taz.die tageszeitung

Schön seltsames Kino: „Anhedonia“
Robert Stadlobers Dandy leidet an „Anhedonie“ – dem Unvermögen, Spaß zu haben ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 10981 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG
DONNERSTAG, 31. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
ERDOĞAN Satireverbot
gefordert? Merkel
sieht keinen „direkten
Gesprächsbedarf“
▶ SEITE 6, 12
FLUCHT In Schleswig-
Holstein gibt es Polizeiwachen in Asylunterkünften ▶ SEITE 5
TIERE Der Nabu emp-
fiehlt unwirksamen
Vogelschutz ▶ SEITE 8
TERROR Was passiert,
Ahmad Zughayar, 6 Jahre, aus Deir al-Sur
Mohammed Bandar, 12 Jahre, aus Hama
Mona Emad, 5 Jahre, aus al-Hasaka
wenn drei Generationen
beim Osterbrunch sitzen
– und die Anschläge zum
Thema werden ▶ SEITE 13
Die Unerwünschten
BAUEN Wieder Pro­
wenigstens 10 Prozent aufnehmen, so der Appell von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bei der Genfer
Flüchtlingskonferenz. Bisher gibt es jedoch nur Zusagen für einen Bruchteil der Menschen ▶ SEITE 3
blemzone: Kreuzberger
Cuvrybrache ▶ SEITE 22
SYRIEN Von den 4,8 Millionen geflüchteten SyrerInnen in den Nachbarländern sollen wohlhabendere Staaten
Fotos: Interzone Pictures
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Charlie Hebdo darf bekanntlich
alles. Auf dem neuen BrüsselCover des Pariser Terrormagazins fragt der belgisch-ruandische Musiker Stromae: „Papa,
wo bist du?“ Und um ihn herum rufen fliegende Leichenteile: „Hier!“ Stromae ist darüber
not amused. Er verlor nämlich
seinen Vater in Ruanda beim
Völkermord 1994, als Hunderttausende Menschen mit
Macheten in Stücke gehackt
wurden. Wussten das die Karikaturisten nicht, fragt sich verboten? Oder meinten sie einfach, dass sogar der IS-Terror
noch steigerungsfähig ist? Das
hat Charlie jedenfalls
Zahra Mahmud, 5 Jahre, aus Deir al-Sur
Amna Zughayar, 9 Jahre, aus Deir al-Sur
Omar Suliman, 5 Jahre, aus al-Hasaka
Mariam Aloush, 8 Jahre, aus Homs
Hammad Khadir, 3 Jahre, aus al-Hasaka
Aya Bandar, 6 Jahre, aus Hama
messerscharf erkannt.
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40613
4 190254 801600
Der Fotograf Muhammed Muheisen (AP) nahm die Porträts Mitte März im jordanischen Flüchtlingslager Saatari nahe der syrischen Grenze auf
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
VOR DEN ANSCH LÄGEN I N BRÜSSEL
RÜCKFÜH RUNGEN I N TÜRKEI
Neue Hinweise auf Behördenpannen
Bundesregierung
glaubt an Zeitplan
BRÜSSEL | Gut eine Woche nach
Htin Kyaw, der erste zivile
Präsident Birmas Foto: ap
Der Präsident
der Lady
W
eil Birmas Nationale
Liga für Demokratie
(NLD) nach ihrem Wahlsieg im November ein Geheimnis daraus machte, wer künftiger Staatspräsident würde,
kursierten viele Namen in den
Medien. Htin Kyaw war nicht dabei. Doch am Mittwoch wurde
der 69-Jährige als Birmas erster
ziviler Präsident seit 54 Jahren
vereidigt.
Dabei war er auch in seiner
Heimat bisher unbekannt. Doch
die Nationalheldin und Parteichefin Aung San Suu Kyi durfte
selbst nicht Staatsoberhaupt
werden, weil ihre Söhne britische Staatsbürger sind. Vor den
Wahlen hatte sie deshalb verkündet, sie werde „über dem
Präsidenten“ stehen. Kritiker bezeichnen Htin Kyaw deshalb als
Marionette. Das liegt aber nicht
an seinem Ruf als Person.
Denn die Nominierung des
hochgewachsenen
Mannes
wurde in Birma positiv aufgenommen. Der Historiker und
Autor Thant Myint-U etwa bezeichnete ihn als „hervorragende Wahl“ und „feinen Kerl“.
Htin Kyaw ist Ökonom und
studierte an der Universität von
London Informatik. Ab Mitte der
70er Jahre arbeitete er in Birmas
Industrieministerium. Ab 1992
widmete er sich Aung San Suu
Kyis Wohltätigkeitsstiftung.
In einem Land, in dem der Familienhintergrund eine große
Rolle spielt, hilft es Htin Kyaw,
dass sein Vater ein anerkannter
Dichter war. Er selbst ist mit Su
Su Lwin verheiratet, die als NLDAbgeordnete den Ausschuss für
internationale Angelegenheiten
führt. Htin Kyaw gilt als enger
Vertrauter Suu Kyis. Während
ihres Hausarrests war er einer
der wenigen, der Zugang zu ihr
hatte.
Weil so wenig über ihn bekannt war, veröffentlichten Medien mangels einer offiziellen
Biografie bei seiner Nominierung reihenweise fehlerhafte
Informationen über ihn.
Dass internationale Medien
ihn schlicht einen früheren Fahrer von Aung San Suu Kyi nannten, führte in sozialen Netzwerken zu einem Sturm der Entrüstung.
Nach seiner Vereidigung erklärte Htin Kyaw, er sei verpflichtet, eine Verfassung zu
schaffen, die demokratischen
Normen entspreche. Somit sieht
er seine Aufgabe darin, Aung
San Suu Kyi zur Präsidentschaft
VERENA HÖLZL
zu verhelfen. Ausland SEITE 11
Der Tag
DON N ERSTAG, 31. MÄRZ 2016
den Anschlägen von Brüssel
gibt es neue Hinweise auf Pannen bei den belgischen Sicherheitsbehörden. Die niederländische Regierung wurde nach eigenen Angaben sechs Tage vor
den Anschlägen von den USA
über die späteren Attentäter Ibrahim und Khalid El Bakraoui
informiert – und leitete diese
Hinweise auch an Belgien weiter. Die belgische Polizei wies die
Angaben zurück.
Die Niederlande wurden am
16. März vom FBI über den „kriminellen Hintergrund“ der Brüder Bakraoui und den „terroris-
tischen Hintergrund“ von Khalid El Bakraoui informiert, sagte
Justizminister Ard van der Steur.
Am 17. März seien die Informationen bei einer Polizeibesprechung an Belgien weitergegeben worden. Die belgische Bundespolizei bestritt dies. Bei dem
Treffen sei es nicht um die Brüder Bakraoui gegangen, sondern
um eine Razzia in Brüssel am 15.
März.
Zuvor hatte schon die türkische Regierung den belgischen
Behörden vorgeworfen, sie hätten Warnungen ignoriert, dass
Ibrahim El Bakraoui ein „terroristischer Kämpfer“ sei. (afp)
BERLIN | Die Bundesregierung
rechnet trotz organisatorischer
Schwierigkeiten damit, dass
ab kommendem Montag abgelehnte Asylbewerber aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden können. Es
müssten zwar noch verschiedene Punkte abgearbeitet werden, um den Zeitplan zu halten, sagte die stellvertretende
Regierungssprecherin Christiane Wirtz gestern in Berlin. Sie
betonte aber auch: „Alle beteiligten Stellen […] arbeiten mit
Hochdruck daran, dass dieser
Terminplan zu halten ist.“ (dpa)
GROSSES KI NO
Große Kinostreifen, kleine Perlen,
Flops und Oscarkandidaten sowie
Interviews mit Regisseuren und
Schauspielern:
Alles nachzulesen auf taz.de/film
Rezensionen
Filmtipps
Interviews
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Eine schräge Partnerschaft
SONDIERUNG In Baden-Württemberg versuchen Grüne und Christdemokraten so etwas
EU-BAN KENAUFSICHT
Bonideckelung
schadet Banken nicht
LONDON | Die Obergrenze für
Bankerboni hat den Banken in
Europa der EU-Bankenaufsicht
zufolge nicht geschadet. Die Behörde reagierte damit auf Kritik
aus Großbritannien. Die Bank
of England hatte vor der Einführung des Bonusdeckels gewarnt, dass die Banken infolgedessen die Fixgehälter deutlich
erhöhten müssten, um die Investmentbanker zu halten. Das
nehme ihnen die im Abschwung
nötige Flexibilität. Laut EBA gebe
es aber weder Anzeichen für Unflexibilität noch für deutlich gestiegene Fixkosten. (rtr)
Teuflische
Details
ZIELE
Die Konfliktpunkte
wie die politische Quadratur des Kreises: die bundesweit erste grün-schwarze Regierung bei Grünen und CDU
Hinzu kommt eine in dieser STUTTGART dpa | Was die groPhase ziemlich seltsame Äu- ßen politischen Linien angeht,
ßerung: In fünf Jahren werde liegen Grüne und ChristdemoIn den kommenden Wochen solman sicherlich nicht gemein- kraten in Baden-Württemberg
len acht bis zehn Fachkommissam Wahlkampf machen.
gar nicht so weit auseinander.
sionen aus Grünen und CDU in
Kretschmann und seine Grü- Geht man aber in die Details,
nen widerstehen bisher jeder sieht es in vielen Punkten ganz
Baden-Württemberg einen Koalitionsvertrag aushandeln. „UnVerlockung, auf solche und an- anders aus:
dere verbale Ausritte zu revozieser Ziel ist“, so die Grünen-LanVerkehr: Die Grünen wollen
ren. Die selbst von ihrer Größe die bestehende Infrastruktur
desvorsitzende Thekla Walker,
überraschte Fraktion mit ihren besser nutzen und den Radver„gemeinsam am 12. Mai Win46 direkt gewählten Abgeordne- kehr weiterentwickeln. Die CDU
fried Kretschmann zum Ministen lässt dem Landesvater völlig dagegen setzt im Autoland Baterpräsidenten zu wählen.
freie Hand. Auch die Basis ver- den-Württemberg auf den StraDass das angesichts erheblihält sich derart still, dass bei ßenbau und will dafür eine Milcher inhaltlicher Differenzen
manchen in der Union schon liarde Euro lockermachen.
(siehe Spalte rechts) nicht einfach wird, zeigte sich bereits
Neid aufkommt. Der Grüne Schulen: Die Grünen wollen
vor einer Woche: Fünf Stunden
die Gemeinschaftsschulen
habe eine Beinfreiheit, so
intensives Ringen brachten die Die grüne Basis verstärken, die CDU will Reein Bezirksvorsitzender,
von der Wolf und Strobl
alschulen, Gymnasien
Koalitionspartner in spe hinTHEMA
nicht einmal träumen
ter sich, bevor die eigentlichen hält sich derart still,
und berufliche SchuDES
len
besonders fördern
könnten.
Gespräche überhaupt aufge- dass in der Union
TAGES
nommen wurden. Dabei ging
– und keine neuen GeWenn es aber um
meinschaftsschulen
es nicht um die vielen heiklen Neid aufkommt
die
Gemeinschaftsschule geht, deren Remehr genehmigen.
Themen, sondern allein um die
form die CDU plötzlich zu ihIntegration: Baden-Würtgeeignete Location für die Son- ist bei Grün-Rot in schlechten
rem Markenkern zählt, oder temberg solle, was Integratidierungsgespräche.
Händen“. Kein Wunder, dass
Kretschmann hatte dem CDU- jetzt das Abrüsten schwerfällt.
um den Abstand neuer Wind- onsangebote für Einwanderer
räder von Siedlungen, um Stra- angeht, zum Vorreiter werden,
Team um Landeschef Thomas
„Unsere Basis hält eben weßen, Breitband oder die Frau- sagte CDU-Landeschef Thomas
Strobl und den gescheiterten nig von den Grünen“, sagt ein
enquote – dann werden die Strobl jüngst. Das unterschreiSpitzenkandidaten Guido Wolf früherer Landrat am Mittwoch
Konfliktpunkte nicht mehr zu ben sicher auch die Grünen.
die Schmach erspart, hoch hin- in Stuttgart am Rande der Trauauf in sein Staatsministerium in erfeierlichkeiten für den früheverpacken sein unter wolkigen Doch was ist, wenn jemand sich
Oberzielen. Wissenschaftlich ist der Integration verweigert?
der Villa Reitzenstein steigen zu ren Ministerpräsidenten Lothar
schon belegt, dass es weit mehr
Polizei: Die CDU will die Polimüssen. Ausgeguckt war das re- Späth. Deshalb müsse ein Mitnommierte Haus der Architek- gliederentscheid über GrünStreitpunkte gibt als Schnitt- zei um 1.500 Stellen ­aufstocken,
mengen. Christian Stecker und die Grünen versprechen eine
ten, weil dort aber vor fünf Jah- Schwarz „um jeden Preis verren die grün-rote Landesregie- hindert werden“.
Thomas Däubler vom Zent- Einstellungsoffensive mit 2.800
rum für Europäische Sozialfor- Ausbildungsplätzen. Umstritten
rung ausgehandelt worden war,
So weit sind die Verhandschung (MZES) haben in 28 von ist die Pflicht zur anonymisiersperrte sich Strobl so anhaltend, ler aber ohnehin noch nicht.
dass Kretschmann schließlich Jetzt müssen Oberziele, die laut
38 zentralen Fragen „deutliche ten Kennzeichnung von Polizisten bei G
­ roßeinsätzen und
nachgab. Motto: Wenn ihr keine Kretschmann in den bisheriGegensätze“ herausgearbeitet.
gen Runden „vertrauensvoll und
Inland SEITE 7
anderen Sorgen habt …
Demonstrationen: Die Grünen
wollen sie, die CDU lehnt sie ab.
Haushalt: CDU und Grüne
haben bereits unisono erklärt,
ab 2020 keine neuen Schulden mehr aufnehmen zu wollen. Denn ab dann gilt die im
Grundgesetz verankerte Schuldenbremse.
Direkte Demokratie: Die
Grünen wollen Plebiszite stärken. Die CDU hält Bürgerbeteiligung prinzipiell für nicht
schlecht – aber nur in Maßen.
Landtagswahlrecht: Bislang
hat jeder Wähler in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl
nur eine Stimme. Die Grünen
wollen ein Zweistimmenwahlrecht mit einer Landesliste
einführen, um den Anteil von
Frauen im Parlament anzuheben. Eine Reform scheiterte in
der vergangenen Legislaturperiode vor allem an der CDU.
Bundesrat: Wie stimmt GrünSchwarz im Bundesrat ab – mit
dem Block der CDU-geführten
Länder oder mit dem der rotgrünen Länder? Sind sich die
Regierungspartner nicht einig,
kann sich ein Land enthalten.
Die CDU mahnt aber, das dürfe
Baden-Württembergs CDU-Chef Thomas Strobl und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Sondieren Foto: Franziska Kraufmann/dpa
nicht zur Regel werden.
AUS STUTTGART
JOHANNA HENKEL-WAIDHOFER
Dabei hat die CDU davon
überreichlich: Fünf Jahre lang
redete sie die grün-rote Koalition und deren Regierungschef schlecht, torpedierte nahezu alle Reformprojekte. Ihr
Wahlprogramm „2016–2021“,
das natürlich „Regierungsprogramm“ hieß, schwelgt in Wendungen wie „Grün-Rot hat die
Herausforderungen des demografischen Wandels aus den Augen verloren“, „Grün-Rot hat keinen Sinn für Familie“, „Grün-Rot
stellt Ideologie über das Wohl
der Kinder“, „Innere Sicherheit
sachlich“ definiert wurden, mit
Inhalten gefüllt werden. Während Wolf dabei intern der Part
zufällt, die Hürden wenigstens
schon mal zu benennen, muss
Landesparteichef, Merkel-Vize
und Schäuble-Schwiegersohn
Strobl seine Leidenschaft für
die Verästelungen der Landespolitik wachküssen.
Flink reagiere Strobl auf Zahlen und Fakten nicht, plaudert
ein Grüner aus. Einem speziellen Thema geht der CDU-Chef
öffentlich ganz aus dem Weg:
Wird er auf einen Wechsel von
Berlin nach Stuttgart angesprochen, umschifft er „diese Fangfrage“. Hinter den Kulissen allerdings lässt er durchblicken, für
seine Partei „die Kohlen aus dem
Feuer holen zu wollen“. Kohlen,
die er selbst munter hineingeworfen hat.
Unter dem glücklosen Günther Oettinger und dem brachialen Stefan Mappus war
Strobl Generalsekretär. Nach
dem Machtverlust 2011 kickte
er Tanja Gönner vom Feld, Angela Merkels Favoritin, die neue
Nummer eins der Südwest-CDU
werden wollte. Gegen Guido
Wolf unterlag er zur eigenen
und zur Überraschung von Medien und CDU-Fußvolk.
Mittlerweile spricht der einstige Grünen-Fresser viel von
staatspolitischer
Verantwortung, wendet sich aber auch gegen – nirgends vertretene – Ansichten, Grün-Schwarz werde
eine „Liebesheirat“.
Schwerpunkt
Flüchtlinge
DON N ERSTAG, 31. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Auf dieser Welt leben 7,39 Milliarden Menschen in 193 Staaten. Doch
die Aufnahme von 480.000 Syrern wird zum globalen Problem
Diese Kinder suchen eine neue Heimat
HILFE Knapp eine halbe Million in den Nachbarländern gestrandete syrische Flüchtlinge benötigen dringend ein neues Zuhause. Die
Vereinten Nationen appellieren auf einer internationalen Konferenz in Genf an ihre Mitgliedsstaaten – doch die meisten winken ab
Peking redet
sich raus
AUS GENF ANDREAS ZUMACH
Fast fünf Millionen SyrerInnen sind seit Beginn des Krieges aus ihrem Heimatland geflohen. Weitere acht Millionen
wurden innerhalb Syriens vertrieben. Insgesamt 13,5 Millionen SyrerInnen – über 60 Prozent der Vorkriegsbevölkerung
– sind damit inzwischen abhängig von humanitärer Versorgung.
Diese größte humanitäre
Krise seit Ende des Zweiten
Weltkrieges war am Mittwoch
Thema einer internationalen
Konferenz in Genf. Eindringlich appellierten dort UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und
der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Filippo Grandi, an die anwesenden
Regierungsvertreter von 90 der
193 UN-Mitgliedsstaaten, mehr
Menschlichkeit zu beweisen. Im
Rahmen eines „humanitären
Umsiedlungsprogramms“ sollen bis Ende 2018 wenigstens
480.000 syrische Flüchtlinge
aus dem Libanon, aus Jordanien,
dem Irak und der Türkei in Drittländern aufgenommen werden.
Die „größte Flüchtlingskrise unserer Zeit“ erfordere eine „exponentielle Zunahme der globalen Solidarität“, erklärte Ban Ki
Moon. Doch Beobachter rechneten mit Zusagen zur Aufnahme
von maximal 20.000 weiteren
Menschen. Das wären dann
höchstens insgesamt 190.000,
die auf eine neue Heimat hoffen könnten.
480.000 Menschen, das sind
gerade mal 10 Prozent der 4,8
Millionen Flüchtlinge, die in den
letzten fünf Jahren Aufnahme
in den völlig überlasteten vier
Nachbarländern Syriens gefunden haben. Diese 480.000 gelten als „besonders verletzliche
Flüchtlinge“: Alte und Kranke,
Kinder, die im Krieg ihre El-
„Die größte Flüchtlingskrise unserer
Zeit erfordert eine
globale Solidarität“
UN-GENERALSEKRETÄR BAN KI MOON
PEKING taz | China ist zwar die
Rakan Haslan ist elf Jahre alt und wurde aus dem syrischen Hama
vertrieben Fotos: Muhammed Muheisen/ ap
Hanan Khalid ist sieben Jahre alt und stammt aus Hassakeh. Auch sie lebt
im Flüchtlingslager Saatari in Jordanien
tern verloren haben, Verwundete oder durch Krieg, Vertreibung und Flucht schwer traumatisierte Personen.
Bereits seit September 2013
appelliert das UNHCR an die
Mitgliedsstaaten, durch die Aufnahme syrischer Flüchtlinge
aus den Nachbarstaaten Syriens
diese Länder zu entlasten. Doch
bis zum 22. März dieses Jahres
erhielt das UN-Flüchtlingshilfswerk von den 193 UN-Mitgliedsstaaten nur Zusagen für die Aufnahme von gerade mal 170.000
Menschen.
Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen beziffern die Summe der tatsächlichen Zusagen sogar auf nur
knapp 130.000. Denn einige
Staaten hätten ihre Zusagen an
unerfüllbare Bedingungen geknüpft oder einmal gemachte
Zusagen wieder zurückgezogen. Oxfam ruft deshalb insbesondere die reichen Staaten
Kinder im Lager
dazu auf, bis zum Jahresende
die Aufnahme eines „fairen
Anteils“ der 480.000 besonders verletzlichen Flüchtlinge
verbindlich zuzusagen. Diesen
„fairen Anteil“ berechnet die
Hilfsorganisation in einer am
Dienstag veröffentlichen Studie nach der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit der potenziellen Aufnahmeländer. Nach
diesem Berechnungskriterium
hat Norwegen sein Soll bereits
mit 249 Prozent übererfüllt. Danach folgen Kanada mit 239 Prozent, Deutschland (114 Prozent)
und Australien.
Vier weitere Länder haben
mit ihren bisherigen Zusagen
wenigstens mehr als die Hälfte
ihres „fairen Anteils“ übernommen: Finnland mit 85 Prozent,
Island (63) sowie Schweden und
Neuseeland mit je 60 Prozent.
Die Schlusslichter unter den
reichen Industriestaaten des
Westens bilden die USA und
■■Die Fotos auf dieser Seite und
der Seite 1 stammen von Mu­
hammed Muheisen. Sie wurden
am 14. März im jordanischen
Mafraq nahe der Grenze zu Sy­
rien gemacht. Im dortigen Flücht­
lingslager Saatari leben etwa
79.000 Menschen. Es ist das
größte Flüchtlingslager der Welt
und die viertgrößte Stadt Jorda­
niens. Das Nachbarland Syriens
hat weit mehr als eine halbe
Million Flüchtlinge aufgenom­
men. Viele der Kinder in Mafraq
trauern ihrer alten Heimat nach.
Eine neue haben sie nicht.
Italien mit jeweils 7 Prozent vor
Frankreich und den Niederlanden (je 4 Prozent) und Japan. Die
Regierung in Tokio hat bislang
überhaupt keine Zusage für die
Aufnahme gegeben. Dasselbe
gilt für China, Russland sowie
Saudi-Arabien und die anderen
fünf reichen Ölstaaten am Persischen Golf.
Allerdings bedeuten die Zusagen für die Aufnahme von
knapp 130.000 besonders verletzlichen syrischen Flüchtlingen keineswegs, dass diese
Menschen wirklich aufgenommen wurden. Tatsächlich konnten seit September 2013 von den
4,8 Millionen syrischen Flüchtlingen im Libanon, in Jordanien,
Irak und der Türkei nur 67.100
– oder ganze 1,39 Prozent – in
Drittstaaten umgesiedelt werden. Das bedeutet: Weit über
vier Millionen Menschen müssen weiter hoffen, dass sich für
sie ein Aufnahmeland findet.
zweitgrößte Volkswirtschaft der
Welt, doch Flüchtlinge nehmen
die Chinesen so gut wie keine
auf. Nach Angaben des UNFlüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) hat
das bevölkerungsreichste Land
der Welt von Januar bis August
2015 gerade einmal 35 Flüchtlinge aufgenommen, davon 26
aus Syrien.
Die chinesische Führung redet sich gerne damit heraus,
dass ihr Land noch ein Entwicklungsland sei und selbst
jedes Jahr mehrere zehn Millionen Menschen mit Arbeit und
Wohnungen zu versorgen habe:
Menschen, die vom Land in die
Städte ziehen, um der Armut zu
entfliehen.
Die Schuld an der derzeitigen
Flüchtlingskrise gibt die chinesische Regierung den westlichen Ländern. Mit dem Versuch der USA und ihrer Alli­
ierten, dem Nahen Osten ihr
Verständnis von Demokratie
aufzudrücken, hätten sie den
Zusammenbruch dieser Staaten riskiert, schrieb im Oktober Chinas Sonderbeauftragter
für den Nahen Osten, Wu Sike, in
der Volkszeitung, dem Verlautbarungsorgan der chinesischen
Führung. Dies räche sich nun.
Dass die meisten Syrer gar nicht nach Europa geflüchtet sind,
sondern nach Jordanien, in die Türkei
und den Libanon, ignorierte Wu tunlichst.
Die Wahrheit ist: Peking verfügt gar nicht über die
Institutionen, Flüchtlinge in
großer Zahl aufzunehmen. Obwohl China bereits im Jahr 1982
der Genfer Flüchtlingskonvention beigetre­ten ist, haben die
Chinesen bisher noch bei keiner Krise die Notwendigkeit gesehen, Hilfe zu leisten.
Immerhin finanziell übernimmt China nun Verantwortung. Die Mittel für die syrischen
Hilfsbedürftigen ­belaufen sich
auf einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag. FELIX LEE
„Ihr könnt doch viel mehr“
Australien: Schöne Worte
Tröpfchenweise solidarisch
STOCKHOLM taz | Lob einer inter-
CANBERRA taz | „Mit dem Kopf
Frankreich hat sich ursprünglich bereit erklärt, innerhalb
von zwei Jahren 32.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Syrien aufzunehmen. Die Regierung wollte damit ihren guten
Willen demonstrieren. Passend
dazu zeigte das französische
Fernsehen in einer Reportage,
wie sich in München Beamte
aus Paris darum bemühten, in
Deutschland angekommene syrische Familien zur Weiterreise
nach Frankreich zu bewegen.
Doch die Franzosen scheinen
die Flüchtlinge nicht von ihrer
Gastfreundschaft überzeugt zu
haben, denn statt Tausenden kamen bisher nur ein paar Hundert Flüchtlinge aus Syrien.
Laut der Tageszeitung Le
Monde haben in den griechischen Zwischenlagern gerade
mal 0,4 Prozent der befragten
Syrer gesagt, sie wünschten
nationalen Organisation für die
eigene Flüchtlingspolitik? Das
hatte Norwegen seit dem Antritt
seiner konservativ-rechtspopulistischen Regierung vor zweieinhalb Jahren nicht mehr erlebt. Im Januar war Oslo noch
vom UNHCR scharf dafür kritisiert worden, Russland zu einem
„sicheren Drittland“ erklärt zu
haben und auch syrische Flüchtlinge ohne Asylprüfung dorthin
auszuweisen. Doch nun lobt die
Hilfsorganisation Oxfam Norwegen neben Deutschland und
Kanada als eines der „reichen“
Länder, die im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft einen „fairen“ Anteil syrischer Flüchtlinge
aufnehme.
Das Lob dafür hat allerdings
nicht die Regierung verdient.
Die wollte ursprünglich nur
1.000 Syrer aufnehmen – weni-
ger als ein Drittel der von Oxfam
errechneten „fairen“ Quote. Einer Mehrheit des Parlaments erschien das lächerlich wenig. Sie
schlug eine Quote von 10.000
vor. Daraus wurde ein Kompromiss von 8.000 Flüchtlingen,
dem auch die Konservativen
zustimmten. Die andere Regierungspartei, die rechtspopulistische Fortschrittspartei, lehnte
die Quote als „unseriös hoch“
ab. Auch die oppositionelle
nLinkssozialisten waren dagegen: Die Zahl sei zu klein.
Das sagte auch der Rockmusiker und Live-Aid-Initiator Bob
Geldof bei einem Norwegenbesuch: „Leute, ihr könnt
doch viel mehr: 8.000
– das sind gerade mal
0,0016 Prozent der
norwegischen Bevölkerung!“
REINHARD WOLFF
und mit dem Herzen“ habe die
Regierung letzten September
entschieden, 12.000 Flüchtlinge
aus Syrien und dem Irak aufzunehmen. Doch was der damalige ultrakonservative Premierminister Tony Abbott dem Volk
als einen Akt des Mitgefühls für
Verfolgte anpries, ist erst einmal im Sande verlaufen.
Flüchtlingshelfer beklagen, dass auch unter seinem Nachfolger Malcolm
Turnbull erst ein paar Dutzend Flüchtlinge in Australien Schutz gefunden haben.
„Viele Hilfsorganisationen
wollen helfen, werden aber
kaltgestellt“, kritisierte Paul Power, Chef des Refugee Council
of ­Australia, im Februar. Kanada
als vergleichbares Land habe
über 20.000 Flüchtlinge aufgenommen in demselben Zeit-
raum, in dem es Australien auf
ganze 26 gebracht habe. Power
macht in erster Linie die Bürokratie für die Verzögerung verantwortlich, denn „an Bewerbungen von Schutzsuchenden
fehlt es nicht“. Dazu kommt
die generelle Abneigung der
Re­
gierung gegen Flüchtlinge:
Kaum im Amt, reduzierte Abbott die Zahl der Flüchtlinge,
die in Australien
Schutz erhalten sollen, von über 20.000
auf 13.750 pro Jahr. Die syrischen Vertriebenen sollten zusätzlich kommen dürfen – als
einmalige Ausnahme.
Kaum eine Chance, je in Australien Schutz zu finden, haben dagegen mehrere Hundert
Flüchtlinge, die versuchen, mithilfe von Menschenschleppern
per Boot nach Australien zu gelangen. URS WÄLTERLIN
sich Frankreich als Exilland. Das
passt Paris gut – so lassen sich
die niedrigen Zahlen rechtfertigen, ohne eine eigene Schuld
daran eingestehen zu müssen.
Trotzdem will Premierminister Manuel Valls bereits vorsorglich die Notbremse ziehen.
Er hat bereits mehrfach erklärt, Europa könne nicht weiter Flüchtlinge aus Syrien und
Irak aufnehmen.
Sogar die orientalischen
Christen, denen Frankreich offiziell eine
unbürokratische
Aufnahme versprochen hatte, haben es
laut Medienberichten
immer schwerer, ein
Einreisevisum zu be­
kommen. Da scheint zwischen
Regierungserklärungen und der
Realität ein Widerspruch zu bestehen. RUDOLF BALMER