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SPARKULTUR
SPARGELPOLITIK
Die Sparmassnahmen der Kulturförderinstitutionen
beschäftigen uns im April. Sparen? Wofür sparen
wir eigentlich? Sparen müsste heissen, zur späteren
­Verwendung Geld zur Seite zu legen, das für grössere
Anschaffungen verwendet werden kann. Sparen
müsste heissen, staatliche Mittel gerecht erheben und
richtig verteilen. Finanzpolitik darf sich nicht auf
den roten Sparstift reduzieren. Was macht uns denn
aus? Wollen wir weitere Milliarden in Luxusstrassen
stecken? Und noch mehr sparen auf dem Buckel der
Prekarisierten?
Der Grosse Rat kürzte den kantonalen kulturellen
Aushängeschildern 15 Prozent des Beitrags für dieses
Jahr. Die neue Sparpolitik wird kaum wie ein Spuk
vorübergehen. Die Aussichten auf das nächste Jahr sind
nicht anders. Wir wissen es: Die Kulturfinanzierung
des Kantons, der Städte steckt in der Krise. Was ist zu
tun? Wie gehen die Leuchttürme damit um? Wo werden Abstriche gemacht? Können Leuchttürme noch
leuchten, wenn ihnen jährlich 15 Prozent weggestrichen
werden? Wir fragen vier betroffene Institutionen, das
Künstlerhaus Boswil, tanz & kunst königsfelden, das
Schweizer Kindermuseum Baden und argovia philharmonic, nach ihrer Haltung und der Umsetzung des
aufdiktierten Sparprogramms. Und wir fragen Rolf
Keller nach seinen Empfehlungen für Kulturmanage-­
rinnen und -manager, Budgetkürzungen durchzu­
denken, und wo neue Prioritäten gesetzt werden könnten,
damit an der richtigen Seite von der Spargel wegschnitten wird, wie Urs Derendingers Illustration zeigt.
Die Kulturmanager müssten noch mehr einstehen für
den Wert der Kunst und der Kultur und das Bewusstsein in der Öffentlichkeit schärfen für deren Notwendig­
keit, wenn wir weiterhin qualitativ hervorragende
Streichkonzerte vor Ort wollen, die nicht zu Streicherkonzerten verkümmern. Der Aargau braucht ein starkes Kulturnetzwerk, das kulturpolitische Anliegen an
die Vertreterinnen und Vertreter der Politik, Verwaltung und Wirtschaft heranträgt. Und es wäre Zeit, auch
Künstlerinnen und Kulturmanager in den Grossen ­
Rat zu wählen.
Denn: Sparen an der Kultur ist wie Permafrost.
Zusammensparen, einsparen, absparen, aufsparen eine
kaltschnäuzige Angelegenheit, die Lebendiges lähmt,
sprudelnde Quellen versiegen lässt, dem Zwang unterliegt. Wenig hergibt. Wie Geiz klingt. Ich erspare mir
und Ihnen weitere Ausführungen.
WOFÜR SPAREN WIR EIGENTLICH?
tanz & kunst königsfelden
WER BEZAHLT?
NR
64
von Brigitta Luisa Merki
Seite 25
argovia philharmonic
von Christian Weidmann
Seite 25
HISTORISCHE LIEGENSCHAFTEN
ALS LEIDTRAGENDE
Künstlerhaus Boswil
von Michael Schneider
Seite 26
AUF DEM WEG ZUM
DORNRÖSCHENSCHLAF
Schweizer Kindermuseum Baden
von Daniel Kaysel
Seite 26
ILLUSTRATIONEN
von Urs Derendinger
Seite 24, 27, 33
STREICHKONZERT STATT
STREICHERKONZERTE!
Budgetkürzungen bringen keine erfreulichen Szenarien
mit dubiosen Erfolgsaussichten. Vielleicht müssten
Kulturmanagerinnen und -manager, einschliesslich der
Förderer, den Fokus auf die Kommunikation legen,
um der Sparwut entgegenzutreten.
von Rolf Keller
Seite 28 –29
BILDSCHIRM
TAUCHSIEDER
M-Budget
Wenn jemand nach
Las Vegas geht …
von Olaf Breuning
Seite 29– 31
FEDERLESEN
Kathrin Scholl und
Corina Eichenberger über
den Wert der Kultur
aufgezeichnet von
Jacqueline Beck
Seite 34 – 35
Madeleine Rey, Redaktion
von Susanna Perin
Seite 32
HIMMEL & HÖLLE
Das Krokodil
von Markus Kirchhofer
Illustration von Selina Kallen
Seite 36 – 37
23
Wer
bezahlt?
Wofür sparen wir
eigentlich?
von Christian Weidmann
Ein Angebot hat seinen Preis, Qualität hat ihren Preis.
Das weiss, wer seine Kleider nicht in der Billigladenkette
kauft, sondern im Modefachgeschäft oder wer lieber
ein Auto aus deutscher Produktion fährt als eines aus
französischem Haus mit rumänischem Namen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Sparmassnahmen des Kantons Aargau, aber auch der finanziell
angespannten Lage der Gemeindehaushalte stellt sich
für das argovia philharmonic nun die Frage, ob sein
Angebot in der bekannten Qualität und Quantität
bestehen bleiben kann, und wenn ja, wie dieses finanziert werden soll.
Knapp werdende Mittel sind eine Chance: Sie zwingen, Lösungen für einen effizienteren Betrieb zu finden
und bezüglich der Erschliessung weiterer Finanzierungsquellen kreativ zu bleiben. Allerdings gehört für
kulturelle Institutionen wie das argovia philharmonic
beides seit je zur Tagesordnung. Und so unterstreichen
die Kürzungen diese Herausforderungen höchstens.
Da Unterstützungsgelder, die das argovia philharmonic
vom Swisslos-Fonds erhält, von dieser Kürzung nicht
betroffen sind, hält sich der Schaden zurzeit in Grenzen. So wird die Qualität des argovia philharmonic
nicht unter den Kürzungen leiden, und auch bezüglich
des Angebotes sind für die kommende Saison keine
gravierenden Einschnitte zu erwarten.
Vielmehr wird es immer wichtiger, Wege zu finden,
wie wir die Notwendigkeit unserer Sache – ein breites
musikalisches Angebot im Speziellen, Kultur im Allgemeinen – kommunizieren. Wir müssen aufzeigen,
dass Angebot und Qualität nicht nur auf Kleider oder
Autos bezogen ihren Preis haben, sondern auch bezüglich kultureller Inhalte. Und dass dieser Preis bezahlt
werden muss: ob über die Öffentlichkeit, über Unternehmungen, die einerseits Verantwortung gegenüber
der Gesellschaft im Sinn ihrer «Corporate Social
­Responsibility» wahrnehmen und andererseits einen
wirtschaftlichen Nutzen in Sponsoringpartnerschaften
mit kulturellen Institutionen erkennen, oder über
unser Publikum als «Endkunde», das sich auf Anpassungen bei Eintritts- und Ticketpreisen einstellen muss.
Wie immer wird der Weg über eine sinnvolle Balance
dieser verschiedenen Faktoren führen.
von Brigitta Luisa Merki
Ich bin zurzeit in einer intensiven Probephase für das
pädagogische Kunstprojekt «leise brüllen», das ich mit
120 Schülerinnen und Schülern der Schule Windisch
erarbeite. Der Zufall will es vielleicht, dass mein Projekttitel «leise brüllen» auch für meine persönliche Meinungsäusserung zum Thema Sparmassnahmen in der
Kultur steht. Die Dringlichkeit einer Erfahrung in
künstlerischen Prozessen, die Fokussierung auf Werte,
die nicht einfach messbar sind im üblichen Sinn,
die das Menschsein erforschen, die Sensibilisierung und
das Bewusstsein fördern – all diese Dringlichkeiten,
die unser Dasein im Innersten bereichern, werden mir
in dieser Arbeit mit Jugendlichen jeden Tag klar vor
Augen geführt. Wenn wir nicht bereit sind, in die Erhaltung unserer menschlichen und kulturell relevanten
Werte zu investieren, sondern sie wegsparen, sehe ich
schwarz.
Die scharfen Kürzungen im Kulturbereich sind
kurzsichtig angedacht, aber als Künstlerin kenne ich
eher Weitsicht oder eleganter ausgedrückt: Visionen.
So überleben wir vielleicht «leise brüllend», aber nie
schweigend. Wir bemühen uns vermehrt, ein engagiertes Publikum zu generieren, das unsere Botschaft
weiterträgt und damit Aufklärung betreibt. Wir brauchen eine Kulturlobby im Kanton Aargau, die in kleinen und grossen Gemeinschaften und bei Politikerinnen und Politikern ein neues Bewusstsein ins Leben
ruft für Kunst und Kultur, von der wir alle leben und
profitieren.
Im konkreten Tagesgeschäft bemühen wir uns, zu
überleben. Wir sind bereits am Limit, beuten uns kräftemässig aus, verzichten zeitweise auf unsern Lohn etc.
Es gibt keine neuen Wege der Finanzierung, wir haben
sie alle noch und noch beschritten. Es sei denn, dass
die Kultur des privaten Mäzenatentums erneut aufleben
würde, was ich persönlich sehr begrüssen würde.
Ich bitte Sie deshalb: Brüllen Sie leise mit, freudig,
wütend, traurig, entsetzt, damit unser gemeinsames
Brüllen bald Gehör findet und unsere kostbaren Lebenserfahrungen nicht weggespart werden.
Brigitta Luisa Merki ist künstlerische Leiterin von
tanz & kunst königsfelden.
Christian Weidmann ist Intendant des argovia philharmonic.
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Historische
Das Kinder­museum
Liegenschaften als auf dem Weg
Leidtragende
zum Dornröschenschlaf
von Michael Schneider
Als 2010 das neue Aargauer Kulturgesetz in Kraft trat,
war dies eine gute Nachricht für das Künstlerhaus
Boswil: Nach vielen Jahren der Unterfinanzierung konnte
die Finanzlage ab 2011 endlich stabilisiert werden,
was in den Folgejahren zu ausgeglichenen Jahres­
abschlüssen führte. Und mithilfe von Rückstellungen
gelang es uns endlich, dringend notwendige Sanierungen an den vier denkmalgeschützten historischen
Liegenschaften des Boswiler Kirchenbezirks, die auf
die Jahre zwischen 1675 und 1770 datiert sind, vor­
zunehmen. Die Pendenzenliste in diesem Bereich
ist jedoch lang. Über finanzielle Reserven verfügt das
Künstlerhaus Boswil nicht, und anstelle einer Auf­
stockung der Betriebsbeiträge, die etwas Luft verschafft
hätte, tritt aufgrund der Sparmassnahmen des
­Grossen Rates nun eine Kürzung ein. Dieses Minus
von 50 000 Franken trifft die Institution ins Mark.
Der klassische Musikmarkt ist gesättigt, die Konkurrenz gross, und auch wenn das Künstlerhaus in den
meisten seiner Programmbereiche als sogenannter
«Qualitätsführer» auftritt, also mit Angeboten, die im
Kanton nur wenig Konkurrenz haben, so sind die
Handlungsmöglichkeiten doch beschränkt. Es kommt
weder in Frage, die Löhne qualifizierter Mitarbeiter zu
senken, noch stehen deren Pensen zur Diskussion.
Denn das Arbeitsvolumen bleibt dasselbe, und die
Streichung von Programmpunkten würde ein Minus an
Projektbeiträgen und Veranstaltungseinnahmen bedeuten. Die Preise könnten höchstens noch moderat
angehoben werden, um nicht die Auslastung zu gefährden; die Kapazität des Konzertsaals kann nicht erweitert werden. Neue Wege in der Finanzierung zu gehen
– das tönt interessant. Viele Möglichkeiten wurden
aber bereits in Angriff genommen beziehungsweise
stehen nicht zur Verfügung, und die Akquirierung
neuer Geldströme würde zunächst einmal einen hohen
(und finanziell ins Gewicht fallenden) Personalaufwand bedeuten.
So werden die historischen Liegenschaften selber
die Leidtragenden sein. Da der musikalische Leistungsauftrag des Künstlerhauses erfüllt werden muss, um
den Betrieb und die Projekte zu finanzieren, können
Abstriche in fünfstelliger Grössenordnung nur beim
Unterhalt des Gebäudeensembles erfolgen. Weniger
Betriebsbeiträge = weniger Sanierungen, dies scheint
der unerfreuliche, aber momentan einzig begehbare
Weg zu sein.
von Daniel Kaysel
Kultur – Vorzeigekultur – ist ein Mittel, einem Kanton
Profil zu geben. Der Kanton Aargau, eingebettet zwischen drei dominanten Zentren, hat die grosse Chance,
sich über seine originellen Leuchttürme grenzüberschreitend bemerkbar zu machen. Diese Standortmarketingmassnahme wurde im «Kulturkanton» von
politischer Seite erkannt und umgesetzt. Das Kindermuseum ist als Haus der Generationen in der Schweiz
einzigartig. Es ist ein Ort für ausserschulisches Lernen, für Wertetradierung und den Generationendialog.
Dieser Leuchtturm strahlt über den Kanton hinaus.
Doch jetzt, beim ersten Windstoss, wird Leuchtkultur zu Sparkultur. Um 15 Prozent werden die Betriebsbeiträge beim Kindermuseum Baden gekürzt. Was
heisst das? Dass das Museum dunkel bleibt, die Besucher mit Taschenlampen kommen? Dass die Heizung
abgestellt und warme Kleidung empfohlen wird?
Dass die Objekte unter einer dicken Schicht Staub
verschwinden und der Garten verwuchert, sodass die
alte Villa an Dornröschen und sein Schloss erinnert?
So weit ist es zum Glück noch nicht.
Die Sparmassnahmen zwingen das Kindermuseum
allerdings, das Licht etwas zu dimmen. Eine Massnahme ist die Senkung der Werbekosten. Plakate und
Annoncen – auch ausserkantonal – werden gestrichen,
was einer kantonalen Profilierung eigentlich zuwiderläuft. Zudem werden einzelne kleinere Projekte vertagt
oder ganz gestrichen. Als sozial ausgerichtetes Unternehmen verzichtet das Kindermuseum vorerst auf die
Anhebung der Eintrittspreise. Wird an den Betriebskosten, die, gemessen am Aufwand und dem Auftrag
des Kindermuseums, bescheiden gehalten sind, weiter
gespart, droht längerfristig doch noch der DornröschenEffekt. Ob sich dann ein Prinz findet, der das Museum
wachküsst, ist fraglich, denn bekanntlich haben Kinder keine Lobby.
Daniel Kaysel ist Koleiter im «Schweizer Kindermuseum –
Haus der Generationen» in Baden.
Michael Schneider ist Geschäftsführer Künstlerhaus Boswil
26
Die Sparapostel
Auch in der Kirche ist ja bekanntlich Sparsamkeit
angesagt. Doch Papst Franziskus musste feststellen,
dass sich unter all den vielen Heiligen keiner fand,
der diese Tugend repräsentiert. Deshalb ernannte
er sparsamerweise zwei kleine Vatikanbeamte zu
­ paraposteln. Sie hatten kürzlich vorgeschlagen,
S
dass man die teuren Heiligenscheine aus Gold doch
ersetzen könne durch eine Blechkonstruktion, die
den Reissnägeln nachempfunden sei, mit denen sie
täglich zu tun haben.
27
SPARKULTUR
Streich­konzert statt
Streicherkonzerte!
von Rolf Keller
Landauf, landab proklamieren jetzt Kantone und Städte
ihre «Sparkultur». Und besetzen damit einen Begriff,
der traditionell die gute alte Bürgertugend meinte,
haushälterisch mit dem Ersparten umzugehen. Schlagzeilen der letzten Monate wie «Sparkultur droht vor
die Hunde zu gehen» oder «Die Sparkultur stirbt scheibchenweise» warnen vor dem Phänomen, dass die Leute
vor lauter Tief- oder Negativzinsen das Sparsäuli und
das Sparbüechli missachten und das Geld, das nichts
abwirft, gedankenlos verjubeln.
Die «neue» Sparkultur hingegen ist ein Euphemismus, mit dem den Bürgerinnen und Bürgern die unpopulären «Bitte die Gürtel enger schnallen!»-Parolen
schmackhafter gemacht werden sollen, ganz im Stil
der Werbeindustrie, die das positiv konnotierte Wort
Kultur schon lange inflationär für ihre propagandistischen Zwecke einsetzt: der schnittige Wagen bietet
Fahrkultur, das Möbelhaus Wohnkultur und die Gourmet-Beiz Esskultur.
Nun ist natürlich der sparsame Einsatz von Finanzen, zumal wenn es sich um Steuergelder handelt,
durchaus tugendhaft. Was den Kulturbereich betrifft,
so haben Kulturmanagerinnen aller Sparten – in
­Projekten und Institutionen, ob als Veranstalter oder
auch als Förderer in den staatlichen Verwaltungen
und in Stiftungen – denn auch längst gelernt, knappe
Ressourcen effizient und effektiv einzusetzen, also so,
dass Aufwand und Ertrag in einem optimalen Verhältnis
stehen und die Mittel grösstmögliche Wirkung erzielen.
(Dieser Professionalisierungsschub setzte in den 1990erJahren ein, als sich die Schere zwischen der steigenden Kulturproduktion einerseits und den stagnierenden
oder sinkenden öffentlichen Mitteln andererseits
dafür immer weiter öffnete.) Doch auch das seriöseste
Management stösst mit allzu knapper finanzieller
Ausstattung an eine kritische Grenze, unterhalb derer
beim besten Willen keine befriedigenden Resultate
mehr zu erzielen sind.
Klar, wir geniessen hierzulande ein reiches Kulturleben, und die Welt verdüstert sich nicht, wenn da
ein Klassikfestival und dort ein Rockkonzert ausfällt.
Vieles trägt sich finanziell ohnehin selbst, weil es im
kommerziellen Mainstream mitschwimmt, und also
von keiner staatlichen Sparkultur tangiert wird. Aber
für feste Theater, ständige Orchester oder auch regionale Kulturveranstalter, die das Dorfleben kulturell
bereichern, bilden Eintrittspreise allein keine Existenzbasis. Vom Abbau staatlicher Leistungen betroffen
ist somit meist genau das, was die vom gleichen Staat
eingesetzten Fördergremien als qualitativ besonders
wertvoll eingestuft haben und also mit Steuergeld unterstützen möchten.
Was also tun die gewitzte Museumsdirektorin, der
Theaterleiter, die Galeriebesitzerin, der Kulturmanager
im Mehrspartenhaus, wenn ihre Fördermittel zusammengestrichen werden?
Die Optionen liegen auf der Hand:
– Anderswo zusätzliche Mittel beschaffen – nur:
Sponsoren sind in wirtschaftlich angespannteren
Zeiten keine langfristig verlässlichen Partner,
und Stiftungen leiden genauso unter tiefen Kapi­
talzinsen wie alle andern. Und das neue Zauber­
wort Crowdfunding? Dieses wird jedenfalls dort
­hoffnungslos überschätzt, wo es nicht einfach um
einmalige Projekte geht, sondern um kontinuierli­
che Trägerschaften, denn Kunsthäuser, Museen,
Theater, Orchester könnten sich mit Crowdfun­
ding nicht lange über Wasser halten!
– Am Programm Abstriche machen: weniger Vorstellungen im Theater, weniger Ausstellungen im
Kunstraum; oder leichtere Kost bieten: mehr Gefälliges, billigere Solisten im Orchester – nur: Das geht
auf Kosten der Qualität, der inhaltlichen Subs­
tanz. Auf Dauer ist damit kein Publikum zu
binden.
– Die Eintrittspreise erhöhen – nur: Wollte die Kultur­
politik nicht den Zugang der Bevölkerung zur
­Kultur erleichtern, die Schwellen niedrig halten?
– Auf Werbung verzichten – nur: Dann landet das
Publikum einfach bei der Konkurrenz, und der
eigene Ertrag sinkt weiter.
– Mitarbeitende entlassen oder schlechter entlöhnen
und vermehrt Freiwillige einsetzen – nur: Sollen
die Professionellen, Wohlausgebildeten bestraft
werden und den Staat über die Sozialhilfe Geld
kosten statt über das Kulturbudget?
– Überhaupt den Bettel hinwerfen – nur: Siehe letz­
ter Punkt.
28
Lauter wenig erfreuliche Szenarien mit dubiosen Erfolgsaussichten, die sicher keine Therapie für das grund­
legende Problem sind. Vielleicht müssten die Kulturmanagerinnen und -manager, einschliesslich der
­Förderer, ihren Fokus auf eine andere ihrer Kernkompetenzen legen, nämlich auf die Kommunikation, und
der Sparwut damit an ihrer Wurzel entgegentreten.
Sie müssten der Politik und den Steuerzahlern überzeugend darlegen, weshalb Gelder für Kultur Investi­
tionen in eine wetterfeste Fortentwicklung der Gemeinschaft sind und deren Zusammenhalt fördern.
Sie müssten das Bewusstsein in der Öffentlichkeit
schärfen für die Folgen einer inzwischen das ganze
gesellschaftliche Leben durchdringenden Ökonomisierung, die gleichsam als Naturgesetz akzeptiert wird
und die zu einem Röhrenblick führt, der nur noch
wirtschaftliche Kriterien wahrnimmt. «Die Tatsache,
dass (…) öffentliche Schulen verrotten (…) und Spitäler nach ökonomischen Richtlinien geführt werden,
hätte vor dreissig Jahren zu Protesten geführt. Heute
wird das schweigend hingenommen», schrieb Axel
Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, unlängst im Zürcher «Tages-Anzeiger».
Sie müssten darauf hinweisen, dass eine Gesellschaft
sich zu entscheiden habe, ob sie auch in der Kultur
eine Grundversorgung für alle sicherstellen wolle, wie
sie im Strassenbau oder im Gesundheitswesen selbstverständlich ist.
Sie müssten daran erinnern, dass Politik gestalten
soll. Also zum Beispiel einen tragfähigen Konsens zu
erarbeiten hätte darüber, wo im Interesse einer florierenden Zukunft des Staatswesens Prioritäten zu setzen
sind und wo allenfalls auf etwas verzichtet werden kann.
Mit dem Schlagwort der Opfersymmetrie («Alle müssen
ihren Beitrag leisten!») tut sie dies nicht: Der Rasen­
mäher taugt nicht zum Frisieren des Staatsbudgets.
Und endlich müssten die Kulturmanager und alle
anderen, die sich für einen lebendigen Kulturkanton
engagieren, mit Nachdruck in Erinnerung rufen, dass
die Verfassung als oberstes Staatsziel nicht ein aus­
geglichenes Budget definiert – so wenig natürlich gegen
ein solches einzuwenden ist –, sondern die Wohlfahrt
der Bevölkerung dieses Kantons.
Bildschirm
M-Budget
Da liegt er in seiner ganzen Länge auf dem Rücken auf
einer Holzkiste, der skurrile M-Budget-Mensch als liegender Akt, der Bauch eine Packung Chips, die Beine Bratensauce, Eierravioli und Rasiercrème, der Pimmel eine
Packung Präservative, Brüste aus Crème Dessert. Gänzlich aus Produkten der Billigmarke M-Budget zusammengefügt, glotzt er mit grossen Augen von seiner Tafel in die
Welt. Er – oder sie – ist, was er – oder sie – konsumiert.
Ein mythisches androgynes Wesen oder ein «Primitiver»
einer imaginären westlichen Spargesellschaft, erstarrt
in seinem Leben, das sich von Utopien verabschiedet hat
und sich im Konsum sinngebend erschöpft. Fragile, er
könnte rumpelnd auseinanderfallen.
Olaf Breuning, bekannt für seine eindrücklichen surrealen Bildwelten und ironischen Zitate, setzt sich immer wieder mit dem perfekten und monströsen Körper
auseinander; hier führt er Konsumverhalten und Geschlechterklischees, gängige Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, zwischen Humor und Ernst
vor Augen. Es scheint, dass etwas aus der Fassung geraten ist, Vorstellungen von Individualität und Subjektivität aufgegeben worden sind. Indem Olaf Breuning mit
Lebensmitteln und Dingen des alltäglichen Gebrauchs
spielt, erhebt er mit dem «Mr. M-Budget on His Back» ein
geschicktes Marketing zur Kunst.
Olaf Breuning, Mr. M-Budget on His Back, 2007, verschiedene
Materialien, ca. 78 × 189 × 75 cm.
Die Installation entstand 2007 für Olaf Breunings Ausstellung
im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich.
NRW-Forum Düsseldorf
«Olaf Breuning – Der Wahnsinn, den wir Realität nennen»
Retrospektive
11. Juni bis 21. August 2016
Das NRW-Forum Düsseldorf widmet dem in der Schweiz ge­
borenen und in New York lebenden Künstler die bisher g­ rösste
Retrospektive mit Werkzyklen der vergangenen 15 Jahre.
Rolf Keller ist Präsident des Aargauer Kuratoriums und
­ehemaliger Leiter des Studienzentrums Kulturmanagement
­Universität Basel.
29
Tauchsieder
Wenn jemand nach
Las Vegas geht …
von Susanna Perin
Kunst- und Kulturschaffende, die mehrfach und atypisch Beschäftigten par excellence, sind prekarisiert. Zudem finanzieren sie ihre Produktionen zum grössten Teil durch Eigenleistungen selber. Doch werden die städtischen und kantonalen
Kürzungen im Kulturbereich uns Produzenten und Produzentinnen in mehrfacher Weise treffen. Es werden nicht nur Auftrittsmöglichkeiten verschwinden. In der Folge werden Kulturinstitutionen Aufträge streichen, die für Kunstschaffende als
Selbstständigerwerbende eine wichtige Einnahmequelle bedeuten, das heisst: weniger Aufträge im Bereich Gestaltung,
Vermittlung, Grafik, Video, Ton- und Ausstellungstechnik, um
nur einige Beispiele zu nennen. Von den Folgen einer Kürzung
der Projekt- und Werkbeiträge ist hier noch nicht die Rede.
Es greift dennoch zu kurz, die heutige Sparpolitik in der
Sparte Kultur für sich vereinzelt zu betrachten. Die «Sparkultur» wird sich auf unsere Zukunft, auf Wohlstand und Zusammenhalt der Gesellschaft negativ auswirken. Als Kulturproduzentin, die Prozesse der Prekarisierung beobachtet und erforscht, empfinde ich es dringend, das zentrale Thema zu
betrachten, das die Sparkultur untermauert: die «Schulden».
Schulden sind Teil des Lebens und der Wirtschaft. Kein
Unternehmen hat keine Schulden. Noam Chomsky (Class Warfare, 1996) schlägt vor, zu untersuchen, wozu Schulden gemacht werden. Geht eine Familie nach Las Vegas, verspielt
dort das ganze Ersparte und macht Schulden, um weiter in Las
Vegas zu zocken, dann sind das schlechte Schulden. Wird der
gleiche Schuldenbetrag für ein Haus, für die Ausbildung der
Kinder oder für die Gründung eines Geschäfts eingesetzt, können Schulden durchaus konstruktiv sein. Betrachtet man nun
eine Regierung, müsse man genauso die Frage stellen: Wofür
werden Schulden gemacht? Sind Staatsschulden die Folge von
Steuergeschenken an die Wohlhabenden, dann sei es, wie
wenn jemand in Las Vegas sein Geld verschleudere. Wird aber
derselbe Schuldenbetrag verwendet, um «Kindern zu einer
besseren Gesundheit, einer besseren Ausbildung und zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu verhelfen, ist das ganz anders».
Chomskys Text, vor 20 Jahren publiziert, wirkt im Hintergrund der Subprimekrise 2007/08, die die Weltwirtschaft langfristig erschütterte, und ist immer noch sehr aktuell.
Das Credo, eine Sparpolitik würde sich positiv auf den
Wohlstand einer Gesellschaft auswirken, konnte bisher nicht
nur nicht belegt, sondern kann heute gar widerlegt werden.
Griechenland ist durch die massive Sparpolitik nicht gesund,
sondern komplett verarmt. In Italien sind durch den Sparkurs
ca. eine Million Arbeitsplätze verloren gegangen. Die USA ist
trotz des schlanken bis inexistenten Sozialstaates hoch verschuldet. USA-Bürger/innen haben ihr Hab und Gut verloren.
Die Mittelschicht ist verarmt.
Sparpolitik und «staatliche Entlastungen» bedeuten eins:
wenig Investition in die Zukunft. Dafür winken tiefe Steuern.
Sparkultur bedeutet hauptsächlich «Umverteilung», leider in
die falsche Richtung. Und es ist nie genug gespart. Die nächste
Runde folgt in Kürze.
Urs Derendinger, 1954 in Aarau geboren, ist in
Olten aufgewachsen. Er besuchte die Kunstgewerbeschule in Luzern. Danach folgten zwei längere
Indienreisen. Seit 2009 wohnt er in Zürich und
arbeitet Teilzeit als Sakristan bei der katholischen
Kirche. Er publiziert seine Zeichnungen, die oft
mit kurzen Texten versehen sind, auf seiner Facebook-Seite.
Susanna Perin ist Kunst- und Kulturproduzentin. Sie
­arbeitet hauptsächlich im EU-Raum. Ihr Projekt S.M.U.R.
untersucht(e) prekäre Bedingungen und Prozesse der
Selbstorganisierung. Sie ist Geschäftsleiterin von visarte.
aargau und lebt in Aarau.
32
FEDERLESEN
Auf welches kulturelle Angebot
im Kanton möchten Sie
auf keinen Fall verzichten?
Corina Eichenberger Auf das Aargauer
Kunsthaus möchte ich nicht verzichten und als Präsidentin des Stiftungsrats natürlich nicht auf das Stapferhaus. Auch das argovia philharmonic
liegt mir am Herzen. Darüber hinaus
leisten das Museum Aargau und die
Stadtmuseen in den Bezirkshaupt­
orten wichtige Arbeit.
Kathrin Scholl Der Kanton Aargau hat
ein sehr vielseitiges Kulturleben, vom
Kleintheater bis zur Institution mit
nationaler Ausstrahlung. Mit dem
Klassikfestival «Musikalische Begegnungen» gibt es in Lenzburg Konzerte,
die man sonst im KKL Luzern hört.
Auf kleinem Raum ist ein grosses Angebot vorhanden. Auf diese Vielfalt
möchte ich nicht verzichten.
Corina Eichenberger Die Regionalität
ist eine Stärke unseres Kantons – ich
habe versucht, dies anhand der
Stadtmuseen aufzuzeigen. Das kulturelle Angebot ist nicht wie im Kanton Zürich oder Luzern auf einige
Top-Institutionen konzentriert, sondern breit gestreut. Dem sollten wir
Sorge tragen.
Ihre Partei hat im Grossen
Rat den Sparmassnahmen im
Bereich Kultur zugestimmt.
Hat Sie dies als kulturaffine
Nationalrätin geschmerzt?
Corina Eichenberger Ich kenne die Diskussionen nicht im Detail, aber ich
weiss um die schlechten Finanzaussichten des Kantons. Wenn der Aargau als Lebens- und Wirtschaftsraum
attraktiv bleiben soll – und diesbezüglich hat er in den letzten Jahren an
Stellenwert gewonnen – so müssen wir
die Finanzen im Lot halten. Ich finde,
dass wir mit dem 2010 in Kraft getretenen Kulturgesetz einen innovativen
Schritt unternommen haben. Mit dem
Leuchtturmsystem sind wir weiter als
andere Kantone.
Kathrin Scholl
und ­Corina
­Eichenberger
über den Wert
der Kultur
Nachgefragt und aufgezeichnet
von Jacqueline Beck
Kathrin Scholl Ich möchte dies stützen: Das Kulturgesetz bildet eine gute
Basis. Es berücksichtigt ein zentrales
Anliegen, nämlich, dass nicht nur projekt-, sondern auch betriebsbezogen
gefördert wird. In dieser Hinsicht war
der Kanton Aargau wegweisend. Wenn
man aber betrachtet, wie hoch die
Pro-Kopf-Ausgaben im Kulturbereich
tatsächlich sind, gehören wir nicht
mehr zu den Spitzenreitern: Im kantonalen Vergleich stehen wir an 19.
Stelle.
Corina Eichenberger Basel-Stadt etwa
hat das Privileg, dass private Mäzene
die staatliche Förderung substanziell
ergänzen. Aus eigener Erfahrung mit
dem Stapferhaus und seinem Übergang zum Haus der Gegenwart hingegen weiss ich, dass die Suche nach
Geldgebern im Kanton Aargau zeit­
intensive Knochenarbeit bedeutet.
Kathrin Scholl Wenn wir aber an 19.
Stelle liegen, dann übertrumpft uns
nicht nur Basel. Wir haben im Aargau
den Fluch und Segen, dass im Vergleich zu anderen Kantonen relativ
grosse Beiträge auf die Kantons­
archäologie entfallen. Wenn gebaut
wird, kommen häufig Funde zum Vorschein, die konserviert werden müssen. Wie viel Geld dafür ausgegeben
wird, ist immer wieder Gegenstand
von Diskussionen im Parlament.
34
Wie einschneidend sind die
beschlossenen Beitrags­
kürzungen konkret für einzelne
Institutionen?
Corina Eichenberger Als sogenannter
Leuchtturm stützt sich das Stapferhaus auf die kantonalen Beiträge, um
seinen Leistungsauftrag zu erfüllen.
Die Kürzungen müssen nun via Reserven und einzelne Projekte kompensiert werden. Was wir dem Publikum
bieten, soll aber gleich gut oder sogar
noch besser sein. Es ist löblich, dass
die Regierung bereits im Juni des vergangenen Jahres mitgeteilt hat, wie
hoch die Kürzungen in den Jahren
2016 bis 2018 ausfallen werden, sodass man sie in den Budgets berücksichtigen kann.
K athrin Scholl Ich finde, dass man
damit leben kann, wenn einmal eine
Sparrunde kommt. Die Auseinandersetzung mit einem geringeren Budget
ist nicht per se negativ. Schwierig ist
es, wenn überall ein bisschen gespart
wird und sich dies wiederholt. Dann
geht Wesentliches verloren, weil viel
Zeit in die Organisation von Kultur
und in das Nachdenken darüber gesteckt wird, wie mit den Geldern umzugehen ist. Es ist ehrlicher, zu sagen,
wir verzichten auf etwas Bestimmtes,
als überall Richtung Mittelmass zu
tendieren. Beim Kuratorium konnten
FEDERLESEN
J­ agdtechnik verfeinert hat, begann er
zu tanzen und zu trommeln. Ich sage
dies bewusst plakativ. Kultur schafft
Identifikation.
Corina Eichenberger … und Zeitzeugnisse! Im Kanton Aargau finden sich
immer wieder Überreste aus der Römerzeit. Wir sollten uns bewusst sein,
dass das, was heute produziert wird,
seine Auswirkungen auf spätere Jahrzehnte und Jahrhunderte hat. Die
Kultur ist der Ausdruck unseres Entwicklungsstatus als Mensch.
Kathrin Scholl wir die Plafonierung zum Glück retten. Denn ich bin überzeugt, dass
Leuchttürme nur entstehen können,
wenn auch eine breite Basis gefördert
wird. Das Commitment dazu fehlt jedoch. Wir führen jedes Jahr einen erneuten Kampf.
Zurück zum Kuratorium: Sein
Budget bleibt zwar gleich gross,
aber ein Teil davon speist
sich aus dem Swisslos-Fonds,
der wiederkehrende Beiträge
ausschliesst.
Kathrin Scholl C o r i na E i ch e nb e r g e r Wen n ma n
kämpfen muss, spornt dies dazu an,
das Wesentliche im Auge zu behalten und sich nicht zu verzetteln. Der
Mensch hat grundsätzlich die Tendenz, sich bequem einzurichten.
Fliessen die Ressourcen, lässt manchmal der Elan nach. Es ist gut, wenn
man sich immer wieder bemühen
muss. Schliesslich geht es ja um
Steuergelder.
Die Kulturlobby scheint im
Kanton Aargau aber einen
schwereren Stand zu haben
als anderswo.
Corina Eichenberger Das liegt für mich
in der Natur des Kantons der Regionen. Jeder, der für das Aargauer
Kunsthaus oder für das argovia philharmonic kämpft, setzt sich auch für
einen Kulturraum Hirzenberg, für
Konzerte in Rheinfelden oder Ausstellungen in Zurzach ein, weil er dort
lebt. Das spricht für die Verwurzelung
im Kanton, bringt aber auch eine Gefahr der Verzettelung mit sich.
Das finde ich eine unsägliche Geschichte, ich muss es so
sagen. Der Kanton hat die gesetzliche
Verpflichtung, Kultur zu fördern. ­Dies
nun an den Swisslos-Fonds zu de­
legieren, finde ich eine schlechte
­Politik. Der Fonds kann für einzelne
­P rojekte beigezogen werden, aber
nicht zur Erfüllung des gesetzlichen
­Auftrags. Gerade kleinere Institutionen sind auf die Beiträge des Kuratoriums angewiesen. Sie müssen ihre
Projekte jeweils bis zur Vergabe Ende
November auf Standby halten. Das
erschwert die Planung und ist nur mit
einer längerfristigen Leistungsvereinbarung zu lösen.
Vom materiellen zum immate­
riellen Wert von Kultur: Der
Kanton hat sich das Entwick­
lungsleitbild «Menschen ­machen
Zukunft» gegeben. Welchen
Beitrag leistet in Ihren Augen
die Kultur?
K athrin Scholl Für mich legt die
­ ultur eine wesentliche Basis des
K
Menschseins. Bevor der Mensch seine
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Das ist der eine, ganz
wichtige Teil. Der andere Aspekt ist
der, dass die Kultur immer wieder die
Aufgabe wahrnimmt, quer zu denken.
Zukunft ist nur möglich, wenn man
sich die Gegenwart auch anders vorstellen kann. Hier leistet die Kultur
einen wesentlichen Beitrag. Sie schafft
neue Blickwinkel, die dazu anregen,
Entwicklungen einzuleiten.
Inwiefern ist Innovation, –
und nicht nur Bewahrung, –
mit den vorhandenen Mitteln
überhaupt noch möglich?
K athrin Scholl Sie ist schon noch
möglich. Ob Neues entsteht, ist nicht
nur vom Geld abhängig. Die Frage ist,
wie weit es Aufgabe der Gesellschaft
und des Staates ist, Innovation zu fördern. Räume im Sinn von Gelegenheiten und Möglichkeiten zu schaffen,
um Neues zu erproben, ist aus meiner
Sicht eine Aufgabe, die wir als Gesellschaft wahrnehmen müssen.
Kathrin Scholl ist Grossrätin (SP)
und Vizepräsidentin der Kommission
Bildung, Kultur und Sport im Kanton
Aargau.
Corina Eichenberger ist Nationalrätin
(FDP), Präsidentin der Stiftung Stapfer­
haus und Vorstandsmitglied des
­Trägervereins argovia philharmonic.
Jacqueline Beck ist freie Kultur­jour­nalistin.
Himmel & Hölle
Das Krokodil
von Markus Kirchhofer
«Komm schon! Wenn du mir auch unter den Händen
wegstirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose an den
Nagel. Also komm schon!» Das schrie ich dem Buben ins
Gesicht, zwischen einer Kompression auf die Brust und
einem Atemstoss in die Nase. Wahrscheinlich rettete
sein Asthma dem Buben das Leben. Kinder mit Asthma
werden besser mit Sauerstoffnot fertig.
und beatmete, pumpte und beatmete, pumpte und beatmete. Immer noch kaum ein Pupillenreflex, keine Atmung, kein Puls.
Während der Reanimation sah ich den alten Mann vor
mir. Der mit der künstlichen Herzklappe und dem zweiten Herzinfarkt. Ich hatte es mit Kompressionen und
Atemstössen versucht. Vergeblich. Da hatte ich mir geEs war ein Donnerstag, Juli, Ferienzeit. In der Badi hörte schworen, meinen Job aufzugeben, wenn mir nochmals
ich Kindergeschrei, Wasserplantschen und Fusstritte einer stirbt. «Komm schon! Wenn du mir auch unter den
­gegen Bälle. Das ist der übliche Badi-Sound. An jenem Händen wegstirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose
Donnerstag intensivierte der nahende Vollmond alle an den Nagel. Also komm schon!»
Klangfarben, machte sie bunter. Ich mag diesen VollmondDer Gedanke an meinen Bademeister-Kollegen war
Sound, im Gegensatz beispielsweise zum Drohendes-­ noch schlimmer. Er hatte einen Buben gerettet, der zuGewitter-Sound. Da wummern tiefe Männerstimmen, unterst im Schwimmerbecken gelegen hatte, auf dem
auch wenn das Gewitter noch weit weg ist.
Gitter des permanenten Bodenrücklaufs. Das ist ein beKann sein, dass ich Bademeister wurde, weil ich ne- liebter Ort für Wetttaucher. Der Sog des Rücklaufs hilft,
ben einer Badi aufgewachsen war. Für mich als Teenager am Beckenboden zu bleiben, während die Tauchzeit
war der Badi-Bau ein prägendes Erlebnis. Alle im Dorf läuft. Der Kollege barg den Buben und reanimierte ihn.
baggerten, betonierten und begrünten, ehrenamtlich. Ich Der Bub atmete wieder, war bei Bewusstsein und fuhr im
pickelte und schaufelte tagelang am Aushub der Umklei- Krankenauto davon. Mein Kollege entspannte sich und
dekabinen. Schliesslich war sie Realität, die luftige Ge- machte seinen Kontrollgang ums Bassin. Da sah er einen
genwelt für unser erdiges Dorf. Nichts Schöneres, als nach weiteren Knaben, nicht weit vom Gitter, am Grund des
der Heuernte direkt in die Badi zu gehen und sich den Beckens, tot. Der Fall wurde gerichtlich untersucht. Mein
juckenden Staub vom Körper zu duschen. Im Bassin woh- Kollege machte sich Vorwürfe und sprang von einer Brülige Kühle, dieser säuerliche Chlorgeschmack und diese cke. Das Verfahren war danach eingestellt worden.
geheimnisvolle Unterwasserwelt mit ihren verzerrten Formen und gedämpften Geräuschen. Auf dem Trockenen «Komm schon! Wenn du mir auch unter den Händen wegder Duft der Sommerlinde und die Verheissungen in den stirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose an den Nagel.
Bikinis. Ich hatte eine schwerelose Welt mitgeschaffen, Also komm schon!» Sehr, sehr langsam kam der Bub zuin die ich mich vom Heuboden aus abstossen konnte.
rück. Als der Krankenwagen eintraf, atmete er. Schwach
zwar, aber er atmete. Mit Sonden in der Nase und einem
Am Spätnachmittag rannte ein Mädchen auf mich zu Sauerstoffbeutel wurde er auf der Ambulanzliege aus
und schrie durch den Vollmond-Sound: «Da liegt einer meiner Badi gerollt. Ich ging drei Mal ums Becken, bevor
im Wasser!» Ich hetzte zum Bassin. Im Wasserbecken ich sicher war, dass kein weiteres Krokodil im Becken lag.
ein dichtes Getümmel, mit einer kreisrunden Lücke. Ich telefonierte mit dem Vater des Buben. Er lud meine
Mitten im Kreis ein Kind, Gesicht nach unten. Keiner Frau und mich zu sich ein. Der Bub lag im Spital unter
wagte es, sich ihm zu nähern. Als ob da ein Krokodil im dem Sauerstoffzelt, wir sassen im Wintergarten. Wir warNichtschwimmerbecken lauerte. Mit einem Satz war ich teten und hofften, warteten und hofften. Ich kaute an
im Kreis, packte den Buben und trug ihn auf den Beton. meinen Daumennägeln, bis die Nagelbetten bluteten. Als
Er reagierte nicht auf meine Worte. Keine Atmung. Kein gegen Mitternacht das Handy surrte, zitterte ich am ganPuls. Also Kompressionen auf die Brust und Luftstösse zen Körper. Ich hörte den Bescheid nur undeutlich. Der
in die Nase. Kleine Kinder gehen lautlos unter, Erwach- Vater des Buben holte «Rémy Martin» aus der Bar und
sene schreien um Hilfe. Kinder zäpfeln, sie schnappen Zigarren aus seinem Humidor.
nach Luft, tauchen auf und ab wie Fischerzapfen. Dann
gehen sie unter. Ich schickte meine Frau ins KassenMarkus Kirchhofer ist freier Autor. Er lebt in Oberkulm.
häuschen: «Notruf – Ertrinkungsunfall – Kind». Erst da
nahm ich die Mutter wahr. Sie stand zitternd neben ih«Das Krokodil» ist eine von 17 Kurzgeschichten aus Markus
Kirchhofers neuster Publikation «Der Stachel – Kleine
rem Buben: «Ich bin nur kurz in die Umkleidekabine
­Novellen», mit Illustrationen von Reto Gloor. Knapp Verlag
gegangen …» Ich war froh, dass sie mich machen liess.
2016. www.knapp-verlag.ch
Ich hatte von Bademeistern gehört, die Mütter mit Gewalt von ihren Kindern wegzerren mussten. Ich pumpte
Illustration von Selina Kallen. www.selka.ch
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