Wissenschaftliche Schulen in den marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft! Von H E L M U T STEINER (Berlin) Durch die Diskussion der vergangenen Jahre kann die wissenschaftstheoretische ProbV matik w i e auch die wissenschaftspolitische Relevanz wissenschaftlicher Schulen als grund sätzlich geklärt angesehen werden. 1 Die A u f f o r d e r u n g e n und Aussagen führender politischer Repräsentanten haben dies nachdrücklich unterstützt." Um so mehr k o m m t es jetzt darai:· an, die gegebenen theoretischen Aussagen zu vertiefen, sie im einzelnen auszuarbeiten die Diskussion kontroverser Positionen fortzusetzen, um damit ihre politische Praktikabilität zu erhöhen. Eine solche spezielle Problematik ist die v o n Schulen innerhalb der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. Es ist auffallend, daß die bisherige Diskussion über wissenschaftliche Schulen fast ausschließlich am Beispiel v o n naturwissenschaftlichen geführt wurde. 3 Diese Zurückhaltung - sie t r i f f t übrigens ähnlich für Schulen in den technischen Wissenschaften zu - erklärt sich unter anderem aus einer Reihe Spezifika, von denen bei der generellen Diskussion zunächst gerne abstrahiert wurde. Auf diese Weise stand als Prototyp die theoretisch, aber v o r allem experimentell arbeitende naturwissenschaftliche Schule im Mittelpunkt des Interesses. Es ist an der Zeit, die gesellschaftswissenschaftliche Problematik in einem breiteren Maße in die Diskussion einzubeziehen. Das verlangt - da noch sehr verschiedenartige B e g r i f f e und Bestimmungen für wissenschaftliche Schulen verwandt werden 4 - einleitend eine zusammenfassende Darstellung des eigenen Verständnisses, um die weitere Diskussion darauf aufzubauen. 1 2 3 4 Vgl. die 1973 in der Zeitschrift „Spektrum" geführte Diskussion sowie die gemeinsam von Wissenschaftstheoretikern der UdSSR und der DDR erarbeiteten und in beiden Ländern veröffentlichten Bände: Schkoly w nauke. P o d red. S. R. Mikulinski/M. G. Jaroschewski' G. Kreber/H. Schteiner. M o s k w a 1977; Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1. Hrsg. v. S. R. Mikulinskij, M . G. Jarosevskij, G. Kröber, H. Steiner. Berlin 1977; Wissenschaftliche Schulen. Bd. 2. Hrsg. v. S. R. Mikulinskij, H. Steiner, R.-L. Winkler, P. Altner. Berlin 1979 V g l . : XXV. Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und die nächsten A u f g a b e n der Partei in der Innen- und Außenpolitik. Berichterstatter: L. I. Breshnew. Berlin 1976. S. 59; K. H a g e r : Wissenschaft und Technik im Sozialismus. Berlin 1974. S. 74 Zwar haben sich bei verschiedenen Gelegenheiten Wissenschaftler für Schulen auch in den marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften ausgesprochen (H. Hörz, H. Maier u. a.), w u r d e auf die schulenbildende Wirkung namhafter marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaftler auch in der DDR verwiesen (W. Krauss, J. Kuczynski, W. Mark o v ) , doch liegen detaillierte Darstellungen zu marxistisch-leninistischen gesellschaftswissenschaftlichen Schulen bisher nur v o n J. Kuczynski und v o m Verfasser dieses Beitrages vor. ( V g l . : J. K u c z y n s k i : Gesellschaftswissenschaftliche Schulen. Berlin 1977; H. Steiner: Soziale und k o g n i t i v e Bedingungen wissenschaftlicher Schulen in Geschichte und Gegenwart. I n : Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1) Wissenschaftspolitisch eindeutig für Schulen in den marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften hat sich auch S. Trapesn i k o w ausgesprochen. (Vgl. : S. Trapesnikow : Die Gesellschaftswissenschaften - der geistige Reichtum v o n Partei und Volk. I n : Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. H e f t 12/1976. S. 1240) Vgl. : Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1 u. 2 220 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Wissenschaftliche Charakteristika Schulen wissenschaftlicher Schulen Bedingungen und Charakteristika sollten m. E. für die qualitative Kennzeichnung , ^wissenschaftliche Schule" gegeben sein: * Eine wissenschaftliche Schule entwickelt sich auf einem neuen Gebiet der Theorie oder V i , - ioloqie und Methodik im Prozefj der Differenzierung und Integration der Wissenschaf^ Das kann sich sowohl innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin als auch bei der interdisziten' _ Zusammenarbeit am Beginn oder selbst in der Vorbereitungsphase einer neuen L -rhaftsdisziplin bzw. eines Spezialgebietes vollziehen. Der Chemiker W. Ostwald und Ρ ISSp. .^iker W. Nernst begründeteten mit ihren Schulen die physikalische Chemie, der Physi!'X'r M Delbrück gilt mit seiner Schule als einer der Pioniere der Molekularbiologie, A. J. k er η begründete und initiierte ein völlig neuartiges Herangehen an die Erforschung der t >hunq des Lebens, der Ökonom W. S. Nemtschinow und der Mathematiker L. W. Kan. witsch erwarben sich mit ihren Schulen bleibende Verdienste bei der Entwicklung und Durchsetzung mathematischer Methoden in den Wirtschaftswissenschaften. .Nur von einem solchen Ausgangspunkt kann die soziale Funktion wissenschaftlicher Schulen in der objektiven Wissenschaftsentwicklung bestimmt werden, ohne dafj deshalb jeder wissenschaftlich bedeutsame Beitrag zur Begründung eines neuen Spezialgebiets führen mufj. Entscheidend ist der qualitative Erkenntnisfortschritt, der auf der Grundlage eines neuen wissenschaftlichen Konzepts durch die Schule erbracht wird. Die Persönlichkeitseigenschaften des Leiters einer wissenschaftlichen Schule werden nur auf einem solchen unabdingbar notwendigen theoretisch oder methodisch neuen und erweiterungsfähigen Konzept wirksam. 2. Diese neue theoretische oder methodische Richtung ist bei den Vertretern der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen noch umstritten und nicht allgemein anerkannt. Sie befindet sich deshalb in einer Situation des geistigen und zugleich sozialen Wettbewerbs oder sogar der Konkurrenz. Der Gegenstand dieser Auseinandersetzung kann dabei sehr verschieden sein: bei Liebig war es die Überwindung der vorherrschenden Naturphilosophie seiner Zeit und die Durchsetzung der experimentellen Methode in der Chemie, bei Joffe und Kurtschatow war es die wissenschaftspolitisch und strategisch bedeutsame Konkurrenzsituation der Sowjetunion mit dem Imperialismus auf dem Gebiet der Physik und der Kernphysik im besonderen. 3. Bei der Ausarbeitung dieser neuen Richtung und in diesem wissenschaftlichen Wettbewerb oder der Konkurrenz mit anderen formiert sich die wissenschaftliche Schule als ein sozialer Organismus. Bestimmte theoretische, methodische und meist auch soziale Gemeinsamkeiten, d. h. auch eine der jeweiligen Schule eigene Ideologie, konstituieren sie als Schule. Die gemeinsame Ideologie umfafjt verschiedene Seiten des Denkens und Handelns (Weltanschauung, Methodologie, politische Haltung, Denkweisen, Lebensauffassungen u. a.) ihrer Mitglieder, ohne dafj diese alle in gleicher Weise und bei allen gleichermaßen ausgebildet sind und sie ihnen in jedem Fall subjektiv bewufjt sind. Das für die innere Organisation einer Schule notwendige „gemeinsame ideologische Minimum" betrifft in erster Linie alle die Momente, die die Grundlegung und den Fortgang ihrer gemeinsamen Arbeit betreffen. P. L. Kapiza spricht von dem der Schule gemeinsamen „podehod", und M. Delbrück nennt es das „Parteiprogramm" der Gruppe. Dieses unentbehrliche „gemeinsame ideologische Minimum" ist bei den einzelnen Schulen verschieden. In der Regel ist es in den Gesellschaftswissenschaften ein anderes als in den Naturwissenschaften, doch auch innerhalb der Naturwissenschaften kann es sich selbst bei gleichen Disziplinen unterschiedlich darstellen, wie etwa die Schulen von Rutherford und von Kurtschatow zeigen. Eine wissenschaftliche Schule umfafjt mindestens drei Generationen von Wissenschaftlern bei der Ausarbeitung der von ihr verfolgten neuen Richtung. Der eigenständige Beitrag zur Entwicklung und Erweiterung des vorliegenden Konzepts durch mindestens die erste Schülergeneration ist ein Gradmesser, inwieweit es sich um eine erweitert reproduzierende - also auch eine schöpferische Schule - oder um eine Ausbildungsstätte bzw. eine mehr oder weniger große Anhängerschar eines erfolgreichen Wissenschaftlers handelt. 4· Für die Formierung dieses sozialen Organismus ist das Vorhandensein und die führende Jtigkeit eines administrativen Oberhauptes dieser wissenschaftlichen Schule in der Regel gegeben und besonders vorteilhaft, doch nicht unbedingt notwendig. Bereits die Kennzeichnung verschiedener Schulen durch Gruppen- und Ortsnamen (Currency-Schule in der politi- 221 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Helmut Steinet sehen Ökonomie, Bauhaus in der Architektur, Frankfurter Schule in der Sozialphil o s C strukturell-funktionale Schule in der Soziologie, Georgische Schule in der Psychologie ' tinger Schule in der Physik u. a.) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß d i e s e ^ mais nicht ausschließlich oder vorwiegend durch eine einzelne Wissenschaftlerpersönlichk ' geprägt wurden. Notwendig ist in jedem Fall eine geistige Führung, die in der Mehrzahl d " historischen Beispiele wissenschaftlicher Schulen bei einer Wissenschaftlerpersönlichkeit ) ^ die sich aber auch in den Händen mehrerer Wissenschaftler befinden kann. Neue Richtun ^ neue Arten des Herangehens und neue Denkstile nehmen jedoch überwiegend von einz J^"' Wissenschaftlern ihren Ausgang, bevor sie zum gemeinsamen Standpunkt einer Gru werden. 5. Eine bestimmte Stufe der wissenschaftlichen und - darüber hinausgehend - der soziale Anerkennung einer neuen Richtung auch außerhalb des Personenkreises der unmittelbar be" teiligten Fachkollegen ist eine notwendige Bedingung für die Formierung einer wissen schaftlichen Schule. Die wissenschaftliche und oftmals auch die gesellschaftliche öffentliche Meinung über ein neues wissenschaftliches Konzept ist ein konstituierender Faktor für die Formierung einer wissenschaftlichen Schule. Eine wissenschaftliche Schule existiert als sozialer Organisi • nicht durch sich selbst. Sie resultiert letztlich aus wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Bedürfnissen und benötigt die wissenschaftliche und schließlich überhaupt gesellschaftliche Anerkennung über den Rahmen der unmittelbar Beteiligten hinaus. Das ist die notwendige Ergänzung zu der oben hervorgehobenen noch nicht allgemein gegebenen Anerkennung und der daraus resultierenden Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituation. Die wissenschaftliche Schule vertritt demnach als soziale Institution in der Entwicklung der Wissenschaft ein neues Konzept, das gleichermaßen noch nicht allgemein, doch bereits über den Kreis der unmittel- baren Vertreter hinaus Anerkennung gefunden hat. 6. Die Formen der Organisation einer wissenschaftlichen Schule können historisch, zwi . sehen den Wissenschaftsdisziplinen und entsprechend dem Forschungsprogramm verschieden sein. Sie können sich auf der Basis von Laboratorien, Lehrstühlen, Instituten, Zeitschriften. Jahrbüchern und ähnlichem bilden. In jedem Fall muß eine solche Organisation gefunden werden, die die notwendige Kommunikation zwischen den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Schule sowie die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufnahme ihrer Arbeitsergebnisse in der Öffentlichkeit gewährleistet. Die hervorgehobenen sechs Charakteristika abstrahieren von individuellen Details, verschiedenen Ausprägungsgraden der einzelnen Merkmale und unterschiedlichen historischen Bedingungen. Es ist dies eine theoretische und methodologische Konsequenz der Auffassung, wissenschaftliche Schulen in ihrer spezifischen Qualität als einen untrennbaren Bestandteil der gesamten Wissenschaftsentwicklung zu begreifen. Wissenschaftliche Schulen auf einzelne historische Perioden, z. B. erst mit dem 18. Jahrhundert beginnend, zu beschränken, nur an bestimmte Arbeitsweisen, z. B. experimentelle Forschung, zu binden oder bestimmte Wissenschaftsdisziplinen, z. B. Gesellschaftswissenschaften, auszuschließen, widerspricht der historischen Realität und ignoriert die Schule als eine Organisationsform schöpferischer Arbeit in der Wissenschaftsentwicklung insgesamt. Besonderheiten gesellschaftswissenschaftlicher Schulen Die Analyse der Wissenschaftsentwicklung offenbart eine Vielzahl von Schulen auch in den Gesellschaftswissenschaften. Die Schule des Aristoteles sei als Beispiel aus der Antike genannt. K. Marx und F. Engels schrieben u. a. über die „Ricardosche Schule", die „Hegelschc Schule", die „Schelling-Schule" sowie die „Proudhonsche Schule". 5 5 Vgl. u. a. : K. Marx : Zur Kritik der politischen Ökonomie. In : K. Marx/F. Engels : Werke. Bd. 13. Berlin 1961. S. 158, 850; F. Engels: Einleitung zu Karl Marx' „Lohnarbeit und Kapital", Ausgabe 1891. I n : K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 6. Berlin 1959. S. 597; F. Engels: Dialektik der Natur. I n : K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 20. Berlin 1962. S. 4S0. F. Engels: Einleitung zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich" von Karl Marx (Ausgabe 1891 jI n : K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 17. Berlin 1962. S. 622; F. Engels: Ludwig F e u e r b a c h 222 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Wissenschaftliche Schulen Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie sind die gleichzeitige Existenz • Hrner Schulen, w i e ζ . B. der historischen Schule und der Grenznutzenschule am VCr des vorigen Jahrhunderts, oder unterschiedlicher Richtungen auf der Basis v o n Schulen, EnCle Β des Neoliberalismus und des Keynesianismus nach dem zweiten Weltkrieg, nicht W ' C Z Beispiele der sich voneinander unterscheidenden theoretischen Analyse der o b j e k t i v e n 3 " C ' n mischen Prozesse, sondern zugleich ideologische Repräsentationen unterschiedlicher oKono Gruppen und Fraktionen innerhalb der Bourgeoisie. Neoliberalismus und KeyKlassen m a r k i e r e n in der bürgerlichen politischen Ökonomie als miteinander konkurn e S i a de und jeweils vorherrschende Schulen und Richtungen unterschiedliche Phasen und r.'C-f konstellationen der gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen NachkriegsentKra . jgg Imperialismus in der BRD. Ebenso bieten die strukturell-funktionale Schule in Soziologie (T. Parsons, R. M e r t o n u. a.) und die Frankfurter Schule in der Sozialphiloso(M Horkheimer, T. Adorno, H. Marcuse u. a.) nicht nur unterschiedliche WiderspiegeP ^ j e s staatsmonopolistischen Kapitalismus, sie erfüllen auch unterschiedliche Funktioin der bürgerlichen Ideologieproduktion und im politischen Herrschaftsmechanismus. nC Dabei werden bereits Spezifika sichtbar, die es bei den Gesellschaftswissenschaften im U n t e r s c h i e d zu den Naturwissenschaften zu beachten gilt. Sie b e t r e f f e n die weitaus unmit: ¡barere und direkte Verknüpfung der theoretischen Positionen mit den historisch langfrit aen aber auch in der gesellschaftlichen Entwicklung sich widersprüchlich verändernden sozialökonomischen und politischen Kräftekonstellationen. Gesellschaftswissenschaftliche ¿ bulen sind demzufolge qualitativ in v i e l unmittelbarerem M a f j e mit den Klassenkräften ,m historischen P r o z e f j verbunden. Für die sozialistische Gesellschaft, mit ihrer grundsätzlich neuen Qualität in der VergesellM'haftung der Wissenschaft, 0 gilt dies in besonderem M a f j e . Vor allem aber entfällt die Notwendigkeit der theoretischen Repräsentation unterschiedlicher Klassenkräfte, politischer Fraktionen und sozialer Gruppierungen. Die o b j e k t i v e n Interessen der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit bedingen auch die wissenschaftliche Vorurteilsfreiheit bei der Erkenntnis der objektiven Gesetze in der Natur w i e in der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ArbeiterMasse und die sozialistische Gesellschafts- und Wissenschaftsentwicklung bedürfen daher keiner miteinander konkurrierender gesellschaftswissenschaftlicher Schulen, um sozialökonomische und politische Interessengegensätze theoretisch widerzuspiegeln und auszufechten. Wenn dennoch gesellschaftswissenschaftliche Schulen auch im Sozialismus und im besonderen im Marxismus-Leninismus ihren Platz haben, so beruht dies auf dem widersprüchlichen Verlauf wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts. Neue wissenschaftliche Richtungen und Konzeptionen bilden sich allmählich heraus. Ihre grundlegenden Ideen und Hypothesen bedürfen der Ausarbeitung und Überprüfung. Meist haben sie sich mit einer bisher vorherrschenden oder gleichzeitig existierenden andersartigen Auffassung zum gleichen Gegenstand auseinanderzusetzen und ihre Richtigkeit nachzuweisen. I n diesem Wettstreit der Ideen formieren sich in den Natur- w i e in den Gesellschaftswissenschaften um die T r ä g e r dieser Ideen gelegentlich wissenschaftliche Schulen als eine F o r m der sozialen Institutionalisierung dieser Ideen und Konzeptionen. Wissenschaftliche Schulen sind d e m z u f o l g e soziale T r ä g e r der dialektischen Wissensentwicklung. Als Marxisten-Leninisten haben w i r allerdings bestimmte Spezifika gesellschaftswissenschaftlicher Schulen zu beachten: Erstens geht es nicht um verschiedene Schulen des Sozialismus oder des Marxismus-Leninismus. Die gleichzeitige Existenz verschiedener sozialistischer Schulen - w i e sie Engels noch für die Mitte des 19. Jahrhunderts am Beispiel v o n Saint-Simon und Proudhon hervorhob - haben ihre wissenschaftliche Berechtigung verloren. Der Marxismus-Leninismus hat sich als die sozialistische T h e o r i e wissenschaftlich und praktisch erwiesen. A l l e Konstruktionen von „Marxismen" und „Sozialismen" neben dem Marxismus-Leninismus und dem real existierenden Sozialismus, außerhalb ihrer oder solcher, die ihnen entgegengestellt sind, naben deshalb keinen Anspruch auf eine Charakterisierung als wissenschaftliche Schulen. Der und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. I n : K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 21. Berlin 1962. S. 271 f . ; K. Marx/F. E n g e l s : Die deutsche Ideologie. I n : K. Marx/ ' · Engcis: Werke. Bd. 3. Berlin 1958. S. 483, 487 91·: H. Steiner: Vergesellschaftung der Wissenschaft und wissenschaftlich-schöpferische Tätigkeit. I n : Autorenkollektiv: Wissenschaft im Sozialismus. Berlin 1973 223 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Helmut Steinet Kennzeichnung einer Schule als eine wissenschaftliche müssen schließlich Kriterien d 1-1 senschaftlichkeit zugrunde gelegt werden. Doch bei der Suche nach bestmöglichen Lösungen gesellschaftlicher Probleme haben ' halb des Marxismus-Leninismus, auf seinen Grundlagen wissenschaftliche Schulen d "'¿ ler ' ihre Berechtigung. Die Pflege wissenschaftlichen Meinungsstreits und die Ausarbeitun 3US senschaftlich begründeter Varianten kann sich im Interesse der langfristigen Wissens h T 5 " entwicklung nicht allein auf die unterschiedliche Beantwortung der einen oder anderen senschaftlichen Detailprobleme oder einer bestimmten aktuellen Aufgabe beschränken ν ' mehr kommt es darauf an, auch in den Gesellschaftswissenschaften wissenschaftliche κ " zeptionen über einen längeren Zeitraum auszuarbeiten, sie theoretisch und praktisch zu ' h°' prüfen und sie damit einer echten Bewährung zu unterziehen. Dabei brauchen mitein ^ wetteifernde Schulen keineswegs sich einander zu verschließen, sie können vom Stande Γ einer höheren Synthese sich auch wechselseitig ergänzen. Zweitens: Wie bereits hervorgehoben besteht der entscheidende Unterschied zu ents chenden bürgerlichen Schulen darin, daß bei diesen unterschiedliche Klassen-, sozialökon·^ mische und politische Interessen verschiedene gesellschaftswissenschaftliche Schulen det ;r minieren. Der „Theorienpluralismus" bürgerlicher Gesellschaftswissenschaft ist eine fola· richtige Konsequenz und methodologisches Prinzip bürgerlicher Ideologie, der sich unter anderem in verschiedenen, sich einander mehr oder weniger befehdenden Schulen realise··· Demgegenüber liegen verschiedenen marxistisch-leninistischen Schulen gemeinsam die sozial ökonomischen und politischen Interessen der Arbeiterklasse sowie die einheitliche Theorie und Weltanschauung des Marxismus-Leninismus zugrunde. Bei den Unterschieden zwischen marxistisch-leninistischen Schulen handelt es sich um die auf diesem Fundament möglichen verschiedenen Konzeptionen, Varianten, Arten des Herangehens im Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie unterscheiden sich von den bürgerlichen demzufolge nicht allein in ihrer Zielstellung, sondern auch und vor allem bezüglich des sozialen Substrats ihrer kognitiven Charakteristika von den bürgerlichen Schulen grundsätzlich. Drittens : Die sozialistische Gesellschaftsentwicklung erfordert und gestattet die frühzeitige bzw. die ständige Konfrontation eines gesellschaftswissenschaftlichen Konzepts mit der gesellschaftlichen Praxis. Es entspricht der dem Sozialismus eigenen Planmäßigkeit, daß unterschiedliche theoretische Konzepte nicht mehr oder weniger unabhängig voneinander nebeneinander existieren. Das ihnen gemeinsame marxistisch-leninistische Fundament erlaubt eine solche „Arbeitsteilung", daß bisher ungelöste gesellschaftliche und Forschungsprobleme systematisch und planmäßig auf unterschiedliche Weise bei fortwährender Diskussion und Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der verschiedenen Richtungen bearbeitet und zu lösen versucht werden. Den Wissenschaftlichen Räten bzw. den multilateren Problemkommissionen der verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen kommt dabei eine besonders verantwortungsvolle Funktion zu. Viertens: Das allen gemeinsame theoretisch-methodologische Konzept des Marxismus-Leninismus bedingt, daß sich unterschiedliche gesellschaftswissenschaftliche Schulen auf gleichartigen Forschungsgebieten vorwiegend im verschiedenen methodischen Herangehen an die Lösung der Probleme herausbilden. Fünftens: Das gemeinsame theoretisch-methodologische Konzept des Marxismus-Leninismus sowie die sozialistische Vergesellschaftung der Wissenschaft insgesamt machen es möglich, daß in noch weitaus stärkerem Maße als bei den Naturwissenschaften die Grenzen lokaler Gemeinschaften einzelner Institutionen für die Schulenbildung bei neuen theoretischen und vor allem methodischen Richtungen überschritten werden. Wenn im Vergleich zu den Naturwissenschaften gesellschaftswissenschaftliche Schulen weniger ausgeprägt in Erscheinung treten, so hat das verschiedene Gründe. Die charakterisierten theoretisch-methodologischen Gemeinsamkeiten, die auf dieser Grundlage stattfindenden Diskussionen und anderen Formen der Kommunikation sowie die weitaus weniger an lokale Gemeinschaften gebundenen gleichartigen Konzeptionen spielen dabei keine unbedeutende Rolle. Dennoch gibt es Schulen in den marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften, kommt ihnen eine Funktion in der Wissenschaftsentwicklung zu, bedürfen sie der theoretischen Erforschung und der Schaffung solcher Bedingungen, die ihre Entwicklung im Interesse der Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung des Sozialismus fördern. Ebenso wie in den Naturwissenschaften sind auch in den Gesellschaftswissenschaften die Entstehungsbedingungen, Zusammensetzung, Arbeitsweisen, Funktionen und realen Beitrav1 224 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Wissenschaftliche Schulen • senschaftsentwicklung sowie Ursachen und Formen der Auflösung v o n wissenlb g c i i u l e n s e h r für die verschieden. Wissenschaftspolitik und Leitung der Wissenschaft scbaftlic e ^ I n t e r e s s e praktischer Folgerungen aber gerade der Einsichten in diesen Prozeß bedürfen ι Funktionsweise v o n wissenschaftlichen Schulen. Die bisherigen Beu n d (jer E " t W 1 e n u n ¿ Detailanalysen reichen keineswegs aus, um hinsichtlich der Problematik s c h r e s 'Jhaftlicher Schulen zu gesicherten Erkenntnissen für die künftige Wissenschaftsentwicklung D L Z L l ^ n ßgigpieie sollen die Realität und Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Schulen marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften veranschaulichen, aber auch auf d e n V e r s chiedenartigkeit hinweisen und so zu weiteren Untersuchungen anregen. Schulen in den marxistisch-leninistischen Wutschattswissenschatten < bisher umfassendste Analyse einer marxistisch-leninistischen gesellschaftswissenschaftSchule liegt über die Varga-Schule vor. 7 Sie bildete sich unter Führung der KommuniL h ;n Internationale zum Studium der Probleme der Wirtschaft und Politik des Kapitalis^ in der Periode seiner allgemeinen Krise. Sie formierte sich aus marxistischen Wissen"'haftlern der Sowjetunion w i e auch anderer Länder, doch leistete den größten Beitrag zur Bildung und Entwicklung dieser Schule E. S. Varga (1879-1964). Dank seiner besonderen Verdienste ist diese Schule allgemein als Varga-Schule bekannt. Es ist charakteristisch für diese Schule, daß es sich bei ihr sowohl um eine lokale Gemeinschaft als auch um eine politokonomisché Schule der Analyse des Kapitalismus im internationalen Maßstab handelt. Vargas gesamtes Wirken war v o n einer solchen internationalen Ausstrahlungskraft, daß er zum Kern einer lokalen Gemeinschaft in der Sowjetunion wurde sowie gleichzeitig international eine Schule politökonomischer Forschung zu initiieren und theoretisch zu führen vermochte. Von seinen vielen politökonomischen Aufsätzen in der theoretischen Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie „Neue Zeit" über „Goldproduktion und T e u e r u n g " sowie „ P r o b l e m e der Kriegswirtschaft" in den Jahren 1911-1915 bis zu dem w e n i g e Wochen nach seinem T o d 1964 erschienenen Buch „Studien über Probleme der politischen Ökonomie des Kapitalismus" erschienen von Varga Arbeiten zu nahezu allen entscheidenden Problemen der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Ohne daß Varga eine ständige Lehrtätigkeit an einer Universität oder Hochschule ausübte, erzog er eine große Zahl v o n Politökonomen auf diesem Gebiet. Als Direktor des „Instituts für Weltwirtschaft und W e l t p o l i t i k " w a r es ihm seit 1927 über mehrere Jahrzehnte möglich, eine große Zahl v o n begabten und selbständigen Forschern heranzubilden, die jeder auf seine Weise auf bestimmten Gebieten Vargas Auffassungen a u f g r i f f e n , uberprüften, weiterentwickelten oder auch w i d e r l e g t e n (J. A. Trachtenberg, L. A. Mendelson, E. L. Chmclnizkaja u. a.). Varga erzog aber auch eine große Zahl v o n Schülern durch eine umfangreiche und v i e l f ä l t i g e Tätigkeit als kommunistischer Funktionär der Sowjetregierung, der KPdSU und der Komintern. Als Mitarbeiter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, als Teilnehmer und Referent mehrerer Kominternkongresse und als Präsidiumsmitglied der Kommunistischen A k a d e m i e nahm er sowohl unmittelbar als auch mittelbar im internationalen Maßstab auf einen großen Kreis marxistisch-leninistischer Wissenschaftler Einflufj bzw. half entscheidend mit, daß sie sich zu solchen entwickelten. Es bestätigt sich dabei unter anderem die oben hervorgehobene Spezifik, daß gemeinsame marxistisch-leninistische Positionen und die über praktisch-politische T ä t i g k e i t möglichen verschiedenartigen Formen der Kommunikation eine unmittelbare Zusammenarbeit v o n Lehrer und Schüler nicht unbedingt erfordern. U Nicht in jedem Falle erwiesen sich die Einschätzungen und Auffassungen v o n Varga und seiner Schüler als richtig. Aber auch nicht in j e d e m Fall w a r e n Inhalt und Form der an ihnen geübten Kritik berechtigt. Weder das eine noch das andere haben aber etwas mit der Tatsache einer sich damit verbindenden wissenschaftlichen Schule zu tun. Beide Erscheinungen treffen auch für Wissenschaftler zu, die keine Schule begründeten oder einer Schule Vgl.: J. Kuczynski: Gesellschaftswissenschaftliche Besinnungen. Berlin 1973; J. Kuczynski: Gesellschaftswissenschaftliche Schulen. Kap. 1; H. Steiner: Wissenschaftliches Schöpfertum und Schulen in der Wissenschaft. Berlin 1977. S. 178 f f . 225 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Helmut Steiner zuzurechnen sind. Meinungsverschiedenheiten und wissenschaftliche Kritik sind keine liehst zu verhindernden „Begleiterscheinungen", sondern notwendige Bedingungen des™08 lektischen Erkenntnisfortschritts. 8 Wissenschaftliche Schulen sind dabei nur eine besond' 3 institutionalisierte Form. Wenn es nicht allein darum gehen kann, einzelne Schulen zu beschreiben, sondern Ί Entwicklungs- und Funktionsbedingungen aufzuhellen, dann erfordert dies auch eine q derte Kennzeichnung von Schule und Richtung. Die Begründung und Ausarbeitung ökon misch-mathematischer Methoden in den sowjetischen Wirtschaftswissenschaften kann hie r*" als Beispiel dienen und wurde an anderer Stelle dargestellt. 9 Obwohl die Ausarbeitung math" matischer Methoden in der Ökonomie bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht, die sich inter' national seit der Jahrhundertwende verstärkt auszubreiten begann, gingen von der juno Sowjetwissenschaft der zwanziger Jahre entscheidende Impulse für die Entwicklung der mathematischen Ökonomie zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Spezialrichtung aus Bedingten bereits die Monopolbildung und die kapitalistische Vergesellschaftung deProduktion das gesellschaftliche Bedürfnis nach Instrumentarien für die stets komplexer sich gestaltenden ökonomischen Prozesse, so stellte sich dies als gesellschaftliches Problem noch ungleich weitreichender und tiefgreifender unter den Bedingungen der sozialistischen Ver gesellschaftung des Eigentums und der Produktion. Der Aufbau eines gesamtstaatlichen Pia nungssystems in Sowjetru§land drängte sowohl die ökonomische wie auch die mathematische Wissenschaft in der Sowjetunion von Anfang an zu praktischen Lösungen und letztendlich zu einer solchen theoretischen Bearbeitung der Probleme, die zu einem entscheidenden gesellschaftlichen Stimulus für die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsgebiets, der mathematischen Ökonomie, wurde. Die Begründung der Notwendigkeit und Möglichkeit hoher Wachstumsraten in der ökonomischen Entwicklung der UdSSR, das Wesen und die Quellen der sozialistischen Akkumulation, die Effektivität der Produktion als ökonomischer Entwicklungsfaktor, die Frage der Vervollkommnung volkswirtschaftlicher Proportionen u. a. führten sehr bald auch zu ökonomisch-mathematischen Problemstellungen und Lösungsversuchen. Die ersten Bilanzierungen einzelner, für die Planung und Leitung der Volkswirtschaft entscheidender Gruppen von Produkten wurden schon unmittelbar nach 1917 vorgenommen (Brot- und Futtergetreidebilanz, Brennstoffbilanz u. a.). Auf der Grundlage der ersten praktischen Erfahrungen in Sowjetrufjland wurde bereits 1923/24 ein Dokument erarbeitet, das erstmalig in der ökonomischen Statistik die Analyse grundlegender Beziehungen und Proportionen der Volkswirtschaft auf der Grundlage der Marxschen Reproduktionstheorie zulief). Die Ideen, von denen diese Ausarbeitung einer ersten volkswirtschaftlichen Bilanz ausging, waren noch zehn Jahre später die Grundlage für das international bekanntgewordene „InputOutput-Modell" des in die USA emigrierten V. Leontief. Auch die ersten entscheidenden theoretischen Arbeiten G. A. Feldmans (1884-1958) aus dem Jahre 1927/28, seine mathematischen Beiträge zu einer Theorie des ökonomischen Wachstums, wurden ebenfalls erst etwa zehn Jahre später in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern aufgegriffen oder unabhängig von ihm umformuliert. Auch die vom späteren Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften L. W. Kantorowitsch 1939 erstmalig ausgearbeiteten Grundlagen für den neuen Zweig der angewandten Mathematik, die lineare Programmierung, wurden in etwas veränderter Form zehn J a h r e später in den USA von J . G. B. Dantzig entwickelt. Kantorowitsch, der auf diesem Gebiet 1942 und 1949 mit weiteren Ergebnissen hervortrat, fand zwar zunächst unter den Ökonomen wenig Aufmerksamkeit, um so mehr Einfluß, Anhänger und Schüler gewann er innerhalb der UdSSR unter den Mathematikern. Doch etwa zur gleichen Zeit legte der Ökonom W. W. Nowoschilow in den vierziger Jahren die Ergebnisse seiner mehrjährigen Forschungen zur Ausarbeitung von Methoden der optimalen Planung und Effektivitätsberechnung vor, und W. S. Nemtschinow (1894-1964) erarbeitete als Ökonom und Statistiker konkrete ökonomisch-mathematische Modelle. Und auch um sie scharten sich Anhänger und Schüler, so da§ sich in der UdSSR nahezu gleichzeitig drei Schulen parallel um die Herausbildung und Institutionalisierung dieser neuen Richtung in der Wissenschaft verdient ge- 8 9 Vgl. hierzu die wissenschaftstheoretisch und -politisch anregenden Veröffentlichungen: Roi nautschnych diskussi w raswitii jestestwosnanija. I n : Westnik Akademii nauk SSSRNr. 11/1979. S. 25 ff.; A. N. Sokolow: Problemy nautschnoi diskussii. Leningrad 1980 H. Steiner: Wissenschaftliches Schöpfertum und Schulen in der Wissenschaft. S. 190ff. 226 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Wissenschaftliche Schulen • haben. Diese neue wissenschaftliche Richtung bildete sich zwischen zwei Wissenft diszipünen, den Wirtschaftswissenschaften und der Mathematik, heraus. Dadurch wur" ^ V ' ¡ede der beiden Disziplinen sowie für die interdisziplinären Beziehungen völlig neue -i'uncjsbereiche sowie wissenschaftliche Erkenntnisse erschlossen. Es ist daher sicher F°rSLZufall die drei Schulen sich um Vertreter der Herkunftsdisziplinen formierten: k e ' n Kantor'owitsch als Mathematiker, Nemtschinow als Ökonomen und Statistiker sowie m Nowôschilow als Ökonomen. Wissenschaftliche Schulen in der marxistischen Liteiaturwissenschatt Auch in der Literaturwissenschaft und Ästhetik haben sich auf den gemeinsamen GrundI η des Marxismus-Leninismus unterschiedliche wissenschaftliche Schulen, ζ. T. mit sehr Streichender Wirkung, herausgebildet und bewährt. Allgemein bekannt sind die Gemeinamkeiten oder auch Verschiedenheiten in der praktischen Theaterästhetik K. S. Stanislawskis und B. Brechts. Ebenso trifft dies für das literaturwissenschaftliche Schaffen von G. Lukács und Β Brecht zu. Sie haben marxistische Schulen von lang andauernder Wirkung und internationaler Ausstrahlungskraft hervorgebracht. In der Entwicklung der marxistischen Literaturwissenschaft der DDR, bei der Durchsetzung des Marxismus-Leninismus kam auf diesem Gebiet den Schulen von W. Krauss, G. Lukács und B. Brecht eine entscheidende Bedeutung zu. W. Krauss kam von der Romanistik her, G. Lukács von der Germanistik und ¡3 Brecht von der Theaterpraxis sowie seinem Wirken als Dichter und Dramatiker. Aber nicht der unterschiedliche thematische Ausgangspunkt und Arbeitsgegenstand waren es, der sie als marxistische Literaturwissenschaftler unterschied, sondern ihr Herangehen und ihre Methode. W. Krauss (1900-1976) gilt als der bedeutendste deutsche marxistische Literaturwissenschaftler seit F. Mehring. 10 Versucht man das Spezifische seiner marxistischen Literaturwissenschaft kurz zu charakterisieren, so sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben. Erstens hat er in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen „reinen" Geistesgeschichte zu einem Verständnis von Literatur und Gesellschaft gefunden, bei dem Literatur nicht schlechthin gesellschaftlich determiniert ist, sondern stets im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, insbesondere als Bestandteil des geistigen Lebens überhaupt erklärt wird. Das erlaubte ihm im Gegensatz zu der bürgerlichen „rein geistigen" Aufklärungsliteratur die Aufklärung im Zusammenhang mit der Wirtschaft, Politik, aber auch den Institutionen und dem Publikum zu begreifen und darzustellen. „Über die Konstellation der deutschen Aufklärung", „Die früheste Reaktion auf Diderots Jugendwerke in Deutschland", „Über den Anteil der Buchgeschichte an der literarischen Entfaltung der Aufklärung", „Eine politische Preisfrage im Jahre 1780", .Entwicklungstendenzen der Akademien im Zeitalter der Aufklärung" - das sind Titel seiner Arbeiten; sie zeugen davon, da§ er sich als Marxist nicht mit „reiner" Literatur, sondern stets mit politischer Geistesgeschichte bzw. Ideologiegeschichte befante. 11 Zweitens ist für ihn charakteristisch, dafj er Literatur stets im Verhältnis von Nationalem und Internationalem sah. Dafür spricht nicht allein die Tatsache, daβ er über die Aufklärung in verschiedenen Ländern arbeitete. Wie er darauf seine vergleichende Literaturgeschichte aufbaute und die verschiedenen nationalen Literaturen miteinander in Beziehung setzte, ist für ihn besonders kennzeichnend. Sein rastloses Wirken, seine Begeisterungsfähigkeit, sein das ganze Leben ausfüllendes Engagement ließ ihn mit dieser wissenschaftlichen Position nicht nur eine große Zahl von Studenten, sondern von echten Schülern finden. Und es ist dieses Krausssche Literaturverständnis, das die Arbeiten seiner einstigen Schüler auszeichnet, von denen hier nur die Akademiemitglieder W. Bahner und M. Naumann, aber auch H. Kortum, U. Ricken, K. Schnelle, W. Schröder und C. Träger genannt seien. 12 Es zeugt aber auch von seiner nachhaltigen u H. Scheel: Werner Krauss - ein Literaturwissenschaftler von Weltgeltung. I n : Spektrum. Heft 12/1976. S. 25 Vgl·: W. Krauss: Studien und Aufsätze. Berlin 1959; W. Krauss: Studien zur deutschen u n d französischen Aufklärung. Berlin 1963 v gl. : W. Bahner : Beiträge zum Sprachbewußtsein in der spanischen Literatur des 16. und 227 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Helmut Steiner Ausstrahlungskraft, wenn die vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akadem' Wissenschaften der DDR 1978 und 1980 durchgeführten Werner-Krauss-Kolloquien eine h ^ internationale Beteiligung von Anhängern und Schülern fanden oder wenn proa · Studenten aus seiner ersten Wirkungsstätte, der Universität in Marburg (BRD), eine W S'VC Krauss-Woche organisierten und ohne offizielle Genehmigung einem ihrer Institute s > ner lnen Namen gaben. Allgemein mehr bekannt und schon umfangreich anerkennend wie kritisch dargestellt das literaturwissenschaftliche Schaffen von Georg Lukács (1885-1971). wie wohl kein Γ rer hat Lukács die Entwicklung der marxistischen Germanistik beeinflußt. Seine Wirku^ war international, aber auf die Ausbildung der ersten Generation von marxistischen Lit turwissenschaftlern sowie auf alle Interessenten marxistischer Literaturbetrachtung übte ^ im ersten Jahrzehnt nach 1945 in der DDR den größten Einfluß aus. Im Unterschied " Krauss' gesamtgesellschaftlicher soziologischer Analyse von Literatur verfolgte Lukács die historische Entwicklung der Literatur anhand ausgewählter Kategorien. Sie ist daher in vid stärkerem Maße eine Geistesgeschichte auf Grund der Orientierung auf die innerwissen schaftliche Entwicklung. Seine Gegenüberstellung von Antifaschismus und Faschismus sowie Fortschritt und Reaktion entstanden im Gefolge seines Kampfes gegen Reaktion und Faschis mus. Sie erleichterten gewiß manchen den Zugang zu einer marxistischen Analyse, vor allem unmittelbar nach 1945, sie erschwerten aber die Erkenntnis des tatsächlichen epochalen Grundwiderspruchs zwischen Sozialismus und Imperialismus. Dieses Verständnis des Kampfes der Klassen als Grundlage und Inhalt der Literaturanalysc und der Realismus-Diskussion wurde in der DDR vor allem durch das Wirken B. Brechts (1898-1956) entscheidend vorangetrieben. Es ist ideologiehistorisch außerordentlich interessant, die Entwickung der öffentlichen Wirksamkeit und Ausstrahlung Brechts zu verfolgen Obwohl Brecht bereits seit 1947 nach seiner Rückkehr aus der Emigration in Berlin arbeitete sein Theater „Berliner Ensemble" immer größere Aufmerksamkeit im Berliner Theaterleben und zunehmend auch international gewann, sich um ihn ein Kreis von Schülern der praktischen Theaterarbeit bildete (B. Besson, M. Tenschert, M. Wekwerth u. a.), fanden seine ästhetischen Auffassungen, seine Positionen in der marxistischen Realismus-Diskussion weitaus später, teilweise erst nach seinem Tode eine breite Anerkennung. Bei aller Parallelität der Wirksamkeit von Lukács und Brecht kann man von einer zeitlichen Aufeinanderfolge in der Dominanz ihrer Ausstrahlung - zumindest in der DDR sprechen. W. Mittenzwei hat als engagierter Schüler Brechts diesen literaturwissenschaftlichen Prozefj der historischen Ablösung der Lukács-Schule durch die Brecht-Schule in der DDR ausführlich analysiert und dargestellt. 13 J. D. Bernal als Schuletibegründer Schließlich sei als letztes Beispiel die Wissenschaft von der Wissenschaft selbst gewählt. J. D. Bernal (1901-1971) war Physiker, Chemiker, Biowissenschaftler, aber auch Gesellschaftswissenschaftler in einer Person. Seine wissenschaftliche Vielseitigkeit und das wissenschaftliche Gewicht seiner Beiträge auf den verschiedensten Wissenschaftsgebieten sind noch weithin unbekannt und kaum zusammenfassend erschlossen. Sein Lehrer, der Nobelpreisträger W. L. Bragg, urteilte über seinen Beitrag zur Kristallographie: „Keiner hat als Forscher und Pionier mehr geleistet als er. Immer wieder, wenn wir einen Zweig der Strukturanalyse überblicken, die jetzt in stürmischer Entwicklung begriffen ist, müssen wir dankbar anerkennen, daß das entscheidende Experiment von ihm ausgegangen ist." 14 Ähnlich äußerte sich 13 14 17. Jahrhunderts. Berlin 1956; W. Bahner: Formen, Ideen, Prozesse in den Literaturen der nomanischen Völker. 2 Bde. Berlin 1977; Gesellschaft - Literatur - Lesen. Hrsg. v. M. Naumann. Berlin 1973; M. Naumann: Prosa in Frankreich. Berlin 1978 Vgl.: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukacs. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller. Hrsg. v. W. Mittenzwei. Leipzig 1975; W. Mittenzwei: Der Realismusstreit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR. 1945-1975. Berlin 1978 Zit. nach: L. Pauling: Bernais Beitrag zur Strukturchemie. In: Wissenschaftliche Welt Heft 2/1972. S. 15 228 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Wissenschaftliche Schulen cund, der zweifache Nobelpreisträger L. Pauling 1 3 , und mit vollem Recht kann man f ine der Bragg-Schule von einer Bernal-„Tochterschule" auf dem Gebiet der Kristalh j c (D. Hodgkin, R. Franklin, R. H. Fowler, J . Fankuchen, M. Perutz) sprechen. Der lo9[aP storiker ^ Q j b y S p r i c h t S O g a r bei der Herausbildung der Molekularbiologie von ^«Bernal-Schule.«» e" . Bemerkungen wurden vorangestellt, weil Bernal gleichzeitig der Begründer einer 11 rhaftswissenschaftlichen Schule der Wissenschaft von der Wissenschaft ist. Es dürfte ^CS£ler Geschichte nur wenige geben, die auf völlig verschiedenen Gebieten zwei Schulen " "ndeten· sicher einmalig ist es, daß eine natur- und eine gesellschaftswissenschaftliche ι ι - von ein und demselben Gelehrten begründet wurden. Bernais erstmals 1939 erschieBuch „Die soziale Funktion der Wissenschaft" 1 7 kann als der Ausgangspunkt dieser n e s e llschaftswissenschaftlichen Schule angesehen werden. Nicht allein in Großbritannien, sondern international ging von diesem Buch und den weiteren Arbeiten Bernais auf diesem Gebiet eine schulenbildende Wirkung aus. Drei Momente sind an dieser Bernal-Schule wissenhaftstheoretisch besonders interessant. Erstens befanden sich einige der naturwissenschaftlichen Fachkollegen Bernais während der Herausbildung dieser Schule in der einen oder anderen Weise fördernd und unterstützend an seiner Seite (F. Joliot-Curie, L. Pauling, P. M. S. Blackett, J- B. S. Haldane, J . Needham, E. G. S. Burhop, A. Mackay). Zweitens ist bemerkenswert wie das einleitend für Schulen genannte konstitutive Moment einer gemeinsamen Ideologie bei einer gesellschaftswissenschaftlichen Schule sich mit marxistisch und nichtmarxistischen Schülern realisieren läßt. Voraussetzung ist dabei die historisch höhere Position des Marxismus-Leninismus des Schulenbegründers. Nichtmarxistische Schüler und Anhänger reduzieren •war in der Regel ideologisch das marxistische Konzept. Bis zu einem bestimmten Punkt lassen sich jedoch solche nichtmarxistischen Positionen in das gesamtwissenschaftliche und politische Anliegen der Schule integrieren, wie dies ζ. T. bei D. S. Price innerhalb der BernalSchule der Fall ist. Schließlich läßt sich die gesamte marxistisch-leninistische Wissenschaftswissenschaft in ihren inzwischen weiten Verzweigungen, lassen sich die unterschiedlichen Herangehensweisen - wie das mehr wissenschaftshistorische oder das mehr informationsmäßige auch auf Bernal zurückführen, sind sie bei ihm persönlich nachweisbar. Sie sind aber inzwischen zum Allgemeingut geworden, so daß die Bernal-Schule historisch ihre Funktion erfüllt hat; sie ist positiv „aufgehoben" in der im Laufe der J a h r e fest institutionalisierten Wissenschaft von der Wissenschaft als einer selbständigen Spezialdisziplin, für die Bernal ein unvergessener Pionier war. 1 8 ' se n ' 5 Vgl. : Ebd. S. 15 ff. 1,1 Vgl.: R. Olby: The path to the Double Helix. London 1974. Kap. 16 17 J. D. Bernal: The Social Function of Science. London 1939. Es erschien 1940, 1944, 1946 und 1968 in englischen Neuauflagen, es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und ist bis auf den heutigen T a g Gegenstand wissenschaftspolitischer, wissenschaftstheoretischer und weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Zum 25. J a h r e s t a g des Erscheinens von Bernais Buch gaben seine Schüler M. Goldsmith und A. M a c k a y 1964 einen Sammelband heraus, der auch in russischer Übersetzung erschien. (Vgl. : Nauka o nauke. Pod red. : M. Goldsmit, A. Mackai. Moskwa 1966) Eine zusammenfassende Einschätzung der gesellschaftlichen Wirkung des Buches „The social function of science" und zu Bernais Gesamtpersönlichkeit wird gegeben in : H. Steiner : Vorwort. In : J . D. Bernal : Die soziale Funktion der Wissenschaft. Berlin 1982 " Vgl.: J . D. Bernal/M. Cornforth: Die Wissenschaft im Kampf um Frieden und Sozialismus. Berlin 1950; J . D. B e r n a l : Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1961; J . D. B e r n a l : Marx and Science. London 1952; J . D. B e r n a l : Science for a developing world. London 1963; J. D. Bernal: The extension of man. A history of physics before 1900. London 1972; J· D. Bernal: Information service as an essential in the progress of science. I n : Proceedings of A.S.L.I.B. Conference. September 1945; J . B e r n a l : Constitutions to Royal Society Conference on Scientific Information 1948; J . D. B e r n a l : Towards a science of science. Interview with M. Goldsmith. I n : Science Journal. M a r c h 1965; Dsh. D. B e r n a l : Na putì k nauke o nauke. In : Woprossy filossofii. Heft 7/1966 229 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM Helmut Steiner Zusammenlassung Nur ein Teil der Wissenschaftler in der Geschichte der Wissenschaft gehörte Wissens l·, liehen Schulen an. Auch in Zukunft wird dies so sein. Allen Wissenschaftlern aber sind d"'" Arbeitsprinzipien erfolgreicher wissenschaftlicher Schulen zu vermitteln; diese zu bef ι dient ihnen bei der Lösung der eigenen Aufgaben. Das betrifft : - das Fordern und Fördern neuer Ideen und die kollektive Ausarbeitung tragfähiger · senschaftlicher Konzepte mit einem internationalen Maßstäben entsprechenden Anspruch niveau; - die Beherrschung der Dialektik von Kollektivität und persönlicher Verantwortung sow' die Herausbildung eines gemeinsamen politisch-ideologischen und wissenschaftliche* „Denkhaushaltes" in den Arbeitsgruppen, Bereichen und Instituten; - die unbürokratische und zugleich zielstrebige sowie streng kontrollierte Planung und Lei tung schöpferischer T ä t i g k e i t ; - die persönliche regelmäßige Anleitung und Kontrolle der jungen Wissenschaftler durch Akademiemitglieder und Professoren unter Einschluß eines persönlich gestalteten Lehrer Schüler-Verhältnisses ; - die unerläfjliche V o r b i l d w i r k u n g des erfahrenen Wissenschaftlers und die gleichermaßen kognitive und politisch-ideologische Motivierung der jungen Wissenschaftler und aller wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter; - das Führen eines prinzipiellen und zugleich kollegialen lebendigen wissenschaftlichen Meinungsstreits und das Herausbilden einer schöpferischen Arbeitsatmosphäre. Vielfältig sind die Faktoren, die zur Intensivierung der Forschung beitragen. Sie reichen von der Arbeitsorganisation, der Ausnutzung der Arbeitszeit über den Einsatz moderner wissenschaftlicher Geräte bis zur wissenschaftlich und politisch begründeten Themenkonzentration sowie dem richtigen Einsatz der Kader. Aber all dies bleibt letztlich Mittel zum Zweck Entscheidend ist die Intensivierung des wissenschaftlichen Lebens selbst : das Hervorbringen neuer Ideen, das Finden neuer Prinzipien, das Ausarbeiten und Überprüfen neuer Forschungskonzeptionen, die konstruktive Zusammenarbeit von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis, das Finden neuer wissenschaftlich begründeter Lösungen der gesellschaftlichen Leitung, das Aufdecken neuer Gesetzmäßigkeiten, die der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft im eigenen Land und in der sozialistischen Staatengemeinschaft dienen und das Leistungsniveau in der internationalen Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus mitbestimmen. Dazu können fest auf dem Marxismus-Leninismus begründete, schöpferische wissenschaftliche Schulen ihren konkreten Beitrag leisten. Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:42 AM
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