SPARKULTUR SPARGELPOLITIK Die Sparmassnahmen der Kulturförderinstitutionen beschäftigen uns im April. Sparen? Wofür sparen wir eigentlich? Sparen müsste heissen, zur späteren Verwendung Geld zur Seite zu legen, das für grössere Anschaffungen verwendet werden kann. Sparen müsste heissen, staatliche Mittel gerecht erheben und richtig verteilen. Finanzpolitik darf sich nicht auf den roten Sparstift reduzieren. Was macht uns denn aus? Wollen wir weitere Milliarden in Luxusstrassen stecken? Und noch mehr sparen auf dem Buckel der Prekarisierten? Der Grosse Rat kürzte den kantonalen kulturellen Aushängeschildern 15 Prozent des Beitrags für dieses Jahr. Die neue Sparpolitik wird kaum wie ein Spuk vorübergehen. Die Aussichten auf das nächste Jahr sind nicht anders. Wir wissen es: Die Kulturfinanzierung des Kantons, der Städte steckt in der Krise. Was ist zu tun? Wie gehen die Leuchttürme damit um? Wo werden Abstriche gemacht? Können Leuchttürme noch leuchten, wenn ihnen jährlich 15 Prozent weggestrichen werden? Wir fragen vier betroffene Institutionen, das Künstlerhaus Boswil, tanz & kunst königsfelden, das Schweizer Kindermuseum Baden und argovia philharmonic, nach ihrer Haltung und der Umsetzung des aufdiktierten Sparprogramms. Und wir fragen Rolf Keller nach seinen Empfehlungen für Kulturmanage- rinnen und -manager, Budgetkürzungen durchzu denken, und wo neue Prioritäten gesetzt werden könnten, damit an der richtigen Seite von der Spargel wegschnitten wird, wie Urs Derendingers Illustration zeigt. Die Kulturmanager müssten noch mehr einstehen für den Wert der Kunst und der Kultur und das Bewusstsein in der Öffentlichkeit schärfen für deren Notwendig keit, wenn wir weiterhin qualitativ hervorragende Streichkonzerte vor Ort wollen, die nicht zu Streicherkonzerten verkümmern. Der Aargau braucht ein starkes Kulturnetzwerk, das kulturpolitische Anliegen an die Vertreterinnen und Vertreter der Politik, Verwaltung und Wirtschaft heranträgt. Und es wäre Zeit, auch Künstlerinnen und Kulturmanager in den Grossen Rat zu wählen. Denn: Sparen an der Kultur ist wie Permafrost. Zusammensparen, einsparen, absparen, aufsparen eine kaltschnäuzige Angelegenheit, die Lebendiges lähmt, sprudelnde Quellen versiegen lässt, dem Zwang unterliegt. Wenig hergibt. Wie Geiz klingt. Ich erspare mir und Ihnen weitere Ausführungen. WOFÜR SPAREN WIR EIGENTLICH? tanz & kunst königsfelden WER BEZAHLT? NR 64 von Brigitta Luisa Merki Seite 25 argovia philharmonic von Christian Weidmann Seite 25 HISTORISCHE LIEGENSCHAFTEN ALS LEIDTRAGENDE Künstlerhaus Boswil von Michael Schneider Seite 26 AUF DEM WEG ZUM DORNRÖSCHENSCHLAF Schweizer Kindermuseum Baden von Daniel Kaysel Seite 26 ILLUSTRATIONEN von Urs Derendinger Seite 24, 27, 33 STREICHKONZERT STATT STREICHERKONZERTE! Budgetkürzungen bringen keine erfreulichen Szenarien mit dubiosen Erfolgsaussichten. Vielleicht müssten Kulturmanagerinnen und -manager, einschliesslich der Förderer, den Fokus auf die Kommunikation legen, um der Sparwut entgegenzutreten. von Rolf Keller Seite 28 –29 BILDSCHIRM TAUCHSIEDER M-Budget Wenn jemand nach Las Vegas geht … von Olaf Breuning Seite 29– 31 FEDERLESEN Kathrin Scholl und Corina Eichenberger über den Wert der Kultur aufgezeichnet von Jacqueline Beck Seite 34 – 35 Madeleine Rey, Redaktion von Susanna Perin Seite 32 HIMMEL & HÖLLE Das Krokodil von Markus Kirchhofer Illustration von Selina Kallen Seite 36 – 37 23 Wer bezahlt? Wofür sparen wir eigentlich? von Christian Weidmann Ein Angebot hat seinen Preis, Qualität hat ihren Preis. Das weiss, wer seine Kleider nicht in der Billigladenkette kauft, sondern im Modefachgeschäft oder wer lieber ein Auto aus deutscher Produktion fährt als eines aus französischem Haus mit rumänischem Namen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Sparmassnahmen des Kantons Aargau, aber auch der finanziell angespannten Lage der Gemeindehaushalte stellt sich für das argovia philharmonic nun die Frage, ob sein Angebot in der bekannten Qualität und Quantität bestehen bleiben kann, und wenn ja, wie dieses finanziert werden soll. Knapp werdende Mittel sind eine Chance: Sie zwingen, Lösungen für einen effizienteren Betrieb zu finden und bezüglich der Erschliessung weiterer Finanzierungsquellen kreativ zu bleiben. Allerdings gehört für kulturelle Institutionen wie das argovia philharmonic beides seit je zur Tagesordnung. Und so unterstreichen die Kürzungen diese Herausforderungen höchstens. Da Unterstützungsgelder, die das argovia philharmonic vom Swisslos-Fonds erhält, von dieser Kürzung nicht betroffen sind, hält sich der Schaden zurzeit in Grenzen. So wird die Qualität des argovia philharmonic nicht unter den Kürzungen leiden, und auch bezüglich des Angebotes sind für die kommende Saison keine gravierenden Einschnitte zu erwarten. Vielmehr wird es immer wichtiger, Wege zu finden, wie wir die Notwendigkeit unserer Sache – ein breites musikalisches Angebot im Speziellen, Kultur im Allgemeinen – kommunizieren. Wir müssen aufzeigen, dass Angebot und Qualität nicht nur auf Kleider oder Autos bezogen ihren Preis haben, sondern auch bezüglich kultureller Inhalte. Und dass dieser Preis bezahlt werden muss: ob über die Öffentlichkeit, über Unternehmungen, die einerseits Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im Sinn ihrer «Corporate Social Responsibility» wahrnehmen und andererseits einen wirtschaftlichen Nutzen in Sponsoringpartnerschaften mit kulturellen Institutionen erkennen, oder über unser Publikum als «Endkunde», das sich auf Anpassungen bei Eintritts- und Ticketpreisen einstellen muss. Wie immer wird der Weg über eine sinnvolle Balance dieser verschiedenen Faktoren führen. von Brigitta Luisa Merki Ich bin zurzeit in einer intensiven Probephase für das pädagogische Kunstprojekt «leise brüllen», das ich mit 120 Schülerinnen und Schülern der Schule Windisch erarbeite. Der Zufall will es vielleicht, dass mein Projekttitel «leise brüllen» auch für meine persönliche Meinungsäusserung zum Thema Sparmassnahmen in der Kultur steht. Die Dringlichkeit einer Erfahrung in künstlerischen Prozessen, die Fokussierung auf Werte, die nicht einfach messbar sind im üblichen Sinn, die das Menschsein erforschen, die Sensibilisierung und das Bewusstsein fördern – all diese Dringlichkeiten, die unser Dasein im Innersten bereichern, werden mir in dieser Arbeit mit Jugendlichen jeden Tag klar vor Augen geführt. Wenn wir nicht bereit sind, in die Erhaltung unserer menschlichen und kulturell relevanten Werte zu investieren, sondern sie wegsparen, sehe ich schwarz. Die scharfen Kürzungen im Kulturbereich sind kurzsichtig angedacht, aber als Künstlerin kenne ich eher Weitsicht oder eleganter ausgedrückt: Visionen. So überleben wir vielleicht «leise brüllend», aber nie schweigend. Wir bemühen uns vermehrt, ein engagiertes Publikum zu generieren, das unsere Botschaft weiterträgt und damit Aufklärung betreibt. Wir brauchen eine Kulturlobby im Kanton Aargau, die in kleinen und grossen Gemeinschaften und bei Politikerinnen und Politikern ein neues Bewusstsein ins Leben ruft für Kunst und Kultur, von der wir alle leben und profitieren. Im konkreten Tagesgeschäft bemühen wir uns, zu überleben. Wir sind bereits am Limit, beuten uns kräftemässig aus, verzichten zeitweise auf unsern Lohn etc. Es gibt keine neuen Wege der Finanzierung, wir haben sie alle noch und noch beschritten. Es sei denn, dass die Kultur des privaten Mäzenatentums erneut aufleben würde, was ich persönlich sehr begrüssen würde. Ich bitte Sie deshalb: Brüllen Sie leise mit, freudig, wütend, traurig, entsetzt, damit unser gemeinsames Brüllen bald Gehör findet und unsere kostbaren Lebenserfahrungen nicht weggespart werden. Brigitta Luisa Merki ist künstlerische Leiterin von tanz & kunst königsfelden. Christian Weidmann ist Intendant des argovia philharmonic. 25 Historische Das Kindermuseum Liegenschaften als auf dem Weg Leidtragende zum Dornröschenschlaf von Michael Schneider Als 2010 das neue Aargauer Kulturgesetz in Kraft trat, war dies eine gute Nachricht für das Künstlerhaus Boswil: Nach vielen Jahren der Unterfinanzierung konnte die Finanzlage ab 2011 endlich stabilisiert werden, was in den Folgejahren zu ausgeglichenen Jahres abschlüssen führte. Und mithilfe von Rückstellungen gelang es uns endlich, dringend notwendige Sanierungen an den vier denkmalgeschützten historischen Liegenschaften des Boswiler Kirchenbezirks, die auf die Jahre zwischen 1675 und 1770 datiert sind, vor zunehmen. Die Pendenzenliste in diesem Bereich ist jedoch lang. Über finanzielle Reserven verfügt das Künstlerhaus Boswil nicht, und anstelle einer Auf stockung der Betriebsbeiträge, die etwas Luft verschafft hätte, tritt aufgrund der Sparmassnahmen des Grossen Rates nun eine Kürzung ein. Dieses Minus von 50 000 Franken trifft die Institution ins Mark. Der klassische Musikmarkt ist gesättigt, die Konkurrenz gross, und auch wenn das Künstlerhaus in den meisten seiner Programmbereiche als sogenannter «Qualitätsführer» auftritt, also mit Angeboten, die im Kanton nur wenig Konkurrenz haben, so sind die Handlungsmöglichkeiten doch beschränkt. Es kommt weder in Frage, die Löhne qualifizierter Mitarbeiter zu senken, noch stehen deren Pensen zur Diskussion. Denn das Arbeitsvolumen bleibt dasselbe, und die Streichung von Programmpunkten würde ein Minus an Projektbeiträgen und Veranstaltungseinnahmen bedeuten. Die Preise könnten höchstens noch moderat angehoben werden, um nicht die Auslastung zu gefährden; die Kapazität des Konzertsaals kann nicht erweitert werden. Neue Wege in der Finanzierung zu gehen – das tönt interessant. Viele Möglichkeiten wurden aber bereits in Angriff genommen beziehungsweise stehen nicht zur Verfügung, und die Akquirierung neuer Geldströme würde zunächst einmal einen hohen (und finanziell ins Gewicht fallenden) Personalaufwand bedeuten. So werden die historischen Liegenschaften selber die Leidtragenden sein. Da der musikalische Leistungsauftrag des Künstlerhauses erfüllt werden muss, um den Betrieb und die Projekte zu finanzieren, können Abstriche in fünfstelliger Grössenordnung nur beim Unterhalt des Gebäudeensembles erfolgen. Weniger Betriebsbeiträge = weniger Sanierungen, dies scheint der unerfreuliche, aber momentan einzig begehbare Weg zu sein. von Daniel Kaysel Kultur – Vorzeigekultur – ist ein Mittel, einem Kanton Profil zu geben. Der Kanton Aargau, eingebettet zwischen drei dominanten Zentren, hat die grosse Chance, sich über seine originellen Leuchttürme grenzüberschreitend bemerkbar zu machen. Diese Standortmarketingmassnahme wurde im «Kulturkanton» von politischer Seite erkannt und umgesetzt. Das Kindermuseum ist als Haus der Generationen in der Schweiz einzigartig. Es ist ein Ort für ausserschulisches Lernen, für Wertetradierung und den Generationendialog. Dieser Leuchtturm strahlt über den Kanton hinaus. Doch jetzt, beim ersten Windstoss, wird Leuchtkultur zu Sparkultur. Um 15 Prozent werden die Betriebsbeiträge beim Kindermuseum Baden gekürzt. Was heisst das? Dass das Museum dunkel bleibt, die Besucher mit Taschenlampen kommen? Dass die Heizung abgestellt und warme Kleidung empfohlen wird? Dass die Objekte unter einer dicken Schicht Staub verschwinden und der Garten verwuchert, sodass die alte Villa an Dornröschen und sein Schloss erinnert? So weit ist es zum Glück noch nicht. Die Sparmassnahmen zwingen das Kindermuseum allerdings, das Licht etwas zu dimmen. Eine Massnahme ist die Senkung der Werbekosten. Plakate und Annoncen – auch ausserkantonal – werden gestrichen, was einer kantonalen Profilierung eigentlich zuwiderläuft. Zudem werden einzelne kleinere Projekte vertagt oder ganz gestrichen. Als sozial ausgerichtetes Unternehmen verzichtet das Kindermuseum vorerst auf die Anhebung der Eintrittspreise. Wird an den Betriebskosten, die, gemessen am Aufwand und dem Auftrag des Kindermuseums, bescheiden gehalten sind, weiter gespart, droht längerfristig doch noch der DornröschenEffekt. Ob sich dann ein Prinz findet, der das Museum wachküsst, ist fraglich, denn bekanntlich haben Kinder keine Lobby. Daniel Kaysel ist Koleiter im «Schweizer Kindermuseum – Haus der Generationen» in Baden. Michael Schneider ist Geschäftsführer Künstlerhaus Boswil 26 Die Sparapostel Auch in der Kirche ist ja bekanntlich Sparsamkeit angesagt. Doch Papst Franziskus musste feststellen, dass sich unter all den vielen Heiligen keiner fand, der diese Tugend repräsentiert. Deshalb ernannte er sparsamerweise zwei kleine Vatikanbeamte zu paraposteln. Sie hatten kürzlich vorgeschlagen, S dass man die teuren Heiligenscheine aus Gold doch ersetzen könne durch eine Blechkonstruktion, die den Reissnägeln nachempfunden sei, mit denen sie täglich zu tun haben. 27 SPARKULTUR Streichkonzert statt Streicherkonzerte! von Rolf Keller Landauf, landab proklamieren jetzt Kantone und Städte ihre «Sparkultur». Und besetzen damit einen Begriff, der traditionell die gute alte Bürgertugend meinte, haushälterisch mit dem Ersparten umzugehen. Schlagzeilen der letzten Monate wie «Sparkultur droht vor die Hunde zu gehen» oder «Die Sparkultur stirbt scheibchenweise» warnen vor dem Phänomen, dass die Leute vor lauter Tief- oder Negativzinsen das Sparsäuli und das Sparbüechli missachten und das Geld, das nichts abwirft, gedankenlos verjubeln. Die «neue» Sparkultur hingegen ist ein Euphemismus, mit dem den Bürgerinnen und Bürgern die unpopulären «Bitte die Gürtel enger schnallen!»-Parolen schmackhafter gemacht werden sollen, ganz im Stil der Werbeindustrie, die das positiv konnotierte Wort Kultur schon lange inflationär für ihre propagandistischen Zwecke einsetzt: der schnittige Wagen bietet Fahrkultur, das Möbelhaus Wohnkultur und die Gourmet-Beiz Esskultur. Nun ist natürlich der sparsame Einsatz von Finanzen, zumal wenn es sich um Steuergelder handelt, durchaus tugendhaft. Was den Kulturbereich betrifft, so haben Kulturmanagerinnen aller Sparten – in Projekten und Institutionen, ob als Veranstalter oder auch als Förderer in den staatlichen Verwaltungen und in Stiftungen – denn auch längst gelernt, knappe Ressourcen effizient und effektiv einzusetzen, also so, dass Aufwand und Ertrag in einem optimalen Verhältnis stehen und die Mittel grösstmögliche Wirkung erzielen. (Dieser Professionalisierungsschub setzte in den 1990erJahren ein, als sich die Schere zwischen der steigenden Kulturproduktion einerseits und den stagnierenden oder sinkenden öffentlichen Mitteln andererseits dafür immer weiter öffnete.) Doch auch das seriöseste Management stösst mit allzu knapper finanzieller Ausstattung an eine kritische Grenze, unterhalb derer beim besten Willen keine befriedigenden Resultate mehr zu erzielen sind. Klar, wir geniessen hierzulande ein reiches Kulturleben, und die Welt verdüstert sich nicht, wenn da ein Klassikfestival und dort ein Rockkonzert ausfällt. Vieles trägt sich finanziell ohnehin selbst, weil es im kommerziellen Mainstream mitschwimmt, und also von keiner staatlichen Sparkultur tangiert wird. Aber für feste Theater, ständige Orchester oder auch regionale Kulturveranstalter, die das Dorfleben kulturell bereichern, bilden Eintrittspreise allein keine Existenzbasis. Vom Abbau staatlicher Leistungen betroffen ist somit meist genau das, was die vom gleichen Staat eingesetzten Fördergremien als qualitativ besonders wertvoll eingestuft haben und also mit Steuergeld unterstützen möchten. Was also tun die gewitzte Museumsdirektorin, der Theaterleiter, die Galeriebesitzerin, der Kulturmanager im Mehrspartenhaus, wenn ihre Fördermittel zusammengestrichen werden? Die Optionen liegen auf der Hand: – Anderswo zusätzliche Mittel beschaffen – nur: Sponsoren sind in wirtschaftlich angespannteren Zeiten keine langfristig verlässlichen Partner, und Stiftungen leiden genauso unter tiefen Kapi talzinsen wie alle andern. Und das neue Zauber wort Crowdfunding? Dieses wird jedenfalls dort hoffnungslos überschätzt, wo es nicht einfach um einmalige Projekte geht, sondern um kontinuierli che Trägerschaften, denn Kunsthäuser, Museen, Theater, Orchester könnten sich mit Crowdfun ding nicht lange über Wasser halten! – Am Programm Abstriche machen: weniger Vorstellungen im Theater, weniger Ausstellungen im Kunstraum; oder leichtere Kost bieten: mehr Gefälliges, billigere Solisten im Orchester – nur: Das geht auf Kosten der Qualität, der inhaltlichen Subs tanz. Auf Dauer ist damit kein Publikum zu binden. – Die Eintrittspreise erhöhen – nur: Wollte die Kultur politik nicht den Zugang der Bevölkerung zur Kultur erleichtern, die Schwellen niedrig halten? – Auf Werbung verzichten – nur: Dann landet das Publikum einfach bei der Konkurrenz, und der eigene Ertrag sinkt weiter. – Mitarbeitende entlassen oder schlechter entlöhnen und vermehrt Freiwillige einsetzen – nur: Sollen die Professionellen, Wohlausgebildeten bestraft werden und den Staat über die Sozialhilfe Geld kosten statt über das Kulturbudget? – Überhaupt den Bettel hinwerfen – nur: Siehe letz ter Punkt. 28 Lauter wenig erfreuliche Szenarien mit dubiosen Erfolgsaussichten, die sicher keine Therapie für das grund legende Problem sind. Vielleicht müssten die Kulturmanagerinnen und -manager, einschliesslich der Förderer, ihren Fokus auf eine andere ihrer Kernkompetenzen legen, nämlich auf die Kommunikation, und der Sparwut damit an ihrer Wurzel entgegentreten. Sie müssten der Politik und den Steuerzahlern überzeugend darlegen, weshalb Gelder für Kultur Investi tionen in eine wetterfeste Fortentwicklung der Gemeinschaft sind und deren Zusammenhalt fördern. Sie müssten das Bewusstsein in der Öffentlichkeit schärfen für die Folgen einer inzwischen das ganze gesellschaftliche Leben durchdringenden Ökonomisierung, die gleichsam als Naturgesetz akzeptiert wird und die zu einem Röhrenblick führt, der nur noch wirtschaftliche Kriterien wahrnimmt. «Die Tatsache, dass (…) öffentliche Schulen verrotten (…) und Spitäler nach ökonomischen Richtlinien geführt werden, hätte vor dreissig Jahren zu Protesten geführt. Heute wird das schweigend hingenommen», schrieb Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, unlängst im Zürcher «Tages-Anzeiger». Sie müssten darauf hinweisen, dass eine Gesellschaft sich zu entscheiden habe, ob sie auch in der Kultur eine Grundversorgung für alle sicherstellen wolle, wie sie im Strassenbau oder im Gesundheitswesen selbstverständlich ist. Sie müssten daran erinnern, dass Politik gestalten soll. Also zum Beispiel einen tragfähigen Konsens zu erarbeiten hätte darüber, wo im Interesse einer florierenden Zukunft des Staatswesens Prioritäten zu setzen sind und wo allenfalls auf etwas verzichtet werden kann. Mit dem Schlagwort der Opfersymmetrie («Alle müssen ihren Beitrag leisten!») tut sie dies nicht: Der Rasen mäher taugt nicht zum Frisieren des Staatsbudgets. Und endlich müssten die Kulturmanager und alle anderen, die sich für einen lebendigen Kulturkanton engagieren, mit Nachdruck in Erinnerung rufen, dass die Verfassung als oberstes Staatsziel nicht ein aus geglichenes Budget definiert – so wenig natürlich gegen ein solches einzuwenden ist –, sondern die Wohlfahrt der Bevölkerung dieses Kantons. Bildschirm M-Budget Da liegt er in seiner ganzen Länge auf dem Rücken auf einer Holzkiste, der skurrile M-Budget-Mensch als liegender Akt, der Bauch eine Packung Chips, die Beine Bratensauce, Eierravioli und Rasiercrème, der Pimmel eine Packung Präservative, Brüste aus Crème Dessert. Gänzlich aus Produkten der Billigmarke M-Budget zusammengefügt, glotzt er mit grossen Augen von seiner Tafel in die Welt. Er – oder sie – ist, was er – oder sie – konsumiert. Ein mythisches androgynes Wesen oder ein «Primitiver» einer imaginären westlichen Spargesellschaft, erstarrt in seinem Leben, das sich von Utopien verabschiedet hat und sich im Konsum sinngebend erschöpft. Fragile, er könnte rumpelnd auseinanderfallen. Olaf Breuning, bekannt für seine eindrücklichen surrealen Bildwelten und ironischen Zitate, setzt sich immer wieder mit dem perfekten und monströsen Körper auseinander; hier führt er Konsumverhalten und Geschlechterklischees, gängige Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, zwischen Humor und Ernst vor Augen. Es scheint, dass etwas aus der Fassung geraten ist, Vorstellungen von Individualität und Subjektivität aufgegeben worden sind. Indem Olaf Breuning mit Lebensmitteln und Dingen des alltäglichen Gebrauchs spielt, erhebt er mit dem «Mr. M-Budget on His Back» ein geschicktes Marketing zur Kunst. Olaf Breuning, Mr. M-Budget on His Back, 2007, verschiedene Materialien, ca. 78 × 189 × 75 cm. Die Installation entstand 2007 für Olaf Breunings Ausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich. NRW-Forum Düsseldorf «Olaf Breuning – Der Wahnsinn, den wir Realität nennen» Retrospektive 11. Juni bis 21. August 2016 Das NRW-Forum Düsseldorf widmet dem in der Schweiz ge borenen und in New York lebenden Künstler die bisher g rösste Retrospektive mit Werkzyklen der vergangenen 15 Jahre. Rolf Keller ist Präsident des Aargauer Kuratoriums und ehemaliger Leiter des Studienzentrums Kulturmanagement Universität Basel. 29 Tauchsieder Wenn jemand nach Las Vegas geht … von Susanna Perin Kunst- und Kulturschaffende, die mehrfach und atypisch Beschäftigten par excellence, sind prekarisiert. Zudem finanzieren sie ihre Produktionen zum grössten Teil durch Eigenleistungen selber. Doch werden die städtischen und kantonalen Kürzungen im Kulturbereich uns Produzenten und Produzentinnen in mehrfacher Weise treffen. Es werden nicht nur Auftrittsmöglichkeiten verschwinden. In der Folge werden Kulturinstitutionen Aufträge streichen, die für Kunstschaffende als Selbstständigerwerbende eine wichtige Einnahmequelle bedeuten, das heisst: weniger Aufträge im Bereich Gestaltung, Vermittlung, Grafik, Video, Ton- und Ausstellungstechnik, um nur einige Beispiele zu nennen. Von den Folgen einer Kürzung der Projekt- und Werkbeiträge ist hier noch nicht die Rede. Es greift dennoch zu kurz, die heutige Sparpolitik in der Sparte Kultur für sich vereinzelt zu betrachten. Die «Sparkultur» wird sich auf unsere Zukunft, auf Wohlstand und Zusammenhalt der Gesellschaft negativ auswirken. Als Kulturproduzentin, die Prozesse der Prekarisierung beobachtet und erforscht, empfinde ich es dringend, das zentrale Thema zu betrachten, das die Sparkultur untermauert: die «Schulden». Schulden sind Teil des Lebens und der Wirtschaft. Kein Unternehmen hat keine Schulden. Noam Chomsky (Class Warfare, 1996) schlägt vor, zu untersuchen, wozu Schulden gemacht werden. Geht eine Familie nach Las Vegas, verspielt dort das ganze Ersparte und macht Schulden, um weiter in Las Vegas zu zocken, dann sind das schlechte Schulden. Wird der gleiche Schuldenbetrag für ein Haus, für die Ausbildung der Kinder oder für die Gründung eines Geschäfts eingesetzt, können Schulden durchaus konstruktiv sein. Betrachtet man nun eine Regierung, müsse man genauso die Frage stellen: Wofür werden Schulden gemacht? Sind Staatsschulden die Folge von Steuergeschenken an die Wohlhabenden, dann sei es, wie wenn jemand in Las Vegas sein Geld verschleudere. Wird aber derselbe Schuldenbetrag verwendet, um «Kindern zu einer besseren Gesundheit, einer besseren Ausbildung und zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu verhelfen, ist das ganz anders». Chomskys Text, vor 20 Jahren publiziert, wirkt im Hintergrund der Subprimekrise 2007/08, die die Weltwirtschaft langfristig erschütterte, und ist immer noch sehr aktuell. Das Credo, eine Sparpolitik würde sich positiv auf den Wohlstand einer Gesellschaft auswirken, konnte bisher nicht nur nicht belegt, sondern kann heute gar widerlegt werden. Griechenland ist durch die massive Sparpolitik nicht gesund, sondern komplett verarmt. In Italien sind durch den Sparkurs ca. eine Million Arbeitsplätze verloren gegangen. Die USA ist trotz des schlanken bis inexistenten Sozialstaates hoch verschuldet. USA-Bürger/innen haben ihr Hab und Gut verloren. Die Mittelschicht ist verarmt. Sparpolitik und «staatliche Entlastungen» bedeuten eins: wenig Investition in die Zukunft. Dafür winken tiefe Steuern. Sparkultur bedeutet hauptsächlich «Umverteilung», leider in die falsche Richtung. Und es ist nie genug gespart. Die nächste Runde folgt in Kürze. Urs Derendinger, 1954 in Aarau geboren, ist in Olten aufgewachsen. Er besuchte die Kunstgewerbeschule in Luzern. Danach folgten zwei längere Indienreisen. Seit 2009 wohnt er in Zürich und arbeitet Teilzeit als Sakristan bei der katholischen Kirche. Er publiziert seine Zeichnungen, die oft mit kurzen Texten versehen sind, auf seiner Facebook-Seite. Susanna Perin ist Kunst- und Kulturproduzentin. Sie arbeitet hauptsächlich im EU-Raum. Ihr Projekt S.M.U.R. untersucht(e) prekäre Bedingungen und Prozesse der Selbstorganisierung. Sie ist Geschäftsleiterin von visarte. aargau und lebt in Aarau. 32 FEDERLESEN Auf welches kulturelle Angebot im Kanton möchten Sie auf keinen Fall verzichten? Corina Eichenberger Auf das Aargauer Kunsthaus möchte ich nicht verzichten und als Präsidentin des Stiftungsrats natürlich nicht auf das Stapferhaus. Auch das argovia philharmonic liegt mir am Herzen. Darüber hinaus leisten das Museum Aargau und die Stadtmuseen in den Bezirkshaupt orten wichtige Arbeit. Kathrin Scholl Der Kanton Aargau hat ein sehr vielseitiges Kulturleben, vom Kleintheater bis zur Institution mit nationaler Ausstrahlung. Mit dem Klassikfestival «Musikalische Begegnungen» gibt es in Lenzburg Konzerte, die man sonst im KKL Luzern hört. Auf kleinem Raum ist ein grosses Angebot vorhanden. Auf diese Vielfalt möchte ich nicht verzichten. Corina Eichenberger Die Regionalität ist eine Stärke unseres Kantons – ich habe versucht, dies anhand der Stadtmuseen aufzuzeigen. Das kulturelle Angebot ist nicht wie im Kanton Zürich oder Luzern auf einige Top-Institutionen konzentriert, sondern breit gestreut. Dem sollten wir Sorge tragen. Ihre Partei hat im Grossen Rat den Sparmassnahmen im Bereich Kultur zugestimmt. Hat Sie dies als kulturaffine Nationalrätin geschmerzt? Corina Eichenberger Ich kenne die Diskussionen nicht im Detail, aber ich weiss um die schlechten Finanzaussichten des Kantons. Wenn der Aargau als Lebens- und Wirtschaftsraum attraktiv bleiben soll – und diesbezüglich hat er in den letzten Jahren an Stellenwert gewonnen – so müssen wir die Finanzen im Lot halten. Ich finde, dass wir mit dem 2010 in Kraft getretenen Kulturgesetz einen innovativen Schritt unternommen haben. Mit dem Leuchtturmsystem sind wir weiter als andere Kantone. Kathrin Scholl und Corina Eichenberger über den Wert der Kultur Nachgefragt und aufgezeichnet von Jacqueline Beck Kathrin Scholl Ich möchte dies stützen: Das Kulturgesetz bildet eine gute Basis. Es berücksichtigt ein zentrales Anliegen, nämlich, dass nicht nur projekt-, sondern auch betriebsbezogen gefördert wird. In dieser Hinsicht war der Kanton Aargau wegweisend. Wenn man aber betrachtet, wie hoch die Pro-Kopf-Ausgaben im Kulturbereich tatsächlich sind, gehören wir nicht mehr zu den Spitzenreitern: Im kantonalen Vergleich stehen wir an 19. Stelle. Corina Eichenberger Basel-Stadt etwa hat das Privileg, dass private Mäzene die staatliche Förderung substanziell ergänzen. Aus eigener Erfahrung mit dem Stapferhaus und seinem Übergang zum Haus der Gegenwart hingegen weiss ich, dass die Suche nach Geldgebern im Kanton Aargau zeit intensive Knochenarbeit bedeutet. Kathrin Scholl Wenn wir aber an 19. Stelle liegen, dann übertrumpft uns nicht nur Basel. Wir haben im Aargau den Fluch und Segen, dass im Vergleich zu anderen Kantonen relativ grosse Beiträge auf die Kantons archäologie entfallen. Wenn gebaut wird, kommen häufig Funde zum Vorschein, die konserviert werden müssen. Wie viel Geld dafür ausgegeben wird, ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen im Parlament. 34 Wie einschneidend sind die beschlossenen Beitrags kürzungen konkret für einzelne Institutionen? Corina Eichenberger Als sogenannter Leuchtturm stützt sich das Stapferhaus auf die kantonalen Beiträge, um seinen Leistungsauftrag zu erfüllen. Die Kürzungen müssen nun via Reserven und einzelne Projekte kompensiert werden. Was wir dem Publikum bieten, soll aber gleich gut oder sogar noch besser sein. Es ist löblich, dass die Regierung bereits im Juni des vergangenen Jahres mitgeteilt hat, wie hoch die Kürzungen in den Jahren 2016 bis 2018 ausfallen werden, sodass man sie in den Budgets berücksichtigen kann. K athrin Scholl Ich finde, dass man damit leben kann, wenn einmal eine Sparrunde kommt. Die Auseinandersetzung mit einem geringeren Budget ist nicht per se negativ. Schwierig ist es, wenn überall ein bisschen gespart wird und sich dies wiederholt. Dann geht Wesentliches verloren, weil viel Zeit in die Organisation von Kultur und in das Nachdenken darüber gesteckt wird, wie mit den Geldern umzugehen ist. Es ist ehrlicher, zu sagen, wir verzichten auf etwas Bestimmtes, als überall Richtung Mittelmass zu tendieren. Beim Kuratorium konnten FEDERLESEN J agdtechnik verfeinert hat, begann er zu tanzen und zu trommeln. Ich sage dies bewusst plakativ. Kultur schafft Identifikation. Corina Eichenberger … und Zeitzeugnisse! Im Kanton Aargau finden sich immer wieder Überreste aus der Römerzeit. Wir sollten uns bewusst sein, dass das, was heute produziert wird, seine Auswirkungen auf spätere Jahrzehnte und Jahrhunderte hat. Die Kultur ist der Ausdruck unseres Entwicklungsstatus als Mensch. Kathrin Scholl wir die Plafonierung zum Glück retten. Denn ich bin überzeugt, dass Leuchttürme nur entstehen können, wenn auch eine breite Basis gefördert wird. Das Commitment dazu fehlt jedoch. Wir führen jedes Jahr einen erneuten Kampf. Zurück zum Kuratorium: Sein Budget bleibt zwar gleich gross, aber ein Teil davon speist sich aus dem Swisslos-Fonds, der wiederkehrende Beiträge ausschliesst. Kathrin Scholl C o r i na E i ch e nb e r g e r Wen n ma n kämpfen muss, spornt dies dazu an, das Wesentliche im Auge zu behalten und sich nicht zu verzetteln. Der Mensch hat grundsätzlich die Tendenz, sich bequem einzurichten. Fliessen die Ressourcen, lässt manchmal der Elan nach. Es ist gut, wenn man sich immer wieder bemühen muss. Schliesslich geht es ja um Steuergelder. Die Kulturlobby scheint im Kanton Aargau aber einen schwereren Stand zu haben als anderswo. Corina Eichenberger Das liegt für mich in der Natur des Kantons der Regionen. Jeder, der für das Aargauer Kunsthaus oder für das argovia philharmonic kämpft, setzt sich auch für einen Kulturraum Hirzenberg, für Konzerte in Rheinfelden oder Ausstellungen in Zurzach ein, weil er dort lebt. Das spricht für die Verwurzelung im Kanton, bringt aber auch eine Gefahr der Verzettelung mit sich. Das finde ich eine unsägliche Geschichte, ich muss es so sagen. Der Kanton hat die gesetzliche Verpflichtung, Kultur zu fördern. Dies nun an den Swisslos-Fonds zu de legieren, finde ich eine schlechte Politik. Der Fonds kann für einzelne P rojekte beigezogen werden, aber nicht zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags. Gerade kleinere Institutionen sind auf die Beiträge des Kuratoriums angewiesen. Sie müssen ihre Projekte jeweils bis zur Vergabe Ende November auf Standby halten. Das erschwert die Planung und ist nur mit einer längerfristigen Leistungsvereinbarung zu lösen. Vom materiellen zum immate riellen Wert von Kultur: Der Kanton hat sich das Entwick lungsleitbild «Menschen machen Zukunft» gegeben. Welchen Beitrag leistet in Ihren Augen die Kultur? K athrin Scholl Für mich legt die ultur eine wesentliche Basis des K Menschseins. Bevor der Mensch seine 35 Das ist der eine, ganz wichtige Teil. Der andere Aspekt ist der, dass die Kultur immer wieder die Aufgabe wahrnimmt, quer zu denken. Zukunft ist nur möglich, wenn man sich die Gegenwart auch anders vorstellen kann. Hier leistet die Kultur einen wesentlichen Beitrag. Sie schafft neue Blickwinkel, die dazu anregen, Entwicklungen einzuleiten. Inwiefern ist Innovation, – und nicht nur Bewahrung, – mit den vorhandenen Mitteln überhaupt noch möglich? K athrin Scholl Sie ist schon noch möglich. Ob Neues entsteht, ist nicht nur vom Geld abhängig. Die Frage ist, wie weit es Aufgabe der Gesellschaft und des Staates ist, Innovation zu fördern. Räume im Sinn von Gelegenheiten und Möglichkeiten zu schaffen, um Neues zu erproben, ist aus meiner Sicht eine Aufgabe, die wir als Gesellschaft wahrnehmen müssen. Kathrin Scholl ist Grossrätin (SP) und Vizepräsidentin der Kommission Bildung, Kultur und Sport im Kanton Aargau. Corina Eichenberger ist Nationalrätin (FDP), Präsidentin der Stiftung Stapfer haus und Vorstandsmitglied des Trägervereins argovia philharmonic. Jacqueline Beck ist freie Kulturjournalistin. Himmel & Hölle Das Krokodil von Markus Kirchhofer «Komm schon! Wenn du mir auch unter den Händen wegstirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose an den Nagel. Also komm schon!» Das schrie ich dem Buben ins Gesicht, zwischen einer Kompression auf die Brust und einem Atemstoss in die Nase. Wahrscheinlich rettete sein Asthma dem Buben das Leben. Kinder mit Asthma werden besser mit Sauerstoffnot fertig. und beatmete, pumpte und beatmete, pumpte und beatmete. Immer noch kaum ein Pupillenreflex, keine Atmung, kein Puls. Während der Reanimation sah ich den alten Mann vor mir. Der mit der künstlichen Herzklappe und dem zweiten Herzinfarkt. Ich hatte es mit Kompressionen und Atemstössen versucht. Vergeblich. Da hatte ich mir geEs war ein Donnerstag, Juli, Ferienzeit. In der Badi hörte schworen, meinen Job aufzugeben, wenn mir nochmals ich Kindergeschrei, Wasserplantschen und Fusstritte einer stirbt. «Komm schon! Wenn du mir auch unter den gegen Bälle. Das ist der übliche Badi-Sound. An jenem Händen wegstirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose Donnerstag intensivierte der nahende Vollmond alle an den Nagel. Also komm schon!» Klangfarben, machte sie bunter. Ich mag diesen VollmondDer Gedanke an meinen Bademeister-Kollegen war Sound, im Gegensatz beispielsweise zum Drohendes- noch schlimmer. Er hatte einen Buben gerettet, der zuGewitter-Sound. Da wummern tiefe Männerstimmen, unterst im Schwimmerbecken gelegen hatte, auf dem auch wenn das Gewitter noch weit weg ist. Gitter des permanenten Bodenrücklaufs. Das ist ein beKann sein, dass ich Bademeister wurde, weil ich ne- liebter Ort für Wetttaucher. Der Sog des Rücklaufs hilft, ben einer Badi aufgewachsen war. Für mich als Teenager am Beckenboden zu bleiben, während die Tauchzeit war der Badi-Bau ein prägendes Erlebnis. Alle im Dorf läuft. Der Kollege barg den Buben und reanimierte ihn. baggerten, betonierten und begrünten, ehrenamtlich. Ich Der Bub atmete wieder, war bei Bewusstsein und fuhr im pickelte und schaufelte tagelang am Aushub der Umklei- Krankenauto davon. Mein Kollege entspannte sich und dekabinen. Schliesslich war sie Realität, die luftige Ge- machte seinen Kontrollgang ums Bassin. Da sah er einen genwelt für unser erdiges Dorf. Nichts Schöneres, als nach weiteren Knaben, nicht weit vom Gitter, am Grund des der Heuernte direkt in die Badi zu gehen und sich den Beckens, tot. Der Fall wurde gerichtlich untersucht. Mein juckenden Staub vom Körper zu duschen. Im Bassin woh- Kollege machte sich Vorwürfe und sprang von einer Brülige Kühle, dieser säuerliche Chlorgeschmack und diese cke. Das Verfahren war danach eingestellt worden. geheimnisvolle Unterwasserwelt mit ihren verzerrten Formen und gedämpften Geräuschen. Auf dem Trockenen «Komm schon! Wenn du mir auch unter den Händen wegder Duft der Sommerlinde und die Verheissungen in den stirbst, hänge ich meine Bademeister-Hose an den Nagel. Bikinis. Ich hatte eine schwerelose Welt mitgeschaffen, Also komm schon!» Sehr, sehr langsam kam der Bub zuin die ich mich vom Heuboden aus abstossen konnte. rück. Als der Krankenwagen eintraf, atmete er. Schwach zwar, aber er atmete. Mit Sonden in der Nase und einem Am Spätnachmittag rannte ein Mädchen auf mich zu Sauerstoffbeutel wurde er auf der Ambulanzliege aus und schrie durch den Vollmond-Sound: «Da liegt einer meiner Badi gerollt. Ich ging drei Mal ums Becken, bevor im Wasser!» Ich hetzte zum Bassin. Im Wasserbecken ich sicher war, dass kein weiteres Krokodil im Becken lag. ein dichtes Getümmel, mit einer kreisrunden Lücke. Ich telefonierte mit dem Vater des Buben. Er lud meine Mitten im Kreis ein Kind, Gesicht nach unten. Keiner Frau und mich zu sich ein. Der Bub lag im Spital unter wagte es, sich ihm zu nähern. Als ob da ein Krokodil im dem Sauerstoffzelt, wir sassen im Wintergarten. Wir warNichtschwimmerbecken lauerte. Mit einem Satz war ich teten und hofften, warteten und hofften. Ich kaute an im Kreis, packte den Buben und trug ihn auf den Beton. meinen Daumennägeln, bis die Nagelbetten bluteten. Als Er reagierte nicht auf meine Worte. Keine Atmung. Kein gegen Mitternacht das Handy surrte, zitterte ich am ganPuls. Also Kompressionen auf die Brust und Luftstösse zen Körper. Ich hörte den Bescheid nur undeutlich. Der in die Nase. Kleine Kinder gehen lautlos unter, Erwach- Vater des Buben holte «Rémy Martin» aus der Bar und sene schreien um Hilfe. Kinder zäpfeln, sie schnappen Zigarren aus seinem Humidor. nach Luft, tauchen auf und ab wie Fischerzapfen. Dann gehen sie unter. Ich schickte meine Frau ins KassenMarkus Kirchhofer ist freier Autor. Er lebt in Oberkulm. häuschen: «Notruf – Ertrinkungsunfall – Kind». Erst da nahm ich die Mutter wahr. Sie stand zitternd neben ih«Das Krokodil» ist eine von 17 Kurzgeschichten aus Markus Kirchhofers neuster Publikation «Der Stachel – Kleine rem Buben: «Ich bin nur kurz in die Umkleidekabine Novellen», mit Illustrationen von Reto Gloor. Knapp Verlag gegangen …» Ich war froh, dass sie mich machen liess. 2016. www.knapp-verlag.ch Ich hatte von Bademeistern gehört, die Mütter mit Gewalt von ihren Kindern wegzerren mussten. Ich pumpte Illustration von Selina Kallen. www.selka.ch 37 ANzeigen Konzerttickets zum Preis eines Busbillets. *Schmales Budget, volles Programm www.kulturlegi.ch/aargau GAB_inserat_Open_Buersti_2016_Juli_117x80.indd 2 01.03.16 16:04 Effingerhof AG Storchengasse 15 5201 Brugg Telefon 056 460 77 77 Fax 056 460 77 70 info@effingerhof.ch www.effingerhof.ch Geballte Medienkompetenz.
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