halten.«78 Dann aber dokumentiert er immer wieder die »dunkelschwülstigen«79 alten Bilder und wiederkehrenden
Ressentiments des »neu erwachenden Antisemitismus«80 und die
allgemeine »Degradierung der Vernunft«, die er für die tiefste, »die
eigentlich deutsche« Wurzel des Unheils hält und keineswegs nur
im westlichen Teil des besetzten Deutschlands, sondern auch in
der SBZ ausmacht.81 An den Aufmärschen der Nationalen Front
konstatiert er später voller Skepsis den »ungeheuer militärischen
Schneid«, die Feier sei mit ihren Parolen geradezu »kriegerisch«
gewesen und habe im Ganzen dem Ritual der Hitlerjugend geähnelt82. Auch hört Klemperer jemanden sagen, der Handel zwischen den Zonen und mit dem Ausland werde von »den« Juden
organisiert; er fragt zurück: »Nur die Juden? Er: natürlich nicht:
›nur‹… aber doch die Juden. Er fand auch, man sei zu hart gegen
die einstigen Pg’s. Da sei doch auch Sozialismus dabeigewesen!«83
Das Medium seiner Deutschlandkritik bleibt auch nach 1945
und 1949 immer die Sprache.84 Noch immer oder wieder konstatiert Klemperer ein »krankes Deutsch«85. Bald tritt er im Zorn
des Augenblicks sogar dafür ein, »ein antifaschistisches Sprachamt« einzusetzen, doch bald beginnt er damit, »dem marxistischen
Sprachgebrauch« systematischer und wissenschaftlich nachzugehen86 und seine sprachkritische Arbeit, die in der NS-Zeit das
lateinische Kürzel »LTI« erhalten hatte, unter dem Akronym
»LQI« fortzusetzen: »Jede paedagogische und historische Rundfunksendung wimmelt von Entstellungen. Und dabei hätte man’s
doch nicht nötig zu lügen!«87 Auch die kommunistische Partei, so
der enttäuschte Tagebuch-Chronist, etablierte nun gesellschaftsund geschichtsbezogene Sprachformeln, die an jene jüngst erst
überwundenen erinnern: »Ich werde in die Lage der Hitlerjahre
zurückgedrängt: für den Schreibtisch zu arbeiten. Vielleicht veröffentlicht es jemand später einmal.«88 Ein Eintrag aus der frühen
Nachkriegszeit lautet: »Die KPD hier unterstützt den Juden nicht so
eifrig wie etwa den Parteigenossen – sie wittert im Juden offenbar
mit Mißtrauen den Kaufmann, Nicht-Arbeiter, Kapitalisten.«89 Oft
wird Klemperer durch Gefühle überwältigt, die er mitnotiert: »Der
Kulturcurs der SED ist mir verhaßt«, er spüre mehr und mehr den
»alten Platz ›zwischen den Stühlen‹«.90 Im Mai 1950 heißt es in
der deutlichsten Form: »Auseinanderklaffen in allem Geistigen mit
der SED. Ich kann aber nicht nach Westen ausweichen, der ist mir
noch zuwiderer.«91 Im Oktober 1957 spricht der 76-Jährige dann
aus, was auch zuvor in all den Jahren in seinen Aufzeichnungen
mal mehr, mal weniger direkt zum Ausdruck kommt: »Im übrigen
84 Heide Gerstenberger, »›Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschie-
85
86
87
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
46
Ebd., S. 73 f.
Ebd., S. 47 f.
Ebd., S. 56, 62 u.ö.
Ebd., S. 72.
Ebd., S. 74.
Ebd., S. 14 u. 17.
Ebd., S. 12; ähnlich auch schon S. 7, 9, 73 u.ö.
Ebd., Bd. II, S. 6.
Ebd., Bd. I, S. 83.
Ebd., S. 9.
Ebd., S. 47.
Ebd., Bd. II, S. 15.
Ebd., S. 51.
Abb. o.: Victor Klemperer erhält am 6. Oktober 1952
in der Deutschen Staatsoper Berlin aus den Händen
von Wilhelm Pieck den Nationalpreis für Wissenschaft, Technik, Kunst und Literatur III. Klasse. Es
war dies der Höhepunkt seiner öffentlichen Anerkennung. Foto: Bundesarchiv, Hans-Günter Quaschinsky
88
89
90
91
denen Nationalitäten sind ins Wackeln gekommen wie die Zähne eines alten
Mannes‹. Victor Klemperer in seinem Verhältnis zu Deutschland und zu den
Deutschen«, in: Hannes Heer (Hrsg.), Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997, S. 10–20; Cornelia Essner, »Odysseus
beim Polyphem. Das Tagebuch Victor Klemperers«, in: Antisemitische Bruchstücke. Zehn Geschichten aus dem Dritten Reich, Berlin, Tübingen 2014, S. 23–
38.
Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. II, S. 37 u. 48.
Ebd., Bd. I, S. 38; auch Bd. II, S. 24.
Ebd., S. 38; zur »LTI« auch: Arvi Sepp, Art. »LTI«, in: Enzyklopädie jüdischer
Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaft
hrsg. von Dan Diner, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2012, S. 566–571.
Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. II, S. 38; zu den fortlaufenden Notizen zur »Lingua Quartii Imperii« vgl. die folgenden TagebuchBemerkungen: ebd., Bd. II, 5, 12, 16, 24, 45 u.ö.; insgesamt: Heidrun Kämper,
»LQI – Sprache des Vierten Reichs. Victor Klemperers Erkundungen zum Nachkriegsdeutsch«, in: Armin Burkhardt, Dieter Cherubim (Hrsg.), Sprache im Leben
der Zeit. Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Helmut Henne zum 65. Geburtstag, Tübingen 2001,
S. 175–194.
Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. I, S. 27.
Ebd., Bd. II, S. 37 u. 48.
Ebd., S. 37.
Einsicht
Abb. l: Klemperer (hier im Juli 1946) setzte im Selbstgespräch seiner privaten Aufzeichnungen die kritischen
Notizen über Sprache und Denken in Politik,
Gesellschaft und Alltag auch im Nachkriegsdeutschland fort. Ihn empörten vor allem die alltäglichen
Szenen des privaten Verdrängens, wie sie ehemalige
Mitglieder der NSDAP häufig an den Tag legten, etwa
wenn einer sagte: »Es war doch auch viel Sozialismus
dabei«. Solche Sätze bestärkten seine Zweifel, ob er zu
diesen Deutschen überhaupt noch gehören wollte.
Foto: SLUB/Deutsche Fotothek, Abraham Pisarek
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Abb o.: In seinen Tagebüchern vermerkte der
Romanist nicht nur in den Wochen und Monaten
unmittelbar nach Kriegsende, sondern auch in den
Jahren und Jahrzehnten seit der Staatsgründung der
DDR ein ums andere Mal seine Enttäuschung über
das gesellschaftspolitische Klima und den Umgang
mit der Vergangenheit. Das Bild zeigt im Faksimile
die Fortsetzung des Eintrags vom 21. Juni 1945
und den Beginn des Eintrags vom 22. Juni 1945
(Orig. 29,7 x 21 cm).
Foto: SLUB/Deutsche Fotothek
47
wird mir die Politik immer widerlicher – sie lügen u. stinken alle
beide (Osten u. Westen) gar zu sehr.«92
Nicht nur die neue politische Klasse und das Establishment
liefern Enttäuschungen. Auch die Deutschen im Allgemeinen lassen
ihn auf Distanz gehen: »Jeder will nur zwangsweise Pg. gewesen
sein.«93 Und: »Das Volk ist so rettungslos dumm u. gedächtnislos.«94
Es sei ihm, so Klemperer, »eigentlich ein widerwärtiges Gefühl,
noch einmal mit diesen Menschen hier etwas zu tun haben zu
sollen.«95 Klemperer äußert sich zunehmend fassungslos über die
»Verzeihungs- und gerührte[n] Liebeserklärungen an alle gutwilligen Pg’s.«96 Ihn ärgerte auch das so ungebrochen daherkommende
sozialistische Selbstbewusstsein, das »Superlativieren« von Johannes R. Becher, den man schon im Sommer 1945 »zum größten
deutschen Dichter« erhob.97 Zugleich stößt es ihn ab, wie man »stur«
Marx und Engels nachbetet: »Und welche Enge, daß der Dichter
nur seine eigene Klasse zu schildern vermag! Überhaupt steht hier
Klasse wie bei den Nazis Art steht.«98 Einer SED-Sekretärin gesteht er im Juni 1947 in einem Gespräch einmal, als sie ihm von
den Indoktrinationen ihrer Schulzeit berichtet hatte: »So wie Sie
vor einem Juden zurückschauderten, so verspürt unsereiner einen
Blutgeruch, wenn er von einem Menschen hört, er sei Staatsanwalt
im dritten Reich gewesen.«99 Klemperer, der in der Frühzeit der
DDR Vorträge nicht nur im Osten, sondern auch im Westen hält100,
hat kein Vertrauen in die beiden deutschen Staaten: in den Westen
sowieso nicht, aber auch über den Osten schreibt er: »Ich weiß,
daß die demokratische Republik innerlich verlogen ist«, so über
die Gründung der DDR.101 Seinen politischen Eifer für die SED,
mit dem er in den Nachkriegsjahren seinen Beitrag zur »Entdunkelung« der Nazifolgen leistet, empfindet er bald als eine »rote
Schminkeschicht«.102 So hält es Klemperer bei genauem Hinsehen
– und im Unterschied zu den antisowjetischen und antirussischen
Deutschen – zuletzt mehr mit den Besatzern als mit den Besetzten
und ist der Meinung, dass die Anwesenheit von Panzern der Roten
Armee eine Überlebensgarantie des politischen Friedens darstellt103:
»Nicht weil er Gleichheitszeichen zu den Verhältnissen im Nazireich
glaubt setzen zu müssen«, so sein Biograph Peter Jacobs, »sondern
weil ihm angesichts der neuen Verhältnisse nachhaltige Zweifel an
92 Ebd., S. 656.
93 Ebd., Bd. I, S. 9; ähnlich auch ebd., S. 15, 52, 73, 82, 95 u.ö.
94 Ebd., S. 51.
95 Ebd., S. 8.
96 Ebd., Bd. II, S. 5.
97 Ebd., Bd. I, S. 89.
98 Ebd., Bd. II, S. 24.
99 Ebd., Bd. I, S. 393.
100 Jacobs, Victor Klemperer, S. 300 u. 353.
101 Zit. nach ebd., S. 326.
102 Zit. nach ebd., S. 304 u. 362.
103 Ebd., S. 326.
48
der Kulturfähigkeit und der Reinigung des beiderseitigen deutschen
Geisteslebens gekommen sind«.104 So klingt der folgende Satz wie
ein Fazit aus der Summe seiner Distanznahmen: »Deutschland ist
ein in zwei Stücke zerfahrener Regenwurm; beide Teile krümmen
sich, beide vom gleichen Faschismus verseucht, jeder auf seine
Weise.«105
Das Innere der Geschichte
Es gehört zur Grundsatzentscheidung nicht weniger Emigranten,
dass sie, um ihre Hoffnung auf das »andere Deutschland« zu bewahren und zu schützen, als Gast in Deutschland sein wollten, nicht
als Deutsche, als Rückkehrer oder auch nur als Staatsbürger. Peter
Merz hat in seiner Studie Und das wurde nicht ihr Staat gezeigt,
wie viele von ihnen die Rückkehr lange hinauszögern und dann die
Nachbarstaaten als endgültige Heimat oder als Wohnsitz wählen: »In
Deutschland«, so schrieb Merz 1985, »sind sie nur noch Gäste – wie
Walter Mehring und Hermann Kesten, Robert Neumann und Thomas Mann, Jean Améry und Ludwig Marcuse, Carl Zuckmayer und
Klaus Mann.« Ebenfalls zu nennen wären Paul Celan, Nelly Sachs
und Elias Canetti.106 »Auch wer sich neu beheimaten kann und das
Bürgerrecht eines andern Landes erwirbt«, so hat dies Karl Löwith
formuliert, »wird einen grossen Teil seines Lebens verbrauchen, um
diesen Riss auszufüllen.«107
Beide hier betrachtete Intellektuelle haben ihre Zurückhaltung
Deutschland gegenüber nicht in ihren Hauptwerken erörtert, in ihrem
Beruf oder was sie dafür hielten, haben sie dies gar nicht oder nur
am Rande beachtet. Seghers hat dieser Erfahrung nicht als Schriftstellerin, Klemperer nicht als Universitätslehrer Ausdruck verliehen.
In beiden Innentexten, durch die wir aufgrund der zeitgenössischen
Briefe, der Tagebücher und der Erinnerungstexte Kenntnis haben,
wird Deutschland wie von außen geschildert. Diese Beobachtung
ist nur scheinbar redundant. Denn beide beschreiben als Zeit- und
Augenzeugen der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und der darauffolgenden Jahre deutsche Verhältnisse; sie sind biographisch untrennbar
mit der deutschen Kultur und der deutschen Literatur verbunden, die
ihnen dabei aber mehr und mehr zum Arbeitsstoff wird. Am Wendepunkt und in der Zwischenzeit der Besatzung von 1945 bis 1949
– und dann vor allem mit der doppelt erfolgten Staatsgründung – ist
der gewählte Bezug auf Deutschland auch tatsächlich ein besonderer, es gibt Deutschland ja mehrfach, nicht nur in Innenbildern und
104 Ebd., S. 354 f.
105 Ebd., S. 363.
106 Merz, Und das wurde nicht ihr Staat, S. 87 u. 220.
107 Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: Ein Bericht, Neu-
somit symbolisch, sondern konkret und politisch. Deshalb konnte
man in dieser Zeit die deutsche Frage von innen und von außen
zugleich betrachten. Deutschland – das war die soeben vergangene
Katastrophe des Nazismus und der Neuanfang in der Gegenwart;
und Deutschland – das waren auch beide sich abzeichnende deutsche
Staatsgebilde in Ost und West. So machten es sowohl Geschichte als
auch Politik dieser Jahre dem Betrachter nicht schwer, innen zu sein
und zugleich von außen auf das Geschehen zu blicken.
Anna Seghers und Victor Klemperer nicht als Schriftsteller,
Akademiker und Philologen zu betrachten, sondern als Tagebuchund Briefschreiber und so ihren Beruf und ihre Berufung jenseits
ihres »Hauptgeschäfts« (ein Ausdruck von Goethe, den Theodor W.
Adorno liebte) zu sehen, das eröffnet die Möglichkeit, einen Blick
hinter das offizielle und öffentliche Werk der beiden Intellektuellen zu werfen. Zugleich sind mit dieser »First-Person-History«108
auch Varianten des Nachdenkens über Deutschland benannt, und
die eigene Zugehörigkeit zu diesem Land bildet sich noch einmal
in Kategorien der Überlieferung ab, in Quellenformen oder -gattungen, dem Brief (bei Seghers) und dem Tagebuch (bei Klemperer).
Es gibt eine andere Ideengeschichte, die sich nicht in den Hauptwerken ausspricht, sondern die ganz innen stattfindet, dort, wo nur
Briefe, Tagebücher und Memoiren hinreichen. Und da manche Geschichten nur dort stattfinden, kaum »außen« und weit entfernt von
den an die Öffentlichkeit adressierten Texten, gehört es methodisch
zur Aufmerksamkeit der Historiker, auch den Ort aufzusuchen, an
dem sich entscheidet, wann das »Ich« aus dem gegebenen »Wir«
herausgelöst wird (oder herausgelöst werden muss), wann sich die
umfassende Bedeutung des von uns oder anderen ausgesprochenen
»Wir« verändert.
108 Omer Bartov, »H. G. Adler und First-Person-History«, in: Julia Creet, Sara R.
Horowitz, Amira Bojadzija-Dan (Hrsg.), H. G. Adler. Life, Literature, Legacy,
Evanston, Ill. 2016, S. 119–137.
Durch die Linse der SS
2007 erhielt das United States Holocaust Memorial
Museum ein Fotoalbum. Dieses entpuppte sich schnell als
Sensation. Denn es gehörte Karl Höcker, Adjutant des
letzten Lagerkommandanten von Auschwitz, Richard Baer.
Die Bilder geben ganz neue Hinweise auf Verbindungen
der SS-Größen. Und sie zeigen Verantwortliche und Ausführende des Massenmords, die hier erstmals identifizierbar werden. Die Texte erschließen das Album wie auch den
Fall Höcker.
340 S.,150 s/w Abb., geb. mit SU
€ 49,95. ISBN 978-3-8053-4958-1
ausgabe, Stuttgart 2007, S. 136.
Einsicht
Einsicht 15 Frühjahr 2016
49
Rezensionen
Buchkritiken
58
Rezensionsverzeichnis
Liste der besprochenen Bücher
52
Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen
Matthäus, Martin Cüppers (Hrsg.): Deutsche Berichte
aus dem Osten 1942/1943. Dokumente der Einsatzgruppen
in der Sowjetunion
von Martin Holler, Berlin
53
Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im
Holocaust
von Markus Eikel, Den Haag
54
Svenja Bethke: Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität
und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und
Wilna
von Andrea Löw, München
55
Francis R. Nicosia: Nazi Germany and the Arab World
von Florian Weber, München
56
Ian Kershaw, To Hell and Back. Europe 1914–1949
von Michael Elm, Tel Aviv
50
Thomas Darnstädt: Nürnberg. Menschheitsverbrechen
vor Gericht 1945
Nürnberger Menschrechtszentrum (Hrsg.): Das
Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46.
Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und
kommentiert
von Alexa Stiller, Bern
71
Rüdiger Hachtmann, Sven Reichhardt (Hrsg.):
Detlev Peukert und die NS-Forschung
von Kurt Schilde, Berlin/Potsdam
82
Peter Huth (Hrsg.): Die letzten Zeugen. Der AuschwitzProzess von Lüneburg 2015. Eine Dokumentation
von Werner Renz, Fritz Bauer Institut
72
Stephan Braese, Dominik Groß (Hrsg.): NS-Medizin
und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945
von Christoph Schneider, Frankfurt am Main
83
Ursula Wamser, Wilfried Weinke (Hrsg.): »Ich kann
nicht vergessen und nicht vergeben«
Andrea Löw, München
60
Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker. Das
österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei
und des SD 1939–1945
von Remko Leemhuis, Berlin
73
Marceline Loridan-Ivens, mit Judith Perrignon
Und du bist nicht zurückgekommen
von Roland Kaufhold, Köln
84
Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela
Raggam-Blesch: Topographie der Shoah.
Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien
von Alexandra Klei, Berlin
74
61
Kim Wünschmann: Before Auschwitz. Jewish Prisoners
in the Prewar Concentration Camps
von Elisabeth Gallas, Leipzig
Ernst Würzburger: »Der letzte Landsberger«.
Amnestie, Integration und die Hysterie um die
Kriegsverbrecher in der Adenauer-Ära
von Volker Rieß, Ludwigsburg
85
Helga Krohn: Bruno Asch – Sozialist. Kommunalpolitiker.
Deutscher Jude. 1890–1940
von Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut
62
Gideon Greif, Itamar Levin: Aufstand in Auschwitz.
Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am
7. Oktober 1944
von Jochen August, Berlin/Oświęcim
86
Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried
Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra (Hrsg.):
Gedenkstättenpädagogik – Kontext, Theorie und Praxis
der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen
von Kerstin Engelhardt, Berlin
64
Alexander Pinwinkler: Historische
Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich
im 20. Jahrhundert
von Nicolas Berg, Frankfurt am Main/Leipzig
88
Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen die Macht.
Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte
von Gerd Hankel, Hamburg
89
KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Gedenkstätten und
Geschichtspolitik
von Wolf Kaiser, Berlin
90
Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen
von Galina Hristeva, Stuttgart
75
Hans-Christian Dahlmann: Antisemitismus in Polen
1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft
von Monika Tokarzewska, Toruń
76
Imke Hansen: »Nie wieder Auschwitz!«
Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer
Gedenkstätte 1945–1955
Katharina Stengel, Fritz Bauer Institut
77
66
Jovan Ćulibrk: Historiography of the Holocaust in
Yugoslavia
von Alexander Korb, Leicester/Jerusalem
67
Katharina Friedla: Juden in Breslau/Wrocław
1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung
und Verfolgungserfahrungen
von Markus Roth, Gießen
68
Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der
Trawniki-Männer im Holocaust
von Melanie Hembera, Ludwigsburg
69
Rywka Lipszyc
Das Tagebuch der Rywka Lipszyc
von Markus Roth, Gießen
70
Janina Hescheles: Oczyma dwunastoletniej dziewczyny
[Mit den Augen einer Zwölfjährigen]
von Karol Sauerland, Warszawa
Rezensionen
Christiane Schubert, Wolfgang Templin: Dreizack
und Roter Stern. Geschichtspolitik und historisches
Gedächtnis in der Ukraine
Lara Schultz und Ingolf Seidel, Berlin
78
Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur
der nationalsozialistischen Vernichtungslager
von Martin Mauch, Frankfurt am Main
79
Lorenz S. Beckhardt: Der Jude mit dem Hakenkreuz.
Meine deutsche Familie
von Roland Kaufhold, Köln
80
Samuel Salzborn (Hrsg.): Zionismus. Theorien des
jüdischen Staates
von Nico Bobka, Frankfurt am Main
81
Alfred Sohn-Rethel: Die deutsche Wirtschaftspolitik im
Übergang zum Nazifaschismus. Analysen 1932–1948
von Jérôme Seeburger, Leipzig
Einsicht 15 Frühjahr 2016
51
Ideologisierte Wahrnehmung
Klaus-Michael Mallmann,
Andrej Angrick, Jürgen Matthäus,
Martin Cüppers (Hrsg.)
Deutsche Berichte aus dem Osten
1942/1943. Dokumente der
Einsatzgruppen in der Sowjetunion
Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2014, 892 S., € 59,95
Der vorliegende dritte Band komplettiert die Editionsreihe zu den
Dokumenten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (Sipo) und
des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) in der besetzten
Sowjetunion.1 In chronologischer Fortsetzung des ersten Bandes umfasst er die »Ereignismeldungen UdSSR« (EM) von Januar bis April
1942 sowie die unmittelbar folgenden »Meldungen aus den besetzten
Ostgebieten« (MbO), die bis einschließlich Mai 1943 erschienen. In
diesen Zeitraum fielen sowohl die zweite Vernichtungswelle gegen
die sowjetischen Juden als auch das Erstarken der Partisanenbewegung und die militärische Niederlage in Stalingrad, was sich in
unterschiedlicher Intensität auch in den Berichten widerspiegelte.
Positiv zu vermerken ist, dass Band III – anders als noch Band I –
neben dem Personen- auch über ein Ortsregister verfügt. Zum idealen
Nachschlagewerk fehlt jedoch nach wie vor ein Sachregister, das eine
schnelle und gezielte Suche nach zusammenhängenden Themenbereichen (Opfergruppen, Institutionen, Alltagsphänomene, Partisanen,
Zwangsarbeit usw.) ermöglichen würde. Bedauerlich ist ferner die
Entscheidung der Herausgeber, einige Passagen, die ihnen inhaltlich
nicht relevant erschienen, auszulassen und durch Auslassungszeichen
zu ersetzen, ohne den Inhalt in Anmerkungen zusammenzufassen oder
zumindest stichpunktartig zu benennen. Auch die Illustrierung des
Bandes mit zeitgenössischen Fotografien kann nicht überzeugen, da
sie keinen unmittelbaren Bezug zu den konkreten Meldungen erkennen lassen. So findet sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in EM 149
vom 16.2.1942 eine Fotografie mit der Bildbeschreibung »Erhängte
Zivilisten November 1941«, ohne dass der Leser erfährt, wo und in
welchem Zusammenhang das Foto aufgenommen wurde und warum
es in dieser Meldung platziert wurde. (S. 157)
1
52
Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus, Martin Cüppers,
(Hrsg.), Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941. Dokumente der Einsatzgruppen
in der Sowjetunion, Darmstadt 2011 [Bd. I]; dies. (Hrsg.), Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–1945. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Darmstadt 2013 [Bd. II].
In ihrer sehr informativen Einleitung beschreiben die Herausgeber nicht nur den behandelten historischen Zeitraum, sondern
gehen auch ausführlich auf die Änderungen ein, die der Übergang
von den EM auf die MbO mit sich brachte und die für die Interpretation der Quellen von grundlegender Bedeutung sind: Nicht nur
der Erscheinungsrhythmus änderte sich (2–3 EM pro Woche, MbO
wöchentlich), sondern auch Form und Inhalt. Während über die
Massenverbrechen ab Sommer 1942 nur noch verschleiert berichtet wurde, wurde die zunehmende Gefahr durch Partisanen offen
benannt und mit Zahlen untermauert. Der beständig abnehmende
Einfluss von Sipo und SD auf den tatsächlichen »Bandenkampf«
durch Wehrmacht und Ordnungspolizei führte in den MbO dann ab
Herbst 1942 zu immer größerer Realitätsferne und einer »interessengeleitet verzerrten Darstellung«. (S. 17)
In der Tat ähnelten die EM des Jahres 1942 in ihrer Beschreibung des Massenmordes an der Zivilbevölkerung noch ganz ihren
Vorgängern des Jahres 1941, indem detailliert über die Zahl der
erschossenen Personen berichtet wurde. So hieß es etwa in EM 165
vom 6.2.1942 zur Tätigkeit der Einsatzgruppe D unumwunden, in der
Berichtszeit vom 15.–31.1.1942 seien »3.601 Personen erschossen«
worden, »davon 3.286 Juden, 152 Kommunisten, NKWD-Leute,
84 Partisanen und 79 Plünderer, Saboteure, Asoziale. Gesamtzahl
bisher 85.201«. (S. 141) Der Bruch in der offenen Darstellung erfolgte dann im Mai 1942 mit dem Erscheinen der MbO, in welchen
oft nur noch von Festnahmen die Rede war. (S. 616 f.)
Die solide Kommentierung der Dokumente beinhaltet unter
anderem Kurzbiographien zu allen genannten Akteuren, was von
einem hohen Rechercheaufwand zeugt, und wichtige Korrekturen
zu den auffallend häufigen Fehlern bei der Benennung von Personen
und geographischen Orten. Besonders hervorzuheben ist jedoch die
kluge Hinterfragung und teilweise Widerlegung der »ideologischen
Optik« und geschönten Darstellungen durch den systematischen
Abgleich der Berichtsinhalte mit Quellen anderer Provenienz.
Insgesamt betrachtet ist der dritte Band zu den Dokumenten der
Einsatzgruppen in der Sowjetunion wie schon seine beiden Vorgänger eine großartige und unverzichtbare Quellenedition, die in keiner
Historikerbibliothek fehlen sollte, aber auch für ein breites Publikum
und pädagogische Zwecke geeignet sein dürfte. Die Unmittelbarkeit
der Berichte, kombiniert mit der fachkundigen und quellenkritischen
Kommentierung durch die vier Herausgeber, vermittelt ein äußerst
eindringliches Bild von der erbarmungslosen Besatzungspolitik und
dekonstruiert zugleich die ideologische Verblendung der Täter. Es
wäre jedoch eine Überlegung wert, einen Ergänzungsband – gedruckt
oder digital – mit einem Sachregister für alle drei Bände und einem
nachträglichen Ortsregister für Band I auszuarbeiten, um das Optimum an Benutzerfreundlichkeit zu erreichen.
Frauen im Holocaust
Wendy Lower
Hitlers Helferinnen.
Deutsche Frauen im Holocaust
Aus dem Englischen von Andreas
Wirthensohn.
München: Carl Hanser Verlag, 2014,
336 S., € 24,90
Martin Holler
Berlin
Die amerikanische Historikerin Wendy Lower, ausgewiesene Spezialistin zur Geschichte des Holocaust insbesondere in der Ukraine,
beschäftigt sich in dieser Studie mit der Rolle deutscher Frauen bei
ihrem Einsatz in Polen und der besetzten Sowjetunion während des
Zweiten Weltkrieges. Nach Lower gingen rund eine halbe Million
deutscher Frauen als Teil der deutschen Militär- und Besatzungstruppen und damit als »integraler Bestandteil von Hitlers Vernichtungsmaschinerie« (S. 16) in den besetzten »Osten«. Die Arbeit
gründet auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellengattungen,
wobei Zeugenaussagen, die im Rahmen west-, ostdeutscher und
österreichischer Ermittlungen erhoben wurden, eine herausragende
Rolle spielen.
Lower teilt die Frauen im »Osten« in vier Tätigkeitsgruppen
ein: Krankenschwestern, Lehrerinnen, Sekretärinnen und Ehefrauen
von offiziellen NS-Repräsentanten. Diese beteiligten sich in drei verschiedenen Funktionen am Holocaust: als Augenzeuginnen, Komplizinnen und Täterinnen. Anhand des eingesehenen Quellenmaterials verfolgt Lower die Lebensläufe von 13 Frauen, die während
des Zweiten Weltkrieges vor allem nach Polen und in die Ukraine
kamen. Sechs dieser Frauen können der Kategorie der Täterinnen
zugeordnet werden, die meisten davon als Ehefrauen. Die ausgewählten Beispiele der Täterinnen – etwa der Fall von Erna Petri,
die in der Nähe von Lemberg eigenhändig sechs jüdische Kinder
erschoss – belegen eindrucksvoll, dass Frauen an individuellen Tötungen beteiligt waren. Dabei begingen sie ihre Verbrechen nicht in
offiziellen, sondern gerade auch in nichtoffiziellen Funktionen und
informellen Kontexten. (S. 86)
Die gewählten Beispiele erfassen allerdings nur unzureichend,
dass es in der überwältigenden Mehrheit der offizielle Besatzungsapparat, also deutsches Militär, SS/Polizei und Zivilverwaltung, war,
der die Juden in Osteuropa ermordete, in der besetzten Sowjetunion
überwiegend in Form von Massenerschießungen. Die örtliche Besatzungsverwaltung war in ihren leitenden Positionen ausschließlich
männlich besetzt; und damit lag die strategische Planung und Verantwortung örtlicher Mordaktionen in den Händen von Männern. Auch
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
bei der Umsetzung des systematischen Massenmords vor Ort ist für
die zahlreichen Massenerschießungen in der Sowjetunion eine aktive
Beteiligung weiblicher Exekutoren nicht bekannt. Folgerichtig wird
auch in den von Lower vorgestellten Lebensläufen kein direkter und
aktiver Bezug ihrer Protagonistinnen zu diesen strategisch geplanten
und umgesetzten Exekutionen hergestellt, vielmehr handelt es sich
bei ihren Beispielen um individuell motivierte Tötungen, die »eher
der Gelegenheit geschuldet« (S. 74) waren. Der Bedeutung des offiziellen Besatzungsapparates könnte in der vorliegenden Studie
insgesamt weit stärkeres Gewicht eingeräumt werden.
Basierend auf den von ihr gewählten Beispielen zieht die Autorin bisweilen sehr verallgemeinernde Schlussfolgerungen, für deren
Überprüfung eine breitere Quellenbasis wünschenswert wäre, etwa
wenn sie behauptet, »wir können uns jetzt vorstellen, dass die hier
präsentierten Muster gewalttätigen und mörderischen Verhaltens
überall in der Ukraine, in Polen, Weißrussland, Litauen und in anderen Teilen des von den Nationalsozialisten beherrschten Europas
zu finden waren« (S. 186).
Die Fokussierung auf den weiblichen Anteil am Holocaust
führt zwangsläufig zu der Frage, über wie viele Täterinnen wir hier
eigentlich sprechen. Dabei ist Lower angesichts der auch von ihr
eingeräumten ungenügenden Quellenlage (S. 57, 183) weitgehend
auf Vermutungen und Inferenzen angewiesen, die sie von der »Spitze
eines Eisbergs« sprechen lassen (S. 185), der mit mehreren tausend
Mörderinnen noch »unrealistisch niedrig« sei (S. 186). Ebenso gut
könnte man allerdings auch argumentieren, dass eine Gesamtzahl
von Täterinnen aufgrund der geringen Anzahl von vorliegenden
Fallbeispielen weiter schwer zu bestimmen bleibt; und dass die
Behauptung, die ausgewählten Täterinnen »können unmöglich so
seltene Ausnahmen gewesen sein, wie wir gerne glauben« (S. 258),
zusätzlicher quellengestützter Nachforschungen bedarf, bevor weitere Verallgemeinerungen gezogen werden können.
Insgesamt hat die Autorin mit dieser Studie ein weiteres anregendes Buch publiziert, das eine breitere Quellenbasis und eine
gelegentlich größere Zurückhaltung in den Formulierungen noch
eindrucksvoller hätte machen können. Es fällt auf, dass der bisweilen emotionale Tonfall in der deutschen Übersetzung hier und da
abgemildert wird, so etwa wenn sich der Titel von Hitler’s Furies
zu Hitlers Helferinnen ändert und aus der als »Killers« bezeichneten
Frauengruppe die Gruppe der »Täterinnen« wird.
Markus Eikel
Den Haag
53
Das Dilemma der Judenräte
Svenja Bethke
Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität
und Recht in den Ghettos Warschau,
Litzmannstadt und Wilna
Hamburg: Hamburger Edition, 2015,
317 S., € 28,–
Einem bisher nur wenig beachteten Aspekt
der Geschichte von Juden in der Zeit des
Holocaust widmet sich Svenja Bethke in ihrer nun publizierten Dissertation, nämlich der Frage von Recht und Kriminalität in den Ghettos. Dieser Zugang kann nur auf den ersten Blick überraschen, denn
jenseits der stets präsenten Gewalt und Willkür seitens der deutschen
Besatzer gab es in den Ghettos ein recht umfassend organisiertes
innerjüdisches Leben, zu dem eben auch der eigene Umgang mit
Kriminalität und die Definition von Recht gehörten.
Der große Bruch, den die Ghettoisierung für die jüdische Bevölkerung bedeutete, brachte auch einen Wandel kollektiver Deutungsmuster in den Bereichen von Kriminalität und Recht mit sich. In
der »Lebenswelt Ghetto« wandelten sich die Vorstellungen darüber,
was als kriminell oder moralisch verwerflich zu gelten habe. Diese
sich verändernden Bedingungen und die Versuche der Judenräte
und der Gerichte, durch Definitionen von Rechtsnormen und deren
Einhaltung ein gewisses Maß an »Normalität« und ein »Mindestmaß
an sozialer Stabilität« (S. 38) in dieser unnormalen Welt der Ghettos
zu schaffen, beschreibt die Autorin am Beispiel der drei großen
Ghettos in Litzmannstadt, Warschau und Wilna. Damit nimmt sie den
Reichsgau Wartheland (Litzmannstadt), das Generalgouvernement
(Warschau) und das Reichskommissariat Ostland (Wilna) in den
Blick. Diese Auswahl ist sinnvoll, weil die jüdische Selbstverwaltung
in diesen Ghettos in hohem Maße ausdifferenziert war, über entsprechende Rechtsinstanzen verfügte und die Quellenlage günstig ist.
Außerdem waren die sich wandelnden Ziele der deutschen Besatzer
von großer Bedeutung für die Definition und Ausgestaltung von
Rechtsnormen in den Ghettos, und hier ist besonders der Vergleich
der beiden Ghettos auf polnischem Boden mit dem in Wilna, das
erst nach dem Beginn des Massenmords errichtet wurde, erhellend.
Denn Recht wurde zunächst einmal durch die deutschen Besatzer gesetzt (und deren Interessen und Forderungen an die Judenräte
wandelten sich im Laufe der Zeit). Darüber hinaus waren es aber
Aushandlungsprozesse, in denen die Judenräte Recht und Kriminalität definierten. Strafen sollten abschreckende Wirkung haben und
damit Handlungen, die dem Ghetto und seinen Bewohnern schaden
konnten, verhindern.
54
Die deutschen Interessen zu antizipieren war eine Möglichkeit,
Gefahren für das Ghetto abzuwenden. Doch damit entstand zugleich
der große Konflikt: Die Vorstellungen und Definitionen der Judenräte, was Recht und was kriminell war, entsprach zumeist nicht denen
der Ghettobewohner. Für sie stellten häufig gerade die als kriminell
definierten Handlungen individuelle Überlebensmöglichkeiten dar.
Am Beispiel von Recht und Kriminalität wird in dieser Studie das
große Dilemma der Judenräte sehr deutlich. Bethke leistet hier einen
wichtigen und innovativen Beitrag zur Debatte um die Judenräte. Sie
stellt fest: »Die ghettointerne Rechtssphäre war der Bereich, in dem
sich das Dilemma der Judenräte in besonderer Weise verdichtete: Es
galt, über rechtliche Belange zu urteilen in einem Raum, in dem die
dort zwangsweise lebenden Individuen von der Besatzungsmacht
bereits völlig entrechtet worden waren und unter diesen Bedingungen faktisch kriminell handeln mussten, um zu überleben.« (S. 293)
Und auch der von den Deutschen angeordneten jüdischen Polizei
als wichtigem Akteur der Durchsetzung von Recht widmet sich die
Autorin, auch deren Handlungsspielräume lotet sie aus. So ausführlich und differenziert wurde in deutscher Sprache noch nicht über
die Ghetto-Polizei geschrieben.
Bethke stellt dar, welcherart die Delikte waren, die in den Ghettos vor Gericht kamen, beschreibt das notwendige Improvisationstalent (so gab es in Litzmannstadt keine entsprechenden Bücher)
und die Unterschiede zwischen den drei Ghettos. Das Personal der
Gerichte verfügte zumeist über einschlägige Berufserfahrung, sorgte
sich aber mitunter, sich durch die Tätigkeit im Ghetto die berufliche
Zukunft zu verbauen.
In den verhandelten Rechtsfällen spielten deutsche und ghettointerne Kriminalitätsdefinitionen eine Rolle. Handlungen, die eine
konkrete Gefahr für das Ghetto darstellten, gelangten zumeist gar
nicht erst vor Gericht, da sie sofort unterbunden werden sollten. Es
gab auch »klassische« Rechtsfälle, diese nahmen aber ghettospezifische Formen an.
Bethke rückt die Juden in den Ghettos als handelnde Akteure in
den Mittelpunkt, als Menschen, die auf die Situation unterschiedlich reagierten (»und dazu gehörten alle Verhaltensweisen zwischen
Mitgefühl, Solidarität, Egoismus, Neid, Wut und Rache«, S. 297),
es sind in ihrer Darstellung keine Helden, aber eben auch keine
bloßen Opfer. So gelingt ihr eine überzeugende Untersuchung von
Recht und Kriminalität in drei Ghettos in drei unterschiedlichen
deutschen Machtbereichen. Besonders das Dilemma der Judenräte
verdichtet sich im Bereich von Recht und Kriminalität, wie sie in
ihrem facettenreichen Buch überzeugend darlegt.
Andrea Löw
München
Politik und Propaganda der Nazis
im arabischen Raum
Francis R. Nicosia
Nazi Germany and the Arab World
Cambridge: Cambridge University
Press, 2015, 316 S., £ 60
Die komplexe historische Verbindung zwischen islamischer Welt und Nationalsozialismus ist Gegenstand zahlreicher Publikationen.1 Francis Nicosias
Studie bietet in diesem Forschungsfeld eine »reexamination« (S. 1)
der Außenpolitik von Nazi-Deutschland im arabischen Raum an,
die zwei zentrale Sachverhalte in ihrer Verknüpfung untersucht:
die geopolitischen Interessen Deutschlands und die ab 1933 in
Staat gegossene Rassenideologie. Das Buch stellt keine Revision
der bestehenden Literatur dar, kritisiert sie aber insofern, als sie
ihren Fokus auf die nationalsozialistischen Propagandatätigkeiten
in der arabischen Welt legt und ihre profaschistische Rezeption
unter Arabern verabsolutiert. Nicosia weigert sich von einer uniformen arabischen Welt auszugehen, die sich in Kultur, Politik
und Ideenwelt monolithisch betrachten ließe. Um die Komplexität
der Reaktionsweisen auf Deutschland unter Arabern zu erfassen,
möchte er auch explizit zum Studium arabischsprachiger Quellen
anregen, das er selbst aufgrund sprachlicher Barrieren nicht zu
leisten vermag.
Ohne die Hass- und Gewaltausbrüche gegen den Zionismus
zu verharmlosen, die sich stets konkret an dem Juden entluden,
will Nicosia daran erinnern, dass der Zionismus und die jüdische
Einwanderung nach Palästina, interpretiert als westeuropäische
Einmischung, von vielen als Bedrohung der arabisch-nationalen
Selbstbestimmung empfunden wurde. Die antijüdische Gewalt mit
dem Verweis auf westliche oder imperiale Fremdherrschaft zu relativieren, würde gleichwohl Positionen attackieren, die den arabischen
Antisemitismus als Spiegelbild des europäischen untersuchen. Die
arabischen Abneigungen gegen die regionale Präsenz westlicher
Kolonialmächte und eine etwa damit zusammenhängende befürwortende Haltung vieler Araber gegenüber Deutschland und auch Hitler
gelte es in der Tat einmal sorgfältig zu untersuchen. Nicosias Studie indes konzentriert sich auf die strategischen und ideologischen
1
Rezensionen
Eine Übersicht bietet Sehepunkte, Jg. 15 (2015), Nr. 12.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Interessen der deutschen Politik im Nahen und Mittleren Osten und
in Nordafrika. Der Auswertung deutscher Propaganda gegenüber
der arabischen Welt wird dabei bewusst wenig Platz eingeräumt.
Der Autor konzentriert sich auf die Interessen der deutschen Politik
in arabisch besiedelten Gebieten, die stets darauf bedacht war, ihre
eigentlichen Intentionen zu verschleiern. Nicosia geht es zuvorderst
darum, das Spannungsverhältnis zwischen Nazipropaganda und tatsächlicher Politik zu entschlüsseln.
Obwohl sich die massive Propagandatätigkeit der Nazis positiv auf die nationale Selbstbestimmung der Araber bezog, waren
damit weitaus gewichtigere politische Implikationen verbunden.
Unter anderem ging es darum, die antibritischen und antifranzösischen Gefühle der Araber zu schüren, also im Zuge politischer
oder militärischer Strategien den arabischen Nationalismus zu instrumentalisieren. Wie den anderen europäischen Mächten ging es
auch den Nazis darum, eine Art der europäischen Kontrolle über die
Araber aufrechtzuhalten. Die Agitation der Nazis forcierte sehr wohl
arabisch-nationale und antikoloniale Sehnsüchte, ebenso wie die vermeintlichen Vorteile des Antisemitismus massiv propagiert wurden.
Nur in letzterem Punkt jedoch war die Agitation auch tatsächlich
ernst gemeint: »Unlike the question of Arab independence, this
propaganda point and Nazi Jewish policy in general actually did
reflect real intent in the foreign policy of Hitler’s Germany during
the Second World War.« (S. 274) Während man der Sache arabischer
Souveränität jede ernsthafte Unterstützung versagte, stand die von
den Nazis massiv beförderte Feindschaft zum jüdischen Siedlungswerk in Relation zu ihrer Judenpolitik in Europa: hier wie dort auf
die Vernichtung der Juden abzielend.
Nicosia betont in seiner Analyse der deutschen Außenpolitik im arabischen Raum eine starke Kontinuität, die sich vom
Kaiserreich bis in die Vorkriegsjahre des Nationalsozialismus
erhielt: die Aufrechterhaltung des Status quo in der Orientalischen Frage, die wiederum keine Berücksichtigung des arabischen Nationalismus zuließ. Während die Politik der Weimarer
Republik gar keinen entscheidenden Einfluss nehmen konnte
und die europäische Aufteilung der Region sowie die Einrichtung des jüdischen Nationalheims mittrug, so wurde auch nach
1933 die Sache der arabischen Unabhängigkeit zunächst mit
Teilnahmslosigkeit oder Ablehnung behandelt. Deutsche Interessen wurden vordergründig auf ökonomischem und kulturellem
Gebiet verfolgt. Und noch die Ermutigung der Araber während
der antibritischen und antijüdischen Unruhen 1938/39 in Palästina deutet Nicosia als den Versuch, den Einfluss der Briten und
Franzosen zu schmälern und ihre Aufmerksamkeit von Europa
abzulenken. Der arabische Nationalismus wurde dafür benutzt,
während ein eindeutiges deutsches Bekenntnis zur arabischen
Unabhängigkeit dabei ausblieb. Der einzigen Veränderung im
arabischen Raum, der sich die Nazis durchgehend verpflichtet fühlten, war die Zerstörung des jüdischen Nationalheims in Palästina
55
und der jüdischen Gemeinschaft im Nahen Osten und Nordafrika.2 So besteht kein Zweifel daran, wäre der Vormarsch der
Deutschen bei el-Alamein nicht zum Erliegen gekommen, dass die
jüdischen Gemeinden im Nahen Osten ebenso von der »Endlösung«,
der absoluten Vernichtung, erfasst worden wären.
Nicosia bilanziert, dass die Araber, obwohl als rassisch minderwertig eingeschätzt, ein solches Schicksal freilich nicht ereilt
hätte, aber ihre Betrachtung als »Kolonialvolk« wie die nur geringen
geopolitischen Ambitionen in dieser Region dazu führten, dass die
Nazis niemals klar die arabische Sache unterstützten. Man könnte
es auch anders formulieren: Die Araber waren von Bedeutung, soweit sie für das Gemeinschaftsprojekt des Judenmords zu agitieren
waren.3
Ergänzend zu Nicosias gründlicher Auswertung des Quellenmaterials, durch die er überzeugend Kontinuitäten der deutschen
Nahostpolitik nachzuweisen vermag, müsste zugleich der Blick für
eine weitere Kontinuität geschärft werden, zu deren Verankerung die
Nazis und die mit ihnen zusammenarbeitenden Cliquen wesentlich
beigetragen haben. Es greift daher Nicosias Schlussbemerkung zu
kurz, Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, hätte jenseits
der Etablierung muslimischer SS-Verbände auf dem Balkan keine
Erfolge vorzuweisen. Die Umtriebe des Muftis wie die antisemitische Propaganda der Nazis im arabischen Raum zeitigten sehr wohl
eine Wirkung, auch weit über 1945 hinaus. Der Mufti mag keine
arabische Staatlichkeit erreicht haben; der Antisemitismus, wie er
sich zuvorderst in der Bekämpfung des jüdischen Siedlungswerks
ausagiert, ist in der Region bis heute virulent und hat seinen gewichtigsten Ursprung in der Popularisierung durch den Mufti und seinen
Kreis. Gerade weil Nicosia darauf hinweist, dass die Propaganda
der Nazis bestrebt war, das Judentum wie den Zionismus mit der
amerikanischen und britischen Agenda in der Region zu verknüpfen
und als Plan zur Unterdrückung der Araber zu verkaufen, müsste
dieser Aspekt besonders betont werden.
Florian Weber
München
2
3
56
Das Verhältnis von forcierter Emigration der deutschen Juden nach Palästina bei
gleichzeitig massiver Bekämpfung eines souveränen Judenstaats wird erläutert
bei Francis R. Nicosia, Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany, Cambridge
2008.
Dies sowie die Inkonsistenz und offenkundige Willkür der Rassenideologie
zeigen sich etwa auch daran, dass Hitler den Mufti wegen seiner blauen Augen
zum Araber mit arischen Wurzeln erklärte. Vgl. Benny Morris, The Road to
Jerusalem. Glubb Pasha, Palestine and the Jews, London 2003, S. 254.
Zweiter Dreißigjähriger Krieg?
Von historischen Überblicksdarstellungen
erwartet man kaum neue Forschungsbefunde. Vielmehr geht es darum, Zusammenhänge anders zu gewichten
oder gar neu zu ordnen und so den historischen Diskurs selbst in
eine bestimmte Richtung zu lenken. Das gilt umso mehr, wenn ein
renommierter Historiker wie Ian Kershaw sich daranmacht, den
Zusammenhang der beiden Weltkriege zu beleuchten. Ihr Verlauf
wird dabei mit je einem Kapitel eher schlaglichtartig abgehandelt.
Kershaw interessiert sich vor allem für die im wahrsten Sinne des
Wortes bis aufs Messer ausgetragene Konkurrenz der drei aus der
politischen Moderne hervorgegangenen Staats- und Wirtschaftssysteme von Faschismus, Kommunismus und liberaler Demokratie.
Dabei schaut er notgedrungen immer wieder über den europäischen
Tellerrand nach Nordamerika und Russland hinaus. Die Entwicklung des modernen Antisemitismus in Europa und seine genozidale
Zuspitzung durch das NS-Regime bilden einen durchgehenden Gesichtspunkt seiner Betrachtung.
Als epochenbildende Größe nennt er die Bezeichnung eines
zweiten Dreißigjährigen Krieges, der die innere Einheit der von
ihm anvisierten Zeitspanne ausmachen soll (S. 9, 347 f.). Das damit
verbundene Narrativ wird auch von anderen Historikern wie HansUlrich Wehler oder Jürgen Kocka zur Charakterisierung der Gewaltgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herangezogen.
Es geht von der These aus, dass die sich totalisierende Gewalterfahrung im Ersten Weltkrieg so weitreichende Verwerfungen in den
Nachkriegsgesellschaften erzeugt hat, dass deren Folgen erst mit der
deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg zum Erliegen kamen.
Das stärkste Indiz für diese Kontinuitätsbehauptung liegt vielleicht
in der Tatsache, dass mit Ausnahme der Tschechoslowakei keiner
der Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie am Vorabend des
Zweiten Weltkrieges noch eine liberale Regierung hatte (S. 245).
Drei Fünftel der Bevölkerung in Europa (ohne Sowjetunion) lebten unter mehr oder minder autoritären Regimen, was Kershaw als
Indikator für das Versagen der von den Siegermächten des Ersten
Weltkrieges etablierten Nachkriegsordnung auffasst. Da der Hauptteil des Buches sich mit jener Zwischenkriegszeit befasst, kann er
hier eine facettenreiche Darstellung entwickeln. Er beleuchtet zum
einen Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Belgien, die skandinavischen Länder, die Niederlande und die Schweiz, die es trotz
innenpolitischen Rechtsrucken schafften, sich dem autoritären Sog
der Epoche zu entziehen, und stellt politik- und sozialgeschichtlich
informative Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Regimen
an. Spanien, Portugal, Polen und Ungarn können sich nicht zuletzt
deswegen radikaleren Formen von Politik entziehen, weil ihre
konservativ-reaktionären Eliten den Raum für den aufkommenden
Faschismus besetzt hielten. Anders in Italien und Deutschland, wo
es Mussolini und Hitler gelingt, ein Bündnis mit den konservativen
Eliten einzugehen (S. 223 f.) und so ein tief greifender Systemwechsel möglich wird.
Das Einlenken jener konservativen Eliten und der Bedeutungsverlust ihrer politischen Repräsentanten verweist allerdings
besonders in Deutschland auf eine Gretchenfrage für die Tauglichkeit der Epochenbezeichnung vom zweiten Dreißigjährigen Krieg.
Ökonomie und Politik hatten sich hier nach der Hyperinflation in
der zweiten Hälfte der 1920er Jahre weitgehend gefestigt, eine
Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland wurde in den
Verträgen von Locarno 1925 ratifiziert, die rechtsextremen Kräfte
waren weitgehend eingehegt, bis die große Depression die soziale
und ökonomische Situation zum Kippen bringt (S. 193 f.). Die
Roaring Twenties enden mit dem Platzen der Spekulationsblase
an den amerikanischen Aktienmärkten (S. 150). Damit gewinnt
ein außereuropäisches Ereignis eine entscheidende Bedeutung für
den Verlauf der weiteren Geschichte in Europa und durchtrennt
das ohnehin fragwürdige Kontinuum der beiden Kriege. Kershaw
beleuchtet eindringlich die Folgen dieser Krise, zeichnet die unterschiedlichen nationalen Pfade nach, hält aber dennoch am benannten
Narrativ fest. Vermutlich hängt dies mit der Betonung einer von
Deutschland ausgehenden Aggression zusammen, die sich nicht
zuletzt in personellen Kontinuitäten wie den Lebensläufen von Hitler und Hindenburg manifestiert. Die zweifelsohne vorhandenen
Kontinuitäten verdecken aber ebenso viel wie sie enthüllen. Ein
Verdienst Kershaws liegt gerade darin, die Anfälligkeit jener pluralistischen Gesellschaften nachzuzeichnen, die je nach sozioökonomischer Lage, kulturellen Traditionsbeständen und politischen
Kräfteverhältnissen die autoritäre Bedrohung abwenden konnten
oder ihr unterlagen.
Im Schlusskapitel greift Kershaw die überraschend schnelle
Rückkehr zu pluralistischen Politikformen und die parteiübergreifende Entwicklung staatsinterventionistischer Wirtschaftspolitiken
in Europa auf. Im Westen wurde unter amerikanischer Hegemonie eine Nachkriegsordnung entworfen, die aus den Fehlern von
Versailles und der entstehenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion ihre Konsequenzen zog und diesem Teil Europas sowie
insbesondere Westdeutschland eine neue Chance eröffnet hat. Den
Ländern Mittel- und Osteuropas blieb dieser Neuanfang verwehrt.
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Ian Kershaw
To Hell and Back. Europe 1914–1949
Viking, New York: The Penguin History
of Europe Series, 2015, 593 S., $ 35,–
Ein Folgeband Kershaws soll die Geschichte Europas bis in die Gegenwart fortführen. Die Penguin Classic Edition verzichtet zwecks
besserer Lesbarkeit auf Fußnoten und direkte Literaturverweise.
Von wissenschaftlicher Seite vergibt man sich damit die Chance,
Kershaws Bezüge genauer nachvollziehen zu können. Zudem hätte
es dem Band gutgetan, Deutungskonflikte und Forschungsdesiderate
an der einen oder anderen Stelle zu benennen.
Michael Elm
Tel Aviv
57
70 Jahre IMT – Altes, Neues, Lücken
»Frieden durch Recht« brächten; Darnstädt geht es darum, in der Gegenwart und für die Zukunft aus »Nürnberg« zu lernen, so die zweite
Hauptaussage des Buches. Drittens deutet der blumige zweite Teil
des Satzes auf den populärwissenschaftlichen Hintergrund hin, auf
dem die gerade beschriebenen Annahmen ausgebreitet werden. Der
Nebensatz suggeriert – und nun komme ich zu den Problematiken
des Buches: a) dass Archive schwer erreichbar, verborgen und wenig
genutzt seien (was definitiv nicht den Tatsachen entspricht), und b)
dass der Autor sich zum »Entdecker« neuer Quellen stilisiert (was –
soweit ich das erkennen kann bei einem Buch ohne Fußnoten – nicht
der Fall ist, abgesehen davon, dass er die Forschungsergebnisse von
Irina Schulmeisters juristischer Dissertation vorveröffentlicht).
Darnstädts Buch hätte dabei durchaus aufgrund der Aktualität
und der flüssigen Schreibe das Potenzial gehabt, zu einer willkommenen Alternative zu älteren Darstellungen über den Nürnberger Prozess
zu avancieren (damit meine ich das Buch von Joe Heydecker und
Johannes Leeb von 1958 und die Darstellung des revisionistischen
Historikers Werner Maser von 1977; beide Werke werden regelmäßig neu aufgelegt). Um das neue deutschsprachige Standardwerk
zum Nürnberger Prozess zu werden, sollte eine Studie jedoch seine
Hauptthesen auch diskutieren und nicht als Vorannahmen setzen und
den LeserInnen damit aufdrängen. Darüber hinaus müsste es einer politisch und historisch interessierten LeserInnenschaft ein Überprüfen
der Aussagen ermöglichen. Doch Darnstädts Buch kommt ohne eine
einzige Fußnote aus! Die Entscheidung des Autors und des Verlags,
keine Belege anzugeben, muss schärfstens kritisiert werden. (Selbst
Wikipedia weiß, dass Belege etwas mit »credibility« zu tun haben.)
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Darnstädts Buch ist
aufgrund der nicht gegebenen Überprüfbarkeit verunmöglicht.
HistorikerInnen besitzen kein Monopol auf
die Vermittlung der Geschichte – zumal der
Zeitgeschichte. Den Gegenstand der Nürnberger Prozesse teilten sich
von Beginn an JournalistInnen, JuristInnen, HistorikerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und PsychologInnen. Das ist auch gut so, denn
all die verschiedenen Sichtweisen, Ansätze und Fragestellungen waren
und sind erkenntnisfördernd und in ihrer Gesamtheit bereichernd.
Thomas Darnstädt, Leiter des Ressorts »Deutsche Politik« beim
Nachrichtenmagazin Der Spiegel, hat pünktlich zum 70. Jahrestag
eine Monographie über den Nürnberger Prozess auf den Markt gebracht. Die beim Piper Verlag erschienene populärwissenschaftliche
Darstellung zielt fraglos auf ein breites Publikum. Flüssig und anschaulich, teils jedoch imaginativ geschrieben, erzählt der Autor die
Geschichte des Nürnberger Prozesses dramaturgisch wohlbedacht
von der Vorgeschichte bis zu den zwölf rein US-amerikanischen
Verfahren vor den Nürnberger Militärtribunalen (NMT). Eingerahmt
wird »Nürnberg« von aktuellen Entwicklungen der verschiedenen
internationalen Strafgerichtshöfe und des Völkerrechts.
»Um zu lernen, wie man Frieden macht, bin ich in die alten
staubigen Keller gestiegen«, teilt Darnstädt seiner LeserInnenschaft
auf der fünften Buchseite mit. Der Satz kann wunderbar als Spiegel
des gesamten Buches herhalten: Erstens enthält er die Hauptaussage
des Autors, dass nämlich auch durch den Internationalen Militärgerichtshof von 1945/1946 ein langfristiger Frieden geschaffen wurde.
Diese fragwürdige Hauptthese dehnt der Autor gleichsam auf heutige
internationale Strafgerichtshöfe aus, die seiner Ansicht nach ebenfalls
Der Sammelband des Nürnberger Menschenrechtszentrums sei der
historisch interessierten LeserInnenschaft hingegen wärmstens ans
Herz gelegt. Den neueren Forschungsansätzen folgend wird der Nürnberger Prozess in seinem historischen Kontext verortet. Rainer Huhle,
der die Einleitung verfasst hat, fügt dem hinzu, dass »Nürnberg«
aber auch ein »Erinnerungsort der Rechtsgeschichte« (S. 12) sei – in
diesem Sinne ist dann auch die Wiederveröffentlichung der vier Anklägerreden zu verstehen. In diesen Reden sei das, was »Nürnberg« so
bedeutend mache, in konzentrierter Form enthalten, so Huhle. Darüber
hinausgehend ist ein zentrales Anliegen des Buches aber auch – und
dem ist nur zuzustimmen –, nicht nur Robert H. Jacksons Anteil am
Nürnberger Prozess hervorzuheben, wie das häufig in »westlichen«
Darstellungen des IMT-Verfahrens geschieht, sondern die Reden der
britischen, französischen und sowjetischen Anklagevertretungen als
ebenso bedeutsam für »Nürnbergs« Vermächtnis zu verstehen.
Nach einer kurzen Erläuterung, wieso von den amerikanischen,
französischen und sowjetischen Anklagestäben die Eröffnungsreden
kommentiert und publiziert wurden, vom britischen Anklagestab
jedoch die Schlussrede (der Chefankläger Hartley Shawcross hatte
letzterer mehr Bedeutung beigemessen und in Absprache mit den drei
anderen Anklägerschaften das zentrale Schlussplädoyer übernommen),
folgt eine skizzenhafte Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Anklagevertretungen auf (leider nur) zweieinhalb Seiten.
Hier verschenkt sich der Sammelband den zentralen Mehrwert, den
er für die Forschung durch eine ausführliche vergleichende Analyse
hätte schaffen können. Die einzelnen Faktoren, die aufgezählt werden,
bringen über eine abermalige Hervorhebung der unterschiedlichen
Rechtstraditionen und Erfahrungen während des Krieges hinausgehend wenig Neues hervor. Doch die These, dass die US-amerikanische
und die britische Anklagevertretung auf der einen Seite und die französische und sowjetische auf der anderen jeweils mehr miteinander
gemeinsam hatten, müsste meines Erachtens nochmals neu betrachtet
werden. So war beispielsweise das amerikanische Rechtskonstrukt der
»Verschwörung« mehr im Sinne der Sowjets als der Briten.
Die vier Aufsätze, die den Anklägerreden einleitend vorweggestellt sind, gehen alle der Frage nach, wer die jeweiligen Reden überhaupt verfasst hat. Die Ergebnisse dieser Untersuchung möchte ich hier
ausführlich vorstellen. Dass der Völkerrechtler Hersch Lauterpacht der
Autor weiter Passagen des Schlussplädoyers von Hartley Shawcross
war, war zwar schon seit längerem bekannt, Rainer Huhle zeigt dies
erneut anschaulich und kontextualisierend auf. Dass verschiedene
Kommissionen und Gremien hinter der sowjetischen Eröffnungsrede,
vorgetragen von Chefankläger Roman Rudenko, standen und um welche Personen es sich dabei im Einzelnen handelte (u.a. Aron Trajnin),
ist ebenfalls keine Neuigkeit, aber doch von der Historikerin Lilia
Antipow erstmals für die deutsche LeserInnenschaft detailliert aufgearbeitet. Matthias Gemählich zeigt in seinem hervorragenden Aufsatz
über die Eröffnungsrede von François de Menthon erstmalig, dass »an
der Abfassung des Plädoyers nicht weniger als zehn Personen beteiligt«
waren (S. 133) und Menthon am allerwenigsten beitrug. Gemählich
gelingt damit eine Perspektivverschiebung, was die Kenntnisse über die
französische Anklagevertretung und ihre Strategien anbelangt. Erstaunlicherweise bleibt der Chefankläger, der am stärksten für »Nürnberg«
steht, Robert H. Jackson, am wenigstens dekonstruiert, was dessen
Fähigkeiten als Verfasser der amerikanischen Eröffnungsrede betrifft.
Rainer Huhle und Otto Böhm können in ihrem Beitrag zwar zeigen,
dass Jackson in der Rede Gedanken und Konzepte von Mitarbeitern der
sogenannten Research & Analysis (R&A)-Abteilung des Office of Strategic Services (OSS) übernommen hat, doch ob die einzelnen Autoren
der Berichte auch an der Eröffnungsrede mitwirkten, bleibt fraglich. Ins
Spiel bringen sie neben Franz L. Neumann, von dem Jackson scheinbar
die These des instrumentell ausgerichteten Antisemitismus der Nationalsozialisten übernommen hat, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse.
Ob Neumann oder Kirchheimer Autor eines während der Londoner
Konferenz abgefassten R&A-Berichts zum Anklagepunkt der »Verbrechen im Inland« (aus dem später der Tatbestand der »Verbrechen gegen
die Menschlichkeit« entwickelt wurde) war, können Huhle und Böhm
nur mutmaßen. Die Einbeziehung dieses Dokuments in die Analyse
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Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Thomas Darnstädt
Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor
Gericht 1945
München, Berlin: Piper Verlag, 2015,
415 S., € 24,99
Nürnberger Menschrechtszentrum
(Hrsg.)
Das Internationale Militärtribunal
von Nürnberg 1945/46. Die Reden
der Hauptankläger. Neu gelesen und
kommentiert
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt,
2015, 300 S., € 34,–
des Entwicklungsprozesses der »Crimes against humanity« ist gleichwohl äußerst interessant und sollte unbedingt weiterverfolgt werden.
Marcuse war dagegen unzweifelhaft der Autor eines OSS-Berichtes
mit dem Titel »Nazi Plans for Dominating Germany and Europe: The
Nazi Master Plan«. Huhle und Böhm nehmen an, dass das von Jackson
und der amerikanischen Anklagevertretung benutzte zentrale Konzept
– der »Nazi Plan« –, der das Ziel der Weltherrschaft als frühzeitige
»Verschwörung« und »gemeinsamen Plan« der Angeklagten (bzw. des
NS-Regimes) meinte, ursprünglich von Marcuse stammte. Die Ähnlichkeiten der in den R&A-Berichten dargelegten Sichtweisen und Ansätze
mit den amerikanischen Anklagestrategien sind zweifelsohne frappant,
doch bedarf es weiterer Abklärungen, um eindeutig belegen zu können,
dass Neumann, Kirchheimer und Marcuse einen derartig großen Anteil
an »Nürnberg« hatten. Ob sie oder weitere Personen an der Abfassung
von Jacksons Eröffnungsrede beteiligt waren, bleibt vorerst ungeklärt.
Alle vier Aufsätze leisten eine historische Einbettung der Plädoyers.
Die Biographien der jeweiligen Chefankläger werden ausgeführt, die
Anklagevertretungen der vier alliierten Mächte beschrieben, Strategien
und Ziele der Verhandlungen der Nürnberg Charta auf der Londoner
Konferenz werden dargelegt. Auch die Prozess- und Beweisführung des
jeweiligen Alliierten sowie die völkerrechtlichen Herangehensweisen
und Argumentationen zu den Anklagepunkten und weiteren rechtlichen
Einzelaspekten finden eine überzeugende Darstellung. Die historische
Verortung ist bei den vier Aufsätzen gut gelungen und zumeist auf
dem Stand der Forschung. Wieso jedoch jeweils eine umfangreiche
Inhaltsangabe und Interpretation der folgenden Originalplädoyers erfolgte, bleibt rätselhaft, denn beim Lesen wird das schnell ermüdend.
Die Eröffnungs- und Schlussreden von Jackson, Menthon, Rudenko und Shawcross sind demgegenüber gar nicht annotiert. Doch
gerade hier hätte eine Kommentierung ihre erneute Veröffentlichung
stärker rechtfertigen können. Die siebzig Jahre alten Gerichtsreden
enthalten schließlich Angaben über Opferzahlen und Orte einzelner
Verbrechen, die dem heutigen Forschungsstand angepasst werden
müssen; auch zitierte Beweisdokumente oder der weitere Gang der
Beweisführung hätten erläutert werden können etc. Hier kann nur
gemutmaßt werden, dass das Konzept, die Form und das Zielpublikum des Bandes nicht gänzlich durchdacht waren.
Trotzdem kann das Resümee zum Buch nur positiv ausfallen.
Die Aufsätze zeigen, dass etliche Aspekte zu den einzelnen Anklagevertretungen, aber auch zum Vergleich der vier Stäbe immer noch der
Erforschung harren. Ich hoffe sehr, dass Matthias Gemählich weiter
zum Thema forschen wird und dass die Arbeiten von Lilia Antipow
(und Irina Schulmeister) bald publiziert werden. Der Sammelband
vom Nürnberger Menschenrechtszentrum macht Lust, sich weiter
mit dem Thema »Nürnberg« zu beschäftigen – und das ist eines der
wichtigsten Ergebnisse, das eine historische Abhandlung haben kann.
Alexa Stiller
Bern
59
Im Zentrum der Vernichtung
Matthias Gafke
Heydrichs Ostmärker. Das österreichische
Führungspersonal der Sicherheitspolizei
und des SD 1939–1945
Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2015, 331 S., € 59,95
Österreicher, so Franz Vranitzky 1993 in
seiner Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem, »gliederten sich in die Nazi-Maschinerie ein, einige
stiegen in ihr auf und gehörten zu den brutalsten und scheußlichsten
Übeltätern«. So banal die Ausführungen des damaligen österreichischen Bundeskanzlers heute klingen mögen, so bedeutsam waren
sie Anfang der 1990er Jahre. Waren sie doch der unübersehbare
Ausdruck einer sich seit Mitte der 1980er Jahre vollziehenden Zeitenwende in der Auseinandersetzung über die Jahre 1938–1945 in
der Alpenrepublik. Allmählich wich die Mär von Österreich als
dem ersten Opfer des Hitler-Regimes einer differenzierten Debatte
über die Beteiligung der eigenen Landsleute an den NS-Verbrechen.
Wissenschaftlich schenkte man dieser Tätergruppe jedoch auch in
den folgenden Jahren wenig Aufmerksamkeit. Allein Ernst Kaltenbrunner, Otto Skozerny, Odilo Globocnik und Hermann Höfle
dürften einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein. Wem aber sagen
schon die Namen Josef Witiska oder Humbert Achamer-Pifrader
etwas? Witiska war als Chef der Einsatzgruppe H der Henker von
14.000 slowakischen Juden, Achamer-Pifrader maßgeblich an der
Deportation der hessischen Juden beteiligt. Beide wirkten somit an
zentralen Stellen des NS-Vernichtungsapparats und sie waren nicht
die Einzigen aus der Heimat des Führers.
Matthias Gafke widmet sich in seiner gruppenbiografisch angelegten Untersuchung erstmals auf breiter Quellenbasis dieser
spezifischen Tätergruppe innerhalb der Sicherheitspolizei und des
SD. Seine Arbeit fördert für die Täter aus der »Ostmark« in der Tat
Erstaunliches zu Tage. Ins Auge fällt zunächst, dass nahezu alle
seiner 51 untersuchten Protagonisten, sechs von ihnen untersucht
er ausführlich, bereits lange vor dem Anschluss gefestigte Nationalsozialisten waren. Es eint sie ferner, dass die Universität für
ihre ideologische und organisatorische Einbindung in das völkische
Milieu der 1930er Jahre den entscheidenden Ort darstellte. Dies
weist auf das hervorstechendste Merkmal der »Ostmärker« hin,
zeichnete sich die von Gafke untersuchte Gruppe doch durch einen
außergewöhnlich hohen Akademisierungsgrad aus. So beendeten
45 Personen ein Studium, 39 gar mit der Promotion, womit sie auch
60
formal das Rüstzeug für eine rasche Karriere in den Institutionen des
Nationalsozialismus mitbrachten. Gafke zeichnet in seiner Arbeit in
vielen Episoden das Bild einer fanatischen Funktionselite, die sich
bis zum Ende durch ihr unerbittliches Handeln auszeichnet. Ob sie
tatsächlich brutaler und skrupelloser als Täter aus dem »Altreich«
agierten, wie Gafke behauptet, wäre allerdings erst in einer vergleichenden Studie zu ermitteln. Dennoch weist er auf einen wichtigen
Aspekt hin, der die besondere Treue der untersuchten Personen zum
NS erklären könnte, verband sie fast ausnahmslos eine vor 1938
gemachte Repressionserfahrung, die dazu beitrug, »[…] dass sie so
unerbittlich mit den […] Gegnern abrechneten und bis zum Schluss
so gläubige Nationalsozialisten blieben. Hatte sich ihre Standhaftigkeit doch schon einmal bezahlt gemacht.«
Kaum überraschend hatten die Täter im Nachkriegsösterreich
wenig zu befürchten. Verlief die juristische Aufarbeitung der Bundesrepublik schon schleppend, so unterboten die österreichischen
Behörden die westdeutsche Entnazifizierung nochmals. Zwar sind
die Zahlen der Verfahren vor den sogenannten Volksgerichten beeindruckend, aber der Autor weist zu Recht darauf hin, dass davon
nicht auf die Qualität der Urteile geschlossen werden kann. Die
meisten Urteile bezogen sich schließlich auf formale Delikte und
nicht auf die begangenen Verbrechen gegen die Menschheit. Die
Täter aus der von Gafke untersuchten Gruppe kamen, wenn sie sich
überhaupt für ihre Taten vor Gericht verantworten mussten, mit
geringen Haftstrafen davon und konnten sich nach der Verbüßung
rasch wieder eine Existenz aufbauen.
Die Studie von Gafke ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur
Täterforschung, obwohl es sinnvoll gewesen wäre, die theoretischen
und methodischen Überlegungen ausführlicher zu erläutern. Insbesondere die Frage, wer der Gruppe der »Ostmärker« zugeschlagen
wird, ist nicht in allen Fällen einleuchtend. Abgerundet wird die
Studie von Kurzbiographien der Personen seines Samples.
Negativ anzumerken ist die Diktion, der sich der Autor zuweilen
bedient. Was vermutlich als sprachliche Auflockerung gedacht war,
ist nicht nur einer wissenschaftlichen Arbeit unangemessen, sondern
wird gerade dieser Thematik nicht gerecht. So kommentiert er etwa
den Mord an tausenden Juden mit den Worten, dass die Deutschen
und ihre ukrainischen Hilfstruppen »schlimm gehaust« hätten, bezeichnet Massenmörder als »Vollprofis« im Erschießen oder spricht
an anderer Stelle bei besonders fanatischen Nationalsozialisten von
»Oberradikalinskis«. Für eine Neuauflage ist ein Lektorat in dieser
Hinsicht nicht nur wünschenswert, sondern unerlässlich, trüben diese
gebrauchten Formulierungen und Begrifflichkeiten diese insgesamt
aufschlussreiche Studie.
Remko Leemhuis
Berlin
Rezensionen
Judenverfolgung vor 1939
Kim Wünschmann
Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the
Prewar Concentration Camps
Cambridge/Mass., London: Harvard
University Press, 2015, 367 S., € 40,95
In dem berühmten Fernsehinterview mit
Günter Gaus im Jahr 1964 antwortete Hannah Arendt auf die Frage, durch welches Ereignis in den 1930er Jahren sie sich besonders zum politischen Handeln gezwungen gesehen
habe, mit folgender Erklärung: »Ich könnte den 27. Februar 1933,
den Reichstagsbrand, und die darauf in derselben Nacht erfolgten
illegalen Verhaftungen nennen. Die sogenannten Schutzhaften. Sie
wissen, die Leute kamen in Gestapo-Keller oder in Konzentrationslager. Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von
den späteren Dingen überblendet worden.«1 Diesen ungeheuerlichen Vorgängen widmet sich mehr als fünfzig Jahre nach Arendts
Bemerkung nun Kim Wünschmann mit ihrer glänzenden Studie
Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration
Camps erstmals systematisch. Auf Grundlage eines beeindruckenden
Korpus von Originalmaterial rekonstruiert sie damit wesentliche Anteile der Verfolgungsgeschichte der Juden im nationalsozialistischen
Deutschland vor 1939.
Im Unterschied zu der von Arendt attestierten, noch heute diskursbestimmenden Überblendung der jüdischen Vorkriegserfahrung durch die späteren Vertreibungs- und Vernichtungsprozesse
fokussiert Wünschmann aus nichtteleologischer Perspektive die
mittels Konzentrationslagerhaft gewaltvoll vollzogene Exklusion
der deutschen Juden aus der deutschen Gesellschaft. Sie deutet die
zahlreichen Internierungen in reichsweit eingerichteten Lagern somit
nicht als »Vorgeschichte zum Holocaust«, sondern als eigenständige Phase ideologischer Festigung und Etablierung des totalitären
Machtapparats. Zwar zeigt die Studie auch Zusammenhänge zwischen der Konsolidierung des Nationalsozialismus und der Dynamik
des Vernichtungsprozesses zu Kriegszeiten auf. Wünschmann kann
aber überzeugend verdeutlichen, dass die Zeitgenossen trotz der
stufenweisen Herausbildung einer »diversifizierten Topographie des
frühen Terrors« (S. 68) in dieser Zeit nicht zu ahnen vermochten,
1
Hannah Arendt im Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964), in: Hannah
Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hrsg. von Ursula
Ludz, München, Zürich 2006, 2. Aufl., S. 46−72, hier S. 50.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
welche Konsequenzen aus dem Lagersystem später noch hervorgehen sollten: »In the 1930s, the Holocaust was unthinkable« (S. 4).
Mit Hilfe einer integrierten Geschichtsschreibung, die insbesondere auf Egodokumente, Berichte, Briefe und spätere Zeugenaussagen der inhaftierten Juden, aber auch auf Täterdokumente gestützt
argumentiert, zeichnet Wünschmann die Entwicklung von den frühesten Schutzhaftnahmen 1933 bis zu umfassenden Internierungen
im Schlüsseljahr 1938 nach.
Der Raum der Vorkriegskonzentrationslager konturiert sich dabei als prägnantes Probierfeld nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen, Mittel der schrittweisen Entrechtung und Ausstoßung der
Juden aus dem deutschen Gesellschaftsgefüge und Zurichtungsapparat, der darauf zielte, aus der heterogenen Gruppe der deutschen
Juden eine der antisemitischen Imaginations- und Projektionswelt
entsprechende werden zu lassen.
Das Buch ist in sechs Kapiteln in chronologischer Folge strukturiert und beginnt entsprechend mit der Aufbauphase des Konzentrationslagersystems von 1933 bis 1934. Diese war von willkürlichen
und extrem gewaltsamen Übergriffen auf Juden und der notorischen
Schutzhaft geprägt, die in einem scheinbar legalen Rahmen, aber
ohne durchschaubare rechtliche Grundlage exekutiert wurde. Vorrangig politisch aktive, dem Regime gegenüber kritische deutsche
Juden fielen diesen ersten Inhaftierungen zum Opfer. Prominente
Persönlichkeiten, wie etwa Werner Scholem, Werner Hirsch, Erich
Mühsam oder Hans Litten, waren von diesen Maßnahmen betroffen.
Die ersten Verhaftungen fanden in aller Öffentlichkeit und durchaus
unter Mithilfe der Bevölkerung statt (S. 51).
Anhand der Beispiele von Dachau (Bayern), Osthofen (Hessen), Oranienburg, Breitenau und den Emsland-Lagern (alle in
Preußen) beschreibt Wünschmann danach die verschiedenen Lagerformen und ihre internen Strukturen, wobei sie eine umfassende empirische Grundlage zur sozialen Zusammensetzung und
den demographischen Merkmalen der Lagerinsassen erarbeitet.
So wird deutlich, dass die etwa 40.000 jüdischen Häftlinge in den
frühen Konzentrationslagern zunehmend separiert und gesondert
behandelt wurden. Schikane und Gewalt richteten sich speziell
gegen die religiösen Inhaftierten. Sie manifestierten sich aber auch
in gezielten Angriffen auf Ausdrucksformen von Männlichkeit
besonders der politischen Häftlinge, die zumeist dem Bild »antisemitischer Karikaturen des ›Juden‹« widersprachen (S. 97). Auch
die spezifischen Bedingungen von Verhaftung und Lagerexistenz
jüdischer Frauen finden in Wünschmanns Buch umfassende Beachtung. Politische Opposition und sogenannte »Rassenschande«
bildeten insbesondere nach der Erlassung der Nürnberger Gesetze
1935 den wesentlichen Hintergrund ihrer Internierung. Sie wurden
in Frauenbaracken untergebracht, mussten häufig Zwangsarbeit
leisten und waren Misshandlungen ausgesetzt, die selbst bei relativ
kurzen Inhaftierungszeiten zu schweren psychischen und physischen Schäden führten (S. 121).
61
Insgesamt kamen viele der jüdischen Häftlinge nach unbestimmter Haftzeit wieder frei – zumeist allerdings mit der Auflage,
Deutschland zu verlassen. Dadurch entwickelten sich die Konzentrationslager zu einem wesentlichen Druckmittel für die erzwungene
Auswanderung. Während der zweiten Phase von 1935 bis 1938, in
der sich die nationalsozialistischen Lager unter der Verantwortung
Heinrich Himmlers zunehmend professionalisierten und institutionalisierten, zeigten sich die Haftbedingungen und -gründe aus Sicht
der jüdischen Häftlinge als immer unvorhersehbarer, gewaltvoller
und arbiträrer. Das Jahr 1938 schließlich stellt Wünschmann als
negativen Höhepunkt der Vorkriegsinhaftierungen von Juden heraus:
Insbesondere der Anschluss Österreichs führte zu einer Verhaftungswelle ungekannten Ausmaßes und zu kumulierenden Gewaltexzessen gegenüber den inhaftierten Juden. Rassistische Kategorien
zementieren sich als Grundlage für Inhaftierungen, und gerade in
Wien wurden die öffentlichen Verhaftungen mit einer Brutalität
vollzogen, die Modellcharakter haben sollte. Ein ähnliches Vorgehen zeigt sich im selben Jahr dann in Folge der Novemberpogrome,
denen die Juden im gesamten Reichsgebiet ausgesetzt waren.
Soziale und ökonomische Exklusion verbunden mit der illegalen Aneignung des jüdischen Eigentums sowie die forcierte Emigration werden als die gewichtigsten Motive der Inhaftierung von
Juden in deutschen Vorkriegskonzentrationslagern erkennbar. Die
öffentliche Konstruktion der deutschen Volksgemeinschaft meinte
die brutale Zurückweisung der Zugehörigkeit von deutschen und
österreichischen Juden, wofür die Lagerhaft zum willkommenen
Ausdrucksmittel wurde.
Wünschmanns Studie beschreibt in dichter und überzeugender
Form, wie ein jüdisches Feindbild innerhalb der deutschen Gesellschaft zementiert und durch die Lagerhaft in koordinierter Gewaltausübung manifestiert wurde. Obwohl die meisten inhaftierten Juden
die ersten Internierungen überlebten und häufig aus dem deutschen
Machtbereich fliehen konnten, zeigt die Studie eindrucksvoll, wie
der »außerjuristische« Raum (S. 232) dieses frühen Lageruniversums
Grundlagen für die breite gesellschaftliche Akzeptanz der systematischen Ausgrenzung schuf. Sie bereitete der Ausübung brachialer
Gewalt von »Deutschen gegen Deutsche« und schließlich gegen alle
europäischen Juden den Weg.
Elisabeth Gallas
Leipzig
Aufstand des Sonderkommandos in Birkenau
Gideon Greif, Itamar Levin
Aufstand in Auschwitz.
Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am 7. Oktober 1944
Aus dem Hebräischen von Beatrice Greif.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2015,
389 S., € 24,99
Das Buch setzt Gideon Greifs Anthologie
Wir weinten tränenlos… (1995) fort, für die
nach Israel gelangte Überlebende des »Sonderkommandos« ihre Erinnerungen offenbarten. Die »Arbeit« des Sonderkommandos war
es hauptsächlich gewesen, die mit Zyklon B ermordeten Opfer aus
den Gaskammern zu den Krematorien zu bringen und in den Öfen zu
verbrennen. Seine und Itamar Levins neue Studie erweitert die Erkenntnisse der ersten Publikation durch die Einbeziehung der von Häftlingen
des Sonderkommandos versteckten Handschriften, seit der Befreiung
aufgezeichneten Berichten, heute zum Teil nur schwer zugänglichen
frühen Veröffentlichungen und weiteren Befragungen Überlebender.
Aufschlussreich ist vor allem die auf der Zusammenschau dieser
Zeugnisse beruhende Rekonstruktion der Bemühungen, zunächst
eine Flucht aus Birkenau anzubahnen und 1944 immer stärker einen Aufstand vorzubereiten, der eine Massenflucht ermöglichen
sollte und in dessen Verlauf die Gaskammern und die Anlagen zur
Verbrennung der Leichen zerstört werden sollten. Angesichts der
wenigen Überlebenden und der auch von den Verfassern betonten
Widersprüche in deren Berichten (S. 12) ist es eine fast unlösbare
Aufgabe, diesen Plan zu rekonstruieren. Gerade die zentralen Kapitel
über die Aufstandsvorbereitungen im Sommer und Herbst 1944, die
Beschaffung von Sprengstoff und die Geschehnisse Anfang Oktober
1944 (S. 179–275) sind jedoch überzeugend, zumal die Verfasser
Differenzen und ungeklärte Fragen offenlegen.
Präzisierungen erfordern jedoch die Ausführungen zur Geschichte des Lagers und über die konspirativen Gruppen, also die
Bedingungen, unter denen die Häftlinge im Sonderkommando ihren
Widerstand entwickelten. Nichts deutet darauf hin, dass unter den
Ende Juli 1941 in Pirna-Sonnenstein vergasten Auschwitz-Häftlingen auch Juden waren (S. 18). Der für den 15.2.1942 genannte Transport aus Beuthen (S. 22 f.) beruht auf einer seit den fünfziger Jahren
tradierten irrtümlichen Annahme.1 Juden aus dem Warschauer Getto
wurden im Frühjahr 1943 nicht nach Auschwitz deportiert (S. 41,
115), sondern nach Majdanek und in Arbeitslager in der Region
Lublin. Adolf Eichmanns Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt war keine »Abteilung für jüdische Angelegenheiten« (S. 18).
Nicht Hubert Busch (S. 9, 28, 210, 221, 228), sondern Hermann
Buch war im Oktober 1944 Kommandoführer bei den Krematorien;
Peter Voss war nie Lagerkommandant (S. 28); Walter Quakernack
war nicht Leiter der Politischen Abteilung (S. 22).2 Der jüdische
»Bund«, einer der Träger des jüdischen Widerstands im besetzten
Polen, forderte nicht die Integration der Juden (S. 343), sondern ihre
kulturelle Autonomie (gerade in diesem Zusammenhang sollte daran
erinnert werden, dass eine der Folgen der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik die Zerstörung dieser Konzeption jüdischer
Politik in Osteuropa war, denn ihre soziale Basis war 1945 weitgehend vernichtet). Am Anfang der Untergrundbewegung in Auschwitz
standen nicht »vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten aus
Österreich und Deutschland« (S. 76), sondern bereits im Sommer
1940 polnische Häftlinge. Es gab keinen »Geheimsender mitten im
Lager […] im berüchtigten Block 11« (S. 84); von der Kampfgruppe
Auschwitz (KGA) aus dem Lager gebrachte Informationen wurden
durch Funkgeräte des polnischen Untergrunds nach Großbritannien
übermittelt. Nicht »im Frühjahr 1944« (S. 4) fotografierten Häftlinge des Sonderkommandos die Verbrennung der Leichen bei einer
der Gaskammern, sondern wahrscheinlich Ende August, Anfang
September 1944.
Schwerwiegender für die in der Studie erörterten Fragen sind
Missverständnisse, die den Lagerwiderstand betreffen. Anders als
die Verfasser darstellen, können der Lagerwiderstand und vor allem
die polnischen Angehörigen der KGA nicht mit der Armia Krajowa
(AK) gleichgesetzt werden. Dass die KGA selbst Schwierigkeiten mit dem AK-Kommando in der Region Auschwitz hatte, zeigt
schlaglichtartig ein erst später bekannt gewordenes Dokument: Als
Mitte Oktober 1944 Józef Cyrankiewicz, der Leiter der KGA, zum
Kommandanten der AK-Abteilungen im Lager ernannt werden sollte, strich der zuständige AK-Offizier die Ernennung durch.3 Nicht
die AK nahm mit der KGA Kontakt auf (S. 79 f.), sondern die KGA
bemühte sich Mitte 1944, gerade als ein Aufstand in greifbare Nähe
zu rücken schien, um Kooperation und Unterstützung durch die AK
in der Region Auschwitz. Der Lagerwiderstand wurde nicht in den
Plan »Burza« eingeweiht (S. 151); die Zuspitzung der AK-Planungen
auf bewaffnete Aktionen im Zuge des Vorrückens der Roten Armee
2
3
1
62
Alfred Gottwaldt, Diana Schulle, Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen
Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, S. 393.
Rezensionen
Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde, Frankfurt am Main 2013, S. 69, 75, 326, 419.
Siehe die Reproduktion in: Waclaw Dlugoborski, Franciszek Piper (Hrsg.),
Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, aus dem Polnischen von Jochen August, Oswiecim: Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, 1999, Bd. IV, S. 162.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
verlagerte faktisch den Schwerpunkt der beabsichtigten Einsätze in
andere Regionen Polens.
Ein Beauftragter der AK-Führung, der die Lage in der Region
Auschwitz erkunden sollte (nicht ein Verbindungsmann zwischen
Auschwitz und Krakau; S. 157), wurde tatsächlich unweit des Lagers
mit konspirativen Dokumenten über Planungen eines Aufstands im
Lager festgenommen und in das Stammlager Auschwitz gebracht,
jedoch nicht im Juni, sondern am 28./29.9.1944, also eine Woche
vor dem Aufstand im Sonderkommando. Von diesem AK-Offizier
Stefan Jasieński (Pseudonym »Urban«), der wie die vier jüdischen
Frauen aus dem Union-Werk kurz vor der Befreiung des Lagers ermordet wurde, erfuhr die Leitung der KGA, dass von der AK keine
Unterstützung erwartet werden konnte.
Die Vorbereitungen für einen Aufstand im Juni, Juli und August
1944 (S. 121–177) werden gerade dann nachvollziehbar, wenn sie
nicht auf bestimmte Daten bezogen werden, sondern auf den Zeitraum Sommer 1944 und die für die KGA grundlegende Voraussetzung, dass ein Aufstand des ganzen Lagers allein bei einer damals
erwarteten Frontannäherung aussichtsreich war. Hier sei daran erinnert, dass Eugen Kogon für die erheblich günstigere Situation in
Buchenwald kurz vor Kriegsende berichtet: »[...] wir setzen uns
erst dann zur Wehr, wenn es ernst wird«.4 Anders als die Verfasser
betonen (S. 180), zeigt die Darstellung der Geschehnisse bei den
Krematorien 4 und 5, dass der Aufstand letztlich nicht auf den früheren Planungen und Vorbereitungen aufbauen konnte (S. 227 f.); der
Beginn und der Ablauf waren situationsbedingt. Die ursprüngliche
Konzeption erforderte Unterstützung von außerhalb des Lagers und
nach der Flucht aus dem Lager Aufnahmemöglichkeiten – beides
war nicht gegeben.
Die Geschehnisse nach dem Aufstand, die Verhöre durch die
Lagergestapo und vor allem das Schicksal der jungen Frauen, die
für ihre Mithäftlinge im Sonderkommando den Sprengstoff aus dem
Union-Werk beschafften, sind bisher noch nicht so detailliert dargestellt worden (S. 277–300). In das Buch wurden auch Fragmente
eines Interviews mit dem früheren Sonderkommando-Häftling Jakov
Silberberg aufgenommen (S. 47 f., 50 f.), das in der deutschsprachigen Ausgabe von Wir weinten tränenlos… nicht abgedruckt wurde.
Jochen August
Berlin/Oświęcim
4
Eugen Kogon, Der SS-Staat, Frankfurt am Main 1946, S. 278.
63
Geopolitische Versuchungen der
Bevölkerungswissenschaft
Alexander Pinwinkler
Historische Bevölkerungsforschungen.
Deutschland und Österreich im
20. Jahrhundert
Göttingen: Wallstein Verlag, 2014,
537 S., € 46,–
Der 2008 verstorbene Kulturwissenschaftler Heinz D. Kittsteiner hat 2002 einmal
beiläufig, in einem Essay zur Entwicklung der deutschen Gedenkkultur, von folgendem Antiquariatsfund berichtet: Er stieß auf einen
unscheinbar anmutenden Schulatlas aus dem Jahre 1933, der es
jedoch in sich hatte, da er »die beliebten geostrategischen Pfeile
und Schraffuren«, die man auch aus heutige Lehrmitteln kennt,
auf mehreren Karten strikt antisemitisch einsetzte: »Ein Schaubild
vergleicht die Anzahl der jüdischen Geschäfte in der Leipziger Innenstadt im Jahre 1890 und im Jahre 1930«, so Kittsteiner, »und
was soll man sagen? Die Zahl ist angewachsen! In Ostpolen und
der Ukraine, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer – wieder ein
Schaubild – gibt es ganz und gar einen ›Judengraben‹, aus dem […]
weitere Juden auftauchen werden, wahrscheinlich um die Leipziger
Innenstadt noch mehr zu ›verjuden‹. Und hintendrin in dem Atlas
liegen noch die Zeugnisse eines Schülers, der diesen Unsinn brav
gelernt hat.«1
Die Ideologie- und Wissenschaftsgeschichte dieser suggestiven »geostrategischen Pfeile und Schraffuren«, deren Indienstnahme für den Antisemitismus im Schulunterricht der 1930er Jahre
Kittsteiner hier anprangerte, hat der österreichische Historiker
Alexander Pinkwinkler nun in einer grundlegenden Studie zur
deutschsprachigen Bevölkerungsforschung im 20. Jahrhundert
zum Thema gemacht. Es handelt sich bei dieser Arbeit fast um ein
Handbuch zum Gegenstand, jedoch nicht um das einer Disziplin,
sondern das einer Praxis, da der Autor nicht die fachgeschichtliche
Dogmatik allein nachzeichnet und sich zudem zum Glück gar
nicht erst für einen einzelnen Aspekt des Themas entschieden hat,
sondern dem Leser alles zugleich anbietet: systematische Teile,
begriffliche Reflexion, Gelehrtenporträts sowie Werkanalysen,
1
64
Heinz D. Kittsteiner, »›Gedächtniskultur‹ und Geschichtsschreibung«, in:
Volkhard Knigge, Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 306–326, hier S. 322.
deren politische Ambitionen und ihre historische Kontextualisierung sowie die Entradikalisierung des Ansatzes nach 1945. Der
enzyklopädische Anspruch des Werks dokumentiert sich auch
über ein beigegebenes Namenslexikon, das von dem angesehenen
Agrarhistoriker und -soziologen Wilhelm Abel (Autor eines nach
1945 mehrfach aufgelegten Standardwerks über die Geschichte
der deutschen Landwirtschaft) über Elisabeth Pfeil (Stadtsoziologin, ab 1937 NSDAP-Mitglied, schrieb in einer Schrift zum
Verhältnis von Raum und Bevölkerung, dass es ursprünglich ein
»Gleichgewicht zwischen Rasse und Raum, die reine Rasse des
Raums« gegeben habe) bis hin zum Kärntner Archivar Martin
Wutte (er unterstützte mit seinen Arbeiten vor allem die nationalsozialistische Volkstumspolitik gegen Slowenien) die Akteure des
Themas in werkbiographischen Miniaturen aufführt (S. 416–463).
Der Leser erhält im Buch Informationen über viele ihm zuvor
unbekannte Gelehrte – etwa über Hermann Wopfner, der die Volkskunde Tirols zu seinem Thema machte, oder über Harold Steinacker, Anhänger des »Anschlusses« von Österreich an Deutschland und zwischen 1938–1942 Rektor der Universität Innsbruck.
Bei Pinwinkler wird darüber hinaus auch ein neuer Blick auf die
bekannten Wissenschaftler wie Hermann Aubin, Werner Conze,
Theodor Schieder oder Gunther Ipsen möglich. Der Ansatz, den
sein Buch wählt, stellt sie in ihrem Wissenschaftsmilieu vor, das
dem eigenen Selbstverständnis entsprach, weil sie ihre Ansätze oft
vor 1933 ausbildeten und nach 1945 dann in entschärfter Form
als Sozial- oder Strukturgeschichte beibehalten konnten. Die seit
den 1920er Jahren geradezu boomende Volksgeschichtsschreibung
und Bevölkerungsforschung wurde, so machen die Ergebnisse des
Buchs insgesamt deutlich, im »Dritten Reich« beides zugleich: ein
Gewaltinstrument für die politisch ausgreifenden ideologischen
Ambitionen des social engeneering; sie stellte sich dabei aber
zugleich oft als sachlich-nüchterne Zahlen- und Sozialwissenschaft
dar, die ihre Daten wie Mathematik zu erheben schien.
Das Buch hat drei Teile mit insgesamt neunzehn Kapiteln. Im
ersten Teil breitet Pinwinkler seine begrifflichen und methodischen
Grundlagen aus. Auf diesen 130 Seiten diskutiert er die Terminologie seiner Quellen (»Umvolkung«, »Volkskörper«) und seinen
eigenen Zugriff auf die kartographischen Inszenierungen sozialer
und völkischer Differenz, von »eigen« und »fremd«. Hier umreißt
der Verfasser auch das intellektuelle wie förmliche Andienen an die
Politik, der man nicht allein die eigene wissenschaftliche Expertise
zur Verfügung stellte, sondern die man aktivistisch regelrecht in
Bewegung zu setzen suchte. Der zweite Teil bietet eine ins 19. Jahrhundert zurückgreifende Entwicklung des Themenbereichs seit
Karl Büchers »große Massenbewegungen« und Karl Julius Belochs
»Bevölkerungsstatistik«, deren Einfluss viele Jahrzehnte anhielt.
Hier werden auch die Vertreter der »Leipziger Schule« der 1920er
Jahre vorgestellt, Rudolf Kötzschkes noch harmlos als »Landesgeschichte« firmierende kulturmorphologische Bestimmung deutscher
Heimat, die dann durch Adolf Helboks »Blut- und Siedlungsräume«,
Friedrich von Klockes »Volksordnungsgeschichte« und durch die
»Kulturraumforschung« von Hermann Aubin und Erich Keyser
radikalisiert wurde. Vor allem Letzterer war, zusammen mit Max
Hildebert Boehm (sein Buch Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften ist
das bekannteste Dokument der Hinwendung zu einer deterministischen Volksgeschichte), für die Ausbildung eines antisemitischen
Bevölkerungs-Paradigmas verantwortlich. Keyser wollte »Rassenforschung und Geschichtswissenschaft« – so ein Aufsatztitel von
1934 – verbinden; er legte 1938 mit der groß angelegten Bevölkerungsgeschichte Deutschlands auch ein Beispiel für die neue
rassenkundliche Geschichtsforschung vor, die in ihren Neuauflagen
1941 und 1943 ihre Ausfälle gegen Juden noch verstärkte. In der
jungen Bundesrepublik machte Keyser dann als Mitbegründer des
Herder-Forschungsrats und als Direktor des Herder-Instituts in Marburg eine zweite Karriere.
Dieser zentrale Teil von Pinwinklers Buch berichtet nicht einfach nur aus dem akademischen Elfenbeinturm; hier besticht die
methodische Klarheit, mit der unterschiedliche Ebenen des Themas
miteinander verknüpft, Wissenschaftstraditionen und -stile sowie
generationelle Prägungen bzw. akademische Schulbildungen dargestellt werden. Am Ende des Buches wartet mit Teil III noch ein
Buch im Buch auf den Leser, in dem Pinwinkler die Netzwerke
der beteiligten Wissenschaftler, die Institutionalisierungen des gesamten Faches und seine Internationalisierung vor 1933 und nach
1945 analysiert. Hier macht die Darstellung durch einen genauen
Blick auf die internationalen Historikertage 1928 in Oslo, 1933 in
Warschau und 1938 in Zürich (und auf diejenigen, die nach dem
Zweiten Weltkrieg in Paris, Rom, Stockholm Wien und Moskau
stattfanden) deutlich, dass die Bevölkerungswissenschaft vor und
nach dem Nationalsozialismus und auch jenseits von Deutschland
zu einer Sprache fand, die dem Denken in mechanistischen Kategorien Vorschub leistete.
Pinwinklers Buch ist ein großer Wurf. Man sieht dies auch daran, dass er liberale Vertreter der historischen Bevölkerungsstatistik
präzise in die Diskurse der Zeit einfügt, etwa den 1933 aufgrund
seiner »nichtarischen Abstammung« entlassenen Nationalökonom,
Statistiker und Wohlstandstheoretiker Paul Mombert, ein Schüler
des Münchner Nationalökonomen Lujo Brentanos, der 1938 nach
dem Novemberpogrom von den Nazis verhaftet wurde und noch
im selben Jahr an den Folgen seiner Krebserkrankung in Stuttgart
verstarb. Mombert reflektierte in den 1920er Jahren Denkmodelle
wie »Über-« und »Unterbevölkerung« und lehnte völkische Schlussfolgerungen des Themas ab. Auch die jüdischen Migrationsforscher
Alexander und Eugen Kulischer, die aus Deutschland vertrieben
wurden, finden in dem Buch eine gerechte Würdigung. Sie waren
durch die Diskurse der Zeit geprägt, gingen aber nicht in ihnen auf;
trotz mancher Themenstellung und Scheinnähe wird deutlich, dass
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
ihre Arbeiten der »geopolitischen Versuchung«2 bei der Deutung des
Verhältnisses von Geschichte und Raum zwar ausgesetzt waren, ihr
aber nicht anheimfielen.
Für den Leser von Pinwinklers Darstellung ist zuletzt weniger überraschend, dass anhand der Geschichte der Bevölkerungsund Raumwissenschaft demonstriert werden kann, wie stark im
20. Jahrhundert mehrere Wissenschaftlergenerationen in und außerhalb Deutschlands in Kategorien von Volkszugehörigkeit und
Abstammung dachten und kollektive Entitäten in der Regel wie eine
unveränderliche Gegebenheit darstellten; überraschend ist die vom
Autor immer wieder betonte Tatsache, wie vielseitig und vielgestaltig
die Ergebnisse von Statistik, Stadtsoziologie, Familienforschung und
Demographie dabei sein konnten. So erweist sich der Titel seiner
Studie, die kein Fach im Singular, sondern die heterodoxe Vielzahl
von Praktiken im Plural ausweist, als eine kluge Entscheidung des
Verfassers.
Nicolas Berg
Frankfurt am Main/Leipzig
2
Peter Schöttler, »Geopolitische Versuchungen bei der Interpretation der Beziehung zwischen Raum und Geschichte. Eine kritische Bilanz der Konzeptionen
und Theorien seit Friedrich Ratzel«, in: Dietrich Denecke, Klaus Fehn (Hrsg.),
Geographie in der Geschichte, Wiesbaden 1989, S. 73–88.
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Holocaust in Jugoslawien?
Jovan Ćulibrk
Historiography of the Holocaust in
Yugoslavia
Belgrad: University of Belgrade, 2014,
217 S., ca. € 12,–
Der Autor Jovan Ćulibrk ist kein typischer
Holocaustforscher, sondern serbisch-orthodoxer Bischof der Eparchie von Slawonien mit einem durchaus unorthodoxen Lebenslauf. Er studierte Literatur in Banja Luka und Zagreb,
bewegte sich schriftstellerisch im Umfeld des bekannten Künstlerkollektivs NSK. Während der jugoslawischen Zerfallskriege diente
er auf serbischer Seite als Fallschirmspringer. Seither absolvierte
er einen bemerkenswerten Aufstieg in der Hierarchie der serbischorthodoxen Kirche, unter anderem als ihr Vertreter in Jerusalem. In
diesem Kontext entstand auch dieses Buch, denn Ćulibrk nutzte die
Zeit in Jersualem auch für ein Studium der Holocaust Studies an der
Hebrew University bei David Bankier. Zudem war er kirchlicher
Koordinator für Jasenovac, dem geschichtspolitisch umstrittensten
Erinnerungsort Jugoslawiens. Was ein so hoher Repräsentant der
Serbisch-Orthodoxen Kirche, ein popkulturell gebildeter Autor und
ein Kenner des Holocaust zur Historiographie des Massenmordes auf
jugoslawischem Boden zu sagen hat, macht neugierig.
Dem Autor gelingt es in der Einleitung, die komplexe, einzigartige und par excellence transnationale Geschichte des Holocaust
in Jugoslawien anspruchsvoll darzustellen. In Serbien ermordete die
Wehrmacht die meisten Juden, mit Hilfe des SS-Reichssicherheitshauptamts und serbischer Polizei; in Kroatien organsierte die Ustascha einen eigenen Völkermord an den Juden, auf dessen Vollkommenheit sich die Deutschen aber nicht verließen und deshalb Juden
nach Auschwitz deportierten; in Makedonien und in der Vojvodina
trugen die bulgarischen und ungarischen Besatzungsmächte auf jeweils eigene Art dazu bei, dass die deutsche »Endlösung der Judenfrage« europäischen Charakter erhielt. Italien schließlich war eine
höchst ambivalente Besatzungsmacht, die punktuell dem deutschen
Massenmord zuarbeitete, diesen aber vor allem obstruierte. Dazu
kamen die mannigfaltigen jüdischen Aktivitäten, wie transnationale
humanitäre Hilfe und Widerstand einschließlich jüdischer Partisanengruppen. Um kaum eines dieser kursorisch genannten Themen gab
es in den vergangenen Jahrzehnten keine Forschungskontroversen –
genannt seien nur die Debatten, ob nun die Italiener oder die Bulgaren
als Täter oder als Retter zu betrachten sind; zu nennen sind zudem
die Auseinandersetzungen um die Rolle der kroatischen katholischen
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Kirche oder die verletzend geführte Debatte um die Opferzahlen der
Ustascha in Jasenovac. Zudem ist der Massenmord an den Juden
verzahnt mit den anderen in der Region verübten Gewalttaten, also
vor allem mit dem Völkermord der Ustascha an Serben und Roma.
Das Thema ist an Komplexität kaum zu überbieten. Ćulibrk gliedert es chronologisch in sechs Teile – eine Ordnung, an die er sich
nicht immer hält, was dem Buch einen wenig stringenten Charakter
verleiht. Der Autor diskutiert eindrücklich den in den 1980er Jahren
einsetzenden Spaltungsprozess der jugoslawischen Historiographie,
der auf kroatischer Seite durch das Rütteln an angeblichen Tabus und
auf serbischer Seite durch das Begründen von Mythen geprägt war.
Ein Argument des Buches lautet, dass die Debatten um Genozide, also
die gegenseitigen Genozidvorwürfe – darin aber auch die Vorwürfe,
mehr als die jeweils eigene Seite am Holocaust beteiligt gewesen
zu sein – essenziel in der Neusortierung der Frage nach dem Selbst
und der Abgrenzung zum Gegenüber gewesen seien. Dabei habe die
Geschichtswissenschaft in Serbien einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen, denn das Geschichtsbewusstsein der jugoslawischen
Serben sei fortan vor allem durch die Publizistik und die Literatur
geprägt gewesen. Kroatien hingegen sei regelrecht von Historikern
»übernommen« worden – das gilt nicht zuletzt für den Anführer des
kroatischen Geschichtsrevisionismus, den (1971 verhafteten) Direktor des Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung Kroatiens,
Franjo Tuđman, der 1990 zum kroatischen Präsidenten gewählt wurde.
Beeindruckend ist der Kenntnisstand des Autors, der in der Tat die gesamte jugoslawische und internationale Geschichtsschreibung bis etwa
2010 in verschiedenen Sprachen aufgespürt hat. Dass zuweilen ein
leichtes Ungleichgewicht vorherrscht, da beispielsweise hebräische Titel viel, italienische Titel wenig Platz einnehmen, ist zu verzeihen. Der
Band ist somit ein Handbuch, das all denjenigen, die sich in Zukunft
mit Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg befassen, wertvolle Dienste
erweisen wird. Bedauerlich ist jedoch, dass ihm klare Worte fehlen,
da er politisch gefärbte Forschung nicht immer als solche bezeichnet.
Dass der serbische Geschichtsnationalismus insgesamt sanfter angefasst wird als sein kroatisches Pendant, kann vor dem Hintergrund
des Autors nicht verwundern. Positiv überrascht, dass die in Serbien
bestehende Tendenz, den Holocaust zu gebrauchen, um die Aufmerksamkeit für serbische Opfer zu erhöhen, auch als solche benannt wird.
Eine Frage, die sich nach der Lektüre stellt, ist allerdings, ob
es »den Holocaust« in Jugoslawien als solchen wirklich gab. Die
Vielzahl an Gruppen, Milizen, Besatzungsmächten, Staaten, die in
verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Motiven Gewalttaten gegen Juden verübten, wären in einer Monographie nicht sinnvoll
abzuhandeln, deshalb macht es Sinn, dass die Geschichtsschreibung
den Holocaust bisher nicht durch das Prisma eines Staates untersucht
hat, den es von 1941 bis 1945 nicht gab.
Jüdisches Leben in Breslau
Katharina Friedla
Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949.
Überlebensstrategien, Selbstbehauptung
und Verfolgungserfahrungen
Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2015,
552 S., € 69,90
Alexander Korb
Leicester/Jerusalem
Nach langjähriger Dominanz einer einseitig
ausgerichteten Täterforschung erweitern seit
einigen Jahren vermehrt Studien den Blick auf den Holocaust, indem sie sich entweder auf die Opferperspektive konzentrieren oder
sich um ein umfassendes, alle Perspektiven einschließendes Bild
bemühen. Katharina Friedlas nun gedruckt vorliegende Dissertation
reiht sich in diesen »Trend« ein, sie rekonstruiert das wechselvolle
Leben der Juden in Breslau von 1933 bis 1949 vor allem anhand
von Selbstzeugnissen.
Dem eigentlichen Thema ist eine umfassende Schilderung jüdischen Lebens in Breslau während der Weimarer Republik vorangestellt. Die damals drittgrößte jüdische Gemeinde im Deutschen
Reich unterschied sich kaum von anderen. Sie war zunehmend von
Überalterung geprägt, und die Zahl der Juden stagnierte. Gleichwohl
entfaltete sich ein reichhaltiges soziales, religiöses und kulturelles
Leben, das Friedla als weitgehend konfliktfrei beschreibt. Gestört
wurde dies immer wieder durch einen sich mitunter gewaltsam gebärdenden Antisemitismus.
1933 änderte sich die Lage der Juden grundlegend – in Breslau
in vielen Bereichen immer etwas früher und radikaler als in anderen
Regionen. So kam es hier schon im März 1933 zu Boykotten jüdischer Geschäfte, und die Gerichte wurden regelrecht gestürmt und
Juden aus ihnen vertrieben. Auch in späteren Jahren nahm Breslau
häufig eine traurige Vorreiterrolle ein, etwa in einer früh schon einsetzenden »Rassenschande«-Propaganda und Gewalttätigkeiten gegen
gemischte Paare. All dies schildert Friedla plastisch anhand einer
breiten Palette von Selbstzeugnissen, angefangen bei dem bekannten
Tagebuch Willy Cohns oder dem von Walter Tausk bis hin zu bislang
unbekannten Berichten und Interviews. Mit Hilfe dieser Dokumente
kann sie ein genaues Bild von der Ausgrenzung im Alltag zeichnen,
vor allem aber von den Reaktionen und der Selbstanpassung der Juden Breslaus im Privaten wie im Organisatorischen, etwa die Bildung
oder der Ausbau von Selbsthilfeorganisationen in allen wesentlichen
Bereichen wie der sozialen Fürsorge, der Krankenversorgung oder
der Kultur.
So verdienstvoll und interessant der Ansatz auf der einen
Seite ist, so sehr treten aber auch seine Schwächen zutage. Die
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Mikrogeschichte einer jüdischen Gemeinschaft einer Stadt, gestützt
hauptsächlich auf Selbstzeugnisse, verstellt mitunter den Blick auf
Fragen, die der Fall Breslau aufwirft. Warum zum Beispiel kam es
dort zu diesem außergewöhnlich radikalen Ausbruch antisemitischer
Gewalt im Frühjahr 1933? Wer waren die Triebkräfte? Waren sie vor
1933 schon aktiv? So werden durch eine nun umgekehrte Einseitigkeit manche wichtigen Fragen gar nicht erst aufgeworfen, denen
nachzugehen gerade für eine solche Lokalstudie sehr interessant und
lohnenswert gewesen wäre. Zu häufig bleibt es beim »Was?«, ohne
zum »Warum?« vorzudringen. Dass aber mehr möglich gewesen
wäre, zeigt das Kapitel über den Novemberpogrom, in dem Friedla
eine breitere multiperspektivische Herangehensweise gelingt, die
Analyse mit dichter Beschreibung zu verbinden vermag und Breslauer Besonderheiten schärfer hervortreten lässt.
Ungeachtet solcher Kritik – die ein wenig über Friedlas Fragestellung hinausweist – treten die Vorzüge der gewählten Perspektive
immer wieder hervor. Die Verfolgung der Juden und schließlich ihre
Ermordung war eine für die Betroffenen offene Entwicklung, deren
jeweilige Richtung absolut ungewiss war und verschiedenste Formen
der Reaktion plausibel erscheinen ließ. Dies nah an den Menschen
und ihren Zeugnissen zu beschreiben und in seiner Vielfalt deutlich
zu machen, ist ein Verdienst der Arbeit. Das führt eindrücklich das
Kapitel über die Deportationen vor Augen, deren Ablauf Friedla
detailliert aus Sicht der Betroffenen schildert. Ihre Wege verfolgt
sie dabei weiter und erzählt ihr Schicksal auch nach Ankunft der
Züge in den Lagern und Ghettos.
Ein besonderer Vorzug der Studie ist ihr zeitlicher Rahmen,
der über das Kriegsende hinaus bis 1949 reicht und so im Grunde
genommen, anders als der Titel suggeriert, eine Geschichte der Juden
in Breslau von 1918 bis 1949 bietet. Neben allen Schwierigkeiten,
mit denen jüdische Überlebende aus dem gesamten Deutschen Reich
zu kämpfen hatten, stellte sich den 1.600 bis 1.800 Breslauern das
Problem, dass sie von Polen und sowjetischen Besatzern zunächst
meist nur als Deutsche, weniger jedoch als Verfolgte angesehen wurden; auch zu innerjüdischen Konflikten zwischen alten Breslauern
und jüdischen Neusiedlern aus der UdSSR kam es. Die meisten der
deutschen Überlebenden gingen ab August 1945 nach Erfurt und von
dort wenig später vielfach weiter nach Westen. Die meisten jüdischen
Umsiedler – im Winter 1946/47 lebten über 20.000 von ihnen in
Breslau – verließen die Stadt in den darauffolgenden Jahren, als die
Stalinisierung einsetzte und der Antisemitismus wieder zunahm.
Markus Roth
Gießen
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Die Trawnikis – Werkzeuge der Vernichtung
Angelika Benz
Handlanger der SS. Die Rolle der
Trawniki-Männer im Holocaust
Berlin: Metropol Verlag, 2015,
309 S., € 24,–
Im Mai 2011 verurteilte das Landgericht
München I Iwan Mykolajowytsch (John)
Demjanjuk wegen 16 Fällen der Beihilfe zum Mord an 28.060
Menschen jüdischen Glaubens im Vernichtungslager Sobibór zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Rechtskräftig wurde
das Urteil allerdings nicht; Demjanjuk verstarb während des Revisionsverfahrens (S. 263 ff.). Demjanjuk war Angehöriger einer
Hilfstruppe der SS, den sogenannten Trawnikis. Dieser Gruppe waren
rund 5.000 »Fremdvölkische« zuzurechnen, die seit Herbst 1941 im
SS-Ausbildungslager Trawniki geschult wurden.
Bislang wurden diese »Fremdvölkischen« sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs überwiegend pauschalisierend als homogenes Kollektiv begriffen, die vermeintlich
»brutaler als die SS« (S. 273) agiert hätten. Gesamtdarstellungen,
die das Verhalten dieser Gruppe eingebettet in die mörderische
NS-Rassen- und Vernichtungspolitik umfassend beleuchten hätten,
fehlten bislang. Mit ihrer Studie schließt Angelika Benz nun diese
Forschungslücke. Auf Grundlage zeitgenössischer Quellen, NSErmittlungsakten und Erinnerungsberichten gelingt es ihr in eindrucksvoller Weise, ein differenziertes Bild der Trawnikis und deren
Rolle bei der Vernichtung der europäischen Juden nachzuzeichnen.
Die Deutschen rekrutierten die Trawnikis anfänglich aus diversen Kriegsgefangenenlagern, wo Hunger, Kälte und Epidemien
den Alltag der Rotarmisten prägten und das Sterben allgegenwärtig
war. Unter ihnen waren Ukrainer die weitaus größte Nationalität,
aber auch Russen und Volksdeutsche kamen in das Ausbildungslager (S. 49). Ab Herbst 1942 waren die Deutschen verstärkt dazu
übergegangen, auch Zivilisten wie junge Ukrainer, ethnische Polen
oder auch Goralen anzuwerben.
Im Herbst 1941 begannen die konkreten Vorbereitungen für die
unter dem Decknamen »Aktion Reinhard« realisierte systematische
Ermordung der europäischen Juden in den im Generalgouvernement erbauten Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka.
Neben deutschem Personal, das sich aus Angehörigen der Kanzlei
des Führers rekrutierte, fanden in den Lagern auch Trawnikis Verwendung, die den überwiegenden Teil der Lagerbelegschaft stellten. Sie versahen in den Todesfabriken nicht nur Wachdienst und
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beaufsichtigten die jüdischen Arbeitskommandos, sondern sortierten
auch die Habseligkeiten der Ermordeten und zogen mitunter die
Leichen der Getöteten aus den Gaskammern. Daneben waren die
»Fremdvölkischen« allerdings auch in andere mit dem Massenmord
verbundene Aufgaben involviert, beispielsweise der Räumung von
Ghettos oder der Bewachung von jüdischen Zwangsarbeitslagern.
Was das Verhalten der Trawnikis gegenüber den jüdischen Opfern anbelangt, standen viele den Deutschen in nichts nach, vielmehr adaptierten sie sogar deren brutales Vorgehen: »Die TrawnikiMänner erlebten eine komplette Umkehr des Machtverhältnisses
und nutzten dies aus. Gerade noch in der ohnmächtigen Situation
der Gefangenschaft, genossen sie nun eine fast grenzenlose Macht
gegenüber den Juden« (S. 211). Die Motive der Trawnikis waren
facettenreich: Nicht nur das Ausleben neu erworbener Macht, sondern mitunter auch Faktoren wie Identitätsverlust oder auch die
Befriedigung ökonomischer und sexueller Interessen trieben die
Männer an. In engem Zusammenhang stand die Brutalität jedoch
mit den vorherrschenden hierarchischen Strukturen, in denen die
»Fremdvölkischen« eingebettet waren. »Die SS-Männer hatten absolute Befehlsgewalt, die Trawniki-Männer fungierten als Helfer und
Untergebene«, resümiert Benz (S. 162). Nicht nur bei Fehlverhalten
mussten sie mit Strafen rechnen. Einige wurden von SS-Männern
grundlos schikaniert und misshandelt. Andererseits konnten die Männer auch Ehrungen, Beförderungen und Auszeichnungen erhalten;
Volksdeutsche waren jedoch generell bessergestellt. Allerdings war
das Verhalten der Trawnikis in den Vernichtungslagern keineswegs
von Gleichförmigkeit geprägt. Es sind Fälle überliefert, in denen
Einzelne den jüdischen Häftlingen Informationen oder anderweitige
Hilfeleistungen zukommen ließen.
Benz’ Dissertation überzeugt. Sie gibt die erste systematische
Darstellung über die Trawniki-Männer, die ein integraler Bestandteil
des Genozids an der jüdischen Bevölkerung waren. Auf breiter Quellenbasis rekonstruiert sie, dass es sich bei den »Fremdvölkischen«
keineswegs um eine homogene Gruppe handelte, deren Verhalten,
Agieren und Motivation sich pauschalisieren ließe. Zu divers waren
Faktoren wie Herkunft, Sozialisation, Anwerbungspraxis sowie persönliche Dispositionen der Rekrutierten. Neben situativen Momenten
konnte sich auch der Kriegsverlauf auf die Einstellung und das Verhalten der Trawnikis auswirken. Zweifellos liefert die vorliegende
Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Holocaust-Forschung. Überdies
zeigt sie, dass durchaus noch weiße Flecken in der mittlerweile
ausdifferenzierten Forschungslandschaft existieren.
Melanie Hembera
Ludwigsburg
Rezensionen
»Um uns herum ist es dunkel und leer!«
Rywka Lipszyc
Das Tagebuch der Rywka Lipszyc
Aus dem Polnischen (Tagebuch)
und Englischen (Anmerkungen und
Begleitexte) von Bernhard Hartmann.
Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp
Verlag, 2015, 238 S., € 22,95
Immer wieder, auch nach nunmehr 70 Jahren, kommen neue Dokumente zum Holocaust ans Licht, die jahrzehntelang auf Dachböden lagen, unter
Bodendielen versteckt oder in Wände eingemauert waren. Darunter
nun auch das Tagebuch von Rywka Lipszyc, die als junges Mädchen
im Ghetto Litzmannstadt/Łódź lebte. Die Veröffentlichung verdankt
sich einer Reihe von Zufällen und glücklichen Fügungen.
Nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz-Birkenau fand eine Ärztin der Roten Armee das Tagebuch in den Trümmern des Krematoriums und nahm es mit in ihre
Heimatstadt Omsk. Nach ihrem Tod 1983 war es bei ihrem Sohn
und nach seinem Tod bei dessen Frau. Dort entdeckte es 1995 deren
Tochter und nahm es mit nach San Francisco, wo sie seit einiger Zeit
lebte. Einige Jahre lang bemühte sie sich vergeblich, Interesse für das
Tagebuch zu wecken, bis sie schließlich beim Holocaust Center of
Northern California auf Jane Janec stieß. Janec nahm sich mit Eifer
der Sache an und konnte 2014 schließlich eine englischsprachige
Ausgabe initiieren.
Das Tagebuch umfasst nur wenige Monate. Begonnen hat es
Rywka Lipszyc im Oktober 1943 kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag; im April 1944 enden die Eintragungen. Rywka wurde im
September 1929 in eine orthodoxe jüdische Familie in Łódź geboren und lebte mit ihren Eltern und ihren Geschwistern ab 1940 im
dortigen Ghetto. Nachdem ihre Eltern an Hunger, Entkräftung und
Krankheit gestorben waren, wurden die Kinder von Verwandten
aufgenommen. Wie die meisten Ghettobewohner arbeitete auch
Rywka, bis Oktober 1943 im Zentralbüro des Arbeitsressorts (der
jüdischen Arbeitsverwaltung) und anschließend in der Kleider- und
Wäscheabteilung. Gemeinsam mit ihrer Schwester Cipka wurde sie
im Sommer 1944 nach Auschwitz deportiert, wo Cipka unmittelbar
nach der Ankunft getötet wurde. Rywka kam in ein Frauenlager in
der Nähe Groß-Rosens und von dort mit einem der berüchtigten
Todesmärsche nach Bergen-Belsen, wo sie die Befreiung erlebte.
Im Herbst 1945 jedoch verliert sich ihre Spur. Im September wurde
sie in Lübeck als Displaced Person registriert, danach fehlt jedes
weitere Lebenszeichen.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
In ihrem Tagebuch beschreibt Rywka aus ihrer Sicht, der Sicht
eines orthodox geprägten jungen Mädchens, die Ghettowelt – den
mühsamen Alltag, die Arbeit, die den Umständen abgetrotzten Freizeit- und Kulturaktivitäten, den Hunger, ihr nicht immer konfliktfreies Verhältnis zu den Freundinnen, Streit in der Familie, ihre eigenen
Gefühle und vieles mehr.
Einen großen Stellenwert haben, wie für Jugendliche generell,
ihre Freundinnen und die gemeinsamen Aktivitäten. Sie versuchen,
Normalität aufrechtzuhalten oder zurückzugewinnen. Wo eigentlich Arbeit, Hunger und Tod neue, von den Besatzern geschaffene
Normalität sein sollen, schaffen sie sich Raum für Kultur und auch
Vergnügen: »Wir werden uns einmal die Woche treffen und über
Literatur oder ein anderes Thema sprechen, und sonntags treffen wir
uns eine Stunde zum Vergnügen (wir sind ja keine alten Schachteln).
Zur Vergnügungsstunde kommen vielleicht auch Jungen.« (3.1.1944,
S. 94) Zerstreuung und die Suche nach geistiger Nahrung können den
Schrecken des Ghettos freilich nicht fernhalten, Verzweiflung bricht
sich immer wieder Bahn, die Sehnsucht nach ihren Eltern drückt sie
nieder. Dem kann Rywka jedoch etwas entgegensetzen – die Kraft,
die ihr ihre Freundschaften geben, und vor allem auch ihren starken
Glauben: »Ach, ich lache über die ganze Welt, ich arme Jüdin aus
dem Getto, ich, die ich nicht weiß, was morgen mit mir sein wird
… ich lache über die ganze Welt, weil ich eine Stütze habe, eine
große ungeheure Stütze: den Glauben! Ich glaube! Dadurch bin ich
stärker und reicher und wertvoller als andere … Gott, wie dankbar
bin ich Dir!!!« (11.2.1944, S. 126)
Rywkas Eintragungen zeigen ein Mädchen, das einerseits mit
dem ganz normalen Gefühlschaos einer Vierzehnjährigen kämpft,
andererseits ihr Leben und ihre Zeit sehr ernsthaft reflektiert und das
Verfolgung und Leid frühzeitig haben reifen lassen. Mit ihrem Tagebuch liegt nun ein interessantes Dokument auf Deutsch vor, das den
vielen männlichen Stimmen über das Ghetto Lodz die Perspektive
eines jungen orthodoxen Mädchens an die Seite stellt und so den
Blick auf Hoffen und Angst, auf die Rolle von Religion und Kultur
sowie auf das Heranwachsen im Ghetto erweitert. Doch auch dieses
Zeugnis kann kaum etwas daran ändern, dass wir heute letztlich
immer wieder in die Lage zurückgeworfen werden, in der sich die
Kinder aus Rywkas Tagtraum befanden: »Gestern, als ich durch die
Straßen ging, habe ich geträumt … Ich hatte ein Bild vor Augen:
ein leicht erleuchtetes, warmes Zimmer, ein paar Kinder sitzen am
Tisch, sie sind beschäftigt oder hören, was ich ihnen vorlese, ach,
ich lese ihnen vom Getto vor, ich erzähle ihnen davon, und ich sehe
ihre ungläubigen Augen, sie können nicht begreifen, dass so etwas
geschehen konnte …« (17.1.1944, S. 104).
Markus Roth
Gießen
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Aufzeichnungen einer Zwölfjährigen
Janina Hescheles
Oczyma dwunastoletniej dziewczyny
[Mit den Augen einer Zwölfjährigen]
Warszawa: Żydowski Instytut Historyczny
(Jüdisches Historisches Institut), 2015,
186 S., 35,90 Złoty
Endlich sind die 1944 auf Polnisch verfassten Aufzeichnungen der damals zwölfjährigen Janina Hescheles (verh. Altman) ins Ukrainische, Russische,
Katalonische, Spanische, Französische und wohl auch Hebräische
übersetzt und in Warschau in der Originalsprache ungekürzt und mit
umfangreichen Kommentaren neu aufgelegt worden. Die Kürzungen betrafen die Zeit der ersten, der sowjetischen Besetzung von
Lemberg und des beim Einmarsch der Deutschen von Ukrainern
veranstalteten Pogroms, bei dem sie ihren Vater verlor. Die Aufzeichnungen waren 1946 unter dem Titel »Oczyma dwunastoletniej
dziewczyny« – wspomnienia z obozu janowskiego (Mit den Augen
einer Zwölfjährigen – Erinnerungen an das Lager in Janów) erschienen. Teile hieraus sind in dem Band Im Feuer vergangen. Tagebücher
aus dem Ghetto (1961, mit einem Vorwort von Arnold Zweig) ins
Deutsche übertragen worden.
Man kann diese Aufzeichnungen zwischen den Tagebüchern von
Anne Frank und Dawid Rubinowicz ansiedeln. Hescheles zeichnete
ihre furchtbaren Erlebnisse in Lemberg und im Lager Janów während
der deutschen Besatzung in mehreren Heften auf, nachdem sie vom
Hilfsrat für Juden, der sogenannten Żegota, in der zweiten Jahreshälfte 1943 hatte gerettet werden können. Vertreter des Rats gaben
ihr Feder und Hefte mit der Aufforderung in die Hand, alles, was sie
über die Zeit des Leidens zu vermitteln habe, niederzuschreiben. Sie
tat es auch. Es war in der Folge nicht leicht, diese Aufzeichnungen
vor all den Hausdurchsuchungen der Deutschen zu schützen. Nach
dem Krieg wurden sie von der Jüdischen Historischen Kommission
in Krakau bereits 1946 veröffentlicht. Der Absicht des mittlerweile
14-jährigen Mädchens, das Aufgeschriebene stilistisch zu verbessern, widersetzten sich die Herausgeber beharrlich. Sie wollten, dass
die Authentizität gewahrt bleibt.
Janinas Vater hatte ihr zum Abschied gesagt, sie möge nie weinen. Sie weinte zwar oft, aber immer wieder erinnerte sie sich an
seine Worte, und manchmal halfen sie ihr auch, die hoffnungslosen
Tage zu ertragen. Einige Monate später nahm sich die Mutter das
Leben. Janina wollte mit ihr sterben. Aber die Mutter gab ihrem
Drängen nach einem gemeinsamen Tod nicht nach. Sie solle ihre
Eltern rächen, erklärte ihr die Mutter. Was habe ich davon, erwiderte
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Janina, wenn ich trotzdem allein bleibe. Die Rache werde keine Auferstehung bewirken. Sie werde sich nur quälen müssen. Die Mutter
gab ihr aber nichts von dem Gift ab, das sie für ihren Tod bestimmt
hatte. Janina schildert, wie sie immer gleichgültiger wurde. Selbst
bei der Erhängung eines Mannes, bei der sie zusehen musste, fühlte
sie keine Erschütterung mehr. Das, was sie am meisten fürchtete,
war eine Erschießung, bei der sie nicht gleich tot umfallen werde.
Sie wusste, wie so manches Kind nach den Schüssen noch lange
leiden musste.
Eines Tages flieht sie aus dem Lager, doch sie findet bei Verwandten keine Hilfe und kehrt wie viele andere wieder zurück. Sie
wird für den Fluchtversuch nur mit Hieben bestraft, andere wurden
deswegen erschossen. Die Schläge machten ihr wenig aus, schreibt
sie, furchtbar war nur, dass es ein Jude war, der sie prügelte. Sie fühlt
sich immer mehr wie ein »lebendiger Leichnam« (S. 59). Schließlich
kam die unverhoffte Rettung.
Hescheles schreibt nicht unbeholfen wie Dawid Rubinowicz. Sie
notiert alles chronologisch, nennt viele Namen und schildert lakonisch die Ereignisse, wie sie und ihre Verwandten und Bekannten von
Deutschen und Ukrainern brutal behandelt werden, wie sie dauernd
in Angst leben. Selber scheint sie ein sehr aktives Kind gewesen
zu sein, denn immer wieder geht sie irgendwohin, schmuggelt sich
durch die Bewachung und versucht, anderen zu helfen. An mehreren
Stellen reflektiert sie, wie sie zum Leben steht. Lange Zeit möchte sie
unbedingt weiterleben, gleichsam um jeden Preis, aber Hunger, Kälte
und Gleichgültigkeit um sie herum nehmen auch ihr die Lebenskraft.
Erst in der Krakauer Wohnung kehrt ihre Energie zurück. Sie verliert
sogar das Gefühl für die weiterhin bestehenden Gefahren, verraten
zu werden. Am eindrücklichsten erscheinen jene Partien, in denen sie
ihre persönlichen Gefühle wiedergibt und sich immer wieder fragt,
ob sie die Bitten ihres Vaters und ihrer Mutter erfüllen kann. Diese
bilden so etwas wie den Angelpunkt ihres Berichts.
Es ist schade, dass ihre Niederschrift so lange ohne Echo geblieben ist und es in Deutschland keine Ausgabe ihrer Aufzeichnungen mitsamt jenem Teil gibt, in dem sie die Zeit der sowjetischen
Okkupation von Lemberg schildert. Janina Hescheles-Altman lebt
heute in Israel. Seit ihrer Emeritierung als Chemikerin im Jahre 1996
befasst sie sich unter anderem mit der Geschichte des Widerstands
in Deutschland. 2013 gab sie in Form eines Kindle-Buchs die Arbeit
Naturwissenschaftler vor und nach dem Aufstieg Hitlers zur Macht
auf Deutsch heraus.
Karol Sauerland
Warszawa
Rezensionen
Ein Pionier historiographischer
Entwicklungen
Rüdiger Hachtmann,
Sven Reichhardt (Hrsg.)
Detlev Peukert und die NS-Forschung
Göttingen: Wallstein Verlag, 2015,
223 S., € 39,90
Der 1990 im Alter von nur 39 Jahren verstorbene Historiker Detlev Peukert hat in
der Nationalsozialismusforschung deutliche Spuren hinterlassen.
Er leitete von 1988 bis zu seinem Tod die »Forschungsstelle zur
Geschichte des Nationalsozialismus« in Hamburg. 25 Jahre nach
seinem Ableben wird an das Schaffen des Pioniers historiographischer Entwicklungen erinnert und sein Wirken historisiert. Rüdiger
Hachtmann und Sven Reichardt organisierten diesen wissenschaftlichen Nachruf mit Zukunftsperspektive für die renommierten »Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus«. In ihren einleitenden
Überlegungen zu seiner wissenschaftlichen Einordnung würdigen sie Peukert als einen mit sieben Monographien und weiteren
73 Aufsätzen »extrem produktiven Historiker« (S. 9).
Die 1976 veröffentlichte Staatsexamensarbeit »Ruhrarbeiter
gegen den Faschismus« des in der Bergarbeiterkolonie HammHerringen aufgewachsenen damaligen DKP-Mitglieds enthält noch
»deutliche Züge des historiographischen ›Prolet-Kultes‹« (S. 13).
Aber mit der Umarbeitung dieser Arbeit für die Dissertation Die
KPD im Widerstand (1980) »löste er sich zunehmend vom hermetischen Geschichtsbild der DKP« (S. 13) und – inzwischen in
die SPD eingetreten – habilitierte sich 1984 mit einer voluminösen
Studie zur deutschen Jugendfürsorge und den Lebenswelten von
Arbeiterjugendlichen in der Weimarer Republik. In diesem Jahr hatte
er – dies sei persönlich angemerkt – mich zur weiteren Beschäftigung
mit der Jugendopposition gegen den Nationalsozialismus motiviert.
Seinen Publikationen habe ich viele Anregungen zu verdanken, was
sicherlich auch für die in dem Gedenkband vertretenen Kollegen/
Kollegin zutrifft.
Es wird nicht verschwiegen, dass das »unvollendete Werk Peukerts« (S. 37) viele Leerstellen hat: Die Rolle der Frauen ist »nur
beiläufig und oberflächlich thematisiert« (S. 37) worden. Auch mit
dem Holocaust und dem Antisemitismus hat er sich »erst spät und
dann nur sehr allgemein« (S. 37) beschäftigt. Aber dies kann nicht
die »Vielzahl von Anregungen schmälern, die eine Lektüre der Peukertschen Arbeiten nachfolgenden Historikergenerationen geboten
hat«. (S. 38)
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Ulrich Herbert setzt sich in seinem Aufsatz zu »Arbeiterklasse
und Volksgemeinschaft« mit der NS-Gesellschaft in Peukerts Arbeiten auseinander. Ihn beschäftigte die Frage, »dass nicht unerhebliche
Teile der deutschen Arbeiterschaft durchaus bereit gewesen waren,
den Nationalsozialisten zu folgen oder ihnen jedenfalls nicht im
Wege zu stehen« (S. 41). Die Aussparung der Juden in seinen Publikationen reflektierte für Herbert die Emphase für die »anderen«
Opfer des NS-Regimes: »Wilde Cliquen«, später Edelweiß-Piraten, die damals noch sogenannten »Zigeuner«, »Arbeitsscheue«,
sowjetische Kriegsgefangene oder ausländische Zwangsarbeiter.
»Diese höchst merkwürdige Trennung zwischen den Juden und den
›anderen‹ Opfern des NS-Regimes hat Peukert einige Jahre später
dann selbst korrigiert …« (S. 46) und eine konzeptionelle Wende
vollzogen: Aus dem Antagonismus von Kapital und Arbeit war der
»Widerspruch zwischen gesunden arischen deutschen Volksgenossen
und den als wertlos apostrophierten Gemeinschaftsfremden geworden …«. (S. 47)
Die voluminöse Studie Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde (1982) ist Ausgangspunkt des Diskussionsbeitrags von Michael
Wildt: »Peukert begriff Nationalsozialismus und Holocaust als eine
mögliche, aber pathologische Erscheinung der Moderne.« (S. 55)
Er hatte frühzeitig den Blick auf die rassistische Grundlage der nationalsozialistischen Ordnung gelenkt, »aus der zweifellos in erster
Linie sämtliche Juden ausgegrenzt, vertrieben, vernichtet werden
sollten, aber darüber hinaus auch alle anderen Menschen, die der
rassistischen Definition eines ›gesunden Volkskörpers‹ nicht entsprachen«. (S. 59) Damit hat Peukert die Forschungsperspektive auf die
»Volksgemeinschaft« eröffnet.
Im Weiteren werden Aspekte von Peukerts Themenspektrum
angesprochen: Von Anthony McElligot wird (in Englisch) die Suche
nach dem Führer thematisiert, und Ulrike Jureit fragt in »Ein Rhythmus der Geschichte« nach generationsgeschichtlichen Deutungsmustern. Nikolaus Wachsmann (in Englisch) erörtert Perspektiven im
Werk von Peukert für die Diskussion von Widerstand und Repression
unter dem Naziregime. Elisabeth Harvey diskutiert »Paradoxes of private life during the Second World War« und Thomas Etzemüller hat
eine kritische Betrachtung der Moderne als »Janusgesicht« beigesteuert. Abschließend wirft Frank Bajohr einen kritischen Blick zurück
auf den Nationalsozialismus als »Krankengeschichte der Moderne«.
Im Anhang wird ein von Hanno Hochmuth kommentiertes Radio-Feature über die Geschichtswerkstättenbewegung abgedruckt, in
dem sich Peukert im Oktober 1984 als Fachmann zu der Diskussion
über »Theorie und Alltag« äußerte.
Der Band wird mit zahlreichen Buchbesprechungen abgeschlossen, die häufig mit den von Peukert untersuchten Themen und Fragen
zu tun haben.
Kurt Schilde
Berlin/Potsdam
71
Medizinverbrechen ohne Dämonen
Stephan Braese, Dominik Groß (Hrsg.)
NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen
der Aufarbeitung nach 1945
Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015,
343 S., € 39,90
Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen waren das Werk einer kleinen Zahl verbrecherischer Ärzte. Maßgeblich für ihre Taten war die Ideologie
des NS-Staates. Diese beiden Glaubenssätze waren im Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang bestimmend. Noch heute erscheint es
manchem als steile These, wenn dargelegt wird, dass die Initiative
häufig bei den Ärzten lag, etwa im Bereich der Zwangssterilisation
oder bei den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern.
Die lange populäre Erzählung spendete nicht nur vielen Tatbeteiligten gnädigen Schatten, sie vermochte auch soziale, vor allem innerinstitutionelle Verhältnisse zu stabilisieren: Gerade in der Medizin
spielen Lehrer-Schüler-Verhältnisse, spielt die »intergenerationelle
Berufsvererbung« (S. 8) eine große Rolle – darauf weist die Einleitung des vorliegenden Sammelbands hin. Die Rede von der kleinen
Zahl fanatischer Täter und von der Naziideologie als entscheidendem
Antrieb blockierte zugleich für viele Jahre die dringlichen Fragen
nach dem tatsächlichen Verhältnis von (medizinischer) Wissenschaft
und Nationalsozialismus.
Gleichwohl liegt in der Sache selbst ein Schrecken, der sich
dann so leicht zu mythischen Bildern mit dämonischen Akteuren
kristallisiert. Der Arzt als Instanz, der man sich in Leidenssituationen
zuwendet, fordert ein Vertrauen, das nicht zu missbrauchen er sich
– als Vertreter des Standes und weniger als Individuum – zugleich
verpflichtet. Diese Übereinkunft, egal wie unzeitgemäß die mitlaufenden Überhöhungen auf beiden Seiten sind (hier die Hoffnung
auf den »Heiler«, dort die Stilisierung zum »Halbgott«), zu brechen
und mit der ganzen Gewalt, die das medizinische Instrumentarium
bietet, gegen die ausgelieferten Personen vorzugehen, gibt tatsächlich Anlass, den misshandelnden oder tötenden Arzt schwärzer zu
zeichnen als andere Täter.
Schon diese kurze Erwägung macht deutlich, dass es angemessen ist, die Geschichte der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, insbesondere aber ihre mythendurchtränkte Thematisierung
in den Nachkriegsjahrzehnten mit literarischen Zugriffsweisen
zusammenzubringen. Das genau ist das Programm des Sammelbands, und sein Anspruch könnte höher kaum sein: Er schreitet – so
die Herausgeber – »das gesamte Panorama der gesellschaftlichen
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Auseinandersetzung« (S. 9) im Hinblick auf die nationalsozialistischen Medizinverbrechen ab.
Zunächst wird in historiographischer Perspektive detailliert erläutert, wie die Täter in den sich nach 1945 wieder konstituierenden
Gremien und Hochschulen Fuß fassen konnten und mit wie viel
Energie die in den frühen 1980er Jahren aufkommenden kritischen
Positionen eingehegt wurden. Und selbst als seitens der Bundesärztekammer 2008 öffentlich das massive ärztliche Fehlverhalten
eingestanden wurde, war diesem Fehlverhalten immer noch ein äußerer Zwang durch politische Instanzen vorgeordnet. Ein Zwang,
dem ein zeitloses »ärztliches Gewissen« gegenübergestellt wurde,
das – so die Suggestion – als ethisches Fundament bewahrt werden
konnte. (vgl. S. 174)
Im zweiten Teil des Buchs übernehmen Literatur- und Kulturwissenschaftler die Regie. Arbeiten so unterschiedlicher Autoren
wie Martin Walser, Peter Weiss, Ilse Aichinger oder Marcel Beyer
werden mit Blick auf Arzt-Figuren und die Konfliktkonstellationen untersucht. Gerade die spätere Literatur zum Thema bedient
sich häufig nicht chronologischer Erzählformen und arbeitet mit
Anspielungen. Gefordert sind Leser und Leserinnen, die das zu ergänzen und aufzuschlüsseln wissen. Die Texte rücken oftmals die
Personen als Träger der Handlung in den Hintergrund und dringen
in die vermeintlich unschuldigen Alltagsverhältnisse vor. Damit
entsprechen sie in gewisser Weise der Kritik der personenzentrierten
Tätergeschichtsschreibung auf Seiten der Geschichtswissenschaft.
Die Texte, häufig zwischen Fakten und Fiktion oszillierend, sind
uneindeutig und beanspruchen genau darin die Möglichkeiten der
Literatur für die Auseinandersetzung mit der Medizingeschichte.
Allerdings muss man insgesamt einen Mangel an Vermittlung
zwischen den Disziplinen der Geschichtswissenschaft und der Literatur konstatieren – ein Mangel, der nicht überraschen kann. Zu unterschiedlich sind die analytischen Instrumentarien und Begriffswelten,
zu zurückhaltend die Versuche, Sichtweisen aufeinander zu beziehen.
Liliane Weissberg unternimmt in ihrem Nachwort die Anstrengung, die historischen Untersuchungen ins Verhältnis zu den Möglichkeiten der Literatur zu setzen. Zunächst fällt ihr die Literatizität
solcher Bösewicht-Figuren wie Josef Mengele ins Auge. Es sind
Figuren, die in ihrer Dämonie alle Erklärungsansätze absorbieren,
weil sie zwar auf die empirischen Untaten zurückverweisen, aber
zugleich das Handeln der Vielen vergessen machen.
Jenseits dessen fällt es auch Weissberg schwer, thematische
Zugänge aus den beiden Feldern zu synthetisieren. Die Stärke des
Bands liegt daher in den Perspektivwechseln, die es wiederholt erlauben, Motive, die im Rahmen der historischen Analyse markiert
wurden, in der ein oder anderen literarischen Fiktion wieder aufzunehmen.
»Du bist nicht zurückgekommen«
Marceline Loridan-Ivens,
mit Judith Perrignon
Und du bist nicht zurückgekommen
Aus dem Französischen von Eva
Moldenhauer.
Berlin: Suhrkamp Verlag 2015,
111 S., geb., € 15,–
Christoph Schneider
Frankfurt am Main
»Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen,
weißt du, trotz allem, was uns widerfahren
ist. Fröhlich auf unsere Art, aus Rache dafür, dass wir traurig waren
und dennoch lachten.« (S. 7) Mit diesen Worten, ein fiktiver Brief
an ihren 1945 ermordeten Vater, eröffnet Marceline Loridan-Ivens
ihren tief berührenden Erinnerungen. Die 1928 geborene französische Schauspielerin und Autorin war im März 1944, 15-jährig,
mit ihrem Vater nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden. Nur
drei Kilometer voneinander entfernt versuchen sie zu überleben.
Inmitten des Geruchs des brennenden Fleisches, im Angesicht der
Gaskammern sehen sie sich vereinzelt. Einmal schreibt er ihr eine
kurze Nachricht. Sie vergisst alles, für viele Jahrzehnte: »Ich suche
und erinnere mich nicht. Ich suche, aber es ist wie ein Loch, und ich
will nicht fallen.« Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen langen
Brief, ein verzweifelter Versuch, Stücke des Verlorengegangenen
wieder zusammenzufügen.
Als Marceline ihren Vater in Auschwitz kurz trifft, wird sie von
einem SS-Mann zusammengeschlagen: »Ich bin unter den Schlägen
ohnmächtig geworden, und als ich wieder zu mir kam, warst du nicht
mehr da, aber ich hatte eine Tomate und eine Zwiebel in der Hand,
die du mir heimlich zugesteckt hast, sicher dein Mittagessen, ich
habe sie sofort versteckt.« (S. 15 f.) Nun war das Vertraute wieder da,
sie ist in Birkenau das Kind, ihr Vater ihr Beschützer. Als sie ihn am
nächsten Tag noch einmal sieht, wird sie von der Angst überwältigt.
Ihre Erinnerungen an die Zeit davor zerfallen.
Die 15-Jährige ist für das Sortieren der Kleider zuständig. Die
zerschlissenen Kleider der Ermordeten werden unter den Häftlingen verteilt, die schönsten gehen nach Deutschland: »Ich trug die
Strickjacke einer Toten, den Rock einer anderen Toten, die Schuhe
wieder einer anderen Toten.« (S. 24) Auch im Lager spielte der
Antisemitismus eine große Rolle. Die Juden blieben auch dort die
Projektionsfläche.
Die tägliche Todesangst muss verleugnet werden, wenn man
überleben will. Selbst Jahrzehnte später ist es den Überlebenden
kaum möglich, die frühere Bedrohung zuzulassen: »Meine Freundin Frida hat meine Erinnerungen zurechtgerückt. ›Es war bei den
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Küchen‹, sagte ich zu ihr. ›Aber nein, du übertreibst, es war direkt
bei den Gaskammern.‹ Sie hatte Recht. Die Krematorien liefen auf
Hochtouren.« (S. 27)
Ob ihr der Brief des Vaters Kraft gab? Sie ist sich nicht sicher.
Der Brief ihres Vaters spricht »von einer Welt, die nicht mehr die meine war. Ich hatte jeden Bezugspunkt verloren. Es war notwendig, dass
das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.« (S. 29)
Eindrücklich erinnert sie sich an ihren inneren Prozess der seelischen Abstumpfung gegenüber dem allgegenwärtigen Tod: »Ich war
hart geworden wie die alteingesessenen Deportierten […] Überleben
macht einem die Tränen der anderen unerträglich. Man könnte darin
ertrinken.« (S. 33)
Ende 1944 verlässt Marceline Birkenau, wird nach BergenBelsen verschleppt. Ihren Vater wird sie nicht mehr wiedersehen.
Ihre Befreiung erlebt sie im Mai 1945 in Theresienstadt. Sie erinnert
sich an kein Gefühl der Freude.
Nach ihrer Errettung hört sie vom Überleben ihres Onkels. 45
ihrer Verwandten sind ermordet worden. Sie geht nach Frankreich, wo
sie eine bekannte Regisseurin wird. Ihr Onkel war, »in einem Karren
voller Schutt versteckt«, aus einem Lager geflohen und zu polnischen
Partisanen gegangen. Er verschwieg seine jüdische Identität, aus
Angst. Eindrücklich prägt er der jungen Überlebenden ein: »Ich war
in Auschwitz. Erzähle ihnen nichts, sie verstehen es nicht.« (S. 35)
Ein gemeinsames Erinnern mit Freunden gelingt nicht. Niemand
vermag ihre Erfahrungen zu teilen. Sie schreibt etwas auf, zerreißt
es aber wieder.
Am Ende ihres Briefes schreibt sie ihrem Vater über ihre beiden
Ehemänner – »Keiner war Jude, sei mir nicht böse« (S. 91) – und
über ihre Beziehung zu Israel, wohin sie nach ihrer Befreiung anfangs gehen wollte: »Stell dir die Welt nach Auschwitz vor. Wenn
auf den Todestrieb der Lebenstrieb folgt. […] Stell dir das endlich
geschaffene Israel vor!« (S. 94 f.) Verluste wie der Tod ihres Ehemanns und das Terrorattentat des 11. September 2001 zerstören ihr
mühsam errungenes Gefühl der Sicherheit. »Ich weiß jetzt, dass der
Antisemitismus eine feste Größe ist.« Ihr Vater hatte dies vorhergesagt. Der 11. September verstärkt ihre Identifikation mit ihrem
jüdischen Erbe. Nun spürt sie stark, wieviel ihr daran liegt, Jüdin zu
sein: »Du träumtest von Israel, es ist da, ich fühle mich immer wohl
dort, wenn ich hinfahre, aber es ist nicht das Land des Friedens, das
wir anstrebten. Seit seiner Gründung befindet sich Israel im Krieg.
Gewöhnlich nehmen Kriege ein Ende, dieser nicht, denn der jüdische
Staat ist von den arabischen Ländern ringsum nie akzeptiert worden.
[…] Und je länger es dauert, desto verdächtiger wird Israel, auch in
der europäischen Öffentlichkeit. […] Ich werde deinen Traum weiterträumen.« (S. 107 f.) Ein ergreifendes Buch, aus dem Hoffnung
und Verzweiflung zugleich spricht.
Roland Kaufhold
Köln
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Höxter, Buchenwald, Landsberg
Ernst Würzburger
»Der letzte Landsberger«.
Amnestie, Integration und die Hysterie um
die Kriegsverbrecher in der Adenauer-Ära
Holzminden: Verlag Jörg Mitzkat, 2013,
329 S., € 17,80
Der reißerische Titel ist dem Zufall geschuldet. Es handelt sich um den in Höxter
geborenen Hans Schmidt, Adjutant des Kommandanten des KZs
Buchenwald. Er wurde am 7. Juni 1951 im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis als letzter in der alphabetischen Reihenfolge der
verbliebenen »7 Rotjacken« (darunter ein Einsatzgruppenführer, ein
Einsatzkommandoführer und der Chef des SS-Konzentrationslagerwesens) hingerichtet. Anhand der Biografie will der Autor im Wechsel
zwischen dieser und den allgemeinen Entwicklungen ein »möglichst
ungeschminktes Bild dieser Zeit« wieder lebendig werden lassen,
durch überwiegend vielfach unkommentierte Dokumentenzitate
(S. 16 f.). Am Ende geht es weit über die Adenauerzeit hinaus bis hin
unter anderem zur Behandlung der Problematik der ehemaligen NSJuristen und Geschichte der bundesdeutschen NS-Strafverfolgung.
Nach der Lektüre bleiben Verwirrung und sehr viele Fragezeichen. Schon auf den ersten Blick fallen offensichtliche Unrichtigkeiten, sprachliche Schwächen einschließlich Stilblüten, Wiederholungen sowie ein Mangel an formaler Einheitlichkeit auf. Der
letztgenannte Befund gilt auch für die Fußnoten. Diese werden teils
willkürlich und teils gar nicht gesetzt. Das Abkürzungsverzeichnis ist
unvollständig. So fehlt insbesondere das häufig verwendete Kürzel
NMG (S. 72 f., 101, 108 f.). Das Literaturverzeichnis ist selektiv,
das Quellenverzeichnis erratisch.
Man erfährt immerhin einiges zur Person Schmidt. Dies geschieht holprig und mit Widersprüchen und Spekulationen. Genaue
Belege fehlen häufig ganz oder sind nutzlos, so zum Beispiel Angaben nach Aussage einer Zeitzeugin bzw. eines -zeugen (S. 58 f.,
Anm. 104 u. 106) und »Amtsgericht Höxter, 17.01.1939« (S. 58,
Anm. 107). Insbesondere hätte man gern erfahren, woher der Autor weiß, dass Schmidt »im Familienkreis wegen der Zustände in
seinem Wirkungsbereich häufig sehr bedrückt gewesen« sei. Möglicherweise bestätige dies dessen Krankengeschichte (S. 71). Auf
letztere wird zuvor schon eingegangen. Indes geschieht dies offenbar
unvollständig und nicht stringent (S. 66 f.). Über die Diagnosen und
Behandlung durch US-Amerikaner während Schmidts Haft fehlen
Details, obschon dessen Gesundheitszustand bei den Gnadengesuchen eine erhebliche Rolle spielte.
74
Zur Situation in der Heimatregion von Schmidt, einer rechten
Hochburg, kann man durchaus Interessantes, insbesondere auch zu
dessen Beerdigung mit Zügen einer rechtsradikalen Demonstration,
lesen. Ansonsten wird im Wesentlichen nur Bekanntes referiert.
Besonders ärgerlich sind sachliche Fehler. So ist von Ludwigsburg
als zentralem Sammellager für »mutmaßliche Kriegsverbrecher des
westlichen Militärbezirks« die Rede (S. 72) – allein für die US-Zone
gab es zwei weitere große Standorte in Darmstadt und Dachau mit diversen Internierungslagern. Oder da überfällt 1939 die »Reichswehr«
Polen (S. 19). Und 1941 arbeitet sie mit den Einsatzgruppen zusammen. Deren Aufgabe sei es gewesen, »die jüdische und slawische
Bevölkerung« zu liquidieren, was hinsichtlich der letztgenannten so
nicht zutrifft (S. 40). Und wenn »Stimmen« zum Nürnberger Prozess
»aus der Sicht mehrerer Jahrzehnte« angekündigt werden und dann
der bereits 1949 verstorbene Gustav Radbruch ausführlich nach
einer Ausgabe von 1990 ohne entsprechenden Hinweis zitiert wird,
ist dies peinlich und symptomatisch zugleich (S. 31 f.).
Das Buch ist über lange Strecken collagiert. Es enthält unnötige
Exkurse und ist stellenweise überlang, aufzählend bis geschwätzig.
Dafür fehlen aber gelegentlich eigentlich nötige Erläuterungen für
den Leser. Als Dokument gilt alles, ob ellenlange Passagen aus Zeitungen, aus Akten oder Literatur von Forschern oder Publizisten. Bisweilen fehlen Übergänge ganz. Oft fehlen eigene Interpretation oder
eigenes Urteil. Dies wird teils durch Dritte in Form von ausführlichen
Zitaten ersetzt. So wird etwa ein Zeitungskommentar-Zitat durch ein
Zitat aus dem Buch von Norbert Frei kommentiert (S. 196). Frei ist
im Übrigen der mit Abstand am meisten zitierte Autor. Es fällt auf,
wie neben wissenschaftlichen auf die Erwähnung von moralischen
Autoritäten Wert gelegt wird. Auch wird selbst moralisiert. So hätten
durch die Nürnberger Prozesse deutsche Anwälte viel Geld verdient
(S. 44) oder im Falle Schmidt und Genossen ein US-Anwalt (S. 184).
Nach Erwähnung angeblicher Misshandlungen Schmidts wird ausgeführt, dass das Ob und Wie letztlich unerheblich sei, weil dies nichts
an den Verbrechen ändere, »für die die Inhaftierten schließlich zur
Rechenschaft gezogen worden sind« (S. 124). Sollen NS-Verbrecher
weniger Rechte haben als andere Straftäter?
Man fragt sich, ob ein derartiges Buch überhaupt rezensiert
werden sollte. Ein Grund dafür ist, dass es per Druckkostenzuschuss
aus auch öffentlichen Geldern quasi geadelt wurde. Vor diesem Hintergrund wirft die Rezension ein grelles Licht darauf, dass Qualitätsmaßstäbe offenbar bei Veröffentlichungen zur Nazizeit kaum
mehr eine Rolle spielen.
Volker Rieß
Ludwigsburg
Rezensionen
Das antisemitische Jahr 1968
Hans-Christian Dahlmann
Antisemitismus in Polen 1968.
Interaktionen zwischen Partei und
Gesellschaft
Osnabrück: Fibre Verlag, 2013,
430 S., € 36,–
Das Jahr 1968 ist in Polen nicht mit revolutionären Ereignissen verbunden, sondern mit
einer antisemitischen Kampagne sondergleichen, die damit endete,
dass die letzten polnischen Juden das Land verließen. Sie hatten sich
zumeist assimiliert, so mancher von ihnen gehörte der kommunistischen Partei an. Der Autor der vorliegenden Studie schildert eingangs die Situation der überlebenden Juden gleich nach dem Krieg
in Volkspolen. Bis 1949 erfreuten sie sich recht großer Freiheiten,
sodass einige Historiker für diese Zeit »sogar von einer jüdischen
Nationautonomie« (S. 58) sprechen. 1950 wurden alle jüdischen
Parteien und Organisationen gleichgeschaltet. Erst der Oktober 1956
brachte mit seinem VIII. Plenum wieder einige Öffnungen, aber
gleichzeitig wurde nach den Verantwortlichen für die sogenannten
stalinistischen Repressalien gefragt. Es wurde populär, Juden dafür
verantwortlich zu machen, da sie unter den leitenden Personen des
Sicherheitsapparats »überpräsentiert« waren. Innerhalb der Partei
entstand ein »rechter Flügel« unter der Führung von Mieczysław
Moczar, der nach dem Sechstagekrieg 1967 besonders aktiv in der
Verbreitung und Unterstützung des Antisemitismus war. Im März
1968 traten antisemitische Kräfte offen zutage. Die fatale Rolle,
die hierbei der Erste Parteisekretär Władysław Gomułka spielte,
versucht Dahlmann psychologisch herunterzuspielen. Er sei »in Wut
geraten« (S. 91). Auch dessen Haltung im März/April 1968 versucht
er mit großem Verständnis zu schildern. Er habe gleichsam nur um
den Erhalt seiner Position gekämpft.
Den größten Teil seines Buches widmet Dahlmann einzelnen
Personen, die entweder Opfer der antisemitischen Kampagne geworden waren oder zu deren Akteuren gehörten, wobei es ihm gelang, Zeitzeugen bzw. ihre Verwandten zu interviewen und eine
Menge Archivmaterialien aufzufinden. Hochinteressant sind die
beiden Fallstudien zum Kernforschungsinstitut und zum Institut für
Physik an der Warschauer Universität. Im ersten wurden führende
Wissenschaftler jüdischer Herkunft und solche, die gegen die antisemitische Hetze protestierten, entlassen. Unter ihnen befand sich auch
der Leiter einer wichtigen Abteilung, den Dahlmann als Bronisław
B. vorstellt. Jeder, der einigermaßen die neueste Geschichte Polens
und die der Physik kennt, weiß, dass es sich um Bronisław Buras
Einsicht 15 Frühjahr 2016
(1915–1994) handelt, der später in Dänemark forschte. Dahlmann
weist darauf hin, dass das Institut für Physik an der Warschauer
Universität Buras in Schutz nahm. Hier wäre hinzuzufügen, dass
die antisemitische Kampagne an der Warschauer Universität von
Fakultät zu Fakultät unterschiedlich verlief.
In den weiteren Kapiteln behandelt der Autor den Verlauf der
Kampagne, die Reaktion der jüdischen Polen, wie es um die Akzeptanz und Ablehnung des Antisemitismus in der Gesellschaft aussah
und dass es auch nichtjüdische Opfer gab.
Im Schlusskapitel versucht Dahlmann zu unterstreichen, dass
die Kampagne nicht zentral gesteuert war oder gar, dass sie nicht
»von der Arbeiterpartei ausgegangen« sei, sondern vielmehr von
»bestimmten Kräften in der Partei« (S. 204). Es klingt ein wenig
so, als wolle er Gomułka und seine Mannschaft in Schutz nehmen.
Mit dieser These widerspricht Dahlmann zum Teil seinen eigenen
Forschungsergebnissen. Die Kampagne verlief hierbei in der Provinz
viel unauffälliger, auch wenn sich die lokalen Parteifunktionäre
bemühten, eine entsprechende »Unterstützung« zu organisieren,
etwa indem in den Betrieben unter Parteiobhut Kundgebungen mit
antisemitischen und antiisraelischen Parolen veranstaltet wurden.
Interessant sind in diesem Kontext Dahlmanns Verweise auf die
Rolle der neuen Medien: In den Gegenden, in denen nur wenige
Haushalte über einen Fernseher verfügten, ließ sich die antijüdische
Hetze in dem Ausmaß, das sie in Warschau und auf zentraler Ebene annahm, nicht beobachten. Mit feinfühliger Intuition dafür, wie
Monopolparteien in autoritären Systemen agieren, spricht Dahlmann
von dem Generationenkonflikt zwischen den alten Kadern einerseits,
die noch ideologisch gesinnt waren und dabei oft für den Stalinismus Verantwortung trugen, und den jungen »hungrigen Wölfen«
andererseits, die auf Posten und Beförderung auf Kosten der alten
Funktionäre jüdischer Herkunft hofften. Eine solche Dynamik und
solche Triebkräfte gehören jedoch durchaus zu der »Arbeiterpartei«,
um den Begriff von Dahlmann noch einmal zu wiederholen.
Es ist die Krux des Historikers, dass er das Material, das er
mit großem Aufwand zusammenträgt – zumal Dahlmann nicht nur
in Archiven tätig war, sondern auch viele Personen befragte, Oral
History betrieb –, verallgemeinern muss oder sich zumindest dazu
berufen fühlt. Die Studie beeindruckt durch die Auswertung von
Quellen verschiedenster Art sowie durch die äußerst sorgfältige und
detaillierte Schilderung der Ereignisse, von den inneren Spannungen
in der Partei bis hin zu den Studentenstreiks.
Monika Tokarzewska
Toruń
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Wem gehört Auschwitz?
Imke Hansen
»Nie wieder Auschwitz!«
Die Entstehung eines Symbols und der
Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955
Göttingen: Wallstein Verlag, 2015,
312 S., € 34,90
Schon kurz nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau im Januar 1945 begann die
turbulente und wechselhafte Geschichte von Auschwitz als Mahn-,
Gedenk- und Pilgerstätte, als Museum, als Ort politischer Repräsentation und nicht zuletzt als Austragungsort heftiger Kontroversen
um die Deutung der jüngeren Vergangenheit. Der Historikerin Imke
Hansen, die mit ihrer Arbeit die erste Dekade dieser Geschichte
untersucht, gelingt eine anschauliche, lebendige und vielschichtige
Darstellung der Auseinandersetzungen, die die Etablierung der Gedenkstätte begleiteten. Zwar gehört die Arbeit in den Kontext der
»Memory Studies«, die Autorin grenzt sich jedoch von den verbreiteten, kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheoremen ab, die, wie sie
anmerkt, zur Homogenisierung und Hierarchisierung ihres Gegenstands neigen. In Hansens Fokus steht weniger die Geschichts- oder
Erinnerungspolitik »von oben« als die Vielzahl unterschiedlicher
Akteure – von Politikern und Journalisten bis zu den ehemaligen
Häftlingen, den Mitarbeitern und Besuchern der Gedenkstätte –,
die auf ihre Weise die Geschichte des Ortes prägten. Zur Frage danach, welche Geschichtsdeutungen und -repräsentationen sich in den
Auseinandersetzungen um den symbolisch hoch aufgeladenen Ort
gegenüberstanden, gehört für Hansen auch der mikrologische Blick
auf den Alltag der Gedenkstätte und auf die Interaktion zwischen
Mitarbeitern und Besuchern.
Bis 1950 war die Geschichte der Gedenkstätte geprägt von einer erstaunlichen Pluralität, vom Nebeneinander unterschiedlicher
Akteure und Konzepte, von divergierenden Deutungen und Erzählungen, die friedlich zu koexistieren schienen. Narrative Grundbestandteile waren das polnische Martyrium, die Hervorhebung der
Polen als Opfer, Widerstand und Heldenmut im Kampf gegen die
Deutschen. Religiöse, nationalistische und kommunistische Deutungen fanden nebeneinander Platz und konnten ineinander übergehen.
Viele grundlegende Fragen über Arbeitsweise und Ziele einer KZGedenkstätte wurden bereits in den ersten Jahren diskutiert. Das
Schicksal der Juden lief dagegen Gefahr, zu einem Randaspekt der
Lagergeschichte gemacht zu werden; deutlicher Ausdruck dafür
war die Vernachlässigung des Geländes von Birkenau. Aber auch
76
hier gab es gegenläufige Tendenzen, die nicht nur von jüdischen
Verbänden ausgingen, sondern auch von einigen ehemaligen politischen Häftlingen.
Von 1950 an, mit der Konsolidierung der stalinistischen Herrschaft, wurde rigide in die Arbeit und Personalstruktur des Museums eingegriffen. Die »Jüdische Ausstellung« in Block 4 wurde um
1951 geschlossen, der ohnehin geringe Einfluss jüdischer Verbände
ausgeschaltet. Neue Ausstellungsteile verbreiteten politische Botschaften, ohne auf die Lagergeschichte auch nur Bezug zu nehmen.
Der Versuch, die ehemaligen Häftlinge als wichtigste Träger der
Gedenkstättenarbeit zu entmachten, gelang jedoch nur teilweise.
Vor allem von ihnen, die in Polen über beträchtliches »symbolisches
Kapital« verfügten, kam Widerstand gegen die »Stalinisierung« der
Gedenkstätte, wobei jedoch auch hier die Fronten nicht klar verliefen
und sich keinesfalls mit einer schlichten Gegenüberstellung von
Aufklärung und Ideologie beschreiben lassen.
Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den Behörden und den
ehemaligen politischen Häftlingen im Jahr 1953 läutete gleichzeitig
eine erneute Wende in der Geschichte der Gedenkstätte ein. Stalins
Tod und der Beginn der »Tauperiode« in Polen brachten auch für
das Museum erweiterte Handlungsspielräume und eine neue Leitung. Mit Billigung der Staatsführung wurde nun die »Internationalisierung« der Gedenkstätte forciert. Zum zehnten Jahrestag der
Befreiung wurde eine überarbeitete Dauerausstellung präsentiert,
die weniger auf Ideologisierung als auf Identifikation setzte und die
Besucher mit der Parole »Nie wieder Auschwitz!« entließ, als neuem
Imperativ, dem sich alle anschließen konnten.
Die Forschungsarbeit von Hansen, die politik- und alltagsgeschichtliche Perspektiven ebenso verknüpft wie Fragen der Narration
und Repräsentation, gewährt einen spannenden und facettenreichen
Einblick in die Geschichte von Museum und Gedenkstätte. Es gehört
zu den Stärken der Arbeit, dass sie zeigen kann, wie Positionen, die
gemeinhin als konträr gedacht werden – etwa nationalistische und
kommunistische Geschichtsinterpretationen – im Detail zerfließen,
ineinander übergehen, sich gegenseitig verstärken, solange einige
grundsätzliche Widersprüche ignoriert werden können. Die Analyse
der beständigen Marginalisierung des »jüdischen Auschwitz« in
der Gedenkstätte gerät dagegen etwas dünn. Wenn im Resümee die
fehlende Repräsentation von Juden als Opfern mit der zögerlichen
Intervention jüdischer Organisationen und vor allem mit den fehlenden jüdischen Mitarbeitern im Museum erklärt wird, zeigt sich
eine Schwäche des akteursbezogenen und alltagsgeschichtlichen
Ansatzes. Ohne eine systematische Einbeziehung etwa des Nachkriegs-Antisemitismus und der nationalen und antifaschistischen
Sprach- und Diskursregeln kann man diese irritierende Leerstelle
kaum zu fassen kriegen.
Geschichte als Puzzlespiel
Christiane Schubert, Wolfgang Templin
Dreizack und Roter Stern.
Geschichtspolitik und historisches
Gedächtnis in der Ukraine
Berlin: Metropol Verlag, 2015,
224 S., € 19,90
Katharina Stengel
Fritz Bauer Institut
Affirmative Bezüge auf das Nationenkonstrukt einer geeinten Ukraine, wozu scheinbar
naturwüchsig ein patriotisches Volk gehört, sind ein durchgängiges
Thema des Buches. Andere Kategorien, also Bezüge auf soziale
Fragen, Gender oder gar eine notwendige Auseinandersetzung mit
Rassismus, Antisemitismus oder der Ideologie des ukrainischen Faschismus, finden sich nicht. Das Buch lebt von schlichten dichotomischen Gegenüberstellungen eines als gut definierten Nationalismus
auf ukrainischer Seite, während derselbe auf russischer Seite als
imperial (S. 206) und aggressiv gegeißelt wird. Wenn das »patriotische Feuer« durch die »Dauer und Härte der Auseinandersetzungen
auf dem Majdan« (S. 204) angefacht worden sei, klingt hier ein sehr
heroisches Bild der Entstehung von Nationen an.
Die fragwürdigen Kategorisierungen setzen sich fort, wo es
um die Betrachtung der durch die stalinistische Politik ausgelösten
Hungerkatastrophe in der Ukraine geht und um den Holocaust. So
heißt es: »Das erschütterndste nationale Trauma der Ukrainer, der
Holodomor, hatte in den dreißiger Jahren nicht in allen Regionen
gewütet, nahm aber in den Erinnerungen zahlreicher Menschen einen
zentralen Platz ein« (S. 139). Ohne Frage war die Politik, die zum
Hungertod von Millionen von Menschen vor allem in den Jahren
1932/33 führte, verbrecherisch und hat das kollektive Gedächtnis
in der Ukraine geprägt. Die Frage ist jedoch, warum selbiges nicht
auch für den Holocaust konstatiert wird. Stattdessen werden die ermordeten Jüdinnen und Juden implizit aus dem nationalen Kollektiv
herausdefiniert, indem der Holocaust im Zusammenhang mit einem
»nationalen Trauma« nicht einmal genannt wird.
Problematisch ist auch die Beschreibung und Bewertung der
historischen Figur Stepan Banderas ebenso wie der Organisation
Ukrainischer Nationalisten (OUN). Was Schubert/Templin zum
Thema schreiben, ist verharmlosend, falsch und nicht belegt. »Ein
polnischer Biograf kommt der Realität wahrscheinlich nahe, wenn
er in Stepan Bandera einen galizischen Abenteurer und Terroristen
sieht […]« (S. 58), behaupten die Autoren unüberprüfbar, da, so
wird gleich im Vorwort dargelegt, aus »Gründen des Lesbarkeit« auf
Fußnoten und Anmerkungen verzichtet wird und auch nur die »wichtigsten« Arbeiten im Literatur- und Quellenverzeichnis aufgeführt
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
sind. Nicht nur ukrainische NationalistInnen stilisieren Bandera
zum Volkshelden, der doch vor allem für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft und allenfalls aus strategischen
Gründen mit den Nationalsozialisten kollaboriert habe, vor allem
in der Westukraine ist (und auf dem Majdan war) dieses Bild von
Bandera verbreitet. Erst die Kollaboration mit den Deutschen habe
dann zu seiner späteren Einstufung als Faschist beigetragen (S. 57),
behaupten Schubert/Templin und sehen großzügig darüber hinweg,
dass zur Einstufung Banderas als Faschist vor allem beitragen könnte, dass er als Anführer einer faschistischen Terrororganisation einen
ukrainischen faschistischen Staat nach Mussolinis Vorbild gründen wollte. Dass sich Bandera auf die Ideologie Dmytro Doncovs
berief, mache die Sache zusätzlich kompliziert, finden Schubert/
Templin, da dessen Schriften »radikalen Nationalismus, rassistische
und antisemitische Elemente« (S. 57) enthielten. Doncov, selbst kein
OUN-Mitglied, sah den ukrainischen Nationalismus als Teil der europäischen Faschismusbewegung. 1926 veröffentlichte er Auszüge
aus seiner ukrainischen Übersetzung von Hitlers Mein Kampf, 1932
seine Übersetzung von Mussolinis La Dottrina Del Fascismo.
Beim Thema Nationalsozialismus offenbaren sich Wissenslücken: Beispielsweise wurde Bandera aus dem KZ Sachsenhausen
nicht befreit (S. 63). Er wurde freigelassen. Das war 1944 und ist
allein deshalb zumindest bemerkenswert.
»Im Frühjahr 1913 wurden dem 68. Jubiläum des Sieges im
Großen Vaterländischen Krieg über 700 Sendestunden gewidmet«
(S. 181), so Schubert/Templin. Ein Lapsus, das kann passieren.
Sollte es aber nicht zu oft. Innerhalb einer Buchseite wird die UPA
einmal »Ukrainische Aufständische Armee«, einmal »ukrainische
Aufstandsarmee« ausgeschrieben.
Die Silbentrennung ist bei russischen und ukrainischen Namen
und Bezeichnungen grundsätzlich falsch. Diese Formfehler sind
Ausdruck einer Inkonsequenz, Ungenauigkeit und fehlender Wissenschaftlichkeit, die sich auch inhaltlich und terminologisch deutlich
zeigen. Als »Tag des Sieges« wird in Russland der 9. Mai gefeiert,
nicht der 8. Mai (S. 176).
Dass Svoboda ebenso wie der Rechte Sektor bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014 an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, kann
schwerlich als Indiz einer Demokratisierung der Ukraine gewertet
werden. Wahlergebnisse sind eben nicht der einzige Indikator für
rechte und rechtsextreme Tendenzen. Und: Wer eine extrem rechte
Kraft wählen wollte, hatte andere Möglichkeiten als Svoboda.
Lara Schultz und Ingolf Seidel
Berlin
77
Architektur der Vernichtungslager
Annika Wienert
Das Lager vorstellen. Die Architektur der
nationalsozialistischen Vernichtungslager
Berlin: Neofelis Verlag, 2015,
301 S., € 29,–
Die nationalsozialistischen Vernichtungslager in Bełżec, Sobibór und Treblinka waren
zwischen Frühjahr 1942 und Herbst 1943 Stätten der Ermordung
von mindestens 1,7 Millionen Menschen. Im Rahmen der von den
Nationalsozialisten so genannten »Aktion Reinhardt« wurden vor
allem Jüdinnen und Juden aus Polen, aber auch aus anderen von
den Deutschen besetzten Ländern und aus Deutschland in die Lager
verschleppt. Unter den Opfern waren auch Sinti und Roma. Nur etwa
140 Menschen überlebten ihre Deportation, wenn es ihnen, wie in
Sobibór und Treblinka nach Aufständen gegen die Lagerbesatzungen, gelang zu fliehen. Die Täter beseitigten die materiellen Spuren
der Massenmorde nahezu vollständig. Die Bauten der Lager wurden
abgetragen, die Leichen der Ermordeten verbrannt und ihre Asche
verstreut. Die Lagergelände wurden umgenutzt. Zeugenschaft der
Verbrechen ist daher nur bruchstückhaft überliefert. Annika Wienert
widmet sich in ihrer Dissertation einem dieser Bruchstücke: der
Architektur der drei Vernichtungslager.
Aus Forschungsliteratur und Quellenbeständen zu den Lagern
arbeitet die Autorin deren Baugeschichte heraus. Sie weist auf Details und Kontingenzen in der Entwicklung der einzelnen Lager hin
und kann dabei die in der bisherigen Forschung aufgestellten Hypothesen mit Erkenntnissen aus dem von ihr untersuchten Material
ergänzen. So veranschaulicht sie, welchen Stellenwert Architektur im Bestreben der Lagerbesatzungen einnimmt, ihr alltägliches
Mordhandwerk zu normalisieren. Wienert erarbeitet mit Kategorien
der Architekturtheorie und der Urbanistik eine Typologie der Architektur der Vernichtungslager. Damit fordert sie diese Disziplinen
dazu auf, die Geschichte der Architektur in Bezug auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen fortzuschreiben und die gebaute
Materialität der Vernichtungslager weitergehend zu erforschen. Als
Untersuchungsmaterial zieht Wienert insbesondere bildliche Quellen
heran, die in insgesamt 70 Abbildungen in der Studie abgedruckt
sind. Neben Fotoalben der Täter beschäftigt sie sich eingehend mit
Zeichnungen der Lager, die von Überlebenden angefertigt wurden.
Den Erinnerungen der Überlebenden schreibt die Autorin eine besondere Evidenz zu, da Baupläne der Todeslager nicht überliefert sind.
Sie behandelt die Zeichnungen erstmals als eigenständige Quellen.
78
Mit dem durch den Stadtforscher David Lynch entwickelten Konzept
der Mental Map untersucht sie darin, wie die gebaute Materialität
der Lager von den Überlebenden wahrgenommen wurde.
Anhand ihrer Studie zeigt Wienert auch auf, wie historisches
Wissen und medial vermittelte Bilder zu den Vernichtungslagern sich
wechselseitig beeinflussen. Dazu stellt sie künstlerische Arbeiten vor,
die explizit die Architektur der Vernichtungslager thematisieren, und
zeigt anhand der Forschungsliteratur und den Bildproduktionen von
Gedenkstätten auf, wie Vorstellungen zu diesen Lagern überwiegend von Motiven anderer nationalsozialistischer Lager dominiert
werden. Ein markantes Motiv in den visuellen Darstellungen der
Vernichtungslager ist der Stacheldraht der Umzäunungen der Lager.
Mit diesem Motiv werde, so Wienert, jedoch weder die bauliche
Gestalt der Umzäunung, die von denen anderer Konzentrationslager
stark abwich, noch das Geschehen im Lager wiedergegeben. Damit
lasse sich das Lager nur als Gefangenschaft symbolisieren. Der
Massenmord in Gaskammern und an Erschießungsstätten entziehe
sich dagegen einer eigenständigen visuellen Repräsentation.
Diesem Umstand gegenüber fasst der Titel der Studie Das Lager
vorstellen zwei Ansprüche der Autorin zusammen. Zwar markiere
der Tod in den Gaskammern einen radikalen Bruch darin, was vorstellbar ist, doch gerade deshalb gelte es entgegen der Rede von der
Unvorstellbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen, den Zeugnissen der Überlebenden in ihrer Detailliertheit Aufmerksamkeit zu
geben. Zweitens stellt sie ihre Studie gegen Vereindeutigungen in
den Darstellungen der Vernichtungslager. Wichtig ist für Wienert, am
Begriff des Lagers festzuhalten. Einerseits, um damit auf konkrete
Orte und konkrete Täterschaften zu verweisen. Andererseits wendet
sie sich damit auch dagegen, die Geschichte des kleinen Teils der
Opfer, die nicht unmittelbar nach ihrer Deportation ermordet wurden, sondern zunächst zur Mitarbeit am Mordprozess gezwungen
wurden, zu verdrängen: »Nicht zuletzt zeigt der Begriff [des Lagers]
an, dass die Opfer keinesfalls direkt in den Gaskammern starben,
sondern im Lager beraubt wurden, Zwangsarbeit leisten mussten
und misshandelt und gequält wurden.« (S. 16)
Die große Leistung von Annika Wienert besteht zuletzt auch
darin, dass sie – neben ihrem Beitrag zu einer Grundlagenforschung
zur Architektur der Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« – mit
ihrer spezifischen Perspektive neue Fragestellungen für Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen
skizziert.
Martin Mauch
Frankfurt am Main
Rezensionen
Spurensuche –
Eine Jüdische Familiengeschichte
Lorenz S. Beckhardt
Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine
deutsche Familie
Berlin: Aufbau Verlag, 2014,
480 S., € 24,95
Lange wusste Lorenz Schlomo Beckhardt
nichts über seine jüdische Familiengeschichte. Dies war insofern erstaunlich, als das gesamte Dorf, in
dem er 1961 geboren und aufgewachsen war, – das idyllische Sonnenberg bei Wiesbaden – »darüber« Bescheid wusste. Seine Eltern
betreiben ein kleines Lebensmittelgeschäft. Obwohl es in dem Dorf
eigentlich eine Monopolstellung hat, bleibt ein Teil der freundlichen
Sonnenberger der deutschen Losung »Kauft nicht bei Juden!« treu.
Erst als seine Eltern den Laden 1977 verkaufen, betreten diese Sonnenberger wieder das Geschäft.
Auch über die Fluchtgeschichte seines Vaters nach England
wusste der junge Lorenz nichts. Er wusste nur, dass sein Vater lange
in England gelebt hatte. Dorthin gelangt war er als jüdisches Flüchtlingskind. Beckhardts Eltern waren Kaufleute, über ihre schmerzhafte Biografie als Kinder von Verfolgten sprachen sie nicht gerne.
In umfänglicher Weise zeichnet der Wissenschaftsjournalist
Beckhardt seine jüdische Familiengeschichte nach. Sein Großvater
Fritz gehörte als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg zu den höchstdekorierten deutschen Soldaten. Für den Enkel anfangs verstörend war
ein Foto, auf dem sein Großvater in einem Doppeldecker saß; auf
dessen Rumpf prangte ein großes Hakenkreuz. Für seinen Großvater
war dies ein persönliches Glückssymbol. Er verstand sich durch und
durch als deutscher Jude.
Zu den Anfängen von Beckhardts familiärer Spurensuche: 1972
schicken seine Eltern ihn in ein katholisches Internat in Bonn. Der
junge Jude geht regelmäßig in den Gottesdienst, wird Messdiener.
Dann, Ende der 1970er Jahre, der politische Aufbruch, der Protest:
»Schulterlange hennarote Locken, ein Palästinensertuch um den
Hals« (S. 451). Er fühlt sich als Linker, übernimmt als 20-Jähriger
auch die antisemitischen – sich irrtümlich als »internationalistisch«
gerierenden – Überzeugungen eines nicht unbeträchtlichen Teils der
Linken. Als ihn seine Familie zu einem Besuch zu Verwandten nach
Israel schickt, lässt der junge »Revolutionär« vernehmen, dass er die
Politik Israels ablehne: »›Ihr habt nichts aus der Geschichte gelernt‹,
schimpfe ich. ›Die Nazis haben euch unterdrückt. Jetzt macht ihr
Einsicht 15 Frühjahr 2016
das Gleiche mit den Palästinensern.‹« (S. 456) Und doch war er
mit großer Freude am Ben-Gurion-Flughafen empfangen worden.
Das Bemühen von Lorenz, seinen israelischen Verwandten zu
beweisen, dass junge deutsche Linke wirklich nichts über ihre Geschichte wissen, bleibt nicht ohne Folgen: Was sollten seine Verwandten mit ihm anfangen? Ob er nichts über das Schicksal seiner
Familie wisse? Nein, davon hatte er wirklich keine Ahnung.
Wenig später möchte Lorenz den Kriegsdienst verweigern. Zu seinem ungläubigen Erstaunen klärt ihn ein Verwandter darüber auf, dass
er doch Jude sei – und als Nachkomme von jüdischen Verfolgten nicht
zur Bundeswehr müsse. Diese Erfahrung wird, viele Jahre später, zum
Ausgangspunkt einer schmerzhaften Forschung zur Familienbiografie.
Bei einem Besuch in einem Antiquariat in Israel übergab man
ihm ein Buch über deutsch-jüdische Fliegerhelden, auf dem ein
Kampfflugzeug abgebildet war. Geschmückt war es mit einem überdimensionalen Hakenkreuz. Ausführlich porträtiert wurde in diesem
Werk Lorenz’ Großvater Fritz, der aus dem Ersten Weltkrieg als der
höchstdekorierte Jude zurückkehrte. Lange lebte er in der Illusion,
dass er als jüdischer Pilot geschützt sei.
1950 kehrt Fritz Beckhardt gemeinsam mit seiner Frau Rosa
Emma und seinem 23-jährigen Sohn wieder nach Deutschland zurück, aus innerer Überzeugung. Er hatte zwei Jahre Untersuchungshaft und das KZ Buchenwald überlebt. Fritz und Emma waren nach
Portugal, 1941 nach England emigriert. 1950 dann die Rückkehr in
das Heimatdorf.
Immer wieder zeigen ihnen die Dorfbewohner, dass sie unerwünscht sind. Die erneute Begegnung mit den von ihnen vertriebenen Juden weckt in ihnen Schuldgefühle. Dies lassen sie die
Rückkehrer spüren. Nach mehrjährigen Prozessen erhält Fritz einen
Teil seines »arisierten« Vermögens zurück. Die quälenden Prozesse
um die »Wiedergutmachung« haben aber seine Gesundheit zerstört.
Die Liebe zu Deutschland hat ihn blind gemacht. Auf Fotos und
in den Beschreibungen erleben wir einen zunehmend verzweifelnden, schwer traumatisierten Menschen: »Bis zum 8. Mai 945 galten
Juden in den Augen der ›arischen‹ Mehrheit ausnahmslos als reich.
Tags darauf mussten sie beweisen, jemals etwas besessen zu haben.«
(S. 368) Gegen Ende seines Lebens erkennt Fritz die ablehnende
Haltung eines Teils der deutschen Bevölkerung und der deutschen
Behörden. 1962 stirbt er, verbittert, nach mehreren Schlaganfällen.
Dem Anfang wohnt das Ende inne: Beckhardt beginnt seine Spurensuche mit der Szene seiner – sehr verspäteten – Beschneidung:
Im Alter von 45 Jahren möchte er seinen ihm früher verwehrten
jüdischen Namen tragen, sich auch öffentlich zu seinem Judentum
bekennen: »Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an«, lautet der erste
Satz seines Buches. Beckhardt hat ein eindringliches, auch bestürzendes Buch vorgelegt.
Roland Kaufhold
Köln
79
Einheit und Pluralität des Zionismus
Samuel Salzborn (Hrsg.)
Zionismus. Theorien des jüdischen Staates
Baden-Baden: Nomos Verlag, 2015,
211 S., € 39,–
Die Publikationsreihe »Staatsverständnisse«
(Nomos Verlag) verfolgt das Ziel, klassische Theoretiker und neuzeitliche Ideen des Staates vorzustellen.
Im vergangenen Jahr erschien, herausgegeben von dem Göttinger
Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, der mittlerweile 76. Band
der Reihe. Er widmet sich dem Zionismus.
Die dort versammelten Beiträge sollen vor allem, so betont
Salzborn einleitend, »die Pluralität in der Diskussion um den jüdischen Staat sichtbar machen« und anhand politischer, kultureller
und religiöser Dimensionen nicht nur »die Verbindung zu anderen Überlegungen der staatstheoretischen Diskussion« aufzeigen,
sondern auch die »Spezifik des Zionismus« (S. 9) herausstellen.
Entsprechend porträtieren die Beiträge zwar einschlägig bekannte,
doch aber in vielerlei Hinsicht divergierende Vordenker und Protagonisten des Zionismus. Volker Weiß etwa erinnert in seinem Aufsatz
an Moses Hess, den »Pionier einer revolutionären zionistischen
Idee«, und dessen »Vision eines demokratischen und sozialistischen
Judenstaates« (S. 32), während Kay Schweigemann-Greve Martin
Bubers politisch-theologisches Ideal eines libertärsozialistischen
»Königtums Gottes« (S. 167) darstellt.
Solche unterschiedlichen Vorstellungen über die staatliche Verfassung des zu errichtenden Judenstaates mögen in die staatstheoretische Diskussion überhaupt integrierbar sein und können »oft
als allgemeine Folien hinter die Etablierung politischer Systeme
gelegt werden […], ohne direkt auf ein konkretes politisches System
anwendbar zu sein«. (S. 9) Die Diskussionen über den Zionismus
korrelieren indes unmittelbar auch mit der Errichtung des Staates
Israel und verknüpfen auf einzigartige Weise philosophische Theorie
und politische Praxis. Carsten Schliwski betont entsprechend, dass
etwa Leon Pinskers Idee einer säkularen jüdischen Nation und der
daran geknüpften Forderung nach »Autoemancipation« zwar »eine eher unbedeutende Episode in der Geschichte des Zionismus«
darstelle, dennoch »unabdingbar für den Zionismus seit Herzl sein
sollte« (S. 50).
Der zum »wichtigsten Symbol des Zionismus« (S. 90) stilisierte
Theodor Herzl, führt Andrea Livnat in ihrem Beitrag aus, sei indes
kein großer Theoretiker gewesen: »Es sind seine Taten, die in die
80
Geschichte eingingen« (S. 75). So mag sich dessen Staatstheorie
zwar zwischen Utopie und Pragmatismus bewegen, von Bedeutung
ist aber die Schaffung eines organisatorischen Rahmens, der der
pluralen zionistischen Bewegung, »trotz der Konflikte zwischen den
unterschiedlichen Parteien, die Möglichkeit eröffnete, als politischer
Akteur aufzutreten«. Auch Chaim Weizmann sei vor allem aufgrund
seiner pragmatischen Politik zu einer der bedeutenden Figuren des
Zionismus geworden. Evyatar Friesel legt dar, dass zwar zunehmend
auch Weizmanns ideologische Rolle Anerkennung findet. Seine Idee
des »synthetischen Zionismus« habe für Flexibilität im zionistischen
Lager gestanden, sei aber selbst pragmatisch motiviert: »Das wahre
Leben zwang die Zionisten (und später die Israelis) zum Kompromiss, zum Mittelweg, zur politischen Moderation.« (S. 152)
Die einzigartige Spezifik des Zionismus ist darüber hinaus auch
durch ein negatives Moment gekennzeichnet. Maßgeblichen Zionisten ging es »nicht um die Erneuerung jüdischer Identität, sondern
um die Rettung vor dem Antisemitismus« (S. 83). Entsprechend
seien antisemitische Eskalationen für zionistische Pioniere als »Erweckungserlebnis« zu deuten: bei Moses Hess die Ausschreitungen
von Damaskus 1840, bei Pinsker die Pogrome 1881/82 in Russland
und bei Herzl die Dreyfus-Affäre. Mit Eduard Bernstein findet daher
auch einer der führenden Sozialdemokraten der Jahrhundertwende
Einzug in den Sammelband, obwohl er selbst sich niemals als Zionisten verstand. Er begriff aber »die jüdische Nationalbewegung als
nachvollziehbare und unterstützenswerte Reaktion auf den immer
aggressiver werdenden Antisemitismus« (S. 53). Sebastian Voigt
illustriert Bernsteins prozionististische Haltung aus dessen Pragmatismus heraus und urteilt, dass er »mit seiner revisionistischen
Position […] an der gesellschaftlichen Realität näher dran [war] als
seine dogmatischen, theoriefixierten Parteigenossen« (S. 72).
Pragmatische Erwägungen spielen für den religiösen Zionismus und sein bis heute vorhandenes Mobilisierungspotential indes
eine untergeordnete Rolle. Steffen Hagemann skizziert die in der
lurianischen Kabbala fundierte Interpretation des Messianismus
durch Abraham Isaak Kook und betont die darin angelegte aktivistische Dimension. Die »eschatologischen Heilserwartungen der
passiven, quietistischen Orthodoxie« würden »in ein aktivistisches
Programm der Besiedelung des Landes gewendet werden« (S. 134).
Salzborn gilt es aber nicht als Widerspruch, dass die pragmatischen
Erwägungen zur Abwehr des Antisemitismus sich bisweilen mit
religiösen oder kulturellen Motiven in restaurativen wie erneuernden
Bestrebungen um das Selbstverständnis jüdischer Identität in der
Moderne kombinieren. Er konstatiert: »Gerade die Kombination
aus politischen und religiösen Motiven zeigt, dass Israel zu Recht
als Staat sui generis gilt, also als einziger und besonderer Staat, der
durch sich selbst eine eigenständige Klassifizierung bildet.« (S. 10)
Insideranalysen eines Außenseiters
Alfred Sohn-Rethel
Die deutsche Wirtschaftspolitik im
Übergang zum Nazifaschismus.
Analysen 1932–1948
Hrsg. von Carl Freytag und Oliver
Schlaudt.
Freiburg: ça ira Verlag, 2015,
510 S., € 26,–
Nico Bobka
Frankfurt am Main
Obgleich einige der hier versammelten Schriften in Deutschland
bei Suhrkamp (1973) und Wagenbach (1992), in England (1987)
und Italien (1978), den Niederlanden (1975) und Dänemark (1975)
veröffentlicht wurden, gerieten sie in Vergessenheit. Mit dem vorliegenden zweiten Band der Schriften Alfred Sohn-Rethels machen die
Herausgeber nicht nur die Texte der beiden vergriffenen deutschen
Ausgaben zugänglich, sondern veröffentlichen die erste Edition aller
seiner Arbeiten zur politischen Ökonomie des Nationalsozialismus.
Neben einem einleitenden Aufsatz Freytags zum biographischen
Kontext und zur Rezeption der Schriften zeichnet sich die Ausgabe
durch eine sorgfältige Kommentierung der einzelnen Texte, deren
Nachweis, ein Glossar und ein Personenregister aus. Zu bemängeln
ist lediglich das Fehlen einer Beurteilung der Analysen Sohn-Rethels
vom gegenwärtigen Forschungsstand aus.
Diese verdienen nach wie vor in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit. Zuallererst aufgrund der Bedingungen ihrer Entstehung, die
in der Einleitung Freytags und in Erinnerungen Sohn-Rethels dargestellt werden. Sohn-Rethels Analysen beruhen auf den Beobachtungen, die er während seiner von 1931 bis 1936 währenden Arbeit
in Institutionen im Umfeld des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags
(MWT) gemacht hat: von 1931 bis 1934 als wissenschaftliche Hilfskraft beim MWT, von 1934 bis 1935 als Sekretär des Deutschen
Orient-Vereins und 1935 als Geschäftsführer der Ägyptischen Handelskammer für Deutschland. Auf diesen Stationen erhielt er als
marxistischer Intellektueller in Camouflage Einblicke in die Arbeit
des MWT, die sonst nur den wirtschaftlichen und politischen Eliten
vorbehalten waren. Diese Informationen über die Vermittlungsbemühungen des MWT, die auf den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der neuen technischen und chemischen Industriekonzerne und denjenigen der Schwerindustrie und der Großagrarier
zielten, gab er im Rahmen seiner illegalen politischen Arbeit an
kommunistische Untergrundgruppen weiter. Um sein geringes Gehalt aufzubessern, verfasste er in dieser Zeit zusätzlich Analysen
zur deutschen Wirtschaftspolitik in Mittel- und Südosteuropa, die
er in Publikationsorganen des MWT, den Deutschen Führerbriefen
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
und dem Deutschen Volkswirt veröffentlichte. An die Sprache der
Abnehmer angepasste Schreibarbeiten aus der Perspektive des deutschen Kapitals, die die erste Werkgruppe des Bandes ausmachen.
Eine dieser Arbeiten, eine Klassenanalyse mit dem Titel »Die
soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus«, die er im September
1932 gemäß den Richtlinien der Führerbriefe anonym veröffentlichte, sorgte in der kommunistischen Bewegung für Aufsehen. Dieser
spielte er den Aufsatz anonym zu, um sie vor der für die Rekonsolidierung des Kapitalismus notwendige und den Interessen der
wirtschaftlichen Eliten entsprechende Spaltung der Arbeiterklasse
durch SPD und NSDAP zu warnen und sie zu einer konsequenten
revolutionären Praxis zu bewegen. Tatsächlich wurde der Aufsatz
von der kommunistischen Presse aufgegriffen und als sensationelle Insiderenthüllung der politischen Strategie des Kapitals für die
Agitation benutzt. Erst 1970, als der Text im Kursbuch wieder veröffentlicht wurde, bekannte sich Sohn-Rethel zu seinem Coup, was
für Anfeindungen von Seiten derjenigen Marxisten sorgte, die den
Text weiterhin als ein Hauptbeweisstück für die Agententheorie
behandeln wollten (S. 24 f.).
Die auf Georgi Dimitrow zurückgehende Theorie, der zufolge
die Nationalsozialisten bloß terroristische Agenten der besonders
reaktionären, imperialistischen Teile des Kapitals gewesen seien,
bildete lange Zeit das Dogma der sowjettreuen Faschismusanalysen.
So wie Sohn-Rethel überhaupt mit seiner intellektuellen Arbeit einen
eigenwilligen Weg verfolgte und Zeit seines Lebens Außenseiter
blieb, so widersetzen sich auch seine Analysen des Verhältnisses
von Politik und Ökonomie im Nationalsozialismus der damals
vorherrschenden marxistischen Dogmatik und der fortwährenden
interessierten Apologetik, die keinen Zusammenhang zwischen
kapitalistischer Produktionsweise und faschistischer Krisenlösung
erkennen will. Diese Arbeiten, die die zweite Werkgruppe des Bandes bilden, verfasste Sohn-Rethel im Exil, angesichts der drohenden Verhaftung war er 1936 geflohen. Auf der Grundlage seiner im
MWT gewonnenen Erkenntnisse bemüht er sich um Analysen der
Struktur, der Konflikte und der Dynamik der politischen Ökonomie
des Nationalsozialismus. Mit klarem Blick analysiert er die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und
innerhalb der NSDAP und kommt 1938 zu einer Einschätzung des
Verhältnisses zwischen Partei und wirtschaftlicher Elite, die zugleich
eine implizite Kritik der Agententheorie ist: »Die Faschistenpartei ist
der Knecht der Bourgeoisie, aber nur in dem Verhältnis, daß sie über
ihrer Bourgeoisie im Sattel sitzt und diese mit Sporen und Kandare
ihre eigenen Bahnen reitet.« (S. 332)
Jérôme Seeburger
Leipzig
81
Ende der Zeugenschaft
Peter Huth (Hrsg.)
Die letzten Zeugen. Der AuschwitzProzess von Lüneburg 2015.
Eine Dokumentation
Hrsg. von Peter Huth unter Mitarbeit von
Philipp Heinemann, Kai Feldhaus, Laura
Gehrmann, Torsten Hasse, Anne Losensky,
Axel Sturm und Anja Wieberneit, mit
einem Nachwort von Hans-Christian Jasch.
Stuttgart: Reclam Verlag, 2015,
277 S., € 12,95
Selten schreiben Justizjuristen Rechtsgeschichte. Selten auch haben
sie den Horizont, rechtsvergleichend zurückzublicken und die herrschende Rechtsprechung kritisch zu untersuchen.
2008 initiierte Thomas Walther, der sich wenige Jahre vor seinem Ausscheiden aus dem Justizdienst an die Zentrale Stelle der
Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg hatte versetzen lassen, Vorermittlungen
im Fall John Demjanjuk. Der in Israel beinahe einer Personenverwechslung zum Opfer gefallene einstige ukrainische Hilfswillige
war nicht »Iwan der Schreckliche« des Vernichtungslagers Treblinka. Doch Demjanjuk war Trawniki-Mann im Todeslager Sobibór
gewesen. Sobibór war der bundesdeutschen Justiz nicht unbekannt.
1965/66 hatte das Landgericht (LG) Hagen gegen 12 SS-Angehörige
des Lagers verhandelt und war zu dem Urteil gelangt, dass das Vernichtungsgeschehen in der Mordstätte als eine Tat, als natürliche
Handlungseinheit im Rechtssinne zu betrachten sei. Mitgewirkt an
der Ermordung der ins Lager deportierten Juden hatten alle Mitglieder der SS-Besatzung, gleichviel, welche Tätigkeiten sie ausgeübt
hatten. Die Rechtsauffassung war nicht neu. Bereits im Chełmno/
Kulmhof-Prozess 1962/63 vor dem LG Bonn und im TreblinkaProzess 1964/65 vor dem LG Düsseldorf betrachteten die Gerichte
den Massenmord in diesen Lagern als ein einheitliches Geschehen,
als eine Handlung.
Walther, durch seine Arbeit in Ludwigsburg und durch ihre Folgen fraglos zur historischen Gestalt geworden, fragte sich, warum ein
Wachmann nicht ebenso wie ein vom LG Hagen verurteilter SobibórBuchhalter Beihilfe zum Mord geleistet habe. Indem er sich auf eine
Rechtsauffassung besann, die in den 1960er Jahren Anwendung
gefunden hatte und auch vom Bundegerichtshof bestätigt worden
war, erweckte er die Zentrale Stelle aus ihrem Tiefschlaf. Man erinnerte sich zum Beispiel an eine Aufstellung von mehr als 4.000 SSAngehörigen von Auschwitz, die die Frankfurter Staatsanwaltschaft
82
erarbeitet hatte. Nunmehr ging die Vorermittlungsstelle nicht mehr
nur den vormals allein verfolgten »unerträglichen Fällen« nach, sondern ermittelte gegen jedes »Rädchen« der Vernichtungsmaschinerie.
Ein jüngstes Ergebnis des Erwachens der Strafjustiz in Sachen
NS-Verbrechen, der Aufgabe einer verheerenden Justizpraxis, ist
der Lüneburger Prozess gegen Oskar Gröning gewesen. Der Angeklagte hatte in der »Häftlingseigentumsverwaltung« gearbeitet,
Hab und Gut der Deportierten sortiert und zum Wohle des deutschen
Volkes ins Reich versandt. Mitte 2015 verurteilte das LG Lüneburg Gröning wegen »Beihilfe zum Mord in dreihunderttausend
rechtlich zusammentreffenden Fällen« zu einer Freiheitsstrafe von
vier Jahren. Journalisten der Berliner Tageszeitung B.Z. haben das
Verfahren verfolgt und seinen Verlauf dokumentiert. Ihr Anspruch
war, »genau das aufzuschreiben, was im Prozess gesagt wurde –
unkommentiert, unbewertet und ungewichtet« (S. 7). Für die Prozessberichterstattung in der Zeitung mag diese Methode genügen,
nicht aber für eine Buchpublikation, selbst dann, wenn einer der
Journalisten die Berichte anhand anderer Quellen ergänzt hat. Statt
des Nachwortes des Historikers Hans-Christian Jasch, das nicht
frei von Unrichtigkeiten ist, hätte eine umfangreiche Einleitung die
Geschichte sowohl von Auschwitz als auch der Auschwitz-Prozesse
darstellen müssen. Auf der Grundlage der bereitgestellten Informationen hätten Leserinnen und Leser sodann die Berichterstattung über
den durchaus außergewöhnlichen Prozess nachvollziehen können.
Die protokollierten Zeugenaussagen bedürfen der Kommentierung.
Unklare Angaben über Lagerabschnitte in Birkenau werden nicht
verdeutlicht, unvollständige Häftlingsnummern (S. 45) nicht ergänzt,
rätselhafte Aussagen (S. 125) nicht richtiggestellt. Die Herausgeber begnügen sich mit gerade mal 19 Anmerkungen (S. 255–257).
Wichtig wäre auch gewesen, die spezifische Rolle der Zeugen zu
klären, die keine »Tatzeugen« im herkömmlichen Sinne mehr waren,
kein »Beweismittel«, dessen Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit
hinsichtlich der bekundeten Tatvorwürfe vom Gericht nach Recht
und Gesetz geprüft worden wäre. Dieser bemerkenswerte Wandel der
Opferzeugen vom Tat- zum Erinnerungszeugen, die als Überlebende
und gar als Nachgeborene (die Zeuginnen Judith und Ilona Kalman
sowie Henriette Beck) vom erlittenen Leid und vom Trauma des
Lebens nach dem Überleben zu erzählen wissen, hätte in dem Buch
reflektiert werden müssen.
Ein Vergleich mit den milden Strafen im Frankfurter Auschwitz-Prozess für Gehilfen, die direkt und konkret im Sommer 1944
an der »Abwicklung« von Transporten beteiligt gewesen waren,
hätte zudem ein Licht auf das im Vorwort zu Recht angeprangerte
»Versagen der deutschen Justiz« (S. 7) geworfen. Die unterlassene
Kontextualisierung der Dokumentation des Gröning-Prozesses mindert den Wert des ansonsten wichtigen und verdienstvollen Buches.
Nicht vergessen und nicht vergeben
Ursula Wamser, Wilfried Weinke
(Hrsg.)
»Ich kann nicht vergessen und nicht
vergeben«.
Festschrift für Lucille Eichengreen
Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2015,
175 S., € 15,–
Werner Renz
Fritz Bauer Institut
Am 1. Februar 2015 wurde Lucille Eichengreen 90 Jahre alt. Wäre es nach den Nationalsozialisten gegangen, hätte sie dieses Alter nicht erreicht. Sie
hat ein Getto und mehrere Lager überlebt. Als Cecilie Landau in
Hamburg geboren, wurde sie im Herbst 1941 gemeinsam mit ihrer
Mutter und ihrer Schwester in das Getto von Litzmannstadt/Łódź
verschleppt. Ihre Mutter starb im Sommer 1942 völlig entkräftet im
Getto, ihre Schwester wurde wenig später während der dramatischen
Tage im September 1942, die die Gettobewohner »Sperre« nannten,
ins Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof deportiert und dort in Gaswagen ermordet. Ihren Vater hatten die Nationalsozialisten bereits
früher im Konzentrationslager Dachau getötet.
Zum runden Geburtstag im letzten Jahr haben zwei langjährige Freunde Lucille Eichengreens aus Hamburg, Ursula Wamser
und Wilfried Weinke, ihr zu Ehren eine Festschrift herausgegeben.
Freunde, Wissenschaftler und Gedenkstättenleiter, Politiker, Journalisten und Lehrer sind es etwa, die hier über Eichengreen und ihre
Begegnungen mit ihr schreiben. Reaktionen von Schülerinnen und
Schülern auf Gespräche mit ihr sind abgedruckt. Vorworte zu ihren
Büchern finden sich ebenso im Band wie Texte von Eichengreen
selbst.
Lucille Eichengreen hat in einem Interview gesagt – und dieses Zitat gibt dem Band seinen Titel: »Ich kann nicht vergessen
und nicht vergeben.« In einer ihrer Reden, die in der Festschrift
abgedruckt sind, erklärt sie: »Ich bin in den letzten Jahren nach Lesungen aus meinen Büchern wiederholt gefragt worden, warum ich
so unversöhnlich sei. Zurückgefragt: Ist es wirklich unverständlich,
dass mir Versöhnen oder gar Verzeihen so schwer fällt, da mir die
liebsten Angehörigen auf menschenverachtende Weise genommen
wurden? Ich spreche heute zu Ihnen als einzige Überlebende meiner
Familie.« (S. 146)
Sie kommt seit Jahren immer wieder nach Deutschland, redet
vor Schulklassen und Studierenden über das Furchtbare, das sie
erlebt hat; ich selbst traf sie zum ersten Mal in Łódź, als sie einer
Gruppe von Studierenden aus Gießen vor Ort vom Getto berichtete.
Mehrere Bücher über das Erlebte hat sie, die im Getto im Archiv die
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Sekretärin Oskar Singers war und die uns Forscherinnen und Forschern daher so viele Informationen über die Arbeit in diesem Archiv
geben konnte, geschrieben. Sascha Feuchert, einer der Herausgeber
der Lodzer Gettochronik, beschreibt in der Festschrift Eichengreens
wichtige Rolle bei den Arbeiten an dieser Edition.1
Sie sagt und schreibt auch Unbequemes, redet nicht einer oberflächlichen Gedenkkultur nach dem Mund. Habbo Knoch merkt
darüber im vorliegenden Band an: »Sie spricht kontrolliert, nicht
emotional, sie bezeugt, sie malt nicht. Sie verweigert sich damit
medialen Konventionen des Umgangs mit dem Holocaust, gerade
indem und wie sie darüber spricht. Ihre nicht zu verfehlende Sperrigkeit ist nicht nur Ausdruck einer tiefen Unversöhnlichkeit, weil
ihr falsche Läuterung der Täter und ihrer Nachkommen zuwider ist,
sondern auch ein Medium, um die Distanz zwischen ihren Zuhörern
und ihrem vergangenen Erleben des Geschehens aufrechtzuerhalten.« (S. 54 f.)
Es ist ein sehr persönliches Buch, herausgegeben von zwei
Nachgeborenen, die aber in ihrem einleitenden Text schreiben: »Wir
kennen Lucille schon seit ihrer Schulzeit«. Wer wissen möchte, wie
dies gemeint ist, der möge in diese schöne Festschrift hineinschauen.
Dort abgedruckt ist auch Lucille Eichengreens Rede zur Vorstellung
der Lodzer Gettochronik in Gießen am 15. November 2007. Die
Rede, in der sie davon spricht, dass die Chronik Teil ihres Lebens
und sie selbst ein Teil der Chronik sei, hat mich damals sehr bewegt.
Hoffentlich findet sie jetzt noch viele neue Leser.
Andrea Löw
München
1 Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941–1944 [Bd. 1–4], Supplemente
und Anhang [Bd. 5], hrsg. von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried und Jörg
Riecke, Göttingen 2007.
83
Zur Topographie der Shoah in Wien
Dieter J. Hecht, Eleonore LappinEppel, Michaela Raggam-Blesch
Topographie der Shoah. Gedächtnisorte
des zerstörten jüdischen Wien
Wien: Mandelbaum Verlag, 2015, 380 S.,
Abb., € 29,90
»Wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl
schon im Gepäck mitgebracht«, schrieb
Ruth Klüger, Überlebende mehrerer Lager in ihrer Autobiographie
weiter leben über die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Sie weist
damit darauf hin, dass die Verknüpfung von historischen Geschehnissen mit konkreten Gebäuden oder Arealen eine eigene Erfahrung
oder Wissen voraussetzt. Das »Hier war es« von Erinnerungszeichen
und -inschriften, mit denen mittlerweile zahlreiche Ereignisorte im
öffentlichen Raum markiert sind, zeugt zwar von einer Sichtbarkeit
der Informationen und des Erinnerns, doch bedeutet es immer auch
Reduktionen, Auswahl und Auslassungen.
Der Publikation Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des
zerstörten jüdischen Wien gelingt der Versuch, den städtischen Raum
von Wien mit den Erzählungen und Dokumenten zur nahezu vollständigen Auslöschung ihrer jüdischen Gemeinde in den Jahren
1938 bis 1945 zu verknüpfen. Wer die Veröffentlichung in die Hand
nimmt, ahnt bereits vor dem ersten Blick in das Buch aufgrund des
Gewichts und Umfangs einerseits, dass hier ein detaillierter Blick auf
die jüdische Geschichte der Stadt und ihre zahlreichen Orte gewährt
wird, andererseits aber auch etwas über das Ausmaß und die Auswirkungen der Ereignisse selbst. Dabei ist, und das betonen die Autor-/
innen in ihrem Nachwort, auch diese historische Erzählung von
einer Auswahl bestimmt, indem »einzelne Aspekte der Verfolgungsund Überlebensgeschichte an exemplarischen Orten festgemacht«
(S. 549) werden, die als »Zentren des Geschehens« (ebd.) oder als
»paradigmatische Orte« (S. 550) herausgestellt werden. Wien hatte
vor 1938 mit mehr als 167.000 Mitgliedern die drittgrößte jüdische
Gemeinde in Europa, rund zwei Drittel von ihnen gelang (zunächst)
die Flucht, mehrheitlich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Von
denjenigen, die in der Stadt blieben, wurden die meisten ermordet.
Im Dezember 1945 gaben in ganz Österreich 3.955 Menschen an,
jüdisch zu sein.
Die Autor-/innen widmen sich in ihren Darstellungen konsequent der Sicht der Wiener Juden/Jüdinnen. Die Grundlage bilden
dabei neben Aktenbeständen und Archivmaterial autobiographische
Texte und Briefe der Verfolgten sowie Interviews mit Überlebenden.
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So werden die Ereignisse sowohl als Überblick als auch aus der
Sicht von Individuen dargestellt, die konkret mit den antijüdischen
Maßnahmen und Verfolgungen konfrontiert waren und Strategien
für ein Leben und Überleben angesichts dieser Bedrohungen zu
entwickeln versuchten. Dabei entschieden sich die Autor-/innen
für eine chronologische Ordnung ihrer Kapitel, beginnend mit dem
»Anschluss«-Pogrom im März 1938 bis zu den Deportationen in die
deutschen Vernichtungsstätten in Osteuropa und dem Überleben in
der Stadt und bildeten dabei wiederum thematische Schwerpunkte
aus, so zur jüdischen Zwangsarbeit oder zu »Sammelwohnungen«.
Sie beleuchten so eine Vielzahl von bekannten und bisher unbekannten Aspekten mit Blick auf den öffentlichen und privaten Raum der
Stadt. Besonders deutlich werden dabei die Veränderungen in der
Nutzung und Bedeutung, die die Räume infolge der antijüdischen
Maßnahmen erfahren haben. Um nur drei Beispiele aus den detailreichen Schilderungen hier anzuführen: Der Westbahnhof im XV. Bezirk, für die nichtjüdische Wiener Bevölkerung weiterhin ein Ort des
täglichen Nah- und Fernverkehrs, wurde sowohl zu einem Ort nationalsozialistischer Machtdemonstrationen als auch der Deportationen
in die Konzentrationslager und Vernichtungsstätten sowie Ausgangspunkt für die (zunächst rettende) Emigration (S. 222 ff.). Jüdische
Einrichtungen unterlagen zahlreichen Funktionswandeln; so diente
eine Talmud-Thora-Schule in der Malzgasse 2 des II. Bezirks ab dem
20. November 1939 als Altersheim, nach seiner Auflösung im Juni
1942 als Sammellager für Deportationstransporte und ab November
1942 als jüdisches Spital (S. 246), und die großen unbelegten Areale
der neu eingerichteten jüdischen Abteilung auf dem Zentralfriedhof
(4. Tor) wurden ab Juli 1940 von der Israelitischen Kultusgemeinde
zur Durchführung von Sommerkursen für Kinder und Jugendliche
sowie zum Anbau von Obst und Gemüse zur Versorgung von Krankenhäusern und Altenheimen genutzt (S. 309 ff.).
Der Band zeigt eindrücklich, wie die Entrechtung, Verfolgung
und Deportation den öffentlichen und privaten Raum immer weiter
beschränkten und einengten – Erzählungen und Erkenntnisse, denen
die wenigen materiellen Erinnerungsorte im städtischen Raum kaum
gerecht werden können.
Es wäre den Autor-/innen zu wünschen, dass zum einen in den
kommenden Jahren die Forschungen zu Wien weitergeführt werden
und so das Gedächtnis der Stadt immer weiter verfeinert wird und
zum zweiten, dass neben Büchern weitere Medien hinzugezogen
werden, die helfen, die Verknüpfung von Ort und Erinnerung/Information auch im öffentlichen Raum sicht- und nachvollziehbarer
zu gestalten.
Alexandra Klei
Berlin
Rezensionen
Kommunalpolitik als Basis
demokratischen Handelns
Helga Krohn
Bruno Asch – Sozialist.
Kommunalpolitiker. Deutscher Jude.
1890–1940
Frankfurt am Main: Brandes und Apsel
Verlag, 2015, 277 S., € 19,90
Bruno Asch war in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren ein herausragender
Kommunalpolitiker und Finanzfachmann. Seine politische Karriere
begann in Höchst am Main, wo er zunächst als hauptamtlicher Stadtrat für die SPD, 1923 bis 1925 als Bürgermeister der Stadt tätig war.
Im Anschluss wurde er zum Stadtkämmerer der Stadt Frankfurt am
Main gewählt und wechselte 1931 nach Berlin, wo er dasselbe Amt
bekleidete. Seine Beliebtheit und öffentliche Bekanntheit in den
Jahren der Weimarer Republik waren außerordentlich. In Höchst
hatte er die schwierige Aufgabe, die Interessen der Stadt gegenüber
der französischen Besatzungsmacht (1918–1930) zu vertreten. Als
Frankfurter Stadtkämmerer war Asch gemeinsam mit Oberbürgermeister Ludwig Landmann (1924–1933) und dem Siedlungsdezernenten Ernst May (1925–1930) einer der Vertreter des »Neuen
Frankfurt«, das die städtische Selbstverwaltung als ein wesentliches
Moment in der neuen Weimarer Demokratie sah. Der Wohnungsbau
auf gemeinwirtschaftlicher Grundlage wurde für Frankfurt ein zentrales Thema der Kommunalpolitik. In Berlin trat Asch an, um in
Zeiten größter wirtschaftlicher Not die katastrophale Haushaltslage
der Stadt zu konsolidieren. Sein Ruf als Finanzexperte war ausgezeichnet, als Vertreter der SPD hatte er viele politische Freunde und
Bewunderer; seine innovativen und risikofreudigen Ideen riefen aber
auch Kritiker und Gegner auf den Plan. Umso erstaunlicher ist es,
dass bisher keine Biographie zu dieser herausragenden politischen
Persönlichkeit existierte.
Diese Lücke schließt Helga Krohn nun mit einem ungewöhnlichen Buch. Es gibt keinen umfangreichen Nachlass von Bruno
Asch. Der Sozialist und Jude floh 1933 in die Niederlande, um seiner
Verhaftung zu entgehen. Seine Familie folgte ihm ins Exil. Nach dem
Einmarsch der deutschen Truppen in den Niederlanden sah Asch für
sich keine Hoffnung mehr und nahm sich das Leben. Seine Frau und
zwei seiner Töchter wurden 1943 im Vernichtungslager Sobibór
ermordet. Lediglich eine Tochter war bereits 1939 nach Palästina
emigriert und überlebte die Shoah. In ihrem Besitz befanden sich
ein Tagebuch, das Bruno Asch sporadisch seit 1922 führte, und ein
stattliches Konvolut von rund 900 Briefen, die Asch seiner Frau
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Margarete vor allem während seiner Abwesenheit als Soldat im
Ersten Weltkrieg schrieb. Diese Unterlagen hatte Margarete Asch
zusammen mit wenigen anderen persönlichen Gegenständen vor
ihrer eigenen Deportation in einem Koffer im Heizungskeller des
Wohnhauses versteckt. Ein Freund der ebenfalls deportierten Tochter
Ruth wusste davon und informierte nach 1945 die einzige Überlebende der Familie, Mirjam. Die Originale liegen heute in den Central
Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Krohn
wertete die Quellen aus und schuf eine sehr gut lesbare Mischung
aus Briefedition und Biographie, anhand der es gelingt, sich von der
Person Aschs ein anschauliches Bild zu machen.
Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den Briefen. Mit den
Augen des 24-jährigen Bruno Asch wird man in den Alltag eines
Soldaten eingeführt, der, in relativer Sicherheit in einem Telegraphen-Bataillon hinter der Ostfront eingesetzt, vor allem eines im
Übermaß zu haben scheint: Zeit. Der lern- und wissbegierige Asch
schreibt mindestens jeden zweiten, wenn nicht jeden Tag an seine
Frau, liest sehr viel, unter anderem Zeitungen, die sie ihm schickt.
In seinen verschiedenen Einsatzorten kommt er direkt mit der jüdischen Bevölkerung in Kontakt, sieht das Leid vieler Juden, die
in den Städten durch den Krieg ihre ganze Habe verlieren, und er
nähert sich dem Zionismus an. Auch die antisemitische Stimmung
in der Truppe nimmt er sensibel wahr. Zum ersten Mal denkt er
über seine eigene Haltung zum Judentum nach und fragt sich und
Margarete, welche Rolle das Jüdischsein in der Erziehung ihrer zukünftigen Kinder haben solle. Im Juli 1917 sieht er in Bresk den zu
Friedensverhandlungen angereisten Kaiser. Trotz Aschs anfänglicher
Zustimmung zum Krieg bedauert er zutiefst, welche Grausamkeiten
eine ganze Generation erleben muss. Lange vor Kriegsende solidarisiert er sich mit den demokratischen Kräften in Deutschland und
wünscht sich einen raschen Verständigungsfrieden mit Russland, um
eine Friedensgesellschaft aufzubauen. Im November 1918 wird er
Vorsitzender des »Großen Soldatenrats Kowno« und macht es sich
zur Aufgabe, einen geregelten Abzug der Truppen zu organisieren.
Politisch schloss er sich nach der Novemberrevolution der USPD an.
Die Zusammenstellung aus Briefen, Tagebuchnotizen und Veröffentlichungen Aschs zeugen von einer Intensität des Gesprächs
zwischen den Eheleuten, das die Besonderheit der Situation widerspiegelt: Asch war sich bewusst, dass sie in einer Umbruchphase
leben, die sie selbst mitgestalten können. Seine Briefe zeigen einerseits seine Sensibilität gegenüber den realen Problemen der Zeit,
andererseits seine Überzeugung, die Probleme der Menschen mit
einer systematischen Neuordnung lösen zu können. Seine Ansichten
waren dabei nie ideologisch, sondern am Menschen orientiert. Das
machte ihn zu einem der großen Politiker dieser Epoche.
Katharina Rauschenberger
Fritz Bauer Institut
85
Bildungsarbeit an Museen und
Gedenkstätten
Der vorliegende Sammelband diskutiert in 23 Artikeln Selbstverständnis, Rahmenbedingungen, inhaltliche und methodische Zugänge
sowie Perspektiven der Bildungsarbeit an Orten der NS-Geschichte.
Er richtet sich an Mitarbeitende von Gedenkstätten sowie schulische
und außerschulische Lehrkräfte, die mit Gruppen Gedenkstätten
besuchen. Diese Gedenkstätten unterscheiden sich in Thematik und
Funktion, abhängig jeweils vom konkreten Ort, in Größe, Ausstattung, pädagogischen Angeboten und Besucherzahlen. Sie sind Orte
historischer Relikte, Täterorte, Friedhöfe, Denkmäler und Bildungseinrichtungen. Besuchenden soll es ermöglicht werden, »an dem
historischen Gegenstand über Geschichte (zu) lernen und Themen
(zu) entdecken«, die für sie in der Gegenwart von Bedeutung sind,
formuliert Gottfried Kößler das zentrale Anliegen. Das pädagogische
Ziel ist es, »die Fähigkeit zur autonomen Meinungsbildung« (S. 78)
zu entwickeln sowie, so Christa Schikorra, zu dieser Geschichte eine
Haltung zu gewinnen, sich »zu positionieren« (S. 13).
Cornelia Siebeck beschreibt die Entwicklungsgeschichte der
Gedenkstätten in der BRD, kurz selbiges auch für die DDR und Österreich. Demnach wandelten sich die westdeutschen Gedenkstätten
von ehemals »widerborstigen Orten«, die an die NS-Verbrechen und
ihre Opfer, dann auch an die Täter/-innen erinnern, hin zu etablierten, staatlich getragenen Einrichtungen – deren jetzt systemstabilisierende Kernaussage laute, verbrecherische Systeme erfolgreich
überwunden und das »deutsche Streben nach Freiheit und Einheit«
(S. 42) eingelöst zu haben. Zu ergänzen wären diese Überlegungen
meines Erachtens um die Perspektiven der vielen kleinen, nicht von
der Bundesregierung gestützten Gedenkstätten, die finanziell nicht
so gut ausgestattet und häufig von ehrenamtlichem Engagement
getragen sind und möglicherweise auch über etwas andere Blickwinkel verfügen.
Das Verhältnis von Gedenkstättenpädagogik und schulischen
Bildungsanforderungen diskutiert Robert Sigel. Schule sei starken
Veränderungen unterworfen, unter anderem hin zum kompetenzorientierten Unterricht anstelle klar definierter Lerninhalte, mit wiederum sehr unterschiedlicher Ausgestaltung in den Bundesländern. »Für
die Gedenkstätten bedeutet die curriculare Entwicklung, dass sie mit
einem verbindlichen Grundlagenwissen beim Besuch von Schulklassen immer weniger rechnen können.« (S. 47) Die Konsequenz seien
erhöhte Anforderungen an die fachliche Kompetenz und Flexibilität
im konkreten pädagogischen Setting für die Gedenkstättenpädagog/
-innen – verstärkt noch durch die zunehmende Heterogenität der
Schulgruppen.
Die Anforderungen an Gedenkstättenarbeit im Rahmen einer
heterogenen, zudem auf Inklusion orientierten Gesellschaft debattiert
Elke Gryglewski. Sie erläutert, welche Impulse und manchmal auch
Irrwege, zum Beispiel einer unbeabsichtigten Re-Ethnisierung von
Jugendlichen, auf diesem Weg in die konkrete Praxis gelangt sind,
angefangen von pädagogischen Konzepten bis zur Gestaltung von
Orten und Materialien. Als konkretes Beispiel benennt sie unter
anderem die Einführung von Einstiegssequenzen, die persönliche
Zugänge zur Geschichte ermöglichen. Kritisch verweist sie auf die
immer noch mangelnde heterogene Zusammensetzung des pädagogischen Personals.
Die Frage der Kompetenzorientierung behandelt Wolfgang Meseth. Orientierung an (schulischen) Kompetenzmodellen bei der
Vermittlung von NS-Geschichte in Gedenkstätten ist seines Erachtens nicht zielführend, da die NS-Verbrechen auch bei Jugendlichen
mit moralischen Erwartungen und Beurteilungen besetzt seien, die
ein sachliches Gespräch über die moralischen Implikationen des
Themas erschwerten. Außerdem handele es sich bei Gedenkstättenbesuchen anders als in der Schule um ein offenes Lernsetting
mit situativen Aushandlungsprozessen. Meseth argumentiert mit
zwei bildungspolitischen Polen: einerseits eine bildungstheoretisch
orientierte Pädagogik, die das »je spezifische Verhältnis von Sache
und Person (Schüler/Teilnehmerin) immer wieder neu in den Blick
nimmt«, und andererseits eine Output-orientierte Pädagogik mit dem
Ansatz, »Lernsequenzen ergebnisbezogen zu organisieren«. (S. 106)
Gottfried Kößler befasst sich mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Museen und Gedenkstätten. Der Unterschied sei
primär, dass Gedenkstätten die Erinnerung an Unrecht und Leid
bewahren und didaktisch umsetzen möchten, auch im Sinne des
Appells an politische Werthaltungen. Museen hingegen sollen im
gegenwärtigen Verständnis neben der Pflege von Sammlungen (im
Sinne der Bewahrung eines kulturellen Erbes) eine »erfreuliche, eine
bildende Erfahrung vermitteln« (S. 69) und bewegten sich in der
Nähe zu den Künsten und ihrer Autonomie – Objekte im Museum
seien danach nicht nur Belege für historische Ereignisse, sondern
hätten ein eigenes Recht. Die Gemeinsamkeit der Institutionen bestehe in der »Faszination des Authentischen«, der Spannung von
»sinnlicher Nähe und historischer Fremdheit, dem Ineinander von
zeitlich Gegenwärtigem und geschichtlich Anderem« (S. 73).
Mehrere Autor/-innen befassen sich mit dem wieder häufiger
diskutierten Beutelsbacher Konsens1, zum Beispiel mit dem Spannungsfeld zwischen Orientierung auf Ermächtigung der Adressat/
-innen einerseits und realer Zwangsbespielung im Rahmen von
Schulklassenbesuchen andererseits; ein Dilemma, das sich wohl nie
lösen, allenfalls aushalten und so konstruktiv wie möglich gestalten
lasse. Reflektiert wird ferner das Überwältigungsverbot: Nach Lore
Kleiber können die in Gedenkstätten erläuterten Verbrechen bei
Besuchenden Emotionen wie Erschütterung und Empörung auslösen. Das Überwältigungsverbot, so verdeutlichen Wolf Kaiser und
Kuno Rinke, zielt in diesen Settings allerdings nicht, wie teilweise
interpretiert, auf emotionslose Wahrnehmung und damit auf die
Verhinderung von Emotionen, sondern »auf die Vermeidung eines
manipulativen Einsatzes von Emotionen« (S. 51).
Die Autor/-innen des Sammelbandes befassen sich fast ausschließlich mit mehrstündigen Gedenkstättenbesuchen. Einzig
Julius Scharnetzky behandelt das pädagogische »Basisangebot«
der Gedenkstätten, das am meisten nachgefragt wird: die zwei- bis
dreistündige Führung (oft auch als – geführter – Rundgang bezeichnet). Zwar sei der Aufwand seitens der Gedenkstätten hierfür
eher gering, doch müssten die Pädagog/-innen über »große Spontanität, Flexibilität und Variantenreichtum« (S. 241) verfügen, um
den unterschiedlichen Gruppen, der Spezifik des Ortes und den
eigenen inhaltlichen und pädagogischen Ansprüchen gerecht zu
werden. Angesichts dieser Ausgangslage sei es verblüffend, dass
die Gedenkstättenpädagogik ihr Basisangebot so vernachlässige
– wohl, weil eine Führung als die am wenigsten partizipative Methode gilt und entsprechend unbeliebt in der Reflexion ist. Doch
gebe es eine wachsende Anzahl von Führungsformaten, die offene
und aktivierende Lernformen integrieren, zum Beispiel »Selbstführungen«, »Fotospaziergänge«, »Schüler führen Schüler«
(S. 243). Im Weiteren formuliert der Autor Kriterien für »gute
Führungen und Rundgänge« (S. 244) und plädiert schließlich dafür, die Potenziale von Führungen stärker in den Blick zu nehmen
und weiterzuentwickeln.
Der Sammelband diskutiert eine Vielzahl weiterer Themen:
Gedenken als zivilisatorische Praxis, Demokratielernen und
Menschenrechtsbildung, Einflüsse von und Wechselwirkungen
mit internationalen Diskursen, das Phänomen der historischen
Vergleichsziehung, Angebote zur Recherche und Reflexion von
Familiengeschichte, die Rolle der Bundeszentrale für politische
Bildung, die Bedeutung regionaler Gedenkstätten. Schließlich
werden einzelne methodische Herangehensweisen erläutert, so
86
Rezensionen
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Elke Gryglewski, Verena Haug,
Gottfried Kößler, Thomas Lutz,
Christa Schikorra (Hrsg.)
Gedenkstättenpädagogik –
Kontext, Theorie und Praxis der
Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen
Herausgegeben im Auftrag der
AG Gedenkstättenpädagogik.
Berlin: Metropol Verlag, 2015,
363 S., € 22,–
1
Der Beutelsbacher Konsens von 1976 formulierte für die politische Bildung
das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie eine Orientierung
auf die Ermächtigung der Adressat/-innen zu selbständigem Urteilen und
Handeln.
der Einsatz virtueller Medien oder digitalisierter Berichte von
Holocaust-Überlebenden, und spezifische pädagogische Angebote vorgestellt: Mehrtagesangebote, Kunstprojekte, Projekte der
internationalen Jugendbegegnung und berufsgruppenspezifische
Angebote.
In meiner Wahrnehmung sind sich die Autor/-innen des Sammelbandes in einem Punkt einig: Bei Gedenkstättenbesuchen handele es sich immer um eine soziale Interaktion der verschiedenen
Beteiligten, also von Besuchenden, ihren Begleiter/-innen und dem
oder der Gedenkstättenmitarbeiterin. Diese Interaktion und was
sie auf der Ebene von Lernen im Sinne der Erkenntnisgewinnung,
Wissensherstellung und Entwicklung politischer Haltung bewirkt,
ist, darauf weist Verena Haug hin, allerdings bislang wenig wissenschaftlich untersucht.
Mein Fazit lautet: Der Band ist anschaulich geschrieben und
gibt einen sehr guten Einblick in den gegenwärtigen Stand der Theoriediskussion und pädagogischen Praxis an Gedenkstätten zur NSGeschichte in Deutschland. Deutlich wird, dass die Gedenkstätten
über eine beeindruckende Vielfalt an unterschiedlichen Bildungsangeboten verfügen und dass die Bildungsarbeit im Zuge des gesellschaftlichen Wandels weitgehend erfolgreich professionalisiert
wurde – zumindest in den großen, finanziell gesicherten Gedenkstätten, die über eigene Bildungsabteilungen verfügen. Die inhaltlichen
und pädagogischen Anforderungen sind hoch und werden vermutlich eher noch wachsen: Zunehmende Diversität in Gruppenzusammensetzungen und Wissensbeständen sowie die Orientierung auf
inklusive Bildungspraxis erfordern neben viel Sachkompetenz vor
allem viel pädagogische Flexibilität und Freude an offener Kommunikation der Bildungspraktiker/-innen. Die Frage, was an diesen
Orten aus ihrer jeweiligen Geschichte für die Gegenwart gelernt
werden kann, und wie dieses Lernen zu gestalten ist, auch das zeigt
der Band eindrücklich, wird wohl immer wieder neu zu entdecken
und zu verhandeln sein.2
Kerstin Engelhardt
Berlin
2
Eine etwas ausführlichere Rezension findet sich in Politisches Lernen, Jg. 33
(2015), H. 3/4, S. 56–58.
87
Wieder scheitern, besser scheitern
Wolfgang Kaleck
Mit Recht gegen die Macht. Unser
weltweiter Kampf für die Menschenrechte
Berlin: Carl Hanser Verlag, 2015,
224 S., € 19,90
Wie schreibt man eine Rezension über ein
Buch, dessen Autor man kennt und schätzt?
Vielleicht indem man das zunächst offenlegt und dann seinen ersten
Eindruck, unmittelbar nach der ersten Lektüre notiert, wiedergibt.
Also: »Etwas weniger Narzissmus hätte es auch getan. Und dennoch,
das Engagement gegen Straflosigkeit bei schlimmstem Unrecht ist
beeindruckend. Es zeigt, was möglich ist, wenn man an ein Ziel
glaubt.«
Vor gut zwei Jahrzehnten, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, schien es, als könnten verbrecherische Staatsführer und
ihre Handlanger wieder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen
werden. Das Vermächtnis von Nürnberg war zwar in der Welt, aber es
war ein Präzedenzfall geblieben. Es verhinderte nicht, dass staatliche
Souveränität verbrecherisches Agieren von Staatsorganen deckte und
jeden ernsthaften Versuch der Ahndung vereitelte.
Das sollte sich jetzt ändern. Und von den internationalen Tribunalen zur Aburteilung der Kriegs- und Menschlichkeitsverbrecher im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermörder in Ruanda,
1993 respektive 1994 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
eingesetzt, führte folgerichtig der nächste Schritt zur Schaffung
eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, nun nicht mehr
durch den Sicherheitsrat, sondern infolge einer Anerkennung seiner
Jurisdiktionskompetenz durch einzelstaatliche Erklärungsakte. Am
1. Juli 2002 nahm der Gerichtshof seine Arbeit auf. Noch ist seine
Bilanz bescheiden, und vor allem: Er steht in großer Abhängigkeit
von Staaten, die seine Arbeit ablehnen. Sind deren Interessen nicht
betroffen, kann mit Eifer verfolgt und angeklagt werden, sind sie
betroffen, geschieht nichts, ganz so, als ob systematische und massive Menschenrechtsverletzungen noch wie ehedem durch Leugnen
oder durch ihre Umbenennung in Politik aus der Welt geschafft
werden könnten.
Doch der Gedanke an ein Recht, das den Mächtigen entgegentritt und den Schwachen beisteht, lässt sich nicht mehr einfach unterdrücken. Dazu hat er in der Vergangenheit einmal zu oft den Beweis
seines Gelingens angetreten. Aber es ist immer noch ein Kampf, und
zwar einer, der große Überzeugung sowie – das können wir uns nach
88
der Lektüre des lesenswerten Buchs von Wolfgang Kaleck mühelos
vorstellen – ausgeprägte Anfeindungsresistenz erfordert. Auch wenn
die Berichte über das weltweite Engagement des Autors leicht den
Eindruck entstehen lassen könnten, wir hätten es hier mit einem
Weltreisenden in Sachen Recht zu tun, dahinter steht der hartnäckige Versuch, Staaten, deren Organe und – da in ihrer Macht Staaten
oft nicht unähnlich – multinationale Konzerne an dem zu messen,
was deren Führer so leicht über die Lippen kommt: die Achtung
elementarer Menschenrechte, das Bekenntnis zum Völkerrecht und
die zugesicherte Strafverfolgung bei massiven Rechtsverstößen.
»Unser großes Ziel: Wir wollen dazu beitragen, weltweit Menschenrechte mit juristischen Instrumenten zu schützen und durchzusetzen«, schreibt Kaleck am Anfang seines Buchs (S. 10). Und
wenige Seiten weiter: »Uns geht es um einen systematischen Ansatz.
Darum, dass im internationalen Strafrecht mit zweierlei Maß gemessen wird« (S. 12), um daraus dann, gewissermaßen als Arbeitsauftrag
herzuleiten (S. 13): »Wenn aber nicht gleiches Recht für alle gilt,
entfällt der universale Geltungsanspruch dieser Gesetze.«
Bis es so weit war, dass aus dem individuellen Engagement
ein kollektives wurde, das extrem scheiteranfällige »ich« durch
ein »wir« eine Verstärkung erfuhr, war es ein weiter Weg. Von der
rheinländischen Provinz nach Berlin, von dort im Anschluss an ein
Jurastudium nach Lateinamerika, wieder zurück nach Deutschland,
die Chancen justizieller Aktionen erwägend, erneut und immer wieder zurück nach Lateinamerika, um dort, in enger Abstimmung mit
den Opfern und Überlebenden staatlicher Gewalt, konkrete Maßnahmen in Gang zu setzen, damit die Täter sich endlich vor Gericht
verantworten müssen.
Mord, Folter, die Praxis des Verschwindenlassens. Tausendfach. Im Vergleich dazu wirkt das Recht zunächst schwach, zumal
seine Schwäche ja durch den massenhaft straflosen Rechtsbruch
auf fatale Weise beglaubigt wurde. Mit Energie und der Solidarität
anderer gewinnt jedoch eine simple Rechtsnorm, die die Begehung
eines Mordes unter Strafe stellt, eine Stärke, die es mit dem Unrecht
aufzunehmen vermag. Das zeigt dieses Buch anschaulich an vielen
Beispielen. Nicht nur auf Lateinamerika bezogen, auch in anderen
Kontinenten wie Asien, Afrika und – Stichwort: Schulterschluss
der Politik oder Industrie mit verbrecherischen Regimes – Europa.
Dabei lässt uns der Autor teilnehmen an der Erweiterung seines
Horizonts, an seiner wachsenden Sensibilisierung für das Unrecht
und seinem Bemühen, institutionelle Allianzen zu schaffen gegen
die Straflosigkeit derer, die glauben, über dem Gesetz zu stehen.
Mittlerweile gibt es diese Allianzen und viele andere, die sich für
das gleiche Ziel einsetzen. Das Verdienst des Autors ist es, diese Entwicklung entscheidend gefördert zu haben. Narzissmus? Was soll’s!
Gerd Hankel
Hamburg
Rezensionen
Politik und Gedenkstätten
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Gedenkstätten und Geschichtspolitik
Beiträge zur Geschichte der
nationalsozialistischen Verfolgung in
Norddeutschland, Heft 16
Bremen: Edition Temmen, 2015,
201 S., € 14,90
Gedenkstätten sind in der Bundesrepublik zu einem zentralen Bezugspunkt von Geschichtspolitik geworden. Das ist ein Indiz für
ihren Erfolg und konfrontiert sie zugleich mit erheblichen Herausforderungen und Gefahren. Darum ging es 2013 auf einer Tagung in
der Gedenkstätte Ravensbrück, auf die die Hauptbeiträge des Bandes
zurückgehen, der auch Projektvorstellungen, Tagungsberichte und
Besprechungen enthält. Nach einem von Insa Eschebach und Oliver von Wrochem verfassten Editorial wird die Reihe der Aufsätze
durch einen Überblick zur Gedenkstättengeschichte in Deutschland
eröffnet, den Thomas Lutz mit Ausführungen zur Rückwirkung internationaler Debatten auf die deutschen Gedenkstätten verbunden
hat. Nach seiner Ansicht ist eine nationalstaatliche Eigenständigkeit
der Entwicklung wünschenswert. Sie werde durch die internationalen
Diskurse bereichert, aber durch den europäischen Totalitarismusdiskurs und die vom Autor als einheitliches Konzept vorgestellte
»Holocaust Education« auch gefährdet.
Auf der Grundlage einer kritischen Analyse der bundesdeutschen Erinnerungskultur und ihrer Wandlungen warnt Cornelia Siebeck die Gedenkstätten vor dem Verlust ihres Wirkungspotenzials
als Orte kritischer Selbstreflexion der Gesellschaft. Dieses gehe im
Zuge ihrer Institutionalisierung, Professionalisierung und Musealisierung verloren, wenn sie sich der ihnen zugewiesenen Funktion
nicht verweigerten, die geschichtsteleologische Läuterungserzählung
zu beglaubigen, die Erlösung durch Erinnerung verspricht.
Fabian Schwanzar bemüht sich um eine akteursorientierte Analyse der Gedenkstättenbewegung unter Einbeziehung der Reaktionen
und Aktionen von Politikern und Verwaltungen in den 1980er und
1990er Jahren. Seine Ausführungen werden an anderer Stelle des
Bandes durch eine Dokumentation der 2008/2009 geführten Auseinandersetzung um den Einsatz eines an der Bundeswehr-Universität
studierenden Offiziers als freier Mitarbeiter in der KZ-Gedenkstätte
Neuengamme ergänzt.
Carola S. Rudnick zeigt, wie die Gedenkstättenpolitik des Bundes und dessen Beteiligung an der dauerhaften Finanzierung von
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus im Zuge der
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Bemühungen entstand, die Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit zu fördern.
Caroline Pearce stellt die geschichtspolitischen Kontroversen
nach 1990 als Auseinandersetzung zwischen linksliberalen Anhängern eines »Prinzips der Hierarchisierung« (S. 62) und konservativen Befürwortern eines »Prinzips der Gleichsetzung« (S. 62) dar.
Dabei definiert sie allerdings nicht genau, was hier hierarchisiert
bzw. gleichgesetzt wird: das Leid der Opfer nationalsozialistischer
und kommunistischer Herrschaft oder die NS-Diktatur und die SEDDiktatur? An den von ihr gewählten Bespielen für die intendierte
Realisierung der genannten Prinzipien – dem Gedenkort in der Nachbarschaft von Fort Zinna in Torgau und der Gedenkstätte Sachsenhausen – wird deutlich, dass sich in beiden Fällen das »Prinzip der
Trennung« (S. 66) durchgesetzt hat.
Detlef Garbe konstatiert, dass Gedenkstätten in den letzten Jahrzehnten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur gerückt
seien, befürchtet aber, dass mit dem Erfolg praktische Folgenlosigkeit einhergehe. Dafür macht er neben politischen Entscheidungsträgern auch die Gedenkstätten selbst verantwortlich. Er kritisiert
»Aufarbeitungsstolz« (S. 78) in Gedenkreden von Politikern, aber
auch – ohne Beispiele zu nennen – Ausstellungen und Präsentationen, die das Verstörende der Orte zu sehr einebneten, und Vermittlungsformen, die zu wenig zum Fragen und Weiterdenken anregten.
Er wendet sich entschieden gegen die Gleichsetzung kommunistischer und nationalsozialistischer Herrschaft und zeigt am Beispiel
einer Publikation der Platform of European Memory and Conscience
den europaweiten Einfluss eines Geschichtsrevisionismus, der sich
von dem eines Ernst Nolte, der vor 30 Jahren den »Historikerstreit«
auslöste, durch ungeschützte Direktheit unterscheidet.
Verena Haug greift die Hervorhebung der Authentizität der Orte
in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes heraus, um daran ihre
Problematisierung der Zuschreibung von Authentizität zu knüpfen
und deren Bedeutung bei gedenkstättenpädagogischen Veranstaltungen zu analysieren.
Corinna Tomberger schließlich thematisiert, wie Gedenkstätten
im Streit um das Gedenken an verfolgte Homosexuelle als symbolpolitische Orte fungieren und geschichtspolitisch agieren. Sie
plädiert für die Sichtbarkeit weiblicher Homosexualität und größere
Transparenz bei gedenkpolitischen Entscheidungen.
Das informative Buch enthält kluge Analysen und viele praxisrelevante Überlegungen. Wiederholungen – etwa die häufige Bezugnahme auf die Gedenkstättenkonzeption des Bundes – sind in einem
solchen Sammelband vermutlich kaum zu vermeiden.
Wolf Kaiser
Berlin
89
FRITZ BAUER. DER STAATSANWALT – NS-VERBRECHEN VOR GERICHT
Anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt
sind folgende Publikationen in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut erschienen:
Ein schwarzes Heft voller Hoffnung
Edith Jacobson
Gefängnisaufzeichnungen
Hrsg. von Judith Kessler und
Roland Kaufhold.
Mit einem Vorwort von Hermann Simon.
Gießen: Psychosozial-Verlag, 2015,
247 S., € 29,90
Wirst du heute zu mir finden/holder, kleiner Sonnenstrahl/Freude
künden, Hoffnung zünden/Licht, das mir der Winter stahl?
»Sonnenzauber«, aus dem diese Verse der Psychoanalytikerin Edith
Jacobson (1897–1978) stammen, ist kein Naturgedicht, wie man annehmen könnte. Und das »kahle böse Dach«, unter dem das lyrische
Ich zur Sonne spricht, ist nichts anderes als die Berliner Untersuchungshaftanstalt Moabit, in der Jacobson von 1935 bis 1936 saß.
Zugänglich geworden ist uns dieses Gedicht – zusammen mit mehreren weiteren Texten – durch das in der Haft entstandene »Schwarze
Heft« Jacobsons. Veröffentlicht wurden diese »Gefängnisaufzeichnungen« erst 2015 dank dem außergewöhnlichen Engagement der
Journalisten und Sozialwissenschaftler Judith Kessler und Roland
Kaufhold und des Psychosozial-Verlags.
Judith Kessler, die das »Schwarze Heft« bereits 1988 mit dem
Nachlass ihrer Mutter erhalten hatte, berichtet über die »Verkettung
von Zufällen« (S. 13), die dazu führte, dass sie »ein Vierteljahrhundert auf Jacobsons Gefängnisnotizen saß« (S. 11). Roland Kaufhold
zeichnet kenntnisreich und ergreifend die Biografie der Jüdin, Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Jacobson nach.
Das Dilemma Wissenschaft oder Politik entscheidet Jacobson
für sich schnell: »Als ich jung war, habe ich mich für Politik nicht
interessiert. Mich interessierte einzig und allein die Wissenschaft
[…]. Aber dann, Ende der zwanziger Jahre, begann Hitlers Aufstieg,
und schon bald hatte er immer größere Massen hinter sich. Hier
lauerte eine Gefahr, das spürte ich. Ich hörte seine Reden und las
Mein Kampf, und ich war entsetzt.« (S. 52) Jacobson, deren Familie
nicht emigrieren wollte, schließt sich der Widerstandsgruppe »Neu
Beginnen« an. Am 24. Oktober 1935 von der Gestapo verhaftet, muss
sie für elf Monate in Untersuchungshaft und wird im September 1936
wegen Hochverrats zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
1938 flieht sie in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1978
erfolgreich als Psychoanalytikerin arbeitet.
Das »Schwarze Heft« Edith Jacobsons ist ein bewegendes Dokument über die ersten Monate in der U-Haft. Die tagebuchartigen
90
Notizen (im Buch auch durch Faksimiles einsehbar) – eine beeindruckende Mischung aus wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver Wahrnehmung – gewähren einen Einblick in Alltag und Gemütszustand der Gefangenen. Nach nur wenigen Tagen überwindet sie
die ursprüngliche »Schockwirkung« (S. 82) und die darauffolgende
narzisstische Selbstüberhöhung:
»5. Tag. Zunehmende Einstellung auf die Realität: Beobachtung
der Umgebung, der Sträflinge, Gemeinsamkeitsgefühl mit diesen
[…]. Ausgeglicheneres Empfinden. Tiefe Sorge um Mutter und die
nächsten Menschen. Fast angstfrei. Trotziges Widerstandsgefühl:
nun gerade laß ich mich nicht unterkriegen. Innerer Schwur Durchzuhalten [sic] um jeden Preis.« (S. 83)
Auch Jacobsons Gedichte legen ein beredtes Zeugnis vom Leben
im Gefängnis ab. Von Trauer und Schmerz durchdrungen, dienen
sie zugleich der Verarbeitung der Schrecken der Haft. Die große
Formenvielfalt dieses kostbaren lyrischen Nachlasses (Ballade, Sonett, Parabel, Schüttelreime usw.) ist kein ästhetischer Selbstzweck,
sondern ein Mittel zur Artikulation des humanistischen Ethos der
Autorin. Das Motiv der Auferstehung (»Auferstehungslied«), des
Frühlings (»Alpen-Frühling. Arosa«), des oben genannten »Sonnenzaubers« und der Sonntagsglocken (»Sonntagsglocken«) – sie
alle läuten einen Neubeginn, das »Siegesfeuer« für »die freie Erde«
(S. 98) ein. Das Gedicht »Bekenntnis« protestiert gegen die Kluft
zwischen Deutschen und Juden, fordert Menschlichkeit jenseits der
Volkszugehörigkeit.
Jacobson – eine Frau, die »sich diszipliniert, analysiert, reflektiert« (Kessler, S. 19) – verfasst im Gefängnis auch die hier
abgedruckte psychoanalytische Studie »Zur Technik der Analyse
Paranoider«. Dem Misstrauen der Patienten setzt sie ihre »paedagogische Haltung«, ihre »unerschütterliche Geduld« entgegen, um
durch »Hilfsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit« (S. 141) das
Vertrauen des Mitmenschen wiederzugewinnen.
Das »Schwarze Heft« ist ein Ereignis. Andrea Huppkes Bedenken, ob hier etwas Neues vorliegt und ob dieser Fund die Publikation verdient (Psyche 12/2016), sind unberechtigt und schmälern
die Bedeutung und die Brisanz der Publikation keineswegs. Trotz
der ausbleibenden Unterstützung vieler ihrer deutschen Kollegen,
trotz der Streichung ihres Namens aus der Mitgliedsliste der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und trotz des skandalösen
Schulterschlusses der damaligen offiziellen Psychoanalyse mit dem
nationalsozialistischen Regime – unrühmliche Tatsachen, die uns
hier von Roland Kaufhold wieder ins Gedächtnis gerufen werden
– zeigen Jacobsons Haftnotizen die Stärke einer Frau, die sich vom
nationalsozialistischen Terror nicht einschüchtern ließ – und das
Gesicht und den Zauber der anderen, der freiheitsliebenden, widerständigen Psychoanalyse.
Galina Hristeva
Stuttgart
Rezensionen
FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, INTERVIEWS UND REDEN
FRITZ
BAUER:
GESPRÄCHE, INTERVIEWS
AUS DEN
FERNSEHARCHIVEN
1961-1968 UND REDEN
AUS
DEN
FERNSEHARCHIVEN
1961-1968
Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen.
Erstveröff
entlichung
historischer
Fernsehaufnahmen.
2 DVD, 298 Min., ausführliches Booklet, PDF-Materialien
2Redaktion:
DVD, 298Bettina
Min., ausführliches
Booklet, PDF-Materialien
Schulte Strathaus
Redaktion: Bettina Schulte Strathaus
Fritz Bauer (1903‒1968), bekannt als Initiator der Frankfurter AuschFritz
Bauer (1903‒1968),
als Initiator
Frankfurter
Auschwitz-Prozesse,
betrachtetebekannt
den Gerichtssaal
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Ort
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den
Gerichtssaal
als
einen
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entlichen
der historischen und demokratischen Bewusstwerdung. Weniger Ort
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Bewusstwerdung.
Weniger
bekannt
ist, dass er als
oder Redner
auch vor
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ist,
dass
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Interviewpartner,
Diskutant
oder
Redner
auch
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den Fernsehkameras Stellung bezog. Er äußerte sich zu den NS-Prozesden
Stellung bezog. der
Er äußerte
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zu den NS-Prozessen, Fernsehkameras
zur politischen Verantwortung
Justiz, zu
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zur
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Verantwortung
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zu
Geschichtsleugnung
und Rechtsradikalismus, aber auch zu Fragen der Wirtschaftskriminaund
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Fragen der Wirtschaft
skriminalität, Rechtsradikalismus,
dem Sexualstrafrechtaber
oder
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Humanisierung
des Strafvollzugs.
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des
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Nicht zuletzt sprach er über seine Biografie als politisch und antisemiNicht
zuletzt sprach
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seineRemigrant.
Biografie als
politisch
und
antisemitisch Verfolgter
und als
jüdischer
Auch
fünfzig
Jahre
später
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Verfolgter
und
als
jüdischer
Remigrant.
Auch
fünfzig
Jahre
später
haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren.
haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren.
»Verfassungsschutz, Wahrung der Freiheitsrechte, Ungehorsam und Kampf
»Verfassungsschutz,
Wahrung
derviel
Freiheitsrechte,
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gegen totalitäre Tendenzen
sind
zu wichtige Ungehorsam
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lichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer sie amtlichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer
AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013)
AUSCHWITZ
(2013)
STRAFSACHEVOR
4 KsGERICHT
2/63 (1993)
STRAFSACHE
4
Ks
2/63
(1993)
TEIL 1: Die Ermittlung TEIL 2: Der Prozess TEIL 3: Das Urteil
TEILDokumentationen
1: Die Ermittlungvon
TEIL
Der Prozess
TEILWagner
3: Das Urteil
Zwei
Rolf2:Bickel
und Dietrich
Zwei
Dokumentationen
von
Rolf
Bickel
und
Dietrich
Wagner
2 DVD, 45 + 180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt
2von
DVD,
45 +Renz
180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt
Werner
von Werner Renz
Die legendäre Aufbereitung des Auschwitz-Prozesses von Bickel und
Die
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des Auschwitz-Prozesses
Bickel und
Wagner
in einer
aktuellen
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ausführlichen
Wagner
in
einer
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und
der
ausführlichen
ORIGINALDOKUMENTATION aus den 1990er Jahren:
ORIGINALDOKUMENTATION
1990er Jahren:
Am
20. Dezember 1963 begann vor aus
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Frankfurt am
Am
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Angehörige der Waffen-SS und ein Funktionshäftling. Die SS-Männer gehörrige
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Die SS-Männer gehörten zum
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dem Krieg hatten sie in Deutschland unbehelligt ein ganz normales
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Leben führen können. Nun konfrontierte man sie mit den Aussagen
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einst. Nun
Die ganze
Welt verfolgte
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Verhandlungstage. Der gesamte Prozess wurde – einmalig in der deutVerhandlungstage.
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Prozess
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in der deutschen Rechtsgeschichte
auf Tonband
aufgenommen.
Den Autoren
der
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Rechtsgeschichte
–
auf
Tonband
aufgenommen.
Den
Autoren
der
Dokumentation gelang es, die verschollenen Bänder aufzuspüren und
Dokumentation
gelang
es,
die
verschollenen
Bänder
aufzuspüren
und
auszuwerten. Zusammen mit exklusivem Filmmaterial entstand eine
auszuwerten.
Zusammen
mit exklusivem
Filmmaterial entstand eine
historisch präzise
wie packende
Dokumentation.
historisch präzise wie packende Dokumentation.
gefördert durch
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2016
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91
Pädagogisches Zentrum
Frankfurt am Main
Erinnerungsstätte an der
Frankfurter Großmarkthalle
Erste Erfahrungen mit
Besuchergruppen
Pädagogisches Zentrum
Angebote und Kontakt
Das Pädagogische Zentrum
Frankfurt am Main ist eine
gemeinsame Einrichtung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt.
Das Pädagogische Zentrum verbindet
zwei Themenfelder: jüdische Geschichte
und Gegenwart sowie Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Sein zentrales
Anliegen ist es, Juden und jüdisches Leben
nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung und des Antisemitismus zu betrachten. Ein gemeinsames pädagogisches Zentrum für jüdische Geschichte
und Gegenwart auf der einen und Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust auf der
anderen Seite bietet die Chance, folgende
Themen differenziert zu bearbeiten:
› Deutsch-jüdische Geschichte im europäischen Kontext
› Jüdische Gegenwart – Religion und Kultur
› Holocaust – Geschichte und Nachgeschichte
› Antisemitismus und Rassismus
dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch
die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das
Pädagogische Zentrum hat die Aufgabe, diese Themen voneinander abzugrenzen, und
so zu helfen, sie genauer kennenzulernen.
Das Pädagogische Zentrum unterstützt
Schulen bei der Beschäftigung mit jüdischer
Geschichte und Gegenwart sowie bei der
Annäherung an die Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Hierzu bietet es
Lehrerfortbildungen und Lehrveranstaltungen an der Goethe-Universität Frankfurt,
Workshops und Studientage an Schulen
und für Institutionen der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie themenbezogene
Führungen, Vorträge, Unterrichtsmaterialien
und Beratung an. Begleitend zu den aktuellen Ausstellungen des Jüdischen Museums
Frankfurt gibt es Fortbildungen mit Perspektiven für den Unterricht.
Kontakt
Pädagogisches Zentrum Frankfurt
Seckbächer Gasse 14
60311 Frankfurt am Main
Tel.: 069.212 742 37
[email protected]
www.pz-ffm.de
Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdische Geschichte wird meist vom Verbrechen
des Holocaust aus betrachtet, das ist gerade
in Deutschland nicht anders denkbar. Die
Dominanz des Holocaust prägt die Annäherung an alle genannten Themen, und
92
Pädagogisches Zentrum
Von 1941 bis 1945 benutzte
die Geheime Staatspolizei
die Frankfurter Großmarkthalle als Sammelplatz für die verfolgten Juden. Nahezu 10.000
Menschen wurden von hier mit Zügen gewaltsam in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet. An diese
Ereignisse und die Bedeutung des Ortes erinnert seit Ende 2015 eine Erinnerungsstätte.
Ein Kellerraum und ein Gleisfeld mit
Stellwerk haben sich als historische Relikte
bis heute erhalten. Durch ein portalartiges
Bauwerk wird die Zufahrtsrampe zum Kellerraum der Erinnerungsstätte betont. Als
zentrale Erinnerungselemente sind über die
Wege, die zum Keller führen, im Keller
selbst, auf dem benachbarten Gleisfeld und
der darüber führenden Fußgängerbrücke
26 Zitate von Opfern und Zeugen der Deporta-tionen verteilt, die das grausame Geschehen an diesem Ort schildern.
Das Gelände der ehemaligen Großmarkthalle ist heute Sitz der Europäischen
Zentralbank (EZB), die ihren dort neu errichteten Büroturm mit dem historischen
Gebäude architektonisch verschränkt hat.
Die Sicherheitsanforderungen der EZB und
der Status des Geländes als exterritoriales
Gebiet bedingen besondere Anforderungen
an den Besuch der Gedenkstätte. Ohne vorherige Anmeldung kann das Gelände nicht
betreten werden. Jede Besuchergruppe muss
durch eine Sicherheitsschleuse, Ausweise
und Taschen werden kontrolliert. Auch kann
das Gebäude der EZB selbst nicht betreten
werden. Der Weg zur Gedenkstätte führt um
die ehemalige Großmarkthalle herum, zum
östlichen Teil des Geländes.
Nach dem erfolgreichen Durchlaufen
der Sicherheitsüberprüfung beginnt für die
Besucher der Gedenkstätte das Einlassen auf
den Ort, das Nachdenken und Fragenstellen:
»Wieso beschreibt das eine Zitat, dass die
Schulklasse beim Besuch der Erinnerungsstätte Großmarkthalle
Menschen bei der Verschleppung so viele
Kleidungsstücke übereinander anhatten?«,
»Haben andere Leute die Juden, die durch
die Stadt zur Großmarkthalle getrieben wurden, gesehen?«, »Sieht der Keller so aus,
wie er damals aussah?«, »Warum sehen
wir nur einen kleinen Teil des Kellers?«,
»Was ist passiert, wenn jemand nicht die
50 Reichsmark für die Deportation bezahlen konnte?«, »Haben die Leute gedacht,
sie bekommen ihren Wohnungsschlüssel
irgendwann wieder?«, »Wie konnte Berny
Lane so viele Lager überleben?« Die in Beton gehauenen Zitate, aber auch Rampe und
Keller geben zahlreiche Gesprächsanlässe,
um das historische Geschehen an diesem Ort
gemeinsam zu rekonstruieren.
Nach Betreten der Rampe und Besichtigung des Kellers führt der Rundgang durch
einen Hinterausgang des EZB-Geländes auf
den öffentlichen Teil der Erinnerungsstätte.
Zu sehen sind hier die Gleise, auf denen
die Züge Richtung Osten abfuhren, das
Stellwerk und die Brücke, auf der wohl
Schaulustige, aber auch Angehörige die
Abfahrt der Züge begleiteten.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Das Konzept der Erinnerungsstätte sieht
vor, dass der Ort beiläufig wahrgenommen
wird. Unaufdringlich sollen Passanten die
Bedeutung des Ortes mit Hilfe der Zitate
entdecken können. Diese Beiläufigkeit wurde
von Besuchergruppen bisher unterschiedlich
aufgenommen. Während einige das Konzept
gelungen fanden, betonten andere, dass die
Geschichte dieses Ortes zu schlimm gewesen sei, als dass die Erinnerungsstätte
nur beiläufig wahrgenommen werden sollte.
Noch einmal vorbei an der Rampe
führt der Rundgang am Bahndamm entlang
Richtung Stadt, die zu Deportierenden
mussten in die entgegengesetzte Richtung.
Auch hier sind Zitate aus der Sicht der Verfolgten in den Boden eingemeißelt.
Der Rundgang mit Schulklassen
Für Schulklassen liegt die Chance eines
Besuchs der Erinnerungsstätte unter anderem darin, zu erkennen, dass sich die
Verbrechen im Nationalsozialismus ganz
in der Nähe des eigenen Wohnorts abgespielt haben. »So nah bei uns«, sagte ein
Schüler, »bislang habe ich gedacht, dass die
Konzentrationslager alle weit weg sind, aber
hier hat ja der Weg dorthin begonnen, direkt
vor unserer Haustür.«
Der Besuch ist auf zwei Ebenen angelegt. Im Sinne des historischen Lernens
steht die Frage danach, was sich an dem Ort
vor mehr als 70 Jahren abgespielt hat, im
Zentrum. Zum anderen geht es aber auch um
die Frage, wie der Ort heute genutzt wird.
Ziel ist eine Reflexion über das Konzept der
Erinnerungsstätte.
Der Schulklassenrundgang ist gerahmt
durch eine 30-minütige Vorbereitung und
einen einstündigen Workshop im Anschluss.
Beides findet in einem Seminarraum in der
Nähe der Erinnerungsstätte statt.
Der im Anschluss an den Rundgang
stattfindende Workshop kann drei verschiedene Schwerpunkte haben:
1. Eine Vertiefung des Zugangs zur Perspektive der Verfolgten. Hier wird mit
den auf der Erinnerungsstätte positionierten Zitaten und den Biographien der
Personen gearbeitet.
2. Ein Nachdenken über Handlungsspielräume und Handlungsmotive von Täter/
-innen anhand von Berichten über den
Einsatz im Keller der Großmarkthalle
während der Deportationen.
3. Eine Auseinandersetzung mit Formen der
Erinnerung anhand von verschiedenen
Entwürfen zur Erinnerungsstätte, die bei
der Errichtung zur Wahl standen.
Weitere Informationen finden sie auf der
Website: www.pz-ffm.de
Zur Erinnerungsstätte ist ein Katalog erschienen:
Raphael Gross, Felix Semmelroth (Hrsg.)
Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle.
Die Deportation der Juden 1941–1945
In der Publikation präsentieren die Architekten Marcus
Kaiser und Tobias Katz (KatzKaiser, Köln/Darmstadt)
ihr künstlerisches Konzept, dessen Realisierung
Norbert Miguletz fotografisch dokumentiert.
Mit Beiträgen von Alfons Maria Arns, Fritz Backhaus,
Heike Drummer, Ursula Ernst, Raphael Gross,
Monica Kingreen, Peter Cachola Schmal und Felix
Semmelroth.
München: Prestel Verlag 2016, 266 S., 150 farbige
Abb., € 29,95, ISBN: 978-3-7913-5531-3
93
Nachrichten und Berichte
Information und Kommunikation
Neueröffnung des
Museums Judengasse
Pädagogische Angebote zur
neuen Dauerausstellung
Das Jüdische Museum
Frankfurt eröffnete am
20. März 2016 die völlig neu konzipierte Ausstellung des Museums Judengasse.
Sie wird mit diesen Worten angekündigt:
»Die Frankfurter Judengasse wurde 1462
als erstes Ghetto in Europa eingerichtet und
war bis zu dessen Auflösung 1796 eines der
bedeutendsten Zentren des europäischen
Judentums. Die neue Dauerausstellung des
Jüdischen Museums im Museum Judengasse
präsentiert die Geschichte und Kultur der
Juden vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. In Verbindung mit den archäologischen
Zeugnissen eröffnen Gemälde, Ritualobjekte, Bücher und Dokumente ein reiches Bild
des Alltagslebens in der Frankfurter Judengasse.«
Das didaktische Konzept der Erzählung
über jüdische Geschichte, das hier realisiert
wird, stellt einige gerade in Schule und Geschichtskultur verbreitete Klischees auf den
Kopf. In Frankfurt haben seit dem 12. Jahrhundert bis heute fast ohne Unterbrechung
Juden gelebt. Auch nach den Pogromen im
späten Mittelalter entstand – anders als in
anderen Städten mit alter jüdischer Tradition – eine neue jüdische Gemeinde. Im
Katalog zum Museum Judengasse umreißt
Fritz Backhaus den Forschungsstand, der
Grundlage der Ausstellung ist: »Es ging
darum, Juden als eine Gruppe der Gesellschaft wahrzunehmen, die durch vielfältige
Beziehungen mit den anderen Gruppen der
Gesellschaft verknüpft war und Teil eines
gemeinsamen Kulturraums bildete, der
ebenso christlich wie jüdisch geprägt war.
Abgrenzung und Ghettoisierung bildeten
dabei nur eine Facette jüdischer Existenz
in der Frühen Neuzeit, ebenso wichtig waren
die politischen Verknüpfungen, alltägliche
Begegnungen und ein Leben, das in jeder
Beziehung durch die religiösen Gebote und
Gebräuche durchdrungen war. Die gegenseitige Wahrnehmung war jedoch kontrovers.
Von christlicher Seite sah man in die Judengasse mit Ignoranz, Neugier, Scheu oder
auch missionarischem Eifer. Von jüdischer
Seite wurden Christen häufig als Quelle alltäglicher Bedrohung empfunden, gegen die
Schutz durch die Obrigkeit und durch die
städtische Gemeinschaft lebensnotwendig,
aber auch fragil war.«
Die Beziehungen zwischen jüdischer
Minderheit und christlicher Mehrheit in der
Stadt werden vor allem in einem Zeitschnitt
um das Jahr 1700 vorgestellt. So ergibt sich
die Möglichkeit, Alltagsleben zu thematisieren und am historischen Beispiel über die
Chancen und Probleme nachzudenken, die
im Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem, ja sogar konkurrierendem
Glauben bestehen. Aus pädagogischer Sicht
gewinnt der historische Gegenstand in dieser
neuen Erzählung eine brisante Gegenwartsdimension. Das Pädagogische Zentrum wird
in diesem Kontext die bereits bestehenden
94
Pädagogisches Zentrum
Aus dem Institut
Frankfurt am Main, Juli/August 1987: Demonstration gegen den Bau der Stadtwerke auf dem Börneplatz. Bei
ersten Erschließungsarbeiten waren dort die Fundamente der historischen Judengasse, Überreste des Judenmarkts
und ein rituelles Tauchbad, eine »Mikwe« aus dem 15. Jahrhundert, entdeckt worden. Foto: Seitz/JMF
Workshops zu den Themenfeldern Religion
und Menschenfeindlichkeit anbieten.
Die pädagogischen Angebote zur jüdischen Geschichte bleiben nah am historischen Material. Der Reichtum der Ausgrabungen, des historischen Friedhofs und der
Objekte öffnet vielfältige Fenster zur frühneuzeitlichen Stadt. Aus dieser Erfahrung
mit dem Ort und den Objekten entwickelt
das pädagogische Angebot die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen
dieser exemplarischen Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Christen.
Demnächst wird es auf der Website des
Pädagogischen Zentrums Materialien für die
Bildungsarbeit mit dem Museum Judengasse geben.
Mehr zur Neueröffnung des Museums Judengasse lesen Sie auf Seite 104 f.: »Neue
Dauerausstellung eröffnet spannende Einblicke in das Leben der Frankfurter Judengasse«.
Neuausgabe
Erste Fritz-Bauer-Biografie
wieder verfügbar
Irmtrud Wojak
Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie
München: Buxus Edition, 2016
614 S., € 28,– (zgl. € 4,50 Versand)
Bestelladresse: [email protected]
Der Versand erfolgt gegen Rechnung.
Als erste umfassende biografische Würdigung Fritz
Bauers ist das Buch von Irmtrud Wojak
2009 im Münchner C.H. Beck Verlag in
der Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts,
Band 23 erschienen. Ihre Fritz-Bauer-Biografie war seit einigen Jahren vergriffen.
Zuletzt ist sie 2011 als broschierte Sonderausgabe im C.H. Beck Verlag erschienen.
Einsicht 15 Frühjahr 2016
PD Dr. Irmtrud Wojak war von 1996
bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Fritz Bauer Institut. Im Rahmen des Instituts-Projekts »Gerichtstag halten über uns
selbst …« hat sie neben dem Verfassen der
Fritz-Bauer-Biografie auch die Ausstellung
»Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am
Main« kuratiert und den zur Ausstellung erschienenen Katalog (Köln: Snoeck, 2004)
herausgegeben.
Fritz Bauer –
Ankläger und Aufklärer seiner Epoche
Fritz Bauer ist eine der beeindruckendsten
Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihm ist es zu verdanken, dass
die juristische Auseinandersetzung mit den
Verbrechen des Dritten Reichs nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs in Gang kam
und bis zu den epochemachenden Frankfurter Auschwitz-Prozessen geführt werden
konnte. In einem politischen Klima des Stillschweigens und Wegsehens ging es Fritz
Bauer neben der juristischen Verfolgung
der Nazi-Verbrechen um die Aufklärung
der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit
und um juristische Richtigstellung – etwa
im Hinblick auf die Rehabilitierung des
deutschen Widerstands. Auch war es Fritz
Bauer, der Israel den entscheidenden Hinweis zu Adolf Eichmanns Aufenthaltsort in
Argentinien gab. Die Auseinandersetzung
mit den Wurzeln nationalsozialistischen
Handelns hielt Bauer für unumgänglich,
die NS-Verfahren verstand er als Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft in den
Bahnen des Rechts.
Fritz Bauer, 1903 in Stuttgart geboren
und aus einer jüdischen Familie stammend,
trat in den 20er Jahren der SPD bei. Er studierte Rechts- und Volkswirtschaftslehre
und wurde 1930 in seiner Heimatstadt mit
26 Jahren jüngster Amtsrichter Deutschlands. Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten wurde Bauer aus dem Amt
entlassen und für einige Monate im Konzentrationslager Heuberg inhaftiert. 1936
gelang ihm die Flucht, zunächst nach Dänemark, dann nach Schweden, wo er den Krieg
überlebte. 1949 kehrte Bauer mit Unterstützung Kurt Schumachers nach Deutschland
zurück. Zunächst wirkte er als Landgerichtsdirektor und ab 1950 als Generalstaatsanwalt am Braunschweiger Oberlandesgericht.
1956 berief ihn der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn auf das Amt des
hessischen Generalstaatsanwalts. In dieser
Funktion wurde Bauer zum maßgeblichen
Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. 1965 eröffnete
Fritz Bauer die Voruntersuchung zu einem
Prozess, der sich gegen die juristischen Erfüllungsgehilfen der »Euthanasie«-Morde
richten sollte. In der Nacht vom 30. Juni auf
den 1. Juli 1968 starb Fritz Bauer in seiner
Wohnung in Frankfurt am Main. Der noch
in der Vorbereitungsphase stehende Prozess
gegen die in die Verbrechen verstrickte NSJustiz fand nie statt.
PD Dr. Irmtrud Wojak, geboren 1963,
Historikerin und Ausstellungskuratorin,
Geschäftsführerin der gemeinnützigen
BUXUS STIFTUNG GmbH, München
(www.buxus-stiftung.de) und Lehrbeauftragte an der Universität der Bundeswehr
in München; 1996–2008 wissenschaftliche
Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts in
Frankfurt am Main; 2008–2009 Leiterin
des Bereiches Forschung beim Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen;
2009–2011 Gründungsdirektorin des NSDokumentationszentrums in München.
95
Aus dem Institut
Wilhelm LeuschnerMedaille 2015
Jutta Ebeling ausgezeichnet
Jutta Ebeling, Vorsitzende des Fördervereins Fritz
Bauer Institut e.V., wurde mit der Wilhelm
Leuschner-Medaille 2015 ausgezeichnet.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Fritz Bauer Instituts gratulieren
herzlich!
Die nach dem von den Nationalsozialisten hingerichteten Gewerkschafter und Widerstandskämpfer Wilhelm
Leuschner (1890–1944) benannte Medaille ist die höchste Auszeichnung des
Landes Hessen. Sie wurde aus Anlass
des 20. Todestages des ehemaligen
hessischen Innenministers Wilhelm
Leuschner am 29. September 1964 durch
den früheren Hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn gestiftet.
Sie wird jährlich am Verfassungstag des
Landes Hessen für außergewöhnliche
Verdienste um die demokratische Gesellschaft und ihre Einrichtungen verliehen. Über die Vergabe entscheidet
der Hessische Ministerpräsident. Den
fünf diesjährigen Preisträgern wurde die
Auszeichnung am 1. Dezember 2015 im
Rahmen eines Festakts im Wiesbadener
Schloss Biebrich von Ministerpräsident
Volker Bouffier überreicht.
2013 war (neben den Geisteswissenschaftlern Prof. Dr. Dieter Bingen und Prof.
Dr. Harald Müller) Prof. Dr. Raphael Gross,
der damalige Direktor des Fritz Bauer Instituts, mit der Wilhelm Leuchner-Medaille
ausgezeichnet worden. Im letzten Jahr ging
sie an Bundeskanzlerin Angela Merkel.
er auch Jura studierte und trotz Verfolgung
durch die Nazis promovierte. 1934 flüchtete
er zunächst nach Holland, dann nach Palästina. Der 103 Jahre alte Gießener Ehrenbürger
engagiert sich seit Jahrzehnten für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland.
Er lebt in der israelischen Stadt Netanya.
Die Kommune hat eine Städtepartnerschaft
mit Gießen, die Bar Menachem als damaliger Oberbürgermeister von Netanya im Jahr
1978 selbst begründet hat.
Wir trauern um unsere
langjährige Mitarbeiterin,
Kollegin, Freundin
Iwa Deutsch sel. A.
geb. Wieslawa Rosinski
5.1.1948 – 23.11.2015
Bundesverfassungsrichterin in Karlsruhe.
Erst kürzlich gab die 65-Jährige ihren Wechsel aus dem Vorstand der Daimler AG in den
von Volkswagen zum 1. Januar 2016 bekannt.
› Wolfram Dette
Der 64 Jahre alte Vorsitzende der FDP Wetzlar kam 1959 mit seinen Eltern aus der DDR
nach Wetzlar. Seit 1997 bis Ende dieses Jahres ist Wolfram Dette Oberbürgermeister
von Wetzlar. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Liberaler Kommunalpolitiker Hessen
e.V. und der Bundesvereinigung Liberaler Kommunalpolitiker sowie Mitglied
im Präsidium und im Finanzausschuss
des Hessischen Städtetags.
› Heinz Riesenhuber
Der 79-jährige CDU-Politiker war von
1982 bis 1993 Forschungsminister im
Kabinett Helmut Kohl und gehört bis
heute dem Deutschen Bundestag als
Alterspräsident an.
https://staatskanzlei.hessen.de/ueber-uns/ordenehrenzeichen/im-dienste-der-demokratie
»Excellent Communications Design – Fair
and Exhibition«. Für das Design zeichnet
das Gestaltungsbüro SPACE4 aus Stuttgart
verantwortlich.
Im Frühjahr 2014 wurde die Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt eröffnet. Seitdem wandert sie mit Stationen
im Thüringer Landtag sowie in den Landgerichten Heidelberg und Tübingen durch
Deutschland. Zuletzt war sie im Museum
zur Geschichte von Christen und Juden
in Laupheim zu sehen. Von 21. April bis
21. August 2016 wird sie im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln gezeigt.
www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer-ausstellung.html
Aus dem Förderverein
Berufungsverfahren
Neue Holocaust-Professur
und Direktion des Fritz
Bauer Instituts
In ehrendem Gedenken
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Fritz Bauer Instituts
Die Preisträger 2015
› Abraham Bar Menachem
1912 als Alfred Gutsmuth in Wieseck geboren, verbrachte Abraham Bar Menachem
seine Kindheit und Jugend in Gießen, wo
› Jutta Ebeling
Die 1946 in Streitberg/Oberfranken geborene Politikerin von Bündnis90/Die Grünen
war von 2006 bis 2012 Bürgermeisterin der
Stadt Frankfurt am Main sowie langjährige
Dezernentin in den Ressorts Bildung, Frauen, Multikulturelle Angelegenheiten, Schule
und Umwelt. Seit 2013 ist sie Vorsitzende
des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V.
› Christine Hohmann-Dennhardt
Die Sozialdemokratin war von 1991 bis
1995 Justiz- und dann bis 1999 Wissenschafts- und Kunstministerin in Hessen.
Anschließend war sie zwölf Jahre lang
96
Nachrichten und Berichte
Aus dem Institut
German Design Award
Fritz-Bauer-Ausstellung
ausgezeichnet
Die Ausstellung »Fritz
Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht« ist mit
dem German Design Award 2016 ausgezeichnet worden. Der 2012 initiierte German Design Award wird vergeben von der
Stiftung Rat für Formgebung/German Design Council in Frankfurt am Main. Jährlich werden hochkarätige Einreichungen aus
dem Produkt- und Kommunikationsdesign
prämiert, die auf ihre Art wegweisend in
der internationalen Designlandschaft sind.
Die gemeinsame Ausstellung des Jüdischem
Museums Frankfurt und des Fritz Bauer
Instituts erhielt den Preis in der Kategorie
Auf seiner letzten Sitzung
hat der Stiftungsrat – dem
das Land Hessen, die Stadt Frankfurt am
Main, die Goethe-Universität und der Förderverein angehören – beschlossen, dass
seine Leitung bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens für die erste HolocaustProfessur in Deutschland auch weiterhin
durch die Vorsitzende des Fördervereins
wahrgenommen werden soll. So bin ich in
zweifacher Funktion, als Vorsitzende des
Fördervereins und als Vorsitzende des Stiftungsrats, derzeit vor allem mit der Arbeit
in der Berufungskommission befasst. Die
Holocaust-Professur wird am Fachbereich
Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am
Main angesiedelt sein, der/die zukünftige
Stelleninhaber/-in wird zudem mit der Direktion des Fritz Bauer Instituts betraut.
Aus zahlreichen interessanten Bewerbungen aus dem In- und Ausland wurden in einem
Einsicht 15 Frühjahr 2016
aufwendigen Bewertungsverfahren sechs renommierte WissenschaftlerInnen ermittelt
und zu Probevorträgen am 26. Februar an
die Frankfurter Universität eingeladen. Nach
der Bewertung der Vorträge und dem Einholen wissenschaftlicher Gutachten kommt die
Berufungskommission im Fortgang des Auswahlverfahrens zu einem Ranking von drei
KandidatInnen, die der Universitätspräsidentin Birgitta Wolff zur Entscheidung vorgelegt
werden. Wir gehen davon aus, dass die Professur bzw. die neue Institutsleitung Anfang
2017 ihre Arbeit aufnehmen wird.
Die an das Fritz Bauer Institut angegliederte Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung ist im abgelaufenen Wintersemester sehr erfolgreich von Dr. Nicolas
Berg vom Simon-Dubnow-Institut in Leipzig wahrgenommen worden. Seine beiden
Lehrveranstaltungen, das Seminar »Zeugenschaft und Wissenschaft. Grundfragen der
Holocaustforschung« sowie der Lektürekurs
»Jean Améry, Hannah Arendt und Theodor
W. Adorno in den 1960er Jahren«, erfreuten sich regen Zuspruchs der Studierenden.
Auch sein öffentlicher Vortrag zu »Das Ich
im Wir – Victor Klemperer, Anna Seghers
und Hans Mayer in der frühen DDR« stieß
auf großes Publikumsinteresse (siehe dazu
auch seinen Text auf Seite ##). Derzeit läuft
die Ausschreibung zur Fortsetzung der Gastprofessur im Wintersemester 2016/2017.
Beides, die neu eingerichtete HolocaustProfessur, finanziert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, und die Gastprofessur, ermöglicht durch die großzügige
Spende der Frankfurter Bürger Michael Hauck
und Oliver Puhl, stärken die Arbeit des Fritz
Bauer Instituts zur Erforschung des Holocaust
und seiner Wirkungsgeschichte nachhaltig.
Der Förderverein kann viele neue Mitglieder begrüßen. Die Überschreitung der
Schwelle von 1.000 Mitgliedern streben wir
weiterhin an. Dazu fehlen noch 80 Neueintritte. Helfen sie mit durch Werbung bei
Freunden und Bekannten.
Jutta Ebeling, Vorsitzende
Für den Vorstand
97
Aus Kultur und Wissenschaft
Aus Kultur und Wissenschaft
Micha Brumlik
Buber-RosenzweigMedaille 2016
Micha Brumlik
Franz-RosenzweigGastprofessur 2016
Im Rahmen der Auftaktveranstaltung zur »Woche
der Brüderlichkeit« ist am 6. März in Hannover die Buber-Rosenzweig-Medaille 2016
an den jüdischen Erziehungswissenschaftler und Publizisten Prof. Dr. Micha Brumlik verliehen worden. Mit der undotierten
Auszeichnung wurde Brumlik für seinen
jahrzehntelangen Einsatz zur Verständigung
zwischen Juden und Christen in Deutschland geehrt. In ihrer Laudatio würdigte die
Theologin Margot Käßmann den Preisträger als »Seismografen für die Suche nach
jüdischer Identität in Deutschland nach der
Shoah«.
Seit 1952 veranstalten die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
im März eines jeden Jahres die »Woche
der Brüderlichkeit«. Sie richtet sich gegen
weltanschaulichen Fanatismus und religiöse
Intoleranz. In diesem Jahr stand sie unter
dem Motto »Um Gottes Willen« und richtete
ihr besonderes Augenmerk auf den Missbrauch von Religion. Vom 6. bis 13. März
fanden hierzu in ganz Deutschland zahlreiche Veranstaltungen statt. Schirmherr war
Bundespräsident Joachim Gauck. In seinem
Festvortrag bei der zentralen Eröffnungsfeier richtete er einen dringenden Appell gegen
den Rechtsextremismus in der Gesellschaft.
Öffentliche Antrittsvorlesung:
Prof. Dr. Micha Brumlik, »Franz Rosenzweig und
der Zionismus – zwischen Theologie und Politik«,
Mittwoch, 20. April 2016, 18.00–19.00 Uhr, im
Gießhaus der Universität Kassel, Mönchebergstr. 5
Micha Brumlik bei der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille 2016. Foto: NDR (Screenshot)
einen Beitrag für die christlich-jüdische
Zusammenarbeit geleistet haben. Zu den
Trägern der Medaille gehören der Geigenvirtuose Yehudi Menuhin (1916–1999), der
ehemalige Bundespräsident Richard von
Weizsäcker (1920–2015), der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer und der
in Köln lebende Autor Navid Kermani. 2013
war das Fritz Bauer Institut zusammen mit
der Schriftstellerin Mirjam Pressler mit der
Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet
worden.
Buber-Rosenzweig-Medaille
Jeweils zum Auftakt der »Woche der Brüderlichkeit« wird seit 1968 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen, in Erinnerung
an die jüdischen Philosophen Martin Buber
und Franz Rosenzweig. Ausgezeichnet werden Personen, Institutionen oder Initiativen,
die sich insbesondere um die Verständigung
zwischen Christen und Juden verdient gemacht und im wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen oder sozialen Bereich
Deutscher Koordinierungsrat e.V.
Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) vertritt als bundesweiter Dachverband die 84 Gesellschaften
für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
in Deutschland auf nationaler und internationaler Ebene. Er setzt sich ein für die
Verständigung zwischen Christen und Juden, den Kampf gegen Antisemitismus und
Rechtsradikalismus sowie für ein friedliches
Zusammenleben der Völker und Religionen.
Zugleich ist er größtes Einzelmitglied im
98
Nachrichten und Berichte
Internationalen Rat der Christen und Juden
(ICCJ), in dem 32 nationale Vereinigungen
für christlich-jüdische Zusammenarbeit vertreten sind.
Prof. Dr. Micha Brumlik
Angaben zu biografischen Daten von Micha Brumlik lesen Sie im Artikel zur FranzRosenzweig-Gastprofessur 2016 auf der
nachfolgenden Seite. Aktuelle Beiträge
und Wortmeldungen Brumliks sowie eine
Auflistung seiner zahlreichen Publikationen
finden Sie auf der Website:
http://michabrumlik.de
Kontakt
Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Deutscher Koordinierungsrat e.V.
Otto-Weiß-Str. 2, 61231 Bad Nauheim
Tel.: 06032.91110
[email protected]
Informationen zur Buber-Rosenzweig-Medaille:
www.deutscher-koordinierungsrat.de/node/1039
Materialien zur Woche der Brüderlichkeit 2016:
www.deutscher-koordinierungsrat.de/wdb-service-2016
Die Franz-RosenzweigGastprofessur der Universität Kassel geht in diesem Sommersemester
an den Erziehungswissenschaftler, Philosophen und Publizisten Micha Brumlik.
Mit Brumlik konnte »eine profilierte
Stimme des Judentums in Deutschland«
als Inhaber der Gastprofessur gewonnen
werden, so Prof. Dr. Ilse Müllner, Mitglied
der Findungskommission und Professorin
für Katholische Theologie/Altes Testament
an der Universität Kassel, »für das jüdischchristliche Gespräch sind seine Beiträge
unverzichtbar«. Regelmäßig meldet er sich
zu tagespolitischen Themen zu Wort, aktuell
zur Debatte um die Integration von Migrantinnen und Migranten, und liefert dazu
wichtige und vielbeachtete Beiträge.
Der gebürtige Schweizer Micha Brumlik, geboren am 4. November 1947 in Davos, studierte Philosophie an der Hebrew
University Jerusalem sowie Philosophie
und Pädagogik an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main. Von 1981 bis 2000 hatte
er den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft
mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an
der Universität Heidelberg inne und war
von 2000 bis 2013 Professor für Theorien
der Bildung und Erziehung am Institut für
Allgemeine Erziehungswissenschaft an der
Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von
2000 bis 2005 amtierte er außerdem als Direktor des Fritz Bauer Instituts. Seit Oktober
2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Neben der öffentlichen Antrittsvorlesung hält Micha Brumlik im Rahmen des
Lehrangebots der Universität zwei weitere
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Veranstaltungen: zum einen eine wöchentliche Vorlesung mit dem Thema »Kritische
Geistesgeschichte des Zionismus«. Sie
spannt einen Bogen von dem ersten Judenstaatstheoretiker, Moses Hess, über die sozialistischen und revisionistischen Zionisten
des beginnenden 20. Jahrhunderts bis zu den
letzten, politisch weit rechts stehenden nationalreligiösen Zionisten der Gegenwart und
den Debatten um den sogenannten »Postzionismus«. Daneben behandelt das Seminar
»Messianismus im Judentum« die Frage nach
der Hoffnung auf einen errettenden und erlösenden Gesalbten, einen Messias. Es widmet sich den literarischen und theologischen
Motiven und der entsprechenden politischen
Diskurse, die darin zum Ausdruck kommen.
Franz-Rosenzweig-Gastprofessur
Die deutschlandweit einmalige Franz-Rosenzweig-Gastprofessur erinnert an Werk und
Vermächtnis des aus Kassel stammenden jüdischen Religionsphilosophen. Die Professur
wird jeweils zum Sommersemester vergeben.
Mit der Gastprofessur wurden zahlreiche
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
unterschiedlicher Disziplinen, u. a. der Philosophie, Geschichts-, Kunst-, Literatur- und
Religionswissenschaft aus Israel, Europa und
Nordamerika geehrt. Inhaber der Gastprofessur der letzten Jahre waren u. a.: Prof.
Dr. Frank Stern, Wien (2013), Prof. Liliane
Weissberg, PhD, Philadelphia (2012); Prof.
Dr. Karol Sauerland, Thorn (2008); Prof.
Moshe Zimmermann PhD, Jerusalem (2007).
Die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur
wird von der Universität Kassel seit 1987
verliehen. Sie wurde im Anschluss an einen internationalen Kongress ins Leben
gerufen, der zum 100. Geburtstag des bedeutenden Religionsphilosophen stattfand.
In den letzten Jahren diente die Professur
verstärkt der Vergegenwärtigung der durch
den Nationalsozialismus zerstörten Kultur
des europäischen Judentums und der Auseinandersetzung mit der jüdischen Gegenwart.
Website: www.uni-kassel.de/uni/acartdemy/literatur/
franz-rosenzweig-gastprofessur.html
Neuerscheinungen
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2016. 288 Seiten, mit 2 Grafiken
und 6 Tab., gebunden
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts, Band 59
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eBook: € 49,99 D
Vergleichende Studie zum Umgang mit
den Opfern der europäischen Diktaturen
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 24
2016. 440 Seiten, mit 1 Abb., gebunden
€ 70,– D | ISBN 978-3-525-37039-1
eBook: € 59,99 D
Neue und erhellende Einsichten in die Verhaltensweisen und Erwartungshorizonte deutscher
Juden angesichts des sich radikalisierenden
NS-Regimes
www.v-r.de
99
Aus Kultur und Wissenschaft
Tom Segev
Friedenspreis der
Geschwister Korn und
Gerstenmann-Stiftung 2015
Am 6. Dezember 2015 erhielt
der israelische Historiker
und Journalist Tom Segev den Friedenspreis
der Geschwister Korn und GerstenmannStiftung verliehen. Der Festakt fand statt
im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Die
Laudatio hielt Prof. Dr. Raphael Gross, ehemaliger Direktor des Fritz Bauer Instituts,
scheidender Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt und neuer Direktor des Simon
Dubnov-Instituts für jüdische Geschichte und
Kultur an der Universität Leipzig.
Mit dem Preis wird Segevs Lebenswerk
als Autor zahlreicher Bücher gewürdigt, die
auf der Grundlage von neu erschlossenem
Archivmaterial, unpublizierten Privatdokumenten und Zeitzeugeninterviews zur neuen
Bewertung sehr komplexer Zusammenhänge und in der Folge zur kritischen Revision
des bis in die 1990er Jahre herrschenden
Geschichtsbildes in und über Israel beitrugen. Er wird zur Gruppe der sogenannten
»Neuen Historiker« gezählt, die in den späten 1980er Jahren einen israelischen »Historikerstreit« auslösten. Durch seine hohe
persönliche Integrität konnte er in seinem
Land ebenso wie im Ausland eine selbstkritische Öffnung der Geschichtsdebatte
über entscheidende Phasen der Geschichte
Palästinas und Israels entscheidend anregen
und den Geschichtsdiskurs über Israel bis
heute prägen. Seine vorbehaltlose Offenheit
zur Neubetrachtung der Vorgeschichte und
ersten Jahrzehnte des israelischen Staates
und seine Arbeiten über den Holocaust und
dessen Nachwirkungen begründeten seine
Glaubwürdigkeit und Anerkennung als Historiker und Kommentator weit über Israel
hinaus. Diese doppelte Beschäftigung mit
israelischer und deutscher Geschichte macht
Tom Segev wurde am 1. März 1945 kurz
vor Kriegsende in Jerusalem geboren. Seine Eltern wanderten 1933 aus Deutschland
aus und ließen sich 1935 in Palästina nieder.
Sein Vater Heinz Schwerin war Architekt,
seine Mutter Ricarda Meltzer Fotografin,
beide lernten sich als Studenten am Bauhaus in Dessau kennen. Segev studierte
Geschichte und Politikwissenschaften an
der Hebräischen Universität Jerusalem und
promovierte an der Universität Boston. In
den 1970er Jahren war er Deutschlandkorrespondent für die israelische Tageszeitung
Maariv und danach langjähriger Kolumnist
für Haaretz. Tom Segev lebt in Jerusalem.
Seine Dissertation (Boston University,
MA/USA, 1988) widmete Tom Segev den
Soldaten des Bösen – Zur Geschichte der
KZ-Kommandanten (Rowohlt Verlag, 1992).
Mit Die siebte Million. Der Holocaust und
100
Nachrichten und Berichte
Überreichung der Urkunde (v. l.): Dr. Jan Gerchow, Tom Segev, Prof. Dr. Salomon Korn. Foto: Werner Lott
ihn zugleich für das deutsche Publikum zu
einem der einflussreichsten Vermittler der
israelischen Geschichtsdebatte und viel gefragten Analysten des deutsch-israelischen
Verhältnisses hierzulande.
Israels Politik der Erinnerung (Rowohlt Verlag, 1995), seinem zweiten in Deutschland
erschienenen Buch, setzte er die Beschäftigung mit dem Holocaust mit einem anderen
Fokus fort: Er vertrat die provokante These,
dass die zionistische Bewegung vor und auch
lange nach der israelischen Staatsgründung
1948 der Auslöschung und den Leiden der
europäischen Juden nahezu passiv oder sogar
gleichgültig gegenüberstand. Auch den Ambivalenzen der nach dem Eichmann-Prozess
von 1961 in Israel einsetzenden Integration
des Holocaust in die nationale Erinnerungspolitik ist das Buch gewidmet. In dem vergleichsweise schmalen Band Elvis in Jerusalem. Die moderne jüdische Gesellschaft
(Siedler Verlag, 2003) beschrieb Segev den
Post-Zionismus und die Amerikanisierung
Israels. In Es war einmal in Palästina. Juden
und Araber vor der Staatsgründung Israels
(Siedler Verlag, 2005) griff er einen weiteren
Grundpfeiler des bis dahin geltenden Geschichtsbildes an: Die Rolle der britischen
Mandatsmacht (1917–1948) in Palästina
wird von ihm radikal neu bewertet. Sie sei
nicht proarabisch gewesen, vielmehr hätten
die Briten das zionistische Staatsprojekt
gefördert. Segev erhielt dafür den National
Jewish Book Award. In 1967, Israels zweite
Geburt (Siedler Verlag, 2007) stellte Segev
einen weiteren Pfeiler im israelischen Geschichtsbild in Frage: Der Sechstagekrieg
war nicht unvermeidbar und die Truppen der
arabischen Nachbarn nicht überlegen.
Mit über 20-jähriger Verspätung liegt
inzwischen auch die deutsche Übersetzung
von Segevs bereits 1984 in Israel erschienen Erstlingswerk vor: Die ersten Israelis.
Die Anfänge des jüdischen Staates (Siedler
Verlag, 2008) schildert die dramatischen
Bedingungen, unter denen Israel gegründet
wurde, und seine ersten formativen Jahre.
Derzeit schreibt Segev an einer Biografie
des israelischen Staatsgründers David Ben
Gurion, mit dessen Rolle er sich seit seiner
Studentenzeit beschäftigt. Sie wird die zweite große Biografie in seinem Oeuvre nach
Simon Wiesenthal. Die Biographie (Siedler
Verlag, 2010) sein.
Die Bücher Tom Segevs verbinden
stilistische Eleganz mit Erzählfreude und
scharfsinniger Analyse, unter Einbeziehung
einer ungewöhnlichen Breite und Vielfalt
von Materialien als Quellen. In angelsächsischer Tradition richten sie sich an eine
breite Öffentlichkeit und werden in der Tagespresse diskutiert. Segevs Bücher wurden
in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Friedenspreis der Geschwister Korn
und Gerstenmann-Stiftung
Der Preis würdigt literarische, publizistische
und kulturelle Bemühungen um den Frieden
in Israel und darüber hinaus in der ganzen
Welt. Er wird alle drei Jahre vergeben und
ist zurzeit mit 50.000 Euro dotiert. Gestiftet
haben ihn Abraham Korn und seine Schwester Rosa Gerstenmann im Jahr 1987 zum Gedenken an ihre im Konzentrationslager Majdanek ermordete Nichte Sarah Gerstenmann.
Bisherige Preisträger waren: Shimon
Peres (2001), Amos Oz (2003), Daniel
Barenboim und Edward Said (2006), Sari
Nusseibeh und Itamar Rabinovich (2009),
Avi Primor (2012).
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Aus Kultur und Wissenschaft
Eine Ausnahme
Überleben. Freundschaft.
Widerstand
Irmgard Heydorn und
Trude Simonsohn im Portrait.
Ein Medienprojekt von Adrian Oeser
http://eine-ausnahme.de
Wie können die Erzählungen von zwei beeindruckenden Zeitzeuginnen des Nationalsozialismus
medial vermittelt werden? Wie kann man
junge Menschen dazu motivieren, sich mit
diesen Berichten auseinanderzusetzen? Und
wie lassen sich jene authentischen Zeugnisse bewahren in einer Zeit, in der wir langsam
Abschied nehmen von der Generation der
ZeitzeugInnen des Nationalsozialismus?
Das Medienprojekt des Frankfurter Filmemachers Adrian Oeser schlägt Antworten
auf diese Fragen vor.
Die Widerstandskämpferin Irmgard
Heydorn und die Holocaust-Überlebende
Trude Simonsohn verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Irmgard Heydorn war
16 Jahre alt, als sie sich der Widerstandsgruppe des Internationalen Sozialistischen
Kampfbundes anschloss, und arbeitete von
da an gegen die Nazis. Trude Simonsohn
wuchs in der damaligen Tschechoslowakei
auf, war in der zionistischen Jugendbewegung organisiert und wurde 1942 von den
Nazis verhaftet. Sie überlebte das Ghetto Theresienstadt, das Vernichtungslager
Auschwitz und weitere Konzentrationslager.
In den 1950er Jahren lernte sie in Hamburg
Irmgard Heydorn kennen. Retrospektiv sagt
Trude Simonsohn, dass es ihr das Leben in
Deutschland ungemein erleichterte, in Irmgard Heydorn und deren Mann Menschen
kennengelernt zu haben, die in Deutschland
Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten.
Der Film erzählt auf sehr persönliche
Weise das Leben und die Freundschaft von
Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn.
Dabei lässt der Film, den Adrian Oeser
noch als Schüler drehte, bewusst Lücken,
um Raum für Fragen zu lassen. Deshalb beschloss Adrian Oeser, die Interviews, die er
mit den beiden beeindruckenden Zeitzeuginnen 2007 führte, auf einer Website zugänglich
zu machen. Daraus entstand das crossmediale
Web-Projekt »Eine Ausnahme. Überleben.
Freundschaft. Widerstand. Irmgard Heydorn
und Trude Simonsohn im Portrait«.
Als Einstieg in die Website soll der
Film bei den BesucherInnen Interesse wecken und zum Weiterschauen, Weiterfragen
und Weiterlesen anregen. In über 60 Interviewsequenzen berichten Irmgard Heydorn
und Trude Simonsohn über ihr Leben, ihre
Freundschaft, ihr politisches Engagement.
Ergänzt werden diese Erzählungen durch
Texte zu historischen Themen, persönliche
Fotografien der Protagonistinnen und historische Originalmaterialien. Auf diese Weise
entsteht ein zugleich informatives wie persönliches Porträt der beiden Frauen und der
Zeit ihrer Erzählungen.
Das Projekt wurde gefördert von der
Hans-Böckler-Stiftung und dem Studentischen Projektrat an der Frankfurter GoetheUniversität, es wurde unterstützt von der
Bildungsstätte Anne Frank und der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der GoetheUniversität Frankfurt am Main.
Eine DVD des Projekts für den Einsatz
im Unterricht (Laufzeit: 150 Min.) ist im
Vertrieb Filmsortiment erschienen. Bezug:
www.filmsortiment.de
Glückwünsche zum Geburtstag
Am 25. März feierte Trude Simonsohn ihren 95. Geburtstag. Ein Tag zuvor feierte
Irmgard Heydorn die Vollendung ihres 100.
Lebensjahres. Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts gratulieren herzlich!
Kontakt
Adrian Oeser
c/o Bildungsstätte Anne Frank e.V.
Hansaallee 150
60320 Frankfurt am Main
[email protected]
101
Aus Kultur und Wissenschaft
Den Auftakt der Rauminszenierung bilden
jüdische Zeremonialobjekte und Druckzeugnisse aus der Frühen Neuzeit. Sie eröffnen
einen Einblick in die Traditionen, die in der
Judengasse gepflegt und weiterentwickelt
wurden, sowie in die damaligen Beziehungen zwischen Juden und Christen.
Die wirtschaftsgeschichtlichen Zeugnisse, die an anderer Stelle präsentiert werden, legen nahe, dass Juden das Ghetto häufig
verließen, um Geschäften nachzugehen. In
Anlehnung an jüngere Forschungsergebnisse
zeigt die Ausstellung, dass die Judengasse
kein in sich geschlossenes Wohngebiet mit
eigenen Regeln war. Sie präsentiert anstatt
dessen ein differenziertes Geschichtsbild, das
verschiedene Formen der Zusammenarbeit
und wechselseitigen Einflussnahme zwischen
den jüdischen Einwohnern der Gasse und den
christlichen Stadtbewohnern thematisiert.
Dass Juden in Frankfurt trotz kaiserlichen
Schutzes auch antijüdischen Maßnahmen
Wiedereröffnung
Museum Judengasse
Neue Dauerausstellung
bietet spannende Einblicke
in das Leben der
Frankfurter Judengasse
Am Sonntag, den 20. März
2016, wurde das Museum Judengasse nach rund zweijähriger
Schließung wieder eröffnet. Die neue Dauerausstellung thematisiert die jüdische Geschichte und Kultur Frankfurts vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
und bildet den ersten Teil der Neukonzeption des Jüdischen Museums. Der zweite
Teil der Dauerausstellung, der die Zeit von
der Emanzipation bis zur Gegenwart präsentiert, wird ab 2018 im frisch sanierten und
erweiterten Rothschild-Palais zu sehen sein.
Der Festakt zur Museumseröffnung im
Casino der Stadtwerke Frankfurt stand unter
dem Motto »Massel und Broche – Glück und
Segen«. Neben der neu berufenen Direktorin des Jüdischen Museums, Dr. Mirjam
Wenzel, sprachen Kulturdezernent Prof. Dr.
Felix Semmelroth, Oberbürgermeister Peter
Feldmann, der frühere Oberbürgermeister
Andreas von Schoeler in seiner Funktion als
Vorsitzender der Freunde und Förderer des
Jüdischen Museums und Prof. Dr. Salomon
Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde
Frankfurt am Main.
»Die Neugestaltung des Museums Judengasse zeigt, wie gut es gelungen ist, die
beiden Standorte des Museums zusammenzuführen und aufeinander abzustimmen. Die
in den Jahren 2012 bis 2014 von der Stadtverordnetenversammlung gefassten Beschlüsse
zur Sanierung und Erweiterung des Jüdischen
Museums ermöglichten den Umbau hin zu
einer zeitgemäßen Ausstellungskonzeption am authentischen Schauplatz«, sagt
Semmelroth. »Am Börneplatz ist durch die
räumliche Nähe des Museums Judengasse
mit der Gedenkstätte für die deportierten und
ermordeten Frankfurter Juden und dem alten
jüdischen Friedhof ein historisches Ensemble entstanden, das die Auseinandersetzung
mit der jüdischen Geschichte Frankfurts auf
besondere Weise ermöglicht. Frankfurt ist
die einzige Großstadt in Deutschland, in der
die jüdische Gemeinschaft vor Ort bis ins
12. Jahrhundert zurückgeht. Das neue Jüdische Museum ist ein Lernort gerade auch
für die junge Generation. Die interaktive
Ausstellung trägt dazu bei, das Verständnis
füreinander und ein tolerantes Miteinander
zu fördern«, so Semmelroth weiter. »Mit der
multimedialen Installation zu Beginn der
Ausstellung und dem besonderen Angebot
für Kinder werden insbesondere Familien zu
einem Museumsbesuch eingeladen«, ergänzt
Museumsdirektorin Dr. Mirjam Wenzel.
»Die zeitgemäße Inszenierung soll dabei vor
allem den Ort selbst zum Sprechen bringen
und unseren Besuchern einen vielseitigen
und abwechslungsreichen Einblick in die
102
Nachrichten und Berichte
und Gewalt ausgesetzt waren, verdeutlichen
rechtliche Anordnungen und die Spuren von
Pogromen an geraubten und geschändeten
Schriften. Mit diesen Dokumenten der jiddischen wie auch hebräischen Schriftkultur
und den vertonten Gesängen und Gedichten
aus der Judengasse findet der Ausstellungsrundgang seinen Abschluss.
Das Vermittlungsangebot in der Ausstellung umfasst sowohl mediale wie auch
interaktive Elemente. Der Multimediaguide,
der als App auf mobilen Geräten installiert
werden kann, bezieht eine der bedeutendsten
jüdischen Grabstätten Europas in den Ausstellungsrundgang mit ein. Eine multimediale Installation zu Beginn sowie mehrere
Medienstationen innerhalb der Ausstellung
geben einen Überblick über die jüdische Alltagskultur der Frühen Neuzeit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren können die Ausstellung
mit spielerischen Mitmachangeboten, einem
eigenen Katalog und einer Audioführung
erkunden. Das Kinderprogramm, organisiert
vom Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer
Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, sowie besondere Führungen ergänzen
das Angebot für Familien.
Die Frankfurter Judengasse
Geschichte, Politik, Kultur
Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums
Frankfurt, hrsg. von Fritz Backhaus, Raphael Gross,
Sabine Kößling und Mirjam Wenzel
München: C.H. Beck Verlag, 2016, 232 S., 81 teils
farb. Abb., ISBN 978-3-406-68987-1, € 14,95,
erscheint auch in engl. Sprache, ab 11. Mai 2016
Kontakt
Museum Judengasse
Battonnstr. 47, 60311 Frankfurt am Main
Tel.: 069.212-70790, Fax: -730705
[email protected]
www.museumjudengasse.de
Mehr zu den Angeboten des Pädagogischen
Zentrums zur neuen Dauerausstellung lesen
Sie auf Seite 94.
Blick in die historischen Fundamente der Frankfurter Judengasse, Foto: Norbert Miguletz, Jüdisches Museum Frankfurt
jüdische Alltagskultur der Frühen Neuzeit
geben.«
Bereits der erste Raum der neuen Dauerausstellung betont die Vielschichtigkeit
des Platzes: Neben Zeugnissen aus der
Börneplatzsynagoge und Fotos von deren
Zerstörung thematisiert er die Protestkundgebungen, die hier im Jahr 1987 stattfanden.
Damals stieß man bei Bauarbeiten auf die
Fundamente von zwei Mikwen und mehreren Häusern der Judengasse. Daraufhin entbrannte eine heftige Auseinandersetzung um
das öffentliche Verantwortungsbewusstsein
der Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit jüdischem Kulturgut. Der Konflikt
führte zur Bewahrung der archäologischen
Zeugnisse von fünf Häusern sowie zur Entstehung des Museums Judengasse. Die neue
Dauerausstellung eröffnet verschiedene Zugänge zum alltäglichen Leben im ersten jüdischen Ghetto Europas. Inmitten von Ruinen werden Objekte anschaulich gezeigt, die
einst vor Ort gefertigt oder genutzt wurden.
Fritz Bauer Institut
Geschichte und
Wirkung des Holocaust
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Kontakt: Dorothee Becker, Tel.: 069.798 322-40, [email protected]
Einsicht 15 Frühjahr 2016
103
Ausstellungsangebote
Wanderausstellungen
des Fritz Bauer Instituts
Aus Kultur und Wissenschaft
Jubiläumsjahr 2015
Zwei Publikationen zum
deutsch-israelischen
Jugendaustausch
Moving Moments / Connecting for Life
Deutsch-Israelischer Jugendaustausch
in Forschung und Praxis
ckenschlag zwischen Israel und Deutschland
beigetragen. Neben Fragen nach der konkreten Mitgestaltung der politischen und
gesellschaftlichen Beziehungen durch den
deutsch-israelischen Jugendaustausch stehen
auch der Wandel von Erwartungen, Zielen
und Konzepten sowie die Zukunftsvisionen
für die deutsch-israelischen Jugendkontakte
im Mittelpunkt. Fragen zur Gegenwartsbedeutung der Geschichte und Herausforderungen beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebenswelten in Europa und Nahost bei
Begegnungen junger Deutscher und Israelis
werden ebenfalls beleuchtet.
50 Jahre Diplomatische Beziehungen
Deutschland – Israel / 60 Jahre
Deutsch-Israelischer Jugendaustausch
Geschichte(n) – Einblicke – Informationen
Kompendium mit Forschungsergebnissen und
Fachbeiträgen aus 60 Jahren Praxis im DeutschIsraelischen Jugendaustausch
Hrsg. von ConAct – Koordinierungszentrum DeutschIsraelischer Jugendaustausch, Lutherstadt Wittenberg und
der Israel Youth Exchange Authority, Tel Aviv, 2015, 250 S.,
Deutsch/Hebräisch. Das Fachbuch ist kostenlos. Es kann
gegen Übernahme der Versandkosten in Höhe von € 2,40
bei ConAct bestellt werden.
In diesem reich bebilderten
Fachbuch zum deutsch-israelischen Jugendaustausch werden historische
Entwicklungen und Forschungsergebnisse
aus sechs Jahrzehnten intensiver deutschisraelischer Begegnungsarbeit seit Mitte
der 1950er Jahre zusammengetragen. Der
Jugendaustausch stellt einen Versuch dar,
die unmöglich erscheinende Annäherung
zwischen Deutschland und Israel nach der
Shoah und den durch deutsche Nationalsozialisten begangenen Verbrechen an den
europäischen Juden zu initiieren. Die Kontakte zwischen den unterschiedlichen Generationen beider Länder, die sich innerhalb
und außerhalb organisierter Begegnungen
bewegen, haben wesentlich zu einem Brü104
Hrsg. von ConAct – Koordinierungszentrum DeutschIsraelischer Jugendaustausch, Lutherstadt Wittenberg
und der Israel Youth Exchange Authority, Tel Aviv,
2015, 160 S., Deutsch/Hebräisch. Die Broschüre ist
kostenlos. Sie kann gegen Übernahme der Versandkosten in Höhe von € 2,40 bei ConAct bestellt werden.
Die deutsch-hebräische Broschüre zu »60 Jahre deutschisraelischer Jugendaustausch« führt kurzweilig und informativ in die Geschichte und
Gegenwart des bilateralen Begegnungsprogramms ein. In einem historischen Abriss werden den wichtigen Stationen der politischen
Entwicklung historische Fotografien und Hintergrundinformationen hinzugefügt, visuell
angelehnt an die Website »Exchange-Visions«
(www.exchange-visions.de). Übersichtliche
Schaubilder und Grafiken versammeln Daten
und Zahlen und geben somit Aufschluss über
die Veränderungen und Strukturen der vergangenen Jahrzehnte im deutsch-israelischen
Nachrichten und Berichte
Jugend- und Fachkräfteaustausch. Nur mit
allen Beteiligten – den Teamer/-innen, Teilnehmenden, Verbänden, Zentralstellen, Ministerien und beiderseitigen Koordinierungszentren in Deutschland und Israel – wird der
Austausch getragen und wächst die Qualität
der deutsch-israelischen Jugendkontakte.
Davon berichten zum einen die Stimmen
bekannter Akteure im deutsch-israelischen
Jugendaustausch. Zum anderen zeugen die
Berichte über die bilaterale Zusammenarbeit
von ConAct mit der Israel Youth Exchange
Authority von der fortdauernden Weiterentwicklung und Erweiterung des Jugendaustausches und werfen Schlaglichter auf eigens
entwickelte Veranstaltungsformate und die
großen Highlights der letzten Jahrzehnte.
Download der digitalen Version des Fachbuchs und der Broschüre, jeweils in deutscher und hebräischer Sprache: www.conactorg.de/materialien/conact-materialien
ConAct ist ein bundesweites Service- und
Informationszentrum für Jugendkontakte
zwischen Deutschland und Israel mit Sitz in
Lutherstadt Wittenberg. Es fördert bestehende Kontakte durch die Beratung zur Planung
und Finanzierung von deutsch-israelischen
Jugendbegegnungen und regt neue Ideen für
den Austausch an. Das im Oktober 2001 eröffnete Koordinierungszentrum unterstützt
jedes Jahr rund 300 Projekte der außerschulischen Bildungs- und Austauscharbeit finanziell und pädagogisch. Partnerorganisation in
Israel ist die Israel Youth Exchange Authority
in Tel Aviv. ConAct ist eine Einrichtung des
Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend mit Unterstützung der
Länder Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern, in Trägerschaft der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt.
Kontakt
ConAct – Koordinierungszentrum
Deutsch-Israelischer Jugendaustausch
Altes Rathaus – Markt 26
06886 Lutherstadt Wittenberg
Tel.: 03491.4202-60, Fax: -70
[email protected]
www.conact-org.de
sechzig. Sie entstehen auf der Basis weiterer Recherchen und an manchen Orten
in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und
Schülern.
Legalisierter Raub
Der Fiskus und die Ausplünderung
der Juden in Hessen 1933–1945
Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks,
mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen
und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
Die Ausstellung gibt einen
Einblick in die Geschichte
des legalisierten Raubes, in die Biografien
von Tätern und Opfern.
Die Tafeln im Hauptteil der Ausstellung entwickeln die Geschichte der Tätergesellschaft, die mit einem Rückblick auf
die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung
nach einer Enteignung der Juden gab es
nicht erst seit der Machtübernahme der
Nationalsozialisten. Sie konnten vielmehr
auf weitverbreitete antisemitische Klischees
zurückgreifen, insbesondere auf das Bild
vom »mächtigen und reichen Juden«, der
sein Vermögen mit List und zum Schaden
des deutschen Volkes erworben habe. Vor
diesem Hintergrund zeichnet das zweite
Kapitel die Stufen der Ausplünderung und
die Rolle der Finanzbehörden in den Jahren
von 1933 bis 1941 nach. Im nachgebauten
Zimmer eines Finanzbeamten können die
Ausstellungsbesucher in Aktenordnern
blättern: Sie enthalten unter anderem Faksimiles jener Vermögenslisten, die Juden
Einsicht 15 Frühjahr 2016
vor der Deportation ausfüllen mussten, um
den Finanzbehörden die »Verwaltung und
Verwertung« ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu erleichtern. Weitere Tafeln
beschäftigen sich mit den kooperierenden
Interessengruppen in Politik und Wirtschaft,
aber auch mit dem »deutschen Volksgenossen« als Profiteur. Schließlich wird nach der
sogenannten Wiedergutmachung gefragt:
Wie ging die Rückerstattung vor sich, wie
erfolgreich konnte sie angesichts der gesetzlichen Ausgangslage und der weitgehend
ablehnenden Haltung der Bevölkerungsmehrheit sein?
Die Ausstellung wandert seit dem Jahr
2002 sehr erfolgreich durch Hessen und darüber hinaus. Sie wurde an bisher 26 Stationen gezeigt. Da für jeden Präsentationsort
neue regionale Vitrinen entstehen, die sich
mit der Geschichte des legalisierten Raubes
am Ausstellungsort beschäftigen, »wächst«
die Ausstellung. Waren es bei der Erstpräsentation 15 Vitrinen, die die Geschichten
der Opfer erzählten, sind es heute weit über
Publikationen zur Ausstellung
› Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung.
Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung
Hessen-Thüringen, Heft 8, 2002, 72 S., € 5,–
› Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub.
Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen.
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts,
Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus
Verlag, 2004, 748 S., € 44,90
› Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung.
Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz
Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main,
New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90
› DER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN
AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning
Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk,
2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,–
Ausstellungsexponate
Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen im
Format 100 x 70 cm, 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen,
2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten
Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die
Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das
Konzept zu übernehmen.
www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html
Ausstellungsstationen / Termine
Aktuelle Ausstellungsorte und -zeiten für
unsere Wanderausstellungen finden Sie auf
Seite 11.
Ausstellungsausleihe
Unsere Ausstellungen können gegen Gebühr
ausgeliehen werden. Wir beraten Sie gerne
bei der Organisation des Begleitprogramms.
Weitere Informationen und ein Ausstellungsangebot senden wir Ihnen auf Anfrage zu.
Kontakt
Fritz Bauer Institut
Manuela Ritzheim
Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41
[email protected]
105
Ein Leben aufs neu
Das Robinson-Album.
DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948
Ausstellung »Ein Leben
aufs neu« im Alten
Goethegymnasium in
Neu-Isenburg, veranstaltet von der Seminar- und
Gedenkstätte BerthaPappenheim-Haus in
Zusammenarbeit mit
dem Stadtarchiv NeuIsenburg, der Evangelisch-Reformierten
Gemeinde Neu-Isenburg
und der Jüdischen
Volkshochschule Frankfurt am Main.
(1. Jan. ‒ 29. Feb. 2016)
Fotos: Werner Lott
Nach Ende des Zweiten
Weltkriegs fanden jüdische
Überlebende der NS-Terrorherrschaft im
Nachkriegsdeutschland Zuflucht in sogenannten Displaced Persons (DP) Camps. Die
Fotoausstellung porträtiert das tägliche Leben und die Arbeit der Selbstverwaltung in
dem in der amerikanischen Besatzungszone
gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim.
Der aus Polen stammende Ephraim
Robinson hatte seine ganze Familie im
Holocaust verloren. Als DP kam er 1945
nach Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebensunterhalt im Lager verdiente er sich als
freiberuflicher Fotograf. In eindrücklichen
Bildern hielt er fest, wie die geschundenen
Menschen ihre Belange in die eigenen Hände nahmen, ihren Alltag gestalteten, »ein
Leben aufs neu« wagten. Als Ephraim Robinson 1958 in den USA verstarb – in die
er zehn Jahre zuvor eingewandert war –,
hinterließ er nicht nur viele hunderte Aufnahmen, sondern auch ein Album, das die
Geschichte der jüdischen DPs in exemplarischer Weise erzählt.
Über das vertraut erscheinende Medium des Albums führt die Ausstellung in ein
den meisten Menschen unbekanntes und von
vielen verdrängtes Kapitel der deutschen
und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein:
Fotografien von Familienfeiern und Schulunterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport
und Feste, Zeitungen und Theater, zionistische Vorbereitungen auf ein Leben in Palästina – Manifestationen eines »lebn afs nay«,
das den Schrecken nicht vergessen macht.
Das Konzentrationslager
der IG Farbenindustrie AG
in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die
Kooperation zwischen Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus. Die komplexe
Geschichte dieser Kooperation, ihre Widersprüche, ihre Entwicklung und ihre Wirkung
auf die Nachkriegszeit (die Prozesse und der
bis in die Gegenwart währende Streit um
die IG Farben in Liquidation), wird aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert.
Strukturiert wird die Ausstellung durch Zitate aus der Literatur der Überlebenden, die
zu den einzelnen Themen die Funktion der
einführenden Texte übernehmen. Gezeigt
werden Reproduktionen der Fotografien, die
von der SS anlässlich des Besuchs von Heinrich Himmler in Auschwitz am 17. und 18.
Juli 1942 angefertigt wurden. Die Bildebene
erzählt also durchgängig die Tätergeschichte, der Blick auf die Fabrik und damit die
Technik stehen im Vordergrund. Die Textebene hingegen wird durch die Erzählung
der Überlebenden bestimmt.
Die Ausstellung ist als Montage im
filmischen Sinn angelegt. Der Betrachter
sucht sich die Erzählung selbst aus den Einzelstücken zusammen. Um diese Suche zu
unterstützen, werden in Heftern Quellentexte angeboten, die eine vertiefende Lektüre
ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer
Institut einen Reader zur Vorbereitung auf
die Ausstellung an.
Ausstellungsrealisation
Konzept: Gottfried Kößler; Recherche: Werner Renz;
Gestaltung: Werner Lott
Unterstützt von der Conference on Jewish Material
Claims Against Germany, New York.
Ausstellungsexponate
› Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm)
› Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm)
› Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm)
› Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm)
› Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm)
Ausstellungsexponate
› 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm)
› ein Lageplan des Lagers Buna/Monowitz
› ein Lageplan der Stadt Oświęcim
www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html
www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html
106
Die IG Farben und das
KZ Buna/Monowitz
Wirtschaft und Politik
im Nationalsozialismus
Ausstellungsangebote
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Fritz Bauer.
Der Staatsanwalt
NS-Verbrechen vor Gericht
Fritz Bauer gehört zu den
juristisch einflussreichsten
jüdischen Remigranten im Nachkriegsdeutschland. Als hessischer Generalstaatsanwalt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess
auf den Weg brachte, hat er bundesrepublikanische Geschichte geschrieben. Die
Ausstellung nimmt den Prozess, der sich
2013 zum fünfzigsten Mal jährte, zum Anlass, Fritz Bauer einem größeren Publikum
vorzustellen.
Bauers Leben blieb nicht unberührt von
den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Die
Ausstellung dokumentiert seine Lebensgeschichte im Spiegel der historischen Ereignisse, die ihn auch persönlich betrafen. Als
Jude blieb Fritz Bauer vom Antisemitismus
nicht verschont. Als Sozialdemokrat glaubte
er dennoch an den Fortschritt, dann trieben
ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins
Exil. Als Generalstaatsanwalt hat er das
überkommene Bild dieses Amtes revolutioniert. Nicht der Gehorsam der Bürger gegenüber dem Staat stand im Vordergrund.
Bauer verstand sich stets als Vertreter der
Menschenwürde vor allem auch gegen staatliche Gewalt – ein großer Schritt auf dem
Weg der Demokratisierung in der frühen
Bundesrepublik.
Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts
und des Jüdischen Museums Frankfurt am
Main.
Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Joachim
Gauck. Sie wird gefördert durch die Stiftung
Polytechnische Gesellschaft, die Hamburger
Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und
Kultur, das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz, das Hessische Ministerium der Justiz, für Integration und Europa, die Georg und Franziska Speyer’sche
Hochschulstiftung, die Fazit-Stiftung sowie
Christiane und Nicolaus Weickert.
Kuratoren der Ausstellung
› Monika Boll (Fritz Bauer Institut): Konzeption und Aufbau der Erstausstellung
in Frankfurt
› Erik Riedel (Jüdisches Museum Frankfurt):
Betreuung der Wanderausstellung
Ausstellungsstationen
› 10. April bis 7. September 2014
Jüdisches Museum Frankfurt am Main
› 9. Dezember 2014 bis 15. Februar 2015
Thüringer Landtag in Erfurt
› 26. Februar bis 17. April 2015
Landgericht Heidelberg
› 7. Mai bis 26. Juni 2015
Landgericht Tübingen
› 10. März bis 10. Mai 2016
Ministerium der Finanzen RheinlandPfalz und Ministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz Mainz
› 21. April bis 21. August 2016
NS-Dokumentationszentrum der
Stadt Köln
Zur Ausstellung sind erschienen:
Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross
(Hrsg.) Fritz Bauer. Der Staatsanwalt
NS-Verbrechen vor Gericht
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014,
300 S., zahlr. Abb., € 29,90
ISBN: 978-3-5935-0105-5
Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 32
Fritz Bauer Institut (Hrsg.)
Redaktion: Bettina Schulte Strathaus
Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden
aus den Fernseharchiven 1961‒1968
Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017
2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90
ISBN: 978-3-8488-4017-5
www.absolutmedien.de
www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer-ausstellung.html
107
Publikationen
des Fritz Bauer Instituts
Werner Konitzer und Raphael Gross (Hrsg.)
Moralität des Bösen
Ethik und nationalsozialistische Verbrechen
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2009,
272 S., € 29,90, EAN 978-3-59339021-5;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2009, Band 13
Ulrich Wyrwa (Hrsg.)
Einspruch und Abwehr
Die Reaktion des europäischen Judentums auf die
Entstehung des Antisemitismus (1879–1914)
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010,
372 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39278-3;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2010, Band 14
Das Fritz Bauer Institut veröffentlicht mehrere Publikationsreihen, darunter das Jahrbuch und die
Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Campus Verlag, und die Schriftenreihe, die in
verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben
gibt es Publikationsreihen, die im Eigenverlag verlegt sind, darunter die Pädagogischen
Materialien und die Reihe Konfrontationen.
Video-Interviews, Ausstellungskataloge und
andere Einzelveröffentlichungen ergänzen
das Publikations-Portfolio des Instituts.
Eine komplette Auflistung aller bisher
erschienenen Publikationen des Fritz Bauer Instituts finden Sie auf unserer Website:
www.fritz-bauer-institut.de
Bestellungen bitte an die
Karl Marx Buchhandlung GmbH
Publikationsversand Fritz Bauer Institut
Jordanstr. 11, 60486 Frankfurt am Main
Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9
[email protected]
www.karl-marx-buchhandlung.de
Liefer- und Zahlungsbedingungen
Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig.
Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab
einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten berechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betragen
die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Für
Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Versandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandgewicht
in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland erhalten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang wird
das Paket versendet).
108
Jahrbuch zur Geschichte
und Wirkung des Holocaust
Fritz Bauer Institut (Hrsg.)
Gesetzliches Unrecht
Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert
Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Micha
Brumlik, Susanne Meinl und Werner Renz.
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2005,
244 S., € 24,90, ISBN 3-593-37873-6;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2005, Band 9
Fritz Bauer Institut,
Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.)
Neue Judenfeindschaft?
Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem
globalisierten Antisemitismus
Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts
von Bernd Fechler, Gottfried Kößler,
Astrid Messerschmidt und Barbara Schäuble.
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006,
378 S., € 29,90, ISBN 978-3-593-38183-1;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2006, Band 10
Fritz Bauer Institut (Hrsg.)
Zeugenschaft des Holocaust
Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung
Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts
von Michael Elm und Gottfried Kößler.
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007,
286 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38430-6;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2007, Band 11
Katharina Stengel und Werner Konitzer (Hrsg.)
Opfer als Akteure
Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der
Nachkriegszeit
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2008,
308 S., € 29,90, EAN 978-3-593-38734-5;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2008, Band 12
Publikationen
Liliane Weissberg (Hrsg.)
Affinität wider Willen?
Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die
Frankfurter Schule
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011
236 S., 18 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39490-9;
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2011, Band 15
Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.)
Holocaust und Völkermorde
Die Reichweite des Vergleichs
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012,
248 S., € 24,90, EAN 9783593397481
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2012, Band 16
Fritz Bauer Institut, Katharina Rauschenberger (Hrsg.)
Rückkehr in Feindesland?
Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen
Nachkriegsgeschichte
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013,
240 S., € 29,90, EAN 9783593399805
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2013, Band 17
Fritz Bauer Institut, Werner Konitzer (Hrsg.)
Moralisierung des Rechts
Kontinuitäten und Diskontinuitäten
nationalsozialistischer Normativität
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014,
248 S., € 29,90, EAN 99783593501680
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2014, Band 18
Katharina Rauschenberger, Werner Konitzer (Hrsg.)
Antisemitismus und andere Feindseligkeiten
Interaktionen von Ressentiments
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015
197 S., kartoniert, € 29,90, EAN 978-3-593-50469-8
Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2015, Band 19
Das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des
Holocaust erscheint mit freundlicher Unterstützung
des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V.
Mitglieder des Fördervereins können das aktuelle
Jahrbuch zum reduzierten Preis von € 23,90
(inkl. Versandkosten) im Abonnement beziehen.
Wissenschaftliche Reihe
Claudia Fröhlich
Wider die Tabuisierung des Ungehorsams
Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung
von NS-Verbrechen
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006,
430 S., € 39,90, ISBN 3-593-37874-4
Wissenschaftliche Reihe, Band 13
Thomas Horstmann, Heike Litzinger (Hrsg.)
An den Grenzen des Rechts
Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von
NS-Verbrechen
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006,
233 S., € 19,90, ISBN 3-593-38014-5
Wissenschaftliche Reihe, Band 14
Katharina Stengel (Hrsg.)
Vor der Vernichtung
Die staatliche Enteignung der Juden im
Nationalsozialismus
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007,
336 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38371-2
Wissenschaftliche Reihe, Band 15
Christoph Jahr
Antisemitismus vor Gericht
Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879–1960)
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011,
476 S., € 39,90, EAN 978-3-593-39058-1
Wissenschaftliche Reihe, Band 16
Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.)
Das »Großdeutsche Reich« und die Juden
Nationalsozialistische Verfolgung in den
»angegliederten« Gebieten
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010,
438 S., , € 39,90, EAN 978-3-593-39168-7
Wissenschaftliche Reihe, Band 17
Micha Brumlik, Karol Sauerland (Hrsg.)
Umdeuten, verschweigen, erinnern
Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010,
257 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39271-4
Wissenschaftliche Reihe, Band 18
Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.)
»Der Letzte der Ungerechten«
Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in
Filmen 1942–1975
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011
208 S., 36 Abb., € 24,90
EAN 978-3-593-39491-6
Wissenschaftliche Reihe, Band 19
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Werner Renz (Hrsg.)
Interessen um Eichmann
Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte
Kameradschaften
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012,
332 S., € 34,90, EAN 9783593397504
Wissenschaftliche Reihe, Band 20
Katharina Stengel:
Hermann Langbein
Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012,
635 S., € 34,90, EAN 9783593397887
Wissenschaftliche Reihe, Band 21
Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.)
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965)
Kommentierte Quellenedition
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013,
1.398 S., Hardcover, gebunden, Edition in zwei
Teilbänden, € 78,–, EAN 9783593399607
Wissenschaftliche Reihe, Band 22
Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.)
Unternehmer und NS-Verbrechen
Wirtschaftseliten im »Dritten Reich« und in der
Bundesrepublik Deutschland
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 2014,
416 S., € 34,90, EAN 9783593399799
Wissenschaftliche Reihe, Band 23
Katharina Rauschenberger, Werner Renz (Hrsg.)
Henry Ormond – Anwalt der Opfer
Plädoyers in NS-Prozessen
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015,
364 S., 27 Abb., € 34,90, EAN 978-3-593-50282-3
Wissenschaftliche Reihe, Band 24
Werner Renz (Hrsg.)
»Von Gott und der Welt verlassen«
Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015
300 S., gebunden, 24 s/w-Fotos, € 29,90
EAN 978-3-593-50468-1
Wissenschaftliche Reihe, Band 25
Birgit Erdle, Werner Konitzer (Hrsg.)
Theorien über Judenhass – eine Denkgeschichte
Kommentierte Quellenedition (1781–1931)
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015
361 S., gebunden, € 39,90, EAN 978-3-593-50470-4
Wissenschaftliche Reihe, Band 26
Isabell Trommer
Rechtfertigung und Entlastung
Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016,
320 S., gebunden, € 34,90, EAN 9783593505299
Wissenschaftliche Reihe, Band 27
Schriftenreihe
Hanno Loewy (Hrsg.)
Holocaust. Die Grenzen des Verstehens
Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 256 S.,
€ 9,60, ISBN 3-499-19367-1;
Schriftenreihe, Band 2
Oskar Rosenfeld
Wozu noch Welt
Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz
Hrsg. von Hanno Loewy. Verlag Neue Kritik,
Frankfurt am Main, 1994, 324 S., € 25,–,
ISBN 3-8015-0272-4;
Schriftenreihe, Band 7
Martin Paulus, Edith Raim, Gerhard Zelger (Hrsg.)
Ein Ort wie jeder andere
Bilder aus einer deutschen Kleinstadt.
Landsberg am Lech 1923–1958
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1995, 224 S.,
168 Abb., € 15,–, ISBN 3-499-19913-0;
Schriftenreihe, Band 9
Knut Dethlefsen, Thomas B. Hebler (Hrsg.)
Bilder im Kopf / Obrazy w glowie
Auschwitz – Einen Ort sehen
Oswiecim – Ujecia pewnego miejsca
Edition Hentrich, Berlin, 1996, 146 S., 134 Abb.,
€ 9,90, ISBN 3-89468-236-1
Schriftenreihe, Band 12
Hanno Loewy, Andrzej Bodek (Hrsg.)
»Les Vrais Riches« – Notizen am Rand
Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lodz
(Mai bis August 1944)
Reclam Verlag, Leipzig, 1997, 165 S., € 9,20,
ISBN 3-379-01582
Schriftenreihe, Band 13
Margrit Frölich, Hanno Loewy,
Heinz Steinert (Hrsg.)
Lachen über Hitler – Auschwitz Gelächter?
Filmkomödie, Satire und Holocaust
München: Edition text + kritik im Richard Boorberg
Verlag, 2003, 386 S., 40 s/w Abb., € 27,50,
ISBN 3-88377-724-2
Schriftenreihe, Band 19
Barbara Thimm, Gottfried Kößler,
Susanne Ulrich (Hrsg.)
Verunsichernde Orte
Selbstverständnis und Weiterbildung in der
Gedenkstättenpädagogik
Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag, 2010,
208 S., € 19,90; ISBN 978-3-86099-630-0
Schriftenreihe, Band 21
109
Jaroslava Milotová, Zlatica Zudová-Lešková,
Jiří Kosta (Hrsg.):
Tschechische und slowakische Juden im
Widerstand 1938–1945
Metropol Verlag, Berlin, 2008, 272 S., € 19,–,
ISBN 978-3-940938-15-2
Schriftenreihe, Band 22
Irmtrud Wojak
Fritz Bauer 1903–1968
Eine Biographie
Verlag C.H. Beck, München, 2009, 24 Abb., 638 S.,
€ 34,–, ISBN 978-3-406-58154-0;
Schriftenreihe, Band 23
Broschierte Sonderausgabe 2011:
Verlag C.H. Beck, München, 2011, € 28,–
ISBN 978-3-406-62392-9
Neuausgabe 2016:
Buxus Edition, München, 2016
614 S., € 28,– (zuz. € 4,50 Versand)
Bestelladresse: [email protected]
Der Versand erfolgt gegen Rechnung.
Joachim Perels (Hrsg.)
Auschwitz in der deutschen Geschichte
Offizin-Verlag, Hannover, 2010, 258 S.,
ISBN 978-3930345724, € 19,80;
Schriftenreihe, Band 25
Raphael Gross
Anständig geblieben
Nationalsozialistische Moral
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010, 288 S.,
€ 19,95, ISBN 978-3-10-028713-7;
Schriftenreihe, Band 26
Rolf Pohl, Joachim Perels (Hrsg.)
Normalität der NS-Täter?
Eine kritische Auseinandersetzung
Hannover: Offizin Verlag, 2011, 148 S., € 14,80
ISBN 978-3-930345-71-7
Schriftenreihe, Band 27
Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.)
»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«
Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2013,
384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0
Schriftenreihe, Band 28
Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.):
Bild dir dein Volk!
Axel Springer und die Juden
Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 224 S., 64 überw.
farb. Abb., € 19,90, ISBN: 978-3-8353-1081-0
Schriftenreihe, Band 29
Raphael Gross
November 1938
Die Katastrophe vor der Katastrophe
München: Verlag C. H. Beck, 2013, 128 S., € 8,95
110
Beck`sche Reihe: bsr – C.H. Beck Wissen; 2782
ISBN 978-3-406-65470-1; Schriftenreihe, Band 31
Eine Publikation des Leo Baeck Institute London
Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.)
Fritz Bauer. Der Staatsanwalt
NS-Verbrechen vor Gericht
Begleitband zur Ausstellung des Fritz Bauer Instituts
und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, in
Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014,
300 S., zahlr. Abb., € 29,90
ISBN: 978-3-5935-0105-5
Schriftenreihe, Band 32
Martin Liepach, Wolfgang Geiger:
Fragen an die jüdische Geschichte
Darstellungen und didaktische Herausforderungen
Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2014,
Reihe Geschichte unterrichten, 192 S., € 19,80
ISBN: 978-3-7344-0020-9
Schriftenreihe, Band 33
Pädagogische Materialien
des Pädagogisches Zentrums des Fritz Bauer
Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt
Mirjam Thulin
Von Frankfurt nach Tel Aviv
Die Geschichte der Erna Goldmann
Materialheft zum Filmporträt
Redaktion: Gottfried Kößler, Manfred Levy
Frankfurt am Main, 2012, 48 S., € 5,–
ISBN 978-3-932883-34-7
Pädagogische Materialien Nr. 01
Wolfgang Geiger, Martin Liepach, Thomas Lange
(Hrsg.)
Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe
außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg
Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsprojekt
»Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«
Frankfurt am Main, 2013, 76 S., € 7,–
ISBN 978-3-932883-35-4
Pädagogische Materialien Nr. 02
Dagi Knellessen
Novemberpogrome 1938
»Was unfassbar schien, ist Wirklichkeit«
Mit einem Vorwort von Raphael Gross
Redaktion: Gottfried Kößler
Frankfurt am Main 2015, 116 S., € 10,–
IBAN 978-3-932883-36-1
Pädagogische Materialien Nr. 03
Publikationen
Reihe »Konfrontationen«
Zeitzeugen-Videos auf DVD
DVD/DVD-ROM
Sonstige Veröffentlichungen
Die Video-Interviews sind für die pädagogische Arbeit
mit Zeitzeugenaussagen konzipiert. Sie sind für den Einsatz in der Schule (ab Klasse 8), der Erwachsenenbildung, der Lehrerfortbildung und der außerschulische Bildungsarbeit geeignet. Die DVD-Reihe wird fortgeführt.
Veröffentlichung elektronischer Medien des Fritz Bauer
Institut und Veröffentlichungen, die mit Unterstützung
des Fritz Bauer Instituts erschienen sind.
Kersten Brandt, Hanno Loewy, Krystyna Oleksy (Hrsg.)
Vor der Auslöschung…
Fotografien gefunden in Auschwitz
Hrsg. im Auftrag des Staatlichen Museums AuschwitzBirkenau. Gina Kehayoff Verlag, München, 2001,
2. überarb. Aufl., Bildband, 492 S., ca. 2.400 Farbabb.
und Textband, 158 S., € 124,95; ISBN 3-934296-13-0
Bausteine für die pädagogische Annäherung
an Geschichte und Wirkung des Holocaust
Gottfried Kößler, Petra Mumme
Identität
› Individuum und Gesellschaft
› Anfänge des Nationalsozialismus
Frankfurt am Main, 2000, 56 S., ISBN 3-932883-25-X
Konfrontationen Heft 1
Jacqueline Giere, Gottfried Kößler
Gruppe
› Gemeinschaft und Ausschluss
› Volksgemeinschaft und Verfolgung von Minderheiten
Frankfurt am Main, 2001, 56 S., ISBN 3-932883-26-8
Konfrontationen Heft 2
Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme
Ausschluss
› Voraussetzungen und Zusammenhänge des
Ausschlusses von Minderheiten aus der
NS-Volksgemeinschaft
› NS-»Euthanasie«-Verbrechen
› Verfolgung schwarzer Deutscher in der NS-Zeit
› Der Weg zum Völkermord an den Sinti und Roma
Frankfurt am Main, 2003, 80 S., ISBN 3-932883-27-6
Konfrontationen Heft 3
Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke
Ghetto
› Vernichtung durch Arbeit: das Ghetto Lodz
› Theresienstadt – ein »Musterghetto«?
› Der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto
Frankfurt am Main, 2002, 88 S., ISBN 3-932883-28-4
Konfrontationen Heft 4
Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler
Deportationen
› Leben zwischen Novemberpogrom und Deportation
› Ausplünderung
› Verschleppung
Mit einem Beitrag von Peter Longerich: Deportationen. Ein historischer Überblick.
Frankfurt am Main, 2003, 64 S., ISBN 3-932883-24-1
Konfrontationen Heft 4
Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer
Todesmärsche und Befreiung
› Todesmärsche
› Befreiung der Lager
› »Ein Leben auf’s Neu« –
Jüdische Displaced Persons 1945 bis 195
Frankfurt am Main, 2003, 56 S., ISBN 3-932883-29-2
Konfrontationen Heft 6
Alle Hefte der »Konfrontationen«-Reihe sind zum
Preis von € 7,60 (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich.
»Ich habe immer ein bisschen Sehnsucht und
Heimweh …«
Marianne Schwab, geboren 1919 in Bad Homburg,
Öffentlicher Vortrag 1992
»Meine Eltern haben mir den Abschied leicht
gemacht«
Dorothy Baer, geboren 1923 in Frankfurt am Main
Interview 1992
»…dass wir nicht erwünscht waren«
Martha Hirsch, geboren 1918 in Frankfurt am Main,
und Erwin Hirsch, geboren in Straßburg
Interview 1993
»Rollwage, wann willst Du endlich aufwachen?«
Erinnerungen an die Kinderlandverschickung
1940–1945
Herbert Rollwage, geboren 1929 in Hamburg
Ausschnitte aus einem Gespräch im Rahmen eines
Seminars des Fritz Bauer Instituts 1996
»Returning from Auschwitz«
Bernhard Natt, geboren 1919 in Frankfurt am Main
Interview 1999
Ein Leben zwischen Konzentrations-lager und
Dorfgemeinschaft
Ruth Lion, geboren 1909 in Momberg (Hessen)
Interview 1998
Kindheit und Jugend im Frankfurter Ostend
1925–1941
Norbert Gelhardt, geboren 1925 in Frankfurt am Main,
Interview 2000
»Heim ins Reich«
Margarethe Eichberger, geb. Drenger; geboren 1926
im Baltikum (heute Lettland),
Interview 2001
Die DVDs können entliehen werden über:
Medienzentrum Frankfurt e.V., Ostbahnhofstr. 15,
60314 Frankfurt am Main, Tel.:. 069.949424-0,
[email protected]
www.medienzentrum-frankfurt.de
Die DVDs können erworben werden (€ 5,– plus Versandkosten), Bestelladresse: Karl Marx Buchhandlung,
Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main,
Tel.: 069.778807, [email protected]
www.karl-marx-buchhandlung.de
Einsicht 15 Frühjahr 2016
Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum
Auschwitz-Birkenau (Hrsg.):
Der Auschwitz-Prozess
Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente
DVD-ROM, ca. 80.000 S.
Berlin: Directmedia Verlag, 2004,
Die Digitale Bibliothek 101, € 45,–
ISBN 3-89853-501-0
Eine Neuauflage der DVD ist für € 19,90 (zzgl.
Versand) zu beziehen über: www.versand-as.de
Hessischer Rundfunk (Hrsg.)
Der große Raub (D 2002)
Wie in Hessen die Juden ausgeplündert wurden
Ein Film von Henning Burk und Dietrich Wagner,
Hrsg. in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit
dem Fritz Bauer Institut
DVD zur Ausstellung »Legalisierter Raub. Der Fiskus
und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–
1945« des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen
Rundfunks
DVD, hr media, 2007, 45 Min., € 10,–
ISBN 978-3-89844-311-1
Fritz Bauer Institut (Hrsg.)
Fritz Bauer
Gespräche, Interviews und Reden aus den
Fernseharchiven 1961‒1968
Redaktion: Bettina Schulte Strathaus
Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen
anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts
und des Jüdischen Museums Frankfurt: »Fritz Bauer.
Der Staatsanwalt – NS-Verbrechen vor Gericht«
Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017
2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90
ISBN: 978-3-8488-4017-5
http://absolutmedien.com/film-1565
Fritz Bauer Institut, Absolut MEDIEN (Hrsg.)
Auschwitz vor Gericht (D 2013)
Strafsache 4 Ks 2/63 (D 1993)
Zwei Dokumentationen
von Rolf Bickel und Dietrich Wagner
DVD-Booklet mit einem einführenden Text von
Werner Renz, Fritz Bauer Institut
Extras der DVD-ROM: ergänzende Texte und
Materialien zum Auschwitz-Prozess (pdf-Dateien),
zusammengestellt von Werner Renz.
Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4021
Regie: Rolf Bickel und Dietrich Wagner (hr)
2 DVDs, PAL, Mono, codefree, 4:3, Farbe + s/w,
220 Min., € 24,90, EAN: 978-3-8488-4021-2
http://absolutmedien.com/film-1569
Hrsg. von Irmtrud Wojak
im Auftrag des Fritz Bauer Instituts
Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main
Katalog zur gleichnamigen historisch-dokumentarischen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts
Snoeck Verlag, Köln, 2004, 872 S., 100 farb. und
800 s/w Abb., € 49,80, ISBN 3-936859-08
Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum
Auschwitz-Birkenau (Hrsg.):
Der Auschwitz-Prozess
Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente
DVD-ROM, ca. 80.000 S., Directmedia Verlag,
Berlin, 2004, Digitale Bibliothek, Band 101, € 45,–
ISBN 978-3-89853-801-5.
Eine Neuauflage der DVD ist für € 10,– (zzgl. Versand)
zu beziehen bei Versand-AS, Berlin: www.versand-as.de
Eine Rettergeschichte. Arbeitsvorschläge zum Film
»Schindlers Liste«
Pädagogisches Begleitheft zum Oskar und Emile
Schindler Lernzentrum im Museum Judengasse
Frankfurt am Main
Hrsg.: Jüdisches Museum Frankfurt und Fritz Bauer
Institut. Texte ausgewählt und bearbeitet von Gottfried
Kößler und Martin Liepach. Pädagogische Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main,
Band 5. Frankfurt am Main 2005, DIN-A 4 Broschüre,
28 S., € 4,– (zzgl. Versand), ISBN 3-9809814-1-X.
Zu beziehen: www.juedischesmuseum.de/408.html
Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.)
Ausgerechnet Deutschland!
Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik
Essayband zur Ausstellung des Jüdischen Museums
Frankfurt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin,
2010, 192 S., 100 farb. Abb., € 24,95,
ISBN 978-3-89479-583-2
Fritz Backhaus, Liliane Weissberg,
Raphael Gross (Hrsg.)
Juden. Geld. Eine Vorstellung
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen
Museums Frankfurt und des Fritz Bauer Instituts.
Ausstellung vom 25. April bis 6. Oktober 2013 im
Jüdischen Museum Frankfurt am Main.
Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013,
436 S., zahlr. Abb., € 19,90
ISBN 978-3-59339-923-2
111
Fördern Sie
mit uns
das Nachdenken
über den
Holocaust
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Einsicht 15
Bulletin des
Fritz Bauer Instituts
Frühjahrsausgabe, April 2016
8. Jahrgang
ISSN 1868-4211
Titelabbildung:
Armenische Bevölkerung flieht vor
türkischen Massakern in Anatolien, 1915.
Foto: ullstein bild – Pictures from History
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Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19
Finanzamt Frankfurt am Main III
Redaktion: Werner Konitzer (V.i.S.d.P.),
Werner Lott, Jörg Osterloh, Katharina
Rauschenberger, Werner Renz
Anzeigenredaktion: Dorothee Becker
Lektorat: Gerd Fischer
Gestaltung/Layout: Werner Lott
Herstellung: Vereinte Druckwerke
Frankfurt am Main
Erscheinungsweise: zweimal jährlich
(April/Oktober)
Auflage: 5.500
Manuskriptangebote:
Textangebote zur Veröffentlichung in
Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts
bitte an die Redaktion. Die Annahme
von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer
Begutachtung durch die Redaktion. Für
unverlangt eingereichte Manuskripte,
Fotos und Dokumente übernimmt das
Fritz Bauer Institut keine Haftung.
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erschienenen Ausgaben
von Einsicht. Bulletin
des Fritz Bauer Instituts
als pdf-Dateien.
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112
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Copyright:
© Fritz Bauer Institut
Stiftung bürgerlichen Rechts
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur
mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
Einsicht erscheint mit Unterstützung des
Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V.
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
Foto: Schindler-Foto-Report
Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13.
Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut,
Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung
des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung
unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen
Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen
Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und
Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am
Main.
Aufgaben des Fördervereins
Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegründet worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und
dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das
ideelle und finanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher
Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Der
Verein sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und
die Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten
Öffentlichkeit die Erkenntnisse, die das Institut im universitären Raum
mit hohen wissenschaftlichen Standards erarbeitet hat. Er schafft
neue Kontakte und stößt gesellschaftliche Debatten an.
Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zunehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Projekte und den Ausbau des
Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Bestand langfristig
zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren.
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus
Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden
und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des
Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über
Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen
reflektieren und bereichern sollen.
Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch des Fritz Bauer
Instituts zum Vorzugspreis im Abonnement beziehen.
Vorstand des Fördervereins
Jutta Ebeling (Vorsitzende), Brigitte Tilmann (stellvertretende Vorsitzende), Gundi Mohr (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Eike Hennig
(Schriftführer), Beate Bermanseder, Dr. Rachel Heuberger, Herbert
Mai, Klaus Schilling, David Schnell (Beisitzer/innen)
Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust
Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts.
Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürgerschaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stiftungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten.
Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören
engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und
Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden.
Werden Sie Mitglied!
Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,–
Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende!
Frankfurter Sparkasse, SWIFT/BIC: HELADEF1822
IBAN: DE43 5005 0201 0000 3194 67
Werben Sie neue Mitglieder!
Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die
Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Gerne senden wir
Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu.
Förderverein
Fritz Bauer Institut e.V.
Norbert-Wollheim-Platz 1
60323 Frankfurt am Main
Telefon: +49 (0)69.798 322-39
Telefax: +49 (0)69.798 322-41
[email protected]
www.fritz-bauer-institut.de
NEUERSCHEINUNGEN FRÜHJAHR 2016
METROPOL VERLAG | ANSBACHER STR. 70 | 10777 BERLIN
T: (030) 23 00 46 23 | F: (030) 2 65 05 18 | M: [email protected]
GÖTZEN
Die Autobiografie von Adolf Eichmann
Herausgegeben und kommentiert von
Raphael Ben Nescher
ISBN: 978-3-86331-291-6
557 Seiten · Hardcover · 39,00 Euro
1960 wird Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst in Argentinien entführt, nach Israel gebracht
und dort vor Gericht gestellt. Im Gefängnis verfasst er
seine Memoiren »Götzen«, ein Täterzeugnis, in dem
der millionenfache Mord nicht geleugnet, aber gerechtfertigt wird. Die umfassend kommentierte Edition gibt
Einblick in das Denken eines Mannes, der eifrig und
pflichtbewusst eine zentrale Rolle bei der Durchführung des Massenmordes eingenommen hat.
Oliver von Wrochem (Hrsg.)
unter Mitarbeit von Christine Eckel
NATIONALSOZIALISTISCHE
TÄTERSCHAFTEN
Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie
ISBN: 978-3-86331-277-0
535 Seiten · 24,00 Euro
Der Sammelband bündelt mit 34 Beiträgen Forschungsergebnisse der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu NSTäterschaft und ihren Folgen. Neben wissenschaftlichen Artikeln sind Berichte von Täter-Nachkommen
enthalten, die ihre Sicht auf die Wirkungen in Familie
und Gesellschaft darlegen. Die beiliegende DVD versammelt zehn filmische Porträts, in denen Kinder und
Enkel von NS-Tätern von ihrer Auseinandersetzung mit
Täterschaft in der Familie erzählen.
Konzentrationslager. Studien zur
Geschichte des NS-Terrors , Heft 1
Detlef Garbe · Günter Morsch (Hrsg.)
KRIEGSENDVERBRECHEN ZWISCHEN
UNTERGANGSCHAOS UND
VERNICHTUNGSPROGRAMM
ISBN: 978-3-86331-282-4
167 Seiten · 16,00 Euro
Die im Auftrag der AG der KZ-Gedenkstätten herausgegebene Zeitschrift versteht sich als Forum zur Erforschung der NS-Zwangslager, das allen mit dem Lagersystem und seiner Nachgeschichte verbundenen
Themen Raum geben und die Debatte über den Nationalsozialismus und staatliche Massengewalt im 20.
Jahrhundert anregen möchte. Heft 1 befasst sich mit
der Endphase des NS-Regimes, die mit einer kaum
noch für möglich gehaltenen Steigerung von Terror und
Gewalt einherging.
International Holocaust Remembrance Alliance (Ed.)
BYSTANDERS, RESCUERS OR
PERPETRATORS?
The Neutral Countries and the Shoah
ISBN: 978-3-86331-287-9
336 Seiten · 19,00 Euro
The volume offers a trans-national, comparative perspective on the varied reactions of the neutral countries
to the Nazi persecution and murder of the European
Jews. It examines the often ambivalent policies of these
states towards Jewish refugees as well as towards their
own Jewish nationals living in German-occupied countries. By breaking down persistent myths, it contributes
to a more nuanced understanding of an under-researched
chapter of Holocaust history.
Günter Morsch (Hrsg.)
Insa Eschebach · Katharina Zeiher (Hrsg.)
Verena Haug
Mendel Szajnfeld
DIE KONZENTRATIONSLAGER-SS
1936–1945: EXZESS- UND DIREKTTÄTER
IM KZ SACHSENHAUSEN
Eine Ausstellung am historischen Ort
RAVENSBRÜCK 1945 – DER LANGE
WEG ZURÜCK INS LEBEN
Ausstellungskatalog
AM »AUTHENTISCHEN« ORT
Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik
ERZÄHL, WAS MIT UNS
GESCHEHEN IST!
Erinnerungen an den Holocaust
ISBN: 978-3-86331-288-6
304 Seiten · 24,00 Euro
Der Eingangsturm A war der zentrale Bezugspunkt einer
»Geometrie des totalen Terrors«. Hier hatte die Abteilung »Schutzhaftlager« der KZ-Kommandantur ihren
Sitz. Zu ihr gehörten der Lagerführer sowie die Rapport- und Blockführer, die mit absoluter Gewalt über
die Häftlinge herrschten. Den Exzess- und Direkttätern
konnten die Häftlinge jederzeit zum Opfer fallen. Der
Katalog enthält alle Texte und zahlreiche Abbildungen
der Dauerausstellung.
ISBN: 978-3-86331-270-1
264 Seiten · 22,00 Euro
Nach der Befreiung kehrten viele der ca. 35 000 Überlebenden des KZ Ravensbrück und seiner Außenlager
zurück in die Heimat oder gingen ins Exil. Der Band
versammelt Erinnerungen Überlebender an die Auflösung des KZ und an die ersten Schritte in die Freiheit.
Er dokumentiert die Gefahren und Herausforderungen,
denen die Frauen auf ihrem Weg durch das zerstörte
Europa begegneten, und schildert die ersten Versuche
eines neuen Lebens.
ISBN: 978-3-86331-267-1
320 Seiten · 22,00 Euro
Gedenkstätten gelten vor allem wegen ihrer »Authentizität« als geeignete Lernorte für die Auseinandersetzung mit Verbrechen der Vergangenheit. Dies suggeriert eine unmittelbare Begegnung und verschweigt
die aufwendigen Aushandlungen von Geschichte vor Ort,
die erst zum Verstehen beitragen. Was in den Führungen und Seminaren geschieht, entzog sich bisher
der Analyse. Die Studie gibt einen Blick in die gedenkstättenpädagogische Praxis zu NS-Verbrechen.
ISBN: 978-3-86331-275-6
304 Seiten · Hardcover · 22,00 Euro
Als junger Mann erlebt Mendel Szajnfeld den Holocaust
im besetzten Polen in einem Kleinstadt-Ghetto, als
Zwangsarbeiter sowie als Häftling des Lagers Plaszów.
Szajnfeld zeichnet ein eindringliches Bild vom Leben
und Leiden abseits der bekannten Gettos und Lager
wie Warschau oder Auschwitz, von der Befreiung sowie
vom verschlungenen Weg eines Überlebenden von
Polen über Deutschland nach Norwegen.
A L L E W E I T E R E N T I T E L F I N D E N S I E U N T E R : W W W. M E T R O P O L-V E R L A G . D E