INTERVIEW FOTO: DAN CERMAK 32 Residence 1 / 2016 INTERVIEW 33 «Man orientiert sich am oberen Preissegment» Marie Glaser, Leiterin des ETH-Wohnforums, erforscht, wie wir wohnen. Luxus definiere sich nicht mehr nur durch Fläche, sagt sie Residence: Frau Glaser, wozu braucht es das ETH-Wohnforum? Marie Glaser: Mein Team sitzt an der Schnittstelle zwischen akademischer For schung, Praxis und den Entscheidungsträ gern, die über das Wohnen und den Woh nungsmarkt bestimmen. Unser Fokus sind das Wohnen und nachhaltige Stadtentwick lung. Unsere Inhalte bringen wir in die Lehre ein und versuchen sie in die öffentliche Dis kussion und ins Praxisfeld zurückzuspielen. Welche Instrumente stehen Ihnen dabei zur Verfügung? Wir geben Interviews, schreiben Arti kel, veröffentlichen Bücher. Und an unse rer öffentlichen Jahrestagung, die im April «Beim Bauen gilt es, Strukturen zu schaffen, die Unvorhersehbares und Neues zulassen.» wieder stattfinden wird und an der inter nationale Experten teilnehmen, versuchen wir, aktuelle Themen diskussionsfähig auf zubereiten. Das diesjährige Thema ist der gerechte Preis – wie schafft man preisgünsti gen und qualitätsvollen Wohnraum? Und auf welche Weise erheben Sie die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung? Allein die Wohnzufriedenheit abzufra gen, genügt nicht. Wir beobachten, führen Interviews und dokumentieren die Anfor derungen, die Bewohner ans Wohnen stel len. Als Wissenschafter betrachten wir dabei längere Zeiträume und sprechen auch mit Akteuren wie Bewirtschaftern, Hausmeis tern, Eigentümern oder Sozialdiensten. Ver änderungen, die wir feststellen, bringen wir in Zusammenhang mit der wohnpolitischen und der gesamtgesellschaftlichen Situation sowie mit dem demografischen Wandel. Welche Unterschiede machen Sie in den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz aus? In der französischen Schweiz werden die ökologische und die energetische Effizienz stark diskutiert. Man ist dort im Bereich der Nachhaltigkeit sehr technisch orientiert, wäh rend in der deutschsprachigen Schweiz die soziale Nachhaltigkeit grosses Gewicht hat. Wie schätzen Sie den Wohnungsmarkt in Zürich ein? Zürich gehört zu den Regionen mit einem sehr angespannten Wohnungsmarkt und niedriger Leerstandsquote. Das Pro blem ist, dass Ersatzneubauten und die Sanierung von Altbauten zunehmend auf einem Niveau ausgeführt werden, das sich am oberen Preissegment orientiert. Es wird teuer saniert, weswegen günstiger Wohn raum aus der Stadt verschwindet – und mit ihm ganze Bevölkerungsgruppen. Das kann zu sozialer Segregation führen. Was wäre zu tun? Soziale, nachhaltig reflektierte Bestan deserneuerung heisst die Losung. Hier ist viel Offenheit gefragt. Vielleicht wer den nicht alle Standards erfüllt, dafür hat man preisgünstigen Wohnraum im Ange bot. Auch müssen jetzt Regeln geschaf fen werden, damit wir keinen öffentlichen Raum verlieren. Ein Vorschlag von uns ist der, dass bei Entwicklungsprojekten grosse Investoren etwa dazu verpflichtet werden, einen Teil des bebauten Areals als öffent lichen Raum der Stadt sozusagen zurück zugeben. Im Gegenzug darf zum Beispiel ein Hochhaus errichtet werden. Mittel- bis hochpreisige Immobilien gleichen sich mehr und mehr, wie ein Ei dem andern. Mir gefällt die Vereinheitlichung nicht. Das hat blossen Repräsentationscharakter, Wohnlichkeit findet hier keine statt. Gerade ältere Bewohner, etwa in einer umgebau ten Genossenschaftswohnung, können mit der extremen Einsicht in die oft bis zum Boden verglasten Räume nicht umgehen. Ihnen fehlen auch möblierbare Wände. Da hinkt die Logik hinterher. Beim Bauen gilt es, Strukturen zu schaffen, die Neues und Unvorhersehbares wie etwa sich verändern de Haushalts und Arbeitsformen zulassen. Welche Themen werden Sie in der nahen und mittleren Zukunft beschäftigen? Für ältere Menschen werden gemein schaftliche Wohnformen interessant wer den, auch wegen des Preises – den künfti gen Seniorinnen und Senioren wird es nicht immer so gut gehen wie heute. Verdichtung gegen innen ist ein anderes Thema, wobei wir hier auf einem guten Weg sind. Und im oberen Preissegment gewinnt Wohnen mit Dienstleistungen an Bedeutung. Luxus wird sich nicht mehr nur durch Fläche, sondern vor allem durch Services definieren. Interview: Oliver Schmuki Wohnbeobachterin Marie Glaser (44) ist Ethnologin und Literaturwissenschafterin. Sie ist seit 12 Jahren für das ETH-Wohnforum, ein interdisziplinäres Forschungszentrum für Wohnen, Architektur, Raum- und Stadtentwicklung am Departement Architektur der ETH Zürich, tätig. (ols.) � www.wohnforum.arch.ethz.ch Residence 1 / 2016
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