Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens Sächsische Heimatblätter 4|14 Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens Sebastian Liebold Nicht immer war die aus der Königlichen Gewerbschule hervorgegangene Technische Universität den Bürgern ihrer Stadt so präsent wie heute. Beide, das frühere »sächsische Man chester« wie die Hochschule, umgarnen sich, wo sie können: Die Stadt will den Lernenden und Lehrenden eine eigene Straßenbahn bauen – die künftige Linie 3, um die Universitätsteile in der Straße der Nationen besser mit dem Campus an der Reichenhainer Straße zu ver binden. Die Universität zieht mit ihren For schungseinrichtungen Köpfe von Rang an, stellt fertigungsreife Lösungen für die Industrie her und gibt mit öffentlichen Vorlesungen und Diskussionsreihen Anstöße für gesellschaftli che Fragen der Zeit. So bringt sie Technik und Gesellschaft zusammen. Was kann eine Universität für die Stadt leisten? Welche Rahmenbedingungen vermag die Stadt dafür zu bieten? Gewöhnlich schmückt sich eine Stadt mit ihren Bildungseinrichtungen – zu Recht, weil diese Potential für alle Bereiche der Gesellschaft entfalten: Sie bringen Ingeni eure mit innovativen Ideen hervor, wie sich das Gewicht von Automobilen reduzieren oder durch Nanotechnologie der Anlagenbau ver bessern lässt. Im Idealfall bilden sie Lehrer und Eduard-Theodor-BöttcherBau am Schillerplatz, das bekrönte Hauptgebäude der TU. Foto: privat 426 Verwaltungsbeamte aus, die zum Wohl der Stadt und ihrer Kinder wirken. Eine Stadt müht sich um eine solide Infrastruktur für die Bildungseinrichtung, indes die Sorge für die Ausstattung der höheren Schulen seit dem Vor satzwort »Königlich« bzw. »Staats-« beim Ministerium des Landes liegt, in diesem Fall an der Elbe. Über die Zeit war die Stadt in unter schiedlichem Maße an Antworten auf drän gende gesellschaftliche Fragen interessiert, etwa an Studien über die Durchlässigkeit des Bil dungssystems für Kinder aus sozial benachtei ligten Familien (hierin waren die beiden Dikta turen besonders schlecht) oder an Ideen, wie das Zusammenleben mit Migranten aus kömmlich gestaltbar ist. Der Beitrag will Fra gen wie diese am Beispiel der höheren Lehran stalten, deren Namen beständigem Wandel ausgesetzt war, in Geschichte und Gegenwart nachzeichnen. Ihn leitet die zerbrechliche Erkenntnis: Wissen ist, kritisch erworben, einer der Schlüssel nicht nur zu ökonomischem Erfolg, sondern auch zum »guten Leben« in der Stadt. Die höchste Bildungseinrichtung der Stadt hat sich zu allen Zeiten mit ihrer Geschichte befasst. Festschriften und andere Rückblicke erschienen 1911, 1936, 1961, 1963 (zum zehn jährigen Bestehen der TH ging dieser Band den Anfängen nach), 1978 (vornehmlich zu den Jahren 1963–1975), 1981, 1986 zur Erhebung in den Stand einer Technischen Universität, 2003 u.a. mit Blicken auf die Wechselwirkung zwischen Hochschule und Stadt sowie – mit viel Nachhall – 2011 in Form eines Kaleido skops, ferner öfters Beiträge zu den Biographi en ihrer wichtigsten Köpfe und Häupter – etwa 1983 und 1986.1 Statt vieler möchte ich eine Schrift über Carl Julius von Bach nennen.2 Zahllose Publikationen über die Stadt Chem nitz erwähnen die Hochschule – stets mit einer besonderen Würdigung der an ihr wirkenden Techniker und ihrer Erfindungen. Solange der Textilmaschinenbau in Chemnitz stark war, brauchte an Heinrich Mauersbergers Patent Sächsische Heimatblätter 4|14 Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens der MALIMO-Wirktechnik kaum museal erin nert werden; dies übernimmt nun – als Taktge ber einer säkularen Arbeitsliturgie – die dumpfe Glocke im Turm der ehem. Fabrik von Schu bert & Salzer. Viele Studenten hören sie auf dem täglichen Weg zum Campus. Warum schickt eine Stadt ihre Kinder auf höhere Schulen? Den Gründungsimpuls für die Gewerbschule gab die Wirtschaft: Sachsen hatte mehrere gewerbliche Schulen – eine höhere gab es nur in Dresden, wie Regierungs vertreter Carl Ludwig Kohlschütter in seiner Eröffnungsrede am 2. Mai 1836 fast entschul digend mitteilte.3 Keine solche Schule befand sich in Chemnitz. Die stark und schnell wach sende Industrie suchte gut ausgebildete Tech niker. Mit der Gründung der Gewerbschule verband sich daher ein praktischer Zweck: Die Schüler sollten durch Geometrie, Experimen talphyik, Chemie, technisches Zeichen (neben anderen Fächern) in die Lage versetzt werden, in den Betrieben qualifizierte Arbeit zu leisten, besonders im aufstrebenden Maschinenbau. »Die Darbietung der technischen Wissenschaf ten sollte allerdings nur so weit reichen, wie es zum normalen Gewerbebetrieb notwendig wäre.«4 Technische Innovationen waren daher eher aus dem Sachverstand des Nachwuchses denn von der Ausbildung her zu erwarten. Hand in Hand ging die vom Rat der Stadt beförderte Gründung mit Stipendien des Indu strievereins – ein Zeichen dafür, dass in Chem nitz bürgerschaftliches Engagement eine alte Tradition besitzt, wie sich am späteren vereins mäßigen Aufbau der Kunstsammlungen und vieler weiterer Institutionen von öffentlichem Interesse zeigen lässt. Im Herzen der Stadt kam die neue Einrich tung – behelfsmäßig – mit ihren anfänglich 14 Schülern (Einschreibungen per 1. Mai 1836, im Jahresverlauf gesellten sich weitere 15 dazu) unter: Für die Räume des alten Lyzeums im Jakobikirchhof übernahm die Stadt die Kosten für Heizung und Beleuchtung. Das Ministeri um in Dresden berief fünf Jahre später – als Zeichen für den Status einer Art Fachschule – zwei Chemnitzer Lehrer, Julius Adolf Stöck hardt und Julius Ambrosius Hülße5, zu Profes soren, nachdem im Vorjahr der Mathematiker Christian Moritz Rühlmann, ein Gründungs mitglied der Schule, nach Bleibeverhandlungen der Gewerbschule Hannover den Vorzug gege ben und Chemnitz verlassen hatte. Heute sind es Hochschulen in Amerika, die Chemnitzer Dozenten abwerben. Da die Stadt für das künstliche Licht zuständig blieb, war die Beleuchtungsfrage über Jahr zehnte eine heikle Sache: Das neue Schul gebäude von 1848 an der Dresdner Straße bekam – nach Einrichtung der städtischen Gasanstalt – 1854 Gasbeleuchtung. Ausgerech net im Zeichensaal blieb es aber zunächst bei der Ölbeleuchtung, ein unruhiges Licht, das den Schülern beim Technischen Zeichnen viel Ungemach bereitete. Derweil kämpfte die Schule darum, die beim Gründungsakt versag ten höheren Studien vor allem für technische Berufe anbieten zu können. 1855 war ein Meilenstein für Chemnitz zu verzeichnen: Mit der Sparte Baugewerke und Werkmeister bil dete die 1862 in »Königliche Höhere Gewerb schule« umbenannte Lehranstalt nun die für viele Betriebe wichtigen Mühlenbauer, Röh renmeister sowie Werkmeister für den Maschi nenbau, Spinnereien und Webereien aus.6 Rasch stiegen die Immatrikulationszahlen. Ein repräsentativer Neubau entstand nach Plänen des gebürtigen Chemnitzer Architekten Emil Alwin Gottschaldt. In dem 1877 bezogenen heutigen Eduard-Theodor-Böttcher-Bau am Schillerplatz, seit 1878 Hauptsitz der von nun an »Technischen Staatslehranstalten« genann ten Höheren Schule, wurde 1884 bis 1899 eine elektrische Beleuchtung installiert – besseres Licht ging einher mit sauberer Luft und weni ger Hitze in den Sälen als bei Öl- und Gaslicht. Ein äußeres Zeichen für den Siegeszug u.a. der Elektrotechnik, bald ein gefragter Ausbildungs zweig. Chemnitz blieb – allem Aufschwung zum Trotz – als Bildungsort über Jahre der Anschluss an die höheren Bildungseinrichtungen Sachsens und des Reiches verwehrt. 1884 erhielten die Abgänger erstmals Zeugnisse, die ihnen ein weiteres Studium an der Technischen Hoch schule in Dresden erlaubten, wo sie Diplom und Doktortitel erlangen konnten (1902 folgte die Zulassung der Absolventen zum Studium an allen deutschen Technischen Hochschulen). Mit der Einwohnerzahl der Industriestadt und den Beschäftigtenzahlen in den Betrieben stie gen die Immatrikulationen: Ende 1889 waren erstmals mehr als 1000 Schüler eingeschrieben. Nicht nur das Bürgerliche Gesetzbuch schuf Einheitlichkeit, nicht nur die Patentauslegestelle in Chemnitz schützte Erfindungen – von 1909 an hießen die Abgänger, wie reichsweit üblich, nicht mehr »Maschinentechniker«, sondern Ingenieure. Unter diesen – vergleichsweise – guten Grund bedingungen brachte die Chemnitzer Lehran stalt einen nicht unbedeutenden Beitrag zur naturwissenschaftlichen Elite hervor. Ein Manko blieb: Der Nachwuchs der städtischen Elite war nicht in Chemnitz ausgebildet (vor allem Juristen, die in der Verwaltung die Geschicke der Stadt bestimmten). Erkennbar ist dies an den Oberbürgermeistern der Stadt, Historischer Überblick – siehe Internetseiten der TU Chemnitz: https://www.tu-chemnitz.de/tu/ geschichte/index.php 1 2 3 4 5 6 427 Autorenkollektiv unter Leitung von Heinz Stütz ner: Zur Geschichte der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, KarlMarx-Stadt 1981 (Wissen schaftliche Schriftenreihe der TH 1981, Heft 6). Gustav Anton Zeuner und Carl Julius von Bach wur den in der Wissenschaftli chen Schriftenreihe der TH 1979, Heft 12, Cle mens Winkler und Adolf Ferdinand Weinhold in der Ausgabe 1983, Heft 9, gewürdigt. Ferner erschien 1986: Die Direktoren der Chemnitzer technischen Bildungseinrichtung (Wissenschaftliche Schrif tenreihe der TH 1986, Heft 4). Friedrich Naumann (Hrsg.): Carl Julius von Bach (1847–1931). Pionier, Gestalter, For scher, Lehrer, Visionär, Stuttgart 1998. Stephan Luther (Hrsg.): Von der Kgl. Gewerb schule zur Technischen Universität. Die Ent wicklung der höheren technischen Bildung in Chemnitz 1836–2003, Chemnitz 2003, S. 24. Ebd., S. 22. Zur Person vgl. Hans Münch: Julius Ambrosius Hülße. Direktor und erster Lehrer der Königli chen Gewerbschule zu Chemnitz, in: Mitteilun gen des Chemnitzer Geschichtsvereins 63 (1994), S. 69-76. Vgl. Freunde der TU Chemnitz (Hrsg.): 175. Das etwas andere Jubiläumsbuch, Chemnitz 2011, S. 11. Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens Sächsische Heimatblätter 4|14 an den Behördenleitern, den Gerichtsbeamten und Pfarrern, nicht zuletzt an den Baumeistern der Stadt – gebürtige Chemnitzer erhielten die entsprechende Bildung in Dresden, Leipzig, Jena (oder weiter entfernt). Immerhin wurden in der Stadt Lehrer ausgebildet. Die Bibliothek der Staatslehranstalten war damals eine reine Fachbücherei, die der Ausbildung und For schung diente – lesefreudige Bürger nutzten indes die Stadtbibliothek mit ihrem schnell wachsenden Bestand.7 1914 gründeten die Lehranstalten eine Abtei lung für Textilingenieure; die – seit 1900 als »Gewerbeakademie« firmierende – Schule war im ganzen Reich Vorreiter als Ausbildungsort für Konstrukteure von Textilmaschinen – der im 19. und 20. Jahrhundert wohl erfolgreichste Chemnitzer Industriezweig, der zehntausende Arbeitsplätze bot. 1916 nahm die Akademie erstmals Frauen auf – die drei jungen Chemi kerinnen kamen aus dem Umland. Der Krieg mit seinen Sorgen und Nöten erreichte Chem nitz: Während der Jahre 1915 bis 1919 hörten 338 Kriegsbeschädigte unentgeltliche Vorle sungen – u.a. in den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und Färberei. Durch Abgabe von Laborausrüstung an die Kriegsindustrie und Versuche der Materialprüfanstalt hatte die Schule ihren Anteil am Fortgang des Ersten Weltkriegs. Nach dem Krieg und der Heimkehr vieler Sol daten erhöhte sich die Schülerzahl schlagartig auf 1800. Zu beengten Raumverhältnissen kam (wie überall) die Kohleknappheit – in den Wintermonaten konnten einige Unterrichts räume nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden. Die Weihnachtsferien 1919/1920 ver längerte die Schulleitung um vier Wochen. Die politische Situation blieb unruhig – in den Zir keln der Lehranstalten fand die Demokratie nicht ungeteilt Zuspruch. Einer der Attentäter von Außenminister Walther Rathenau im Jahr 1922, Hermann Fischer, war 1919 bis 1922 Schüler der Gewerbeakademie, aktiv in einer deutschnationalen Studentengruppe, später Mitglied der rechtsextremistischen Organisati on Consul. Die von 1929 an »Staatliche Akade mie für Technik« genannte Schule wies – wie viele anderen Lehrstanstalten – etwa von 1930 an Studenten mit NS-Affiliation auf.8 Nach Gründung einer Fliegergruppe 1928 wurde 1935 die Ausbildung in Flugwesen und Flugzeugbau aufgenommen – der Zweig, Mit telpunkt der 100-Jahr-Feier im Sommer 1936, hatte bald eine eigene Lehrwerkstatt, 1938 sogar eine Flugzeughalle mit zugehörigen Unterrichts- und Wohnräumen am Flugplatz an der Stollberger Straße. Der Zweig wurde 1945 von der sowjetischen Ortskommandantur Chemnitz 1945, im Hintergrund die Akademie. Foto: Universitätsarchiv 428 – von 1946 an untergebracht im Südflügel der Lehranstalt – aufgelöst. Nach Ruhen des Lehr betriebes im Sommer 1945, bedingt u.a. durch Zerstörung von Fenstern und Türen durch Einschlag einer Luftmine am 14. Februar 1945, wurde die Lehranstalt am 3. Dezember 1945 wieder eröffnet. Ein Augenzeugenbericht, hier erstmals zitiert, wirft nicht nur einen Blick auf die Akademie, sondern auch auf die Rolle der Frauen in der Nachkriegszeit und beim Aufbau nach 1945. »Der Krieg ist zu Ende. Die große Frage: Was nun? Die »Akade« hatte nur den Teil »Flugzeugbau« an der Georgstraße einge büßt. Sonst gab’s nur: ein leeres Haus, kaputte Fenster, täglich mehr Menschen, die, gleich unten links, im »Nachtwache raum a.D.« mal guckten und »oben« bei Herrn Ulbricht wissen wollten, ob oder wann es nun endlich wieder los geht? Auch Professor Bangert tauchte auf und meinte, das wichtigste sei, die Fenster dicht zu machen. So kamen nach und nach »alte Semester«, inzwischen Väter; einer hatte ein Grammophon, einer (Max Kraft) konn te Spanisch »geben«, und die »Weibsen« brachen Glas aus den Rahmen und brach ten den Schutt weg. Aber auch die »willi gen« Studenten mussten erstmal bremsen, da Typhus, TBC und Verwundungen behin derten. Vor allem die kleinen Dinge – wie Lebensmittel – bremsten fürs Erste. Geld war keins zur Verfügung, aber: billig war warmes Mensaessen, Molkenquark gab’s 1 Pf. pro Nase, und viel Freundschaft, d. h. helfen, dem, der es brauchte. Ein Paar pas sende Schuhe oder ein frisches Hutband. Professor Bangert hatte Geburtstag! Und als Dank für gute Wünsche pro Nase eine Fl. Bier! Geplant wurde schon ein Ball, damit viele – im Chemnitzer Hof – erfahren soll ten: Die Akade will anfangen!«9 Sächsische Heimatblätter 4|14 Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens Hehre Ziele setzten sich die Wissenschaften nach Kriegsende. Die Chronik der Lehranstalt berichtet passenderweise: Am 2. Mai 1947 fing die erste Frau als Dozentin an und unterrichte te Volkswirtschaftslehre – die 1911 in Chem nitz geborene Ingeborg Rothe verließ bald dar auf die DDR und habilitierte sich 1954 in Münster. So spiegelt nicht zuletzt die Lehrer schaft den Verlust an gutem Personal aufgrund ideologischer Gängelung – von akademischer Freiheit war nichts zu spüren; die Gründung einer Hochschulparteileitung sicherte Linien treue weithin. Wieder einmal änderte sich der Name: Von 1947 an hieß die Schule »Techni sche Lehranstalt Chemnitz«. »Gesellschaftswis senschaftliche« Kurse, die russische Sprache, Sportunterricht (wie bereits in der NS-Zeit) und Berufspraktika wurden zum studentischen Pflichtprogramm erklärt. Neben Fachwissen traten sozialistische Regeln; dies führte zu einer Flucht vieler systemkritischer Studenten in die Naturwissenschaften – Anschluss an interna tionale Forschung fanden meist Parteimitglie der, schon der Reisen wegen. Mit Gründung der Hochschule für Maschinen bau 1953 (zu den Fakultäten für Maschinenbau und Elektrotechnik kam 1955–1962 eine Arbei ter-und-Bauern-Fakultät, die 1500 Schülern die Hochschulreife bescheinigte) begann die Ver einigung der verschiedenen höheren Schulen unter einem Dach. Von 1958 an berichteten die »Mitteilungen« den Interessierten in Stadt und Land über die Arbeit der Hochschule (heute: TU Spektrum). 1959 bis 1992 erschien zudem die »Wissenschaftliche Zeitschrift der Hoch schule für Maschinenbau Karl-Marx-Stadt«. Für alle sichtbar dehnte sich die Hochschule aus: Am 31. März 1960 wurden die ersten Lehr- und Hallengebäude in der Reichenhainer Straße ein geweiht – hier entstand nach und nach der Campus der Hochschule, mit Bussen erreichbar. 1963 wurde die militärische Ausbildung Pflicht fach.10 Vom gleichen Jahr an wurden Lehrer für Maschinenbau und Elektrotechnik im neuen Bereich »Ingenieur-Pädagogik« ausgebildet. Am 9. Oktober 1963 wurde die Bildungsein richtung »Technische Hochschule« – mit etwa 2000 eingeschriebenen Studenten. Ein enge Verzahnung mit den Schulen der Stadt (in dem Fall die Erweiterten Oberschulen) erreichten die Spezialklassen für Mathematik, Physik und Technik. Schüler lernten nach dem minutiösen Sonderplan erstmals im Herbst 1964. Die begabten Schüler wurden an der Hochschule unterwiesen, konnten deren Infrastruktur nut zen und mussten vor Studienbeginn keinen Wehrdienst leisten (der akademische Frühun terricht endete indes ganz regulär mit dem Abitur). Die Lehrerausbildung wurde 1965 durch die Eingliederung des Pädagogischen Instituts Karl-Marx-Stadt an die Hochschule verlagert; aus der regional verwurzelten Lehre für die Lehrer ergab sich eine spürbare Bin dung – zugleich hieß es für die Didaktik, ver ständlich zu sein.11 Nach der Dritten Hochschulreform erfolgte eine straffere Ausrichtung gemäß sowjetischer Strukturen (damit wird erkennbar, wie sich sozialistische Strukturprinzipien nach und nach in mehr Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verankerten): Sektionen ersetzten die Fakultäten, eine eigene Fakultät für Gesell schaftswissenschaften gab dem MarxismusLeninismus mehr Gewicht. 1969 erfolgte die Eingliederung der Ingenieurschulen für Maschinenbau und Textiltechnik sowie für Werkstofftechnik und Materialprüfung. 1970 wurde ein Weiterbildungszentrum für elektro nische Bauelemente eröffnet – es bildet die Grundlage für den stärker mit Elektronik aus gerüsteten Maschinenbau der folgenden Jahre; 1974 bekam die Sektion Automatisierungsund Informationstechnik sowie sie Sektion Physik und elektronische Bauelemente mit dem Adolf-Ferdinand-Weinhold-Bau ein riesi ges Gebäude, das 1250 Lehrenden und Studie renden Platz bot – es wurde 2014 nach fünfjähriger Sanierung wieder eingeweiht. Damit wurde der Campus in der Reichenhainer Straße – verstärkt 1971 durch die Eröffnung Panorama, in der Mitte ist der 2014 wieder eingeweihte Adolf-Ferdinand-WeinholdBau zu sehen. Foto: TU Chemnitz 7 Inzwischen können sich die Chemnitzer als Leser der Universitätsbibliothek einschreiben. 8 Stephan Luther: Die Staat liche Akademie für Tech nik in der NS-Zeit, in: Mitteilungen des Chem nitzer Geschichtsvereins 71 (2001), S. 49-64. 9 Gertraude Arzig: Tage buch 1945 (unveröffent licht), Abschrift beim Ver fasser. 10 Wehruntaugliche wurden in der »Gesellschaft für Sport und Technik« aus gebildet, Studentinnen erhalten eine Luftschutz einweisung, vgl. Freunde der TU Chemnitz (Anm. 6), S. 21. 11 1992 wurde zusätzlich die Pädagogische Hochschule Zwickau eingegliedert. 429 Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens Sächsische Heimatblätter 4|14 der dortigen Mensa – nach und nach zum grö ßeren Areal im Vergleich zum Gebäudekom plex in der Straße der Nationen. 1981 kam u.a. an der Wartburgstraße eine Sporthalle hinzu. Ins Licht der städtischen und regionalen Öffentlichkeit rückte die Hochschule durch die Beförderung zur Technischen Universität am 14. November 1986 (ein Festakt in der Stadt halle vereinte Stadtobere und Universitätsange hörige), die nun 17 Sektionen und 7000 Stu denten aufwies. Mit Stand Oktober 1989 waren 80 Universitätsangehörige Inoffizielle Mitar beiter der Staatssicherheit.12 Ende 1989 wurde die Hochschulparteileitung aufgelöst. Wer meint, Spitzenforschung für die Wirt schaft sei etwas Neues und Engführung im Kapitalismus, der sei an die Eigenwerbung der TU von 1988 erinnert: »Neben der weiteren Vervollkommnung der Ausbildung und Erzie hung begann sich ab 1976 eine neue höhere Stufe der Zusammenarbeit zwischen Wissen schaft und Produktion in Form der Hoch schul-Industrie-Komplexe, besonders auf den Gebieten der Werkzeugmaschinen, der Leicht industrie, der Elektrotechnik/Elektronik und des Verarbeitungsmaschinenbaus herauszubil den. Dabei wurde von der Form der Vertrags forschung auf einzelnen Gebieten zu einer komplexen Zusammenarbeit der Forschungs kooperation, in der schnellen Überleitung wis senschaftlicher Ergebnisse, beim gemeinsamen Aufbau und der gemeinsamen Nutzung von Studenten lesen zwischen den Vorlesungen in der »Orangerie« und treffen sich vor der 2001 renovierten Mensa in der Reichenhainer Straße. Fotos: TU Chemnitz Johannes Hillig untersucht im Bundesexzellenzcluster MERGE die Fließeigenschaften von Kunststoffcompounds mit elektrisch leit fähigen Partikeln – oft eingesetzt in elektronischen Mikrosystemen. Foto: TU Chemnitz 430 Aus- und Weiterbildungszentren, beim geziel ten Austausch von Wissenschaftsinformatio nen und von wiss.-techn. Kadern, übergegan gen.«13 Ein bisschen Politik musste sein! Die TU versucht seit der Wiedervereinigung, Technik und Gesellschaft besonders eng zu verbinden. So begann im Herbst 1993 die Stu dienmöglichkeit nach dem »Chemnitzer Modell«, dem Magister-Doppelstudium eines technischen und eines geisteswissenschaftli chen Faches. 1993 nahmen die Wirtschaftswis senschaften die Arbeit auf, 1994 die Fächer der Philosophischen Fakultät. 1998 wurde das neue Hörsaalgebäude an der Reichenhainer Straße eingeweiht, vielen Chemnitzern der Farbe wegen inzwischen als »Orangerie« bekannt. 1999 endete die Immatrikulation in Lehramtsstudiengänge – ein Verlust für die gesamte Region Südwestsachsen; sie startete erneut im Jahr 2013. 2000 begann die Sanierung der Wohnheime und der Mensa. Der Tiefpunkt der Studentenzahl von 1995 (etwa 5000) ist nach 2000 längst durch regen Zuspruch wett gemacht (2003 erstmals über 10000, inzwischen 11000). Die Studiengänge wurden inzwischen auf den Abschluss Bachelor und Master umgestellt – die regionale Industrie muss sich an die zwei Arten von Absolventen gewöhnen. Seit 2006 kann sich die TU als »familienfreundlich« bezeichnen (einen Kin dergarten gibt es bereits seit 1971), seit Amts antritt von Rektor Arnold van Zyl fördert sie »diversity«, also Rücksicht auf individuelle Unterschiede aller Universitätsangehörigen. Mit immer vielfältigeren Angeboten lockt die Universität Besucher aus Stadt und Land in ihre Hörsäle: zum »Dies academicus«, zum Tag der offenen Tür – insbesondere für Schüler, zum Seniorenkolleg, zur Weihnachtsvorlesung (bei den Physikern und Chemikern nicht ohne Puffen und Krachen). Nur ein kleiner Aus schnitt der heutigen Spitzenforschung, die etwa an den Fraunhofer-Instituten für Werk Sächsische Heimatblätter 4|14 Technik und Gesellschaft – die heutige TU als Chemnitzer Ort des Wissens zeugmaschinen und Umformtechnik bzw. für Elektronische Nanosysteme stattfindet, zeigt sich den Besuchern von außen. Wer weiß, wie sich Erkenntnisse der Festkörperphysik in Leichtbau-Strukturen niederschlagen? Wie die für die Automobilregion Südwestsachsen wich tige Getriebetechnik vorangetrieben wird, die Systeme der Mikroelektronik zu »smart systems« werden? Oder die Fabrikplanung den Trend von der automatisierten zur digitalen Produktion ebenso aufnimmt wie die Poly graphische Technik den zur gedruckten Poly merelektronik? Kennen sie das Projekt »Grenzraum«, dessen Augenmerk auf dem Überwinden von gesellschaftlichen Wahrneh mungsproblemen liegt und die Kooperation mit tschechischen und polnischen Universitä ten vorantreibt? Weil Absolventen in der Region günstige Start bedingungen finden, nicht zuletzt bei der Übernahme einer eigenen Firma (hier findet ein wahrer Generationswechsel statt), hat der »Gründercampus« und das Netzwerk »Saxeed« beim Kontaktherstellen zu Firmen alle Hände voll zu tun. Die Philosophische Fakultät nimmt die Stadt selbst in den Blick: mit Vor trägen und Diskussionen u.a. zur Friedlichen Revolution 1989/1990, mit Fotoserien, öffentli chen Seminaren, die etwa Beziehungen Deutschlands zum Ausland beleuchten und namhafte Referenten nach Chemnitz bringen, aber auch mit Lesungen in der Stadt – jüngst etwa über die Lebensverhältnisse während des Ersten Weltkriegs. Ein Monitum: Wichtige Köpfe der Universitätsgeschichte spielen – namentlich im Fach Geschichte – derzeit kaum eine Rolle, zumal eine Schnittstelle zur For schung von Technik und Gesellschaft, die Pro fessur für Technikgeschichte, 2005 wegfiel. Auf die Stadt wirkt nicht nur das Wissen: Jeder Angehörige der Universität prägt das Gesicht von Chemnitz, ein Mathematiker im Sinfonie konzert ebenso wie indische und chinesische Studenten in den Restaurants und auf dem Markt. Studenten der TU Chemnitz haben in der Gegenwart beständig Patenschaften für Migranten übernommen, sie befördern das einvernehmliche Zusammenleben und die schnelle Integration der Fremden. Mit vielfälti gen Initiativen sind Studenten bereits auf dem Brühl aktiv, während die Stadt nach einem tragfähigen Konzept fahndet. Die Frage nach der Nutzung aller sanierten Häuser am frühe ren Vorzeige-Boulevard bleibt bislang vage, auch wenn mit dem Umzug der studentenstar ken Wirtschaftswissenschaftlichen und der Philosophischen Fakultät in die Straße der Nationen (ein Kunstgriff, um die neue Zentral bibliothek mit Leben zu füllen) studentische Im 2011 errichteten Projekthaus »METEOR« der Professur Arbeitswissenschaft (Universitätsteil Erfenschlager Straße) werden Auswirkungen des Wandels von MEnsch, TEchnik und ORganisation auf die Arbeitsorganisation untersucht. Foto: TU Chemnitz Quirligkeit in die Innenstadt einkehren dürfte. Bei den Planungen für die Aufwertung des Universitätsteils an der Straße der Nationen hat weder der Architekt, Albert Speer, noch das Stadtplanungsamt die Eigenschaft des Campus an der Reichenhainer Straße als lebendiges Stadtquartier berücksichtigt. Es wird an Quali tät verlieren, wenn die Gegend am Schillerplatz »akademischer« wird. Immerhin wird der vom Busbahnhof befreite Schillerplatz als Grünan lage den Gedanken des denkenden Spazierens befördern. So kommt die Universität nach Jah ren vorstädtischen Treibens zurück in die City. Was wird die Universität wohl für das Stadtju biläum 2018 beitragen? Die TU wird ihre Veranstaltungsreihen für die Bürger ausweiten, so wie sie in diesem Jahr nicht nur historische Vorlesungen (u.a. zum Ersten Weltkrieg) anbot, sondern in diesem Herbst auch einer Bürgerversammlung Heimat gab, die das Verkehrskonzept der Stadt zum Gegenstand hatte (die eingangs erwähnte Linie 3 in Richtung Thalheim). Bereits vor der Fer tigstellung der neuen Räume in der »Aktien spinnerei« werden Leser verstärkt zur Nutzung der Universitätsbibliothek eingeladen, die ebenfalls jedes Semester öffentliche Vorträge anbietet. Der Autor ist sich gewiss, dass über greifende Fragen des heutigen Lebens – wie effiziente Ressourcennutzung und Nachhaltig keit als Strategie14 – durch die Fakultäten mit relevanten Ideen beantwortet werden, seien es sparsame Motoren oder der Vorschlag moder ner ordnungspolitischer Prinzipien. Die TU macht so als Ort des Wissens auf sich aufmerk sam, der Technik und Gesellschaft ganz prak tisch zusammenbringt. Der Autor mit einem Werk des Militärs Helmuth von Moltke über die alte Türkei, das er im Wintersemester 2012/2013 in der öffentlichen Ringvorlesung »Mein Buch« vorgestellt hat. 12 Freunde der TU Chemnitz (Anm. 6), S. 23. 13 Dieter Bock: Von der Königlichen Gewerb schule zur Technischen Universität, in: KarlMarx-Städter Almanach 1988, Heft 7, S. 29–32, hier S. 32. 14 Vgl. Ilja Kogan und Sebastian Liebold: Säch sische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung. Georgius Agricola und Hans Carl von Carlowitz, in: Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg.): Carlowitz weiter denken. Menschen gestal ten Nachhaltigkeit, Mün chen 2014, S. 133–142. Autor Dr. Sebastian Liebold TU Chemnitz Institut für Politikwissenschaft · 09107 Chemnitz 431
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