interview - ETH Wohnforum – ETH CASE

INTERVIEW
FOTO: DAN CERMAK
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Residence 1 / 2016
INTERVIEW
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«Man orientiert sich am
oberen Preissegment»
Marie Glaser, Leiterin des ETH-Wohnforums, erforscht, wie wir
wohnen. Luxus definiere sich nicht mehr nur durch Fläche, sagt sie
Residence: Frau Glaser, wozu braucht es das
ETH-Wohnforum?
Marie Glaser: Mein Team sitzt an der
Schnittstelle zwischen akademischer For­
schung, Praxis und den Entscheidungsträ­
gern, die über das Wohnen und den Woh­
nungsmarkt bestimmen. Unser Fokus sind
das Wohnen und nachhaltige Stadtentwick­
lung. Unsere Inhalte bringen wir in die Lehre
ein und versuchen sie in die öffentliche Dis­
kussion und ins Praxisfeld zurückzuspielen.
Welche Instrumente stehen Ihnen dabei zur
Verfügung?
Wir geben Interviews, schreiben Arti­
kel, veröffentlichen Bücher. Und an unse­
rer öffentlichen Jahrestagung, die im April
«Beim Bauen gilt es,
Strukturen zu schaffen,
die Unvorhersehbares
und Neues zulassen.»
wieder stattfinden wird und an der inter­
nationale Experten teilnehmen, versuchen
wir, aktuelle Themen diskussionsfähig auf­
zubereiten. Das diesjährige Thema ist der
gerechte Preis – wie schafft man preisgünsti­
gen und qualitätsvollen Wohnraum?
Und auf welche Weise erheben Sie die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung?
Allein die Wohnzufriedenheit abzufra­
gen, genügt nicht. Wir beobachten, führen
Interviews und dokumentieren die Anfor­
derungen, die Bewohner ans Wohnen stel­
len. Als Wissenschafter betrachten wir dabei
längere Zeiträume und sprechen auch mit
Akteuren wie Bewirtschaftern, Hausmeis­
tern, Eigentümern oder Sozialdiensten. Ver­
änderungen, die wir feststellen, bringen wir
in Zusammenhang mit der wohnpolitischen
und der gesamtgesellschaftlichen Situation
sowie mit dem demografischen Wandel.
Welche Unterschiede machen Sie in den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz aus?
In der französischen Schweiz werden die
ökologische und die energetische Effizienz
stark diskutiert. Man ist dort im Bereich der
Nachhaltigkeit sehr technisch orientiert, wäh­
rend in der deutschsprachigen Schweiz die
soziale Nachhaltigkeit grosses Gewicht hat.
Wie schätzen Sie den Wohnungsmarkt in
Zürich ein?
Zürich gehört zu den Regionen mit
einem sehr angespannten Wohnungsmarkt
und niedriger Leerstandsquote. Das Pro­
blem ist, dass Ersatzneubauten und die
Sanierung von Altbauten zunehmend auf
einem Niveau ausgeführt werden, das sich
am oberen Preissegment orientiert. Es wird
teuer saniert, weswegen günstiger Wohn­
raum aus der Stadt verschwindet – und mit
ihm ganze Bevölkerungsgruppen. Das kann
zu sozialer Segregation führen.
Was wäre zu tun?
Soziale, nachhaltig reflektierte Bestan­
deserneuerung heisst die Losung. Hier
ist viel Offenheit gefragt. Vielleicht wer­
den nicht alle Standards erfüllt, dafür hat
man preisgünstigen Wohnraum im Ange­
bot. Auch müssen jetzt Regeln geschaf­
fen werden, damit wir keinen öffentlichen
Raum verlieren. Ein Vorschlag von uns ist
der, dass bei Entwicklungsprojekten grosse
Investoren etwa dazu verpflichtet werden,
einen Teil des bebauten Areals als öffent­
lichen Raum der Stadt sozusagen zurück­
zugeben. Im Gegenzug darf zum Beispiel
ein Hochhaus errichtet werden.
Mittel- bis hochpreisige Immobilien gleichen
sich mehr und mehr, wie ein Ei dem andern.
Mir gefällt die Vereinheitlichung nicht.
Das hat blossen Repräsentationscharakter,
Wohnlichkeit findet hier keine statt. Gerade
ältere Bewohner, etwa in einer umgebau­
ten Genossenschaftswohnung, können mit
der extremen Einsicht in die oft bis zum
Boden verglasten Räume nicht umgehen.
Ihnen fehlen auch möblierbare Wände. Da
hinkt die Logik hinterher. Beim Bauen gilt
es, Strukturen zu schaffen, die Neues und
Unvorhersehbares wie etwa sich verändern­
de Haushalts­ und Arbeitsformen zulassen.
Welche Themen werden Sie in der nahen und
mittleren Zukunft beschäftigen?
Für ältere Menschen werden gemein­
schaftliche Wohnformen interessant wer­
den, auch wegen des Preises – den künfti­
gen Seniorinnen und Senioren wird es nicht
immer so gut gehen wie heute. Verdichtung
gegen innen ist ein anderes Thema, wobei
wir hier auf einem guten Weg sind. Und im
oberen Preissegment gewinnt Wohnen mit
Dienstleistungen an Bedeutung. Luxus wird
sich nicht mehr nur durch Fläche, sondern
vor allem durch Services definieren.
Interview: Oliver Schmuki
Wohnbeobachterin
Marie Glaser (44) ist Ethnologin und
Literaturwissenschafterin. Sie ist seit
12 Jahren für das ETH-Wohnforum, ein
interdisziplinäres Forschungszentrum
für Wohnen, Architektur, Raum- und
Stadtentwicklung am Departement
Architektur der ETH Zürich, tätig. (ols.)
� www.wohnforum.arch.ethz.ch
Residence 1 / 2016