International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 6 / Teil 01 Durchblick in Krisenzeiten * NZZ AG Europa steht sicherheitspolitisch vor einer doppelten Herausforderung. Neben der Bewältigung der Flüchtlingskrise sucht der Kontinent noch immer nach einer glaubwürdigen Antwort auf den aggressiven Kurs Russlands. Zugleich stärkt China zielstrebig seine militärischen Muskeln. In einer Zeit wachsender Unsicherheiten läge es nahe, über die Begrenzung der weltweiten Atomarsenale zu sprechen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das Center for Security Studies der ETH Zürich analysiert diese Entwicklungen in seiner Reihe «Strategic Trends», aus deren Ausgabe 2016 drei Beiträge gekürzt übernommen wurden. Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de. International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 6 / Teil 01 * NZZ AG Atomwaffen werden wichtiger Ausgerechnet in einer Zeit der wachsenden Unsicherheit harzt es mit der Rüstungskontrolle Die Abrüstung der nuklearen Arsenale aus der Zeit des Kalten Kriegs kommt nicht mehr voran. Vielmehr setzen alle Atommächte der Welt darauf, ihre Kernwaffen zu modernisieren. OLIVER THRÄNERT Die Bedeutung von Atomwaffen wächst. Die politischen Konfrontationen zwischen Kernwaffenmächten nehmen zu. Allenthalben werden die nuklearen Arsenale erweitert und modernisiert. Zugleich fristet die Rüstungskontrolle, die für Amerikaner und Sowjets während des Kalten Krieges im Ringen um strategische Stabilität eine zentrale Rolle spielte, ein politisches Mauerblümchendasein. In der Konsequenz drohen Atomkriege wahrscheinlicher zu werden. Russische Drohgebärden Selbst nach dem Ende des Kalten Krieges behielten sich Moskau und Washington den nuklearen Ersteinsatz vor. Zugleich befand der frühere Pentagonchef Donald Rumsfeld, Rüstungskontrolle sei nichts für Freunde. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim sind die USA und Russland jedoch keine Freunde mehr. Damit kehrt die nukleare Dimension ihrer gegenseitigen Beziehungen wieder auf die internationale Bühne zurück. Beide Seiten erneuern ihre Atomwaffenarsenale. Russlands Präsident Wladimir Putin betonte darüber hinaus bei verschiedenen Gelegenheiten, dass sein Land eine der bedeutsamsten atomaren Mächte sei. In Militärmanövern wurde immer wieder der Einsatz von Kernwaffen geübt. Westliche Analytiker zeigen sich vor allem wegen Moskaus offensichtlicher Pläne besorgt, wonach taktische Nuklearwaffen in einem Konflikt mit der Nato, etwa um das Baltikum, bereits frühzeitig eingesetzt werden könnten. Vor diesem Hintergrund hat auch innerhalb der Nato eine Debatte um eine womöglich notwendig gewordene Anpassung ihres nuklearen Dispositivs begonnen. Doch dies erfordert Einigkeit innerhalb der Allianz. Noch gibt es keine Mehrheit dafür, das gegenüber Moskau im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte gegebene Versprechen aufzugeben, wonach das Bündnis keine Absichten habe, Kernwaffen auf dem Territorium neuer Mitgliedsländer zu stationieren. Auch in Asien spitzen sich die Entwicklungen zu. China, das sich in nuklearen Belangen lange Zeit Zurückhaltung auferlegt hatte, verstärkt seine Kernwaffenmacht. Einerseits möchte es seine wachsende Rolle in der Welt auch militärisch untermauern. Andererseits zeigt man sich in Peking besorgt, Amerika könne Chinas verhältnismässig geringe Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag mittels Raketenabwehr oder weitreichender konventioneller Mittel unterlaufen: Um dem entgegenzuwirken, rüstet Peking offenbar seine Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen aus und lässt zum ersten Mal ein mit ballistischen Raketen ausgerüstetes Atom-U-Boot auf Patrouille fahren. Zwar hält das Reich der Mitte an seinem Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen fest, doch befinden sich seine Nuklearstreitkräfte in einer höheren Einsatzbereitschaft als noch vor wenigen Jahren. Zum Teil aus Prestigegründen, zum Teil, um eine glaubwürdige nukleare Abschreckung gegenüber dem Nachbarn China zu erreichen, arbeitet Indien am Aufbau einer vollständigen nuklearen Triade, also Atomwaffen zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Tendenziell verabschiedet sich Delhi damit von seiner langjährigen Doktrin einer nuklearen Minimalabschreckung und verwickelt sich zunehmend in Widersprüche: Was glaubwürdig ist gegenüber China, ist nicht minimal gegenüber Pakistan, und was minimal ist gegenüber Pakistan, ist nicht glaubwürdig gegenüber China. Das indisch-pakistanische Verhältnis gestaltet sich unter nuklearen Gesichtspunkten der Nuklearpolitik sehr problematisch. Anders als Delhi verzichtet Islamabad nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und weist taktischen Kernwaffen eine wichtige Rolle im Angesicht einer wachsenden indischen konventionellen Überlegenheit zu. Gefährlich könnte es auf dem indischen Subkontinent vor allem dann werden, sollten von Pakistan unterstützte grössere Terroranschläge auf indischem Boden stattfinden. Indien behält sich für solche Fälle einen Vormarsch mit konventionellen Kräften gegen Pakistan vor, das seinerseits in einer solchen Situation zu seiner Verteidigung auf taktische Nuklearwaffen zurückgreifen könnte. Komplettiert wird das düstere Bild, das Asien derzeit in Sachen nuklearer Entwicklungen abgibt, durch Nordkorea. Nordkorea arbeitet weiter an der Vervollkommnung seiner Atomwaffen und Raketen und stellt mit seiner Politik am Rande des Abgrunds eine Gefahr für seine Nachbarschaft dar. Unsicherheit am Golf Vor diesem Hintergrund erscheint das Abkommen über das iranische Atomprogramm vom Juli 2015 geradezu als Leuchtturmprojekt. In der Tat sind damit Teheran für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre wichtige Beschränkungen auferlegt worden. Es ist wenig wahrscheinlich, dass das Land in dieser Zeit Atomwaffen baut. Jedoch bleibt die iranische nukleare Infrastruktur intakt; Iran darf sein Raketenprogramm ungehindert fortsetzen, und iranische Ingenieure verfügen vermutlich über genug Wissen zum Bau von Nuklearwaffen. Insofern bleibt Iran eine virtuelle Atommacht. Das Land könnte nach Auslauf des Abkommens seine nuklearen Fesseln lösen und zu seinen ursprünglichen Waffenplänen zurückkehren. Kein Wunder ist es daher, dass Irans Hauptkonkurrent Saudiarabien sich – so die Ansicht vieler internationaler Beobachter – die Option eines eigenen Kernwaffenprogramms offenhält. Allerdings ist Riads nukleare Infrastruktur noch nicht weit gediehen, und es dürfte noch Jahre dauern, bis das Land die erforderlichen Fähigkeiten zum Bau von Atomwaffen entwickelt hat. Pakistan dürfte – anders, als dies gelegentlich vermutet wird – den Saudi in dieser Lage wohl kaum mit dem Verkauf oder der Stationierung seiner Atomwaffen in der saudischen Wüste zur Seite stehen. Denn dadurch würde Islamabad eine doppelte Konfrontation mit den Nachbarn Indien und Iran heraufbeschwören. Besonders besorgniserregend ist, dass ungeachtet der sich zuspitzenden nuklearen Gefahren Rüstungskontrolle Mangelware bleibt. Der Grundsatz, wonach im Atomzeitalter die Sicherheitsinteressen des Gegenübers immer mitgedacht werden müssen, scheint in Vergessenheit geraten. Nur Amerika, das allen anderen Staaten konventionell massiv überlegen ist, hat Interesse an nuklearer Rüstungskontrolle. Russland sieht Kernwaffen als Grossmachtattribute, über die es nicht verhandeln, sondern die es zunächst einmal modernisieren will. Und alle anderen Atommächte Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de. International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 6 / Teil 02 * NZZ AG verweisen darauf, dass sie sich erst bei der Rüstungskontrolle engagieren würden, wenn die USA und Russland, die nach wie vor über etwa 90 Prozent aller Nuklearwaffen verfügen, mit gutem Beispiel vorangingen. Oliver Thränert leitet den Think-Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich. Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de. International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 7 / Teil 01 * NZZ AG Schritt für Schritt zur Weltmacht Auch Europa bekommt Chinas Ambitionen zu spüren Die Rivalität zwischen den USA und dem aufstrebenden China ist nicht neu. Peking setzt derzeit alles daran, seinen Einfluss über seine Nachbarschaft hinaus zu vergrössern. Der Zeitpunkt der chinesischen Offensive ist dabei alles andere als zufällig. PREM MAHADEVAN Von europäischen Politikern und Experten kaum bemerkt, findet in Asien eine bedeutende Machtverschiebung statt. Chinas Ambitionen treten immer offener zutage. Die USA halten dagegen, indem sie ihre Kontakte mit Ländern in der Region intensivieren, die China gegenüber kritisch eingestellt sind. Ferner sendet die amerikanische Marine Kriegsschiffe zu demonstrativen Patrouillen in das Südchinesische Meer. Ziel dieser politischen und militärischen Bemühungen ist es, den Bewegungsraum eines zunehmend aggressiveren China einzugrenzen. Dieser Konflikt schwelt schon seit Jahren. Dass er sich in jüngster Zeit verschärft hat, liegt vor allem an den künstlichen Inseln mit beeindruckenden Militärbasen, die China zwecks Machtprojektion in der Region der Spratly-Inseln errichtet. Chinas künstliche Inseln Ziel Pekings ist es, die US-Marine möglichst weit vom eigenen Festland fernzuhalten. Dabei bedient es sich extensiver Gebietsansprüche weit über den Spielraum internationaler Abkommen hinaus. Auf der Grundlage einer chinesischen Seekarte von 1936 erhebt China Anspruch auf rund 80 Prozent des Südchinesischen Meeres. Über Jahrzehnte fehlten Peking jedoch die Mittel, diese Ansprüche auch durchzusetzen. Das ändert sich nun langsam, aber stetig. Zwischen 1974 und 1995 nahm China bereits Schritt für Schritt einige der beanspruchten Inseln in Besitz, was auch schon zu Konflikten mit Nachbarstaaten führte, vor allem mit Vietnam und den Philippinen. Aber die Landnahme- und Bauaktivitäten Pekings seit 2013 haben die Konflikte nun auf eine neue Eskalationsstufe gehoben. Völkerrechtlich sind Chinas Ansprüche kaum begründbar. Das Land ist Vertragsstaat der Uno-Seerechtskonvention von 1982, die eindeutig festlegt, wel- che Art von Inseln überhaupt die Festlegung von Hoheitsgewässern erlauben und welche wiederum lediglich als Riffe und Felsen ohne solche Privilegien anzusehen sind. Die vorwiegend künstlichen Inseln Chinas erlauben demzufolge eindeutig keine Festlegung von Hoheitsgewässern. Dennoch hat die chinesische Marine in jüngster Zeit immer wieder ausländische Flugzeuge und Schiffe offen vor der Annäherung an diese Inseln gewarnt. Die Amerikaner wollen dies nicht hinnehmen und zeigen ihrerseits bewusst in den umstrittenen Gewässern Präsenz. Andere Staaten haben zwar auch Probleme mit der chinesischen Rechtsauslegung, verfügen jedoch nicht über die militärischen Kapazitäten, ihre Position militärisch zu untermauern. Die Kriegsmarinen einiger Staaten der Region wären noch nicht einmal in der Lage, sich gegen die chinesische Küstenwache durchzusetzen. Begrenzte Kapazitäten der USA Ein Motiv, gerade jetzt offensiver aufzutreten, hat China etwa dadurch, dass die USA im Nahen Osten und in Europa zunehmend militärisch gebunden werden. Die neuen Herausforderungen durch Putins Russland und den sogenannten Islamischen Staat, die im syrischen Krieg konvergieren, belasten die mächtigen USA und ihren beachtlichen Militärapparat. Selbst Washington muss Prioritäten setzen. Die chinesische Führung ihrerseits scheint anzunehmen, dass sie in den kommenden zehn Jahren nicht damit rechnen muss, von den USA unmittelbar herausgefordert zu werden. Diese Zeit könne man – so die chinesische Annahme – nutzen, um seine maritimen Ansprüche in Ostasien zu untermauern. Zugleich könne der Spielraum der US-Marine eingeschränkt werden. Je weiter sich die chinesische Marine von ihren Heimatgewässern entfernt, desto mehr muss sich die US-Marine engagieren, um Chinas Ausgreifen auszugleichen. Amerikas traditionelle Verbündete in der Region, Taiwan und Japan, leben vor dem Hintergrund der wachsenden chinesischen Herausforderung in der nicht unbegründeten Angst vor einem Krieg. Tatsächlich könnte die US-Marine von China nach und nach aus den entscheidenden Gewässern hinausgedrängt werden. Letztlich irrelevant würde die US-Marine spätestens dann, wenn chinesische U-Boote und Raketen amerikanische Flugzeugträger ausser Gefecht setzen könnten, bevor diese überhaupt eine Gelegenheit hätten, in einen Konflikt einzugreifen. Die USA sind sich dieser Gefahr bewusst. Sie versuchen ihr zu begegnen, indem sie in verbündeten Staaten der Region Stützpunkte errichten, die sie im Kriegsfalle nutzen könnten. Washington ermutigt die vielen Kritiker Chinas darüber hinaus, enger zu kooperieren und ihre Ansprüche gemeinsam zu formulieren. Und schliesslich arbeiten die USA ihrerseits intensiv an militärischen Plänen in Bezug auf einen Konflikt mit China. Dabei bauen sie nach wie vor auf ihre noch bestehende technologische Überlegenheit. Teilen und herrschen Trotz allen diplomatischen und militärischen Manövern ist eine dramatische Eskalation in naher Zukunft unwahrscheinlich. Eher möglich ist ein gradueller Aufbau von Fähigkeiten auf allen Seiten. Auch dürfte die chinesische Marine ihren Operationsraum in den Indischen Ozean ausweiten – er ist für China langfristig strategisch und ökonomisch zentral. In den Plänen Pekings ist er das maritime Element der «neuen Seidenstrasse», mit der das Land seinen Markt mit jenen Westasiens, Afrikas oder Europas verbinden will. In diesem Zusammenhang ist auch das Engagement gegen Piraterie zu sehen, wie es China seit 2008 vor der Küste von Somalia umsetzt. Erst jüngst hat Peking die Eröffnung einer Marinebasis in Djibouti angekündigt. Darüber hinaus investiert China erheblich in Zentralasien, um die neue Seidenstrasse auch zu Land zu einer Haupttransportroute zu machen: Neue und ausgebaute Schienenwege sollen China und Europa verbinden und so den Handel fördern. Dabei kann China auf einige europäische Länder zählen, die in der Aussicht auf chinesische Investitionen dem Reich der Mitte gegenüber eine kooperative Rolle einnehmen. Die USA hingegen sind alarmiert. Die Geschwindigkeit, mit der traditionelle Verbündete wie Grossbritannien sich dem chinesischen Projekt einer Asiatischen Infrastruktur- und Investitionsbank anschlossen und chinesische Investitionen in den Bau von Atomkraftwerken genehmigten, überraschte und beunruhigte die Regierung Obama. Washington fürchtet, dass China zunehmend auf eine Politik des «Teilens und Herrschens» setzen und ausgewählte Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de. International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 7 / Teil 02 * NZZ AG europäische Staaten aus der transatlantischen Solidarität herauslösen könnte. Gleiches gilt für die Europäische Union: Auch Brüssel ist nicht erfreut, dass China Mitgliedstaaten ermutigt, direkt mit Peking zu verhandeln und nicht den Umweg über Brüssel zu nehmen. In den kommenden Jahren ist somit mit einer wachsenden chinesischen Herausforderung zu rechnen. Sie wird nicht nur die USA und ihre Verbündeten in Asien in Atem halten, sondern auch den transatlantischen wie auch den innereuropäischen Zusammenhalt auf die Probe stellen. Prem Mahadevan ist Senior Researcher am Center for Security Studies der ETH Zürich. Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de. International 30.03.16 / Nr. 73 / Seite 6 / Teil 01 * NZZ AG Ungenügende Kooperation in Europa Die nationalen Perspektiven in der Verteidigungspolitik nehmen überhand Die komplexen sicherheitspolitischen Herausforderungen sowie die Budgetzwänge der Regierungen rufen nach mehr Zusammenarbeit in Europa. Dazu aber sind viele Staaten nicht bereit. DANIEL KEOHANE Selten war europäische Kooperation in Verteidigungsfragen so notwendig wie heute. Europa steht komplexen und sich überlappenden Krisen gegenüber, einer instabilen Ukraine und einem undurchschaubaren Russland, dem Krieg in Syrien mit seinen Flüchtlingsströmen, der Terrorgefahr durch den Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak und dem Zerfall Libyens, das als Operationsraum des IS wie auch als Durchgangsroute von Flüchtlingen dient. Erstmals muss Europa also zugleich auf zwei Ebenen sicherheitspolitischen Herausforderungen gerecht werden: Der alte Kontinent muss sich um seine territoriale Verteidigung ebenso sorgen wie um Krisen in der Nachbarschaft. Die Grenze zwischen innerer und äusserer Sicherheit wird immer unschärfer. Weniger Gemeinschaftsprojekte Vor diesem Hintergrund wird die Europäische Union wohl im Juni 2016 eine «Globale Strategie» veröffentlichen, um neue Prioritäten für ihre Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu setzen. Nur wenig später wird die Nato auf ihrem Gipfel in Warschau zusammenkommen, um über ihre Rolle gegenüber Russland, aber auch im zerfallenden Nahen Osten zu diskutieren. Diese institutionellen Prozesse in EU und Nato sind bedeutend. Noch wichtiger jedoch sind heute und auf absehbare Zeit die sicherheitspolitischen Prioritäten der grossen Mitgliedstaaten. Die entscheidenden Akzente werden in Zukunft «von unten» kommen – von den Mitgliedern der zwei Organisationen – und nicht «von oben», aus den Institutionen in Brüssel. Auch finanzieller Druck wird daran nichts ändern. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 sind die europäischen Verteidigungsausgaben um rund 15 Prozent gesunken. Allenthalben wurde erwartet, dass schon die budgetären Zwänge allein zu zwischenstaatlicher Kooperation in der Rüstungsbeschaffung führen würden. Das Gegenteil ist der Fall, die Kooperation nimmt eher ab. Hatten die Regierungen der EU-Staaten zwischen 2006 und 2011 noch rund 20 Prozent ihrer Ausgaben für Rüstungsgüter in europäische Kooperationsprojekte gesteckt, fiel dieser Anteil 2013 auf 16 Prozent. Insgesamt, so die Europäische Verteidigungsagentur, wenden die EU-Staaten lediglich knapp 2 Prozent ihrer gesamten Verteidigungsausgaben für Kooperationsprojekte auf. Das geht einher mit einem neuen Unwillen, Soldaten in Einsätze ausserhalb Europas zu entsenden. Alle europäischen Nato-Mitglieder beteiligten sich nach 2001 an der Isaf-Mission in Afghanistan, aber nur die Hälfte war bereit, 2011 in Libyen zu intervenieren. Die EU ihrerseits entsandte bisher über 30 internationale Missionen – davon wurden 24 bereits vor dem Jahr 2009 beschlossen. Die wenigen seitdem vereinbarten Operationen sind deutlich kleiner und meist weniger ambitioniert. Ohne Frage hat die russische Aggression in der Ukraine, die im Jahr 2014 die sicherheitspolitische Landschaft Europas veränderte, der Nato zu neuer Bedeutung verholfen. Abschreckung und die Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisgebiets, lange Jahrzehnte das Rückgrat der Allianz, sind wieder von zentraler Bedeutung – und eine Kernaufgabe europäischer Regierungen. Bisher jedoch haben die Bemühungen der Nato überschaubare Resultate gezeigt. Die vielgelobte neue «Speerspitze» der Nato, die multinationale Einsatztruppe VJTF, ist mit 5000 Soldaten zu Lande von bescheidener Grösse. Zudem sind Zweifel an ihrer Durchsetzungsfähigkeit angebracht. In sicherheitspolitischen Kreisen sorgte vor kurzem eine Studie der Rand Corporation aus den USA für Aufregung, nach der russische Truppen die Hauptstädte der baltischen Staaten Estland und Lettland binnen höchstens 60 Stunden erreichen könnten – wenn sie das denn wollten. Natürlich ist das Bild der europäischen Verteidigungskooperation nicht nur schwarz-weiss. In beiden Organisationen gibt es rund 400 laufende Kooperationsprojekte, einige davon sind sehr erfolgreich. Zu diesen gehört das Europäische Lufttransport-Kommando in den Niederlanden, das die Flüge von fast 200 Transport- und Tankflugzeugen aus sieben Nationen koordiniert. Das Lufttransport-Projekt Heavy Airlift Wing in Ungarn, durchgeführt von elf Nationen, stellt strategische Transportkapazitäten zur Verfügung. Zudem ist eine intensive und erfolgreiche Regionalisierung der Kooperation zu beobachten: Dazu gehört die Kooperation der baltischen und der nordischen Nationen ebenso wie die der Visegrad-Staaten. Eine Reihe von Regierungen setzt zudem auf bilaterale Kooperation. So ist eine beeindruckende Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Grossbritannien, Deutschland und den Niederlanden sowie Finnland und Schweden zu beobachten. Verteidigungskooperation in Europa tendiert auch vermehrt zu ad hoc gebildeten «Koalitionen der Willigen». Die Libyen-Intervention von 2011 begann als Nebeneinander nationaler Operationen Frankreichs, Grossbritanniens und der USA, bevor sie unter das Kommando der Nato gestellt wurden. In Mali und der Zentralafrikanischen Republik war es Frankreich, das 2013 auf eigenen Entschluss intervenierte, bevor es von kleinen EU-Missionen zum Aufbau von Kapazitäten und von grösseren Operationen der Vereinten Nationen abgelöst wurde. Auch die momentan wichtigste Koalition, die Allianz zur Bekämpfung des IS in Syrien und dem Irak, ist nichts anderes als eine Koalition der Willigen. Höhere Anforderungen Europäische Regierungen sind also immer mehr geneigt, sich festen Kooperationsformen zu entziehen. Lieber entscheiden sie im Einzelfall, auf welche Kooperation und welche Mission sie sich gemäss ihren Interessen einlassen. Insofern haben die gegenwärtigen Krisen nicht zu mehr Zusammenarbeit geführt, im Gegenteil: Die Staaten Europas fragen zuerst nach ihren nationalen Interessen, und erst danach wählen sie das passende Kooperationsprojekt. Natürlich ist die Nationalisierung der Verteidigungskooperation kein neues Phänomen. Eine beträchtliche Mehrzahl der grossen Kooperationsvorhaben seit den 1960er Jahren – Waffensysteme wie der Eurofighter und der A400 M, aber auch multinationale Einheiten wie das Eurocorps – waren im Grunde ad hoc entstandene Projekte kleiner Staatengruppen. Aber es ist die krisenhafte Gegenwart, das Nebeneinander von komplexen und existenziellen Herausforderungen, die eine solche Renationalisierung gefährlich erscheinen lässt. Solange die staatlichen Verteidigungsbudgets begrenzt sind, besteht keine Alternative zu intensiverer Zusammenarbeit. Über europäische Kooperationsprojekte wird aber nicht mehr primär in Brüssel entschieden, sondern in den Hauptstädten Europas – vor allem in London, Paris und Berlin. Daniel Keohane ist Senior Researcher am Center for Security Studies der ETH Zürich. Dieses Dokument ist lizenziert für ETH Zürich:, uE00453L. Alle Rechte vorbehalten. © NZZ Neue Zürcher Zeitung. Download vom 30.03.2016 10:32 von nzz.genios.de.
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