Schön seltsames Kino: „Anhedonia“ Robert Stadlobers Dandy leidet an „Anhedonie“ – dem Unvermögen, Spaß zu haben ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 10981 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 31. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ ERDOĞAN Satireverbot gefordert? Merkel sieht keinen „direkten Gesprächsbedarf“ ▶ SEITE 6, 12 FLUCHT In Schleswig- Holstein gibt es Polizeiwachen in Asylunterkünften ▶ SEITE 5 TIERE Der Nabu emp- fiehlt unwirksamen Vogelschutz ▶ SEITE 8 TERROR Was passiert, Ahmad Zughayar, 6 Jahre, aus Deir al-Sur Mohammed Bandar, 12 Jahre, aus Hama Mona Emad, 5 Jahre, aus al-Hasaka wenn drei Generationen beim Osterbrunch sitzen – und die Anschläge zum Thema werden ▶ SEITE 13 Die Unerwünschten BAUEN Wieder Pro wenigstens 10 Prozent aufnehmen, so der Appell von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bei der Genfer Flüchtlingskonferenz. Bisher gibt es jedoch nur Zusagen für einen Bruchteil der Menschen ▶ SEITE 3 blemzone: Kreuzberger Cuvrybrache ▶ SEITE 22 SYRIEN Von den 4,8 Millionen geflüchteten SyrerInnen in den Nachbarländern sollen wohlhabendere Staaten Fotos: Interzone Pictures VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Charlie Hebdo darf bekanntlich alles. Auf dem neuen BrüsselCover des Pariser Terrormagazins fragt der belgisch-ruandische Musiker Stromae: „Papa, wo bist du?“ Und um ihn herum rufen fliegende Leichenteile: „Hier!“ Stromae ist darüber not amused. Er verlor nämlich seinen Vater in Ruanda beim Völkermord 1994, als Hunderttausende Menschen mit Macheten in Stücke gehackt wurden. Wussten das die Karikaturisten nicht, fragt sich verboten? Oder meinten sie einfach, dass sogar der IS-Terror noch steigerungsfähig ist? Das hat Charlie jedenfalls Zahra Mahmud, 5 Jahre, aus Deir al-Sur Amna Zughayar, 9 Jahre, aus Deir al-Sur Omar Suliman, 5 Jahre, aus al-Hasaka Mariam Aloush, 8 Jahre, aus Homs Hammad Khadir, 3 Jahre, aus al-Hasaka Aya Bandar, 6 Jahre, aus Hama messerscharf erkannt. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.714 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Htin Kyaw war nicht dabei. Doch am Mittwoch wurde der 69-Jährige als Birmas erster ziviler Präsident seit 54 Jahren vereidigt. Dabei war er auch in seiner Heimat bisher unbekannt. Doch die Nationalheldin und Parteichefin Aung San Suu Kyi durfte selbst nicht Staatsoberhaupt werden, weil ihre Söhne britische Staatsbürger sind. Vor den Wahlen hatte sie deshalb verkündet, sie werde „über dem Präsidenten“ stehen. Kritiker bezeichnen Htin Kyaw deshalb als Marionette. Das liegt aber nicht an seinem Ruf als Person. Denn die Nominierung des hochgewachsenen Mannes wurde in Birma positiv aufgenommen. Der Historiker und Autor Thant Myint-U etwa bezeichnete ihn als „hervorragende Wahl“ und „feinen Kerl“. Htin Kyaw ist Ökonom und studierte an der Universität von London Informatik. Ab Mitte der 70er Jahre arbeitete er in Birmas Industrieministerium. Ab 1992 widmete er sich Aung San Suu Kyis Wohltätigkeitsstiftung. In einem Land, in dem der Familienhintergrund eine große Rolle spielt, hilft es Htin Kyaw, dass sein Vater ein anerkannter Dichter war. Er selbst ist mit Su Su Lwin verheiratet, die als NLDAbgeordnete den Ausschuss für internationale Angelegenheiten führt. Htin Kyaw gilt als enger Vertrauter Suu Kyis. Während ihres Hausarrests war er einer der wenigen, der Zugang zu ihr hatte. Weil so wenig über ihn bekannt war, veröffentlichten Medien mangels einer offiziellen Biografie bei seiner Nominierung reihenweise fehlerhafte Informationen über ihn. Dass internationale Medien ihn schlicht einen früheren Fahrer von Aung San Suu Kyi nannten, führte in sozialen Netzwerken zu einem Sturm der Entrüstung. Nach seiner Vereidigung erklärte Htin Kyaw, er sei verpflichtet, eine Verfassung zu schaffen, die demokratischen Normen entspreche. Somit sieht er seine Aufgabe darin, Aung San Suu Kyi zur Präsidentschaft VERENA HÖLZL zu verhelfen. Ausland SEITE 11 Der Tag DON N ERSTAG, 31. MÄRZ 2016 den Anschlägen von Brüssel gibt es neue Hinweise auf Pannen bei den belgischen Sicherheitsbehörden. Die niederländische Regierung wurde nach eigenen Angaben sechs Tage vor den Anschlägen von den USA über die späteren Attentäter Ibrahim und Khalid El Bakraoui informiert – und leitete diese Hinweise auch an Belgien weiter. Die belgische Polizei wies die Angaben zurück. Die Niederlande wurden am 16. März vom FBI über den „kriminellen Hintergrund“ der Brüder Bakraoui und den „terroris- tischen Hintergrund“ von Khalid El Bakraoui informiert, sagte Justizminister Ard van der Steur. Am 17. März seien die Informationen bei einer Polizeibesprechung an Belgien weitergegeben worden. Die belgische Bundespolizei bestritt dies. Bei dem Treffen sei es nicht um die Brüder Bakraoui gegangen, sondern um eine Razzia in Brüssel am 15. März. Zuvor hatte schon die türkische Regierung den belgischen Behörden vorgeworfen, sie hätten Warnungen ignoriert, dass Ibrahim El Bakraoui ein „terroristischer Kämpfer“ sei. (afp) BERLIN | Die Bundesregierung rechnet trotz organisatorischer Schwierigkeiten damit, dass ab kommendem Montag abgelehnte Asylbewerber aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden können. Es müssten zwar noch verschiedene Punkte abgearbeitet werden, um den Zeitplan zu halten, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Wirtz gestern in Berlin. Sie betonte aber auch: „Alle beteiligten Stellen […] arbeiten mit Hochdruck daran, dass dieser Terminplan zu halten ist.“ (dpa) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Eine schräge Partnerschaft SONDIERUNG In Baden-Württemberg versuchen Grüne und Christdemokraten so etwas EU-BAN KENAUFSICHT Bonideckelung schadet Banken nicht LONDON | Die Obergrenze für Bankerboni hat den Banken in Europa der EU-Bankenaufsicht zufolge nicht geschadet. Die Behörde reagierte damit auf Kritik aus Großbritannien. Die Bank of England hatte vor der Einführung des Bonusdeckels gewarnt, dass die Banken infolgedessen die Fixgehälter deutlich erhöhten müssten, um die Investmentbanker zu halten. Das nehme ihnen die im Abschwung nötige Flexibilität. Laut EBA gebe es aber weder Anzeichen für Unflexibilität noch für deutlich gestiegene Fixkosten. (rtr) Teuflische Details ZIELE Die Konfliktpunkte wie die politische Quadratur des Kreises: die bundesweit erste grün-schwarze Regierung bei Grünen und CDU Hinzu kommt eine in dieser STUTTGART dpa | Was die groPhase ziemlich seltsame Äu- ßen politischen Linien angeht, ßerung: In fünf Jahren werde liegen Grüne und ChristdemoIn den kommenden Wochen solman sicherlich nicht gemein- kraten in Baden-Württemberg len acht bis zehn Fachkommissam Wahlkampf machen. gar nicht so weit auseinander. sionen aus Grünen und CDU in Kretschmann und seine Grü- Geht man aber in die Details, nen widerstehen bisher jeder sieht es in vielen Punkten ganz Baden-Württemberg einen Koalitionsvertrag aushandeln. „UnVerlockung, auf solche und an- anders aus: dere verbale Ausritte zu revozieser Ziel ist“, so die Grünen-LanVerkehr: Die Grünen wollen ren. Die selbst von ihrer Größe die bestehende Infrastruktur desvorsitzende Thekla Walker, überraschte Fraktion mit ihren besser nutzen und den Radver„gemeinsam am 12. Mai Win46 direkt gewählten Abgeordne- kehr weiterentwickeln. Die CDU fried Kretschmann zum Ministen lässt dem Landesvater völlig dagegen setzt im Autoland Baterpräsidenten zu wählen. freie Hand. Auch die Basis ver- den-Württemberg auf den StraDass das angesichts erheblihält sich derart still, dass bei ßenbau und will dafür eine Milcher inhaltlicher Differenzen manchen in der Union schon liarde Euro lockermachen. (siehe Spalte rechts) nicht einfach wird, zeigte sich bereits Neid aufkommt. Der Grüne Schulen: Die Grünen wollen vor einer Woche: Fünf Stunden die Gemeinschaftsschulen habe eine Beinfreiheit, so intensives Ringen brachten die Die grüne Basis verstärken, die CDU will Reein Bezirksvorsitzender, von der Wolf und Strobl alschulen, Gymnasien Koalitionspartner in spe hinTHEMA nicht einmal träumen ter sich, bevor die eigentlichen hält sich derart still, und berufliche SchuDES len besonders fördern könnten. Gespräche überhaupt aufge- dass in der Union TAGES nommen wurden. Dabei ging – und keine neuen GeWenn es aber um meinschaftsschulen es nicht um die vielen heiklen Neid aufkommt die Gemeinschaftsschule geht, deren Remehr genehmigen. Themen, sondern allein um die form die CDU plötzlich zu ihIntegration: Baden-Würtgeeignete Location für die Son- ist bei Grün-Rot in schlechten rem Markenkern zählt, oder temberg solle, was Integratidierungsgespräche. Händen“. Kein Wunder, dass Kretschmann hatte dem CDU- jetzt das Abrüsten schwerfällt. um den Abstand neuer Wind- onsangebote für Einwanderer räder von Siedlungen, um Stra- angeht, zum Vorreiter werden, Team um Landeschef Thomas „Unsere Basis hält eben weßen, Breitband oder die Frau- sagte CDU-Landeschef Thomas Strobl und den gescheiterten nig von den Grünen“, sagt ein enquote – dann werden die Strobl jüngst. Das unterschreiSpitzenkandidaten Guido Wolf früherer Landrat am Mittwoch Konfliktpunkte nicht mehr zu ben sicher auch die Grünen. die Schmach erspart, hoch hin- in Stuttgart am Rande der Trauauf in sein Staatsministerium in erfeierlichkeiten für den früheverpacken sein unter wolkigen Doch was ist, wenn jemand sich Oberzielen. Wissenschaftlich ist der Integration verweigert? der Villa Reitzenstein steigen zu ren Ministerpräsidenten Lothar schon belegt, dass es weit mehr Polizei: Die CDU will die Polimüssen. Ausgeguckt war das re- Späth. Deshalb müsse ein Mitnommierte Haus der Architek- gliederentscheid über GrünStreitpunkte gibt als Schnitt- zei um 1.500 Stellen aufstocken, mengen. Christian Stecker und die Grünen versprechen eine ten, weil dort aber vor fünf Jah- Schwarz „um jeden Preis verren die grün-rote Landesregie- hindert werden“. Thomas Däubler vom Zent- Einstellungsoffensive mit 2.800 rum für Europäische Sozialfor- Ausbildungsplätzen. Umstritten rung ausgehandelt worden war, So weit sind die Verhandschung (MZES) haben in 28 von ist die Pflicht zur anonymisiersperrte sich Strobl so anhaltend, ler aber ohnehin noch nicht. dass Kretschmann schließlich Jetzt müssen Oberziele, die laut 38 zentralen Fragen „deutliche ten Kennzeichnung von Polizisten bei G roßeinsätzen und nachgab. Motto: Wenn ihr keine Kretschmann in den bisheriGegensätze“ herausgearbeitet. gen Runden „vertrauensvoll und Inland SEITE 7 anderen Sorgen habt … Demonstrationen: Die Grünen wollen sie, die CDU lehnt sie ab. Haushalt: CDU und Grüne haben bereits unisono erklärt, ab 2020 keine neuen Schulden mehr aufnehmen zu wollen. Denn ab dann gilt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Direkte Demokratie: Die Grünen wollen Plebiszite stärken. Die CDU hält Bürgerbeteiligung prinzipiell für nicht schlecht – aber nur in Maßen. Landtagswahlrecht: Bislang hat jeder Wähler in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl nur eine Stimme. Die Grünen wollen ein Zweistimmenwahlrecht mit einer Landesliste einführen, um den Anteil von Frauen im Parlament anzuheben. Eine Reform scheiterte in der vergangenen Legislaturperiode vor allem an der CDU. Bundesrat: Wie stimmt GrünSchwarz im Bundesrat ab – mit dem Block der CDU-geführten Länder oder mit dem der rotgrünen Länder? Sind sich die Regierungspartner nicht einig, kann sich ein Land enthalten. Die CDU mahnt aber, das dürfe Baden-Württembergs CDU-Chef Thomas Strobl und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Sondieren Foto: Franziska Kraufmann/dpa nicht zur Regel werden. AUS STUTTGART JOHANNA HENKEL-WAIDHOFER Dabei hat die CDU davon überreichlich: Fünf Jahre lang redete sie die grün-rote Koalition und deren Regierungschef schlecht, torpedierte nahezu alle Reformprojekte. Ihr Wahlprogramm „2016–2021“, das natürlich „Regierungsprogramm“ hieß, schwelgt in Wendungen wie „Grün-Rot hat die Herausforderungen des demografischen Wandels aus den Augen verloren“, „Grün-Rot hat keinen Sinn für Familie“, „Grün-Rot stellt Ideologie über das Wohl der Kinder“, „Innere Sicherheit sachlich“ definiert wurden, mit Inhalten gefüllt werden. Während Wolf dabei intern der Part zufällt, die Hürden wenigstens schon mal zu benennen, muss Landesparteichef, Merkel-Vize und Schäuble-Schwiegersohn Strobl seine Leidenschaft für die Verästelungen der Landespolitik wachküssen. Flink reagiere Strobl auf Zahlen und Fakten nicht, plaudert ein Grüner aus. Einem speziellen Thema geht der CDU-Chef öffentlich ganz aus dem Weg: Wird er auf einen Wechsel von Berlin nach Stuttgart angesprochen, umschifft er „diese Fangfrage“. Hinter den Kulissen allerdings lässt er durchblicken, für seine Partei „die Kohlen aus dem Feuer holen zu wollen“. Kohlen, die er selbst munter hineingeworfen hat. Unter dem glücklosen Günther Oettinger und dem brachialen Stefan Mappus war Strobl Generalsekretär. Nach dem Machtverlust 2011 kickte er Tanja Gönner vom Feld, Angela Merkels Favoritin, die neue Nummer eins der Südwest-CDU werden wollte. Gegen Guido Wolf unterlag er zur eigenen und zur Überraschung von Medien und CDU-Fußvolk. Mittlerweile spricht der einstige Grünen-Fresser viel von staatspolitischer Verantwortung, wendet sich aber auch gegen – nirgends vertretene – Ansichten, Grün-Schwarz werde eine „Liebesheirat“. Schwerpunkt Flüchtlinge DON N ERSTAG, 31. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Auf dieser Welt leben 7,39 Milliarden Menschen in 193 Staaten. Doch die Aufnahme von 480.000 Syrern wird zum globalen Problem Diese Kinder suchen eine neue Heimat HILFE Knapp eine halbe Million in den Nachbarländern gestrandete syrische Flüchtlinge benötigen dringend ein neues Zuhause. Die Vereinten Nationen appellieren auf einer internationalen Konferenz in Genf an ihre Mitgliedsstaaten – doch die meisten winken ab Peking redet sich raus AUS GENF ANDREAS ZUMACH Fast fünf Millionen SyrerInnen sind seit Beginn des Krieges aus ihrem Heimatland geflohen. Weitere acht Millionen wurden innerhalb Syriens vertrieben. Insgesamt 13,5 Millionen SyrerInnen – über 60 Prozent der Vorkriegsbevölkerung – sind damit inzwischen abhängig von humanitärer Versorgung. Diese größte humanitäre Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges war am Mittwoch Thema einer internationalen Konferenz in Genf. Eindringlich appellierten dort UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Filippo Grandi, an die anwesenden Regierungsvertreter von 90 der 193 UN-Mitgliedsstaaten, mehr Menschlichkeit zu beweisen. Im Rahmen eines „humanitären Umsiedlungsprogramms“ sollen bis Ende 2018 wenigstens 480.000 syrische Flüchtlinge aus dem Libanon, aus Jordanien, dem Irak und der Türkei in Drittländern aufgenommen werden. Die „größte Flüchtlingskrise unserer Zeit“ erfordere eine „exponentielle Zunahme der globalen Solidarität“, erklärte Ban Ki Moon. Doch Beobachter rechneten mit Zusagen zur Aufnahme von maximal 20.000 weiteren Menschen. Das wären dann höchstens insgesamt 190.000, die auf eine neue Heimat hoffen könnten. 480.000 Menschen, das sind gerade mal 10 Prozent der 4,8 Millionen Flüchtlinge, die in den letzten fünf Jahren Aufnahme in den völlig überlasteten vier Nachbarländern Syriens gefunden haben. Diese 480.000 gelten als „besonders verletzliche Flüchtlinge“: Alte und Kranke, Kinder, die im Krieg ihre El- „Die größte Flüchtlingskrise unserer Zeit erfordert eine globale Solidarität“ UN-GENERALSEKRETÄR BAN KI MOON PEKING taz | China ist zwar die Rakan Haslan ist elf Jahre alt und wurde aus dem syrischen Hama vertrieben Fotos: Muhammed Muheisen/ ap Hanan Khalid ist sieben Jahre alt und stammt aus Hassakeh. Auch sie lebt im Flüchtlingslager Saatari in Jordanien tern verloren haben, Verwundete oder durch Krieg, Vertreibung und Flucht schwer traumatisierte Personen. Bereits seit September 2013 appelliert das UNHCR an die Mitgliedsstaaten, durch die Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Syriens diese Länder zu entlasten. Doch bis zum 22. März dieses Jahres erhielt das UN-Flüchtlingshilfswerk von den 193 UN-Mitgliedsstaaten nur Zusagen für die Aufnahme von gerade mal 170.000 Menschen. Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen beziffern die Summe der tatsächlichen Zusagen sogar auf nur knapp 130.000. Denn einige Staaten hätten ihre Zusagen an unerfüllbare Bedingungen geknüpft oder einmal gemachte Zusagen wieder zurückgezogen. Oxfam ruft deshalb insbesondere die reichen Staaten Kinder im Lager dazu auf, bis zum Jahresende die Aufnahme eines „fairen Anteils“ der 480.000 besonders verletzlichen Flüchtlinge verbindlich zuzusagen. Diesen „fairen Anteil“ berechnet die Hilfsorganisation in einer am Dienstag veröffentlichen Studie nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der potenziellen Aufnahmeländer. Nach diesem Berechnungskriterium hat Norwegen sein Soll bereits mit 249 Prozent übererfüllt. Danach folgen Kanada mit 239 Prozent, Deutschland (114 Prozent) und Australien. Vier weitere Länder haben mit ihren bisherigen Zusagen wenigstens mehr als die Hälfte ihres „fairen Anteils“ übernommen: Finnland mit 85 Prozent, Island (63) sowie Schweden und Neuseeland mit je 60 Prozent. Die Schlusslichter unter den reichen Industriestaaten des Westens bilden die USA und ■■Die Fotos auf dieser Seite und der Seite 1 stammen von Mu hammed Muheisen. Sie wurden am 14. März im jordanischen Mafraq nahe der Grenze zu Sy rien gemacht. Im dortigen Flücht lingslager Saatari leben etwa 79.000 Menschen. Es ist das größte Flüchtlingslager der Welt und die viertgrößte Stadt Jorda niens. Das Nachbarland Syriens hat weit mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aufgenom men. Viele der Kinder in Mafraq trauern ihrer alten Heimat nach. Eine neue haben sie nicht. Italien mit jeweils 7 Prozent vor Frankreich und den Niederlanden (je 4 Prozent) und Japan. Die Regierung in Tokio hat bislang überhaupt keine Zusage für die Aufnahme gegeben. Dasselbe gilt für China, Russland sowie Saudi-Arabien und die anderen fünf reichen Ölstaaten am Persischen Golf. Allerdings bedeuten die Zusagen für die Aufnahme von knapp 130.000 besonders verletzlichen syrischen Flüchtlingen keineswegs, dass diese Menschen wirklich aufgenommen wurden. Tatsächlich konnten seit September 2013 von den 4,8 Millionen syrischen Flüchtlingen im Libanon, in Jordanien, Irak und der Türkei nur 67.100 – oder ganze 1,39 Prozent – in Drittstaaten umgesiedelt werden. Das bedeutet: Weit über vier Millionen Menschen müssen weiter hoffen, dass sich für sie ein Aufnahmeland findet. zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, doch Flüchtlinge nehmen die Chinesen so gut wie keine auf. Nach Angaben des UNFlüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) hat das bevölkerungsreichste Land der Welt von Januar bis August 2015 gerade einmal 35 Flüchtlinge aufgenommen, davon 26 aus Syrien. Die chinesische Führung redet sich gerne damit heraus, dass ihr Land noch ein Entwicklungsland sei und selbst jedes Jahr mehrere zehn Millionen Menschen mit Arbeit und Wohnungen zu versorgen habe: Menschen, die vom Land in die Städte ziehen, um der Armut zu entfliehen. Die Schuld an der derzeitigen Flüchtlingskrise gibt die chinesische Regierung den westlichen Ländern. Mit dem Versuch der USA und ihrer Alli ierten, dem Nahen Osten ihr Verständnis von Demokratie aufzudrücken, hätten sie den Zusammenbruch dieser Staaten riskiert, schrieb im Oktober Chinas Sonderbeauftragter für den Nahen Osten, Wu Sike, in der Volkszeitung, dem Verlautbarungsorgan der chinesischen Führung. Dies räche sich nun. Dass die meisten Syrer gar nicht nach Europa geflüchtet sind, sondern nach Jordanien, in die Türkei und den Libanon, ignorierte Wu tunlichst. Die Wahrheit ist: Peking verfügt gar nicht über die Institutionen, Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen. Obwohl China bereits im Jahr 1982 der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten ist, haben die Chinesen bisher noch bei keiner Krise die Notwendigkeit gesehen, Hilfe zu leisten. Immerhin finanziell übernimmt China nun Verantwortung. Die Mittel für die syrischen Hilfsbedürftigen belaufen sich auf einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag. FELIX LEE „Ihr könnt doch viel mehr“ Australien: Schöne Worte Tröpfchenweise solidarisch STOCKHOLM taz | Lob einer inter- CANBERRA taz | „Mit dem Kopf Frankreich hat sich ursprünglich bereit erklärt, innerhalb von zwei Jahren 32.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Syrien aufzunehmen. Die Regierung wollte damit ihren guten Willen demonstrieren. Passend dazu zeigte das französische Fernsehen in einer Reportage, wie sich in München Beamte aus Paris darum bemühten, in Deutschland angekommene syrische Familien zur Weiterreise nach Frankreich zu bewegen. Doch die Franzosen scheinen die Flüchtlinge nicht von ihrer Gastfreundschaft überzeugt zu haben, denn statt Tausenden kamen bisher nur ein paar Hundert Flüchtlinge aus Syrien. Laut der Tageszeitung Le Monde haben in den griechischen Zwischenlagern gerade mal 0,4 Prozent der befragten Syrer gesagt, sie wünschten nationalen Organisation für die eigene Flüchtlingspolitik? Das hatte Norwegen seit dem Antritt seiner konservativ-rechtspopulistischen Regierung vor zweieinhalb Jahren nicht mehr erlebt. Im Januar war Oslo noch vom UNHCR scharf dafür kritisiert worden, Russland zu einem „sicheren Drittland“ erklärt zu haben und auch syrische Flüchtlinge ohne Asylprüfung dorthin auszuweisen. Doch nun lobt die Hilfsorganisation Oxfam Norwegen neben Deutschland und Kanada als eines der „reichen“ Länder, die im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft einen „fairen“ Anteil syrischer Flüchtlinge aufnehme. Das Lob dafür hat allerdings nicht die Regierung verdient. Die wollte ursprünglich nur 1.000 Syrer aufnehmen – weni- ger als ein Drittel der von Oxfam errechneten „fairen“ Quote. Einer Mehrheit des Parlaments erschien das lächerlich wenig. Sie schlug eine Quote von 10.000 vor. Daraus wurde ein Kompromiss von 8.000 Flüchtlingen, dem auch die Konservativen zustimmten. Die andere Regierungspartei, die rechtspopulistische Fortschrittspartei, lehnte die Quote als „unseriös hoch“ ab. Auch die oppositionelle nLinkssozialisten waren dagegen: Die Zahl sei zu klein. Das sagte auch der Rockmusiker und Live-Aid-Initiator Bob Geldof bei einem Norwegenbesuch: „Leute, ihr könnt doch viel mehr: 8.000 – das sind gerade mal 0,0016 Prozent der norwegischen Bevölkerung!“ REINHARD WOLFF und mit dem Herzen“ habe die Regierung letzten September entschieden, 12.000 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufzunehmen. Doch was der damalige ultrakonservative Premierminister Tony Abbott dem Volk als einen Akt des Mitgefühls für Verfolgte anpries, ist erst einmal im Sande verlaufen. Flüchtlingshelfer beklagen, dass auch unter seinem Nachfolger Malcolm Turnbull erst ein paar Dutzend Flüchtlinge in Australien Schutz gefunden haben. „Viele Hilfsorganisationen wollen helfen, werden aber kaltgestellt“, kritisierte Paul Power, Chef des Refugee Council of Australia, im Februar. Kanada als vergleichbares Land habe über 20.000 Flüchtlinge aufgenommen in demselben Zeit- raum, in dem es Australien auf ganze 26 gebracht habe. Power macht in erster Linie die Bürokratie für die Verzögerung verantwortlich, denn „an Bewerbungen von Schutzsuchenden fehlt es nicht“. Dazu kommt die generelle Abneigung der Re gierung gegen Flüchtlinge: Kaum im Amt, reduzierte Abbott die Zahl der Flüchtlinge, die in Australien Schutz erhalten sollen, von über 20.000 auf 13.750 pro Jahr. Die syrischen Vertriebenen sollten zusätzlich kommen dürfen – als einmalige Ausnahme. Kaum eine Chance, je in Australien Schutz zu finden, haben dagegen mehrere Hundert Flüchtlinge, die versuchen, mithilfe von Menschenschleppern per Boot nach Australien zu gelangen. URS WÄLTERLIN sich Frankreich als Exilland. Das passt Paris gut – so lassen sich die niedrigen Zahlen rechtfertigen, ohne eine eigene Schuld daran eingestehen zu müssen. Trotzdem will Premierminister Manuel Valls bereits vorsorglich die Notbremse ziehen. Er hat bereits mehrfach erklärt, Europa könne nicht weiter Flüchtlinge aus Syrien und Irak aufnehmen. Sogar die orientalischen Christen, denen Frankreich offiziell eine unbürokratische Aufnahme versprochen hatte, haben es laut Medienberichten immer schwerer, ein Einreisevisum zu be kommen. Da scheint zwischen Regierungserklärungen und der Realität ein Widerspruch zu bestehen. RUDOLF BALMER
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