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LÄNDERBERICHT
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
BRASILIEN
DR. JAN WOISCHNIK
ALEXANDRA STEINMEYER
17. März 2016
Massenproteste und politischer
Stillstand
BRASILIEN
ZWISCHEN
KORRUPTIONSSKANDAL, WIRTSCHAFTSKRISE
UND DROHENDER
AMTS-
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ENTHEBUNG DER
STAATSPRÄSIDENTIN
Brasilien stellt knapp fünf Monate vor dem
terbrochen die Regierung stellt. Bemer-
Beginn der Olympischen Sommerspiele
kenswert war, dass selbst im struktur-
Negativrekorde auf: Mitten in einer histo-
schwachen Nordosten des größten Landes
rischen Wirtschaftskrise findet die Aufde-
Lateinamerikas, traditionell PT-Territorium,
ckung des größten Korruptionsnetzwerks
gegen die Regierung demonstriert wurde.
der Geschichte des Landes einen neuen
Zu Gegendemonstrationen von Anhängerin-
Höhepunkt in den Vorwürfen gegen den
nen und Anhängern der Arbeiterpartei kam
Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Sil-
es kaum, weswegen befürchtete Zusam-
va. Währenddessen steht Präsidentin
menstöße ausblieben. Allerdings bleibt ab-
Dilma Rousseff kurz vor dem endgültigen
zuwarten, wie die Beteiligung an den für
Bruch mit ihrem wichtigsten Koalitions-
den 18. März angekündigten Demonstratio-
partner und muss wegen eines laufenden
nen zur Unterstützung der Regierung aus-
Amtsenthebungsverfahrens um ihre Prä-
fallen wird.
sidentschaft bangen. Nun forderten Millionen Demonstranten ihren sofortigen
Rücktritt.
Am 13. März gingen große Teile der brasilianischen Bevölkerung in mehr als 250 Städten auf die Straße, Beobachter sprechen
von über 3,3 Millionen Teilnehmerinnen und
Teilnehmern. Allerdings sind diese Zahlen
mit Vorsicht zu genießen, da sie nicht von
unabhängigen Institutionen aufgestellt werden, sondern von den Organisatoren oder
Proteste am 13. März 2016 in São Paulo
Foto: Rovena Rosa/Agência Brasil
der Polizei der Bundesstaaten, in denen sich
die politische Couleur der jeweiligen Regierung widerspiegelt. Trotzdem sind die Demonstrationen als bedeutsam zu beurteilen:
Wird doch diskutiert, ob sie mehr Menschen
mobilisierten als die bisher größten Demonstrationen von 1984, die das Ende der
Militärdiktatur und Direktwahlen des Präsidenten forderten.
Es verwundert auf den ersten Blick, dass die
brasilianische Bevölkerung einer Staatsund Regierungschefin derart kritisch gegenüber steht, die sie noch Ende 2014, wenn
auch knapp, im Amt bestätigte. Was ist
passiert? Und warum verzeichneten die
Demonstrationen eine so hohe Beteiligung,
nachdem im vergangenen Jahr ähnliche
Aufrufe nur deutlich weniger Menschen mo-
Sprechchöre und Plakate der Demonstranten forderten „Dilma raus“ und „PT raus“,
also das Ende von Staatspräsidentin Dilma
Rousseff und ihrer Arbeiterpartei (Partido
dos Trabalhadores, PT), die seit 2002 unun-
bilisieren konnten?
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Korruptionsskandal „Lava Jato“ holt Wirt-
lässt ihre Kritiker jedoch an dieser Einschät-
schaft und Politik ein
zung zweifeln. Neue Argumente erhielten
diese Vermutungen Anfang März durch Aus-
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Ein wichtiger Faktor, der die Mobilisierung
sagen eines Senators (und Parteifreunds
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weiter Teile der Bevölkerung gegen die Re-
Rousseffs) – die er allerdings als Kronzeuge,
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gierung, aber auch allgemeiner gegen „die
also möglicherweise motiviert durch Straf-
Politik“ erklärt, sind täglich neue Korrupti-
minderung, machte.
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onsenthüllungen. Diese finden momentan
ihren traurigen Höhepunkt im Petrobras-
Konkretere Vorwürfe liegen gegen Rousseffs
Skandal (von der Staatsanwaltschaft nach
politischen Ziehvater vor, den populären Ex-
einem Geldwäsche-Lokal auch Operation
Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva (PT):
„Lava Jato“, dt. Autowäsche, genannt): An-
Er wurde Anfang März medienwirksam mit
gefangen mit dem halbstaatlichen Ölkon-
großem Polizeiaufgebot abgeholt und zur
zern Petrobras wird seit 2014 das größte
Verschleierung von Vermögen und Immobi-
Korruptionsnetzwerk der Geschichte Brasili-
lien befragt. Aktuell wird ein Antrag auf Un-
ens aufdeckt.
tersuchungshaft geprüft. Die Präsidentin bot
ihrem Amtsvorgänger daraufhin an, Kabi-
Mindestens BRL 6,4 Mrd. (rund EUR 1,5
nettschef zu werden (der wichtigste Minis-
Mrd.) – immerhin fast 0,5% der gesamten
terposten). Dieser akzeptierte prompt und
Wirtschaftsleistung 2015 – sollen veruntreut
genießt nun bestimmte Immunitäten vor
worden sein. Bisher wurden 179 Personen
der Strafverfolgung („foro privilegiado“). Die
aus Wirtschaft und Politik, darunter auch
Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsiden-
Senatoren und Abgeordnete aller politischen
ten dürften ein wichtiger Katalysator der
Lager, sowie mehrere Unternehmen ange-
Massenproteste gewesen sein, da gerade
klagt. Die Anklagen lauten neben Korruption
die Aufstiegsgeschichte Lulas – vom Metall-
auch auf Geldwäsche, Steuerhinterziehung,
arbeiter zum Staatspräsidenten – als Anti-
Drogenhandel und Bildung krimineller Ver-
these zur klassischen politischen Elite des
einigungen. Das Ausmaß dieser systemati-
Landes und gegen Korruption gegolten hat-
schen Korruptionspraktiken schockierte
te.
selbst die mit Korruption vertraute brasilianische Bevölkerung und verstärkte ihr Miss-
Stärkste Wirtschaftskrise seit den 1930er
trauen gegenüber politischen und wirt-
Jahren
schaftlichen Eliten.
Das größte Problem für Präsidentin Rousseff
stellen jedoch momentan nicht Vorwürfe der
Beteiligung am Korruptionsskandal dar,
sondern die profunde politische Krise ihrer
Regierung und der mangelnde Rückhalt in
der Bevölkerung. Die Zustimmungswerte zu
ihrer Amtsführung schwanken um die 10%Marke – und werden damit selbst von der
Inflationsrate übertroffen, wie kritische Beobachter gern betonen.
Rousseff bei ihrer Amtseinführung mit Lula
Foto: Fabio Rodrigues Pozzebom/Agencia Brasil
Mitverantwortlich für die Unzufriedenheit
der Bevölkerung mit der Regierungsführung
Das Korruptionsnetzwerk droht nun auch
der Präsidentin ist die stärkste Wirtschafts-
Rousseffs Regierung einzuholen: Im ver-
krise seit den 1930er Jahren. Auslöser wa-
gangenen Oktober kam eine Parlaments-
ren gesunkene Rohstoffpreise, die die auf
kommission zwar noch zu dem Schluss, die
Rohstoffexporte konzentrierte brasilianische
Präsidentin sei nicht in „Lava Jato“ involviert
Wirtschaft stark trafen. Die nationale Wäh-
gewesen. Die Tatsache, dass sie von 2003
rung Real hat seit ihrem Höchststand 2011
bis 2010 Aufsichtsratsvorsitzende des Öl-
gegenüber dem Dollar fast 60% ihres Werts
konzerns im Zentrum des Skandals war,
verloren, sodass sich Importe entsprechend
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verteuert haben – eine Zunahme der verbil-
heiten immer neu organisiert werden müs-
ligten Exporte blieb hingegen aus. Das
sen.
Haushaltseinkommen wird 2016 ein Fünftel
unter seinem Höchststand 2010 liegen
Das Impeachment-Verfahren gegen Rouss-
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(Schätzungen des Economist). Das lässt die
eff ist das dritte in der brasilianischen Ge-
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Binnennachfrage, die für 80% der brasiliani-
schichte: 1952 überstand Getúlio Vargas die
schen Wertschöpfung verantwortlich ist,
Abstimmung, Fernando Collor de Mello hin-
sinken und verstärkt die Wirtschaftskrise
gegen trat 1992 zurück, ehe er aufgrund
zusätzlich. Die gerade erst aufgestiegenen
starker Korruptionsvorwürfe des Amts ent-
neuen Mittelschichten drohen wieder zurück
hoben werden konnte. Im Fall Rousseffs bil-
in die Armut zu gleiten.
den angebliche Manipulationen bei der Auf-
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stellung des Haushalts 2015 den Sachgrund
Ebenso wie Lulas Präsidentschaft von exter-
des Antrags auf Amtsenthebung.
nen Faktoren wie den Rohstoffpreisen profitierte, wirkten sich diese Faktoren nun ne-
Der eigentliche Grund für die Einleitung des
gativ auf Rousseffs Rückhalt in der Bevölke-
Verfahrens hingegen ist politisch motiviert:
rung aus. Vor allem hat sie jedoch keine
Ende 2015 wurde u.a. mit Stimmen von
wirtschaftspolitischen Strukturreformen un-
Rousseffs Arbeiterpartei einem Antrag auf
ternommen, um den strukturellen Ursachen
Aufhebung der Immunität von Eduardo
der Krise zu begegnen –ausufernde Büro-
Cunha, Präsident des Abgeordnetenhauses,
kratie, Korruption, mangelnde Wettbe-
zugestimmt, da gegen ihn schwere Vorwür-
werbsfähigkeit und fehlende Diversifizierung
fe im „Lava Jato“-Skandal vorliegen.
der nationalen Industrie.
Daraufhin gab Cunha, der als Mitglied der
PMDB (Partido do Movimento Democrático
Viele Wege führen zum Ende einer Präsi-
Brasileiro, dt. Partei der brasilianischen de-
dentschaft
mokratischen Bewegung) Teil ihrer Regierungskoalition ist, aber der Präsidentin
Vor diesem Hintergrund sieht sich die Präsi-
schon lange kritisch gegenüber stand, ei-
dentin momentan mit verschiedenen Ver-
nem Antrag der PSDB auf Aufnahme eines
fahren konfrontiert, die ihre Präsidentschaft
Impeachmentverfahrens statt. Aktuell wird
vor dem regulären Ablauf ihrer Amtszeit
im Abgeordnetenhaus ein Ausschuss zur
2018 beenden könnten: Die größte Opposi-
Untersuchung der Vorwürfe gegen Rousseff
tionspartei PSDB (Partido da Social De-
gebildet. Sollte der Antrag auf Amtsenthe-
mocracia Brasileira, dt. Partei der brasiliani-
bung zu Ungunsten der Präsidentin ausfal-
schen sozialen Demokratie) stellte sowohl
len, würde in einem nächsten Schritt im
Anträge auf Rousseffs Amtsenthebung als
Plenum des Abgeordnetenhauses darüber
auch auf Annullierung der Präsidentschafts-
abgestimmt. Für einen Fortgang des Verfah-
wahl. In beiden Fällen wurden Verfahren
rens ist mindestens eine Zweidrittelmehr-
eingeleitet.
heit nötig. Ab dieser Abstimmung wird die
Präsidentin vorübergehend von ihren Amts-
Wie in präsidentiellen Demokratien üblich ist
pflichten enthoben und der Vizepräsident
auch in Brasilien die Präsidentin Staats- und
übernimmt ihr Amt. Letztendlich bestimmt
Regierungschefin zugleich und verfügt über
die Schwere der Vorwürfe, ob lediglich der
eine große Machtfülle. Das Amtsenthe-
Senat (bei Amtsdelikten) mit einer Zweidrit-
bungsverfahren (engl. Impeachment) erwei-
telmehrheit oder der Oberste Bundesge-
tert die Handlungsmöglichkeiten der an-
richtshof die finale Entscheidungsinstanz in-
sonsten eingeschränkt mächtigen Legislati-
nehält und die Präsidentin schließlich ihres
ve. Rousseff verfügt aktuell weder im Abge-
Amtes enthoben wird.
ordnetenhaus noch im Senat über Mehrheiten. Allgemein zeichnet sich Brasilien durch
Käme das Amtsenthebungsverfahren noch
schwach institutionalisierte Parteien und
dieses Jahr zu einem Abschluss, würden an-
häufige Parteiwechsel der Abgeordneten
schließend direkte Präsidentschaftswahlen
aus; zudem sind momentan 28 Parteien im
abgehalten. Wenn bereits mehr als die Hälf-
Abgeordnetenhaus vertreten, sodass Mehr-
te des Präsidentschaftsmandats verstrichen
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ist, wählt die Legislative eine Nachfolgerin
Rousseffs Koalition steht vor dem Bruch
oder einen Nachfolger.
Präsidentin Rousseff steht also nicht nur ei-
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Mögliche Annullierung der Präsident-
ner Opposition gegenüber, die ihren Rück-
schaftswahlen
tritt fordert (das wäre angesichts der Krisen
im Land weniger verwunderlich) – vielmehr
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Selbst wenn die Präsidentin das Impeach-
gießt ihr Koalitionspartner PMDB seit Mona-
mentverfahren überstünde, drohte ihr wei-
ten Öl in das Feuer, das ihre Präsidentschaft
terhin ein Prozess wegen illegaler Wahl-
beenden könnte. So steht inzwischen
kampffinanzierung. Das Oberste Wahlge-
Rousseffs Koalition, die neben PT und PMDB
richt untersucht aktuell, ob der Wahlkampf
aus sieben weiteren, kleineren Parteien be-
der Präsidentin und ihres Vizepräsidenten
steht, vor dem Bruch.
Temer 2014 durch Schmiergelder des „Lava
Jato“-Skandals mitfinanziert wurde. Auf die
Als größter Koalitionspartner von Rousseffs
Vorwürfe erwiderte die Präsidentin, ihr
PT, stellt die PMDB nicht nur in beiden Par-
Wahlkampf sei schließlich von denselben
lamentskammern eine der größten und poli-
Firmen finanziert worden wie die Kampagne
tisch einflussreichsten Fraktionen, sondern
der Opposition – was nicht aus der Luft ge-
auch die jeweiligen Präsidenten.Außerdem
griffen scheint. Ihr Wahlkampfleiter, João
stellt sie sieben der 31 Ministerinnen und
Santana, der bereits Lula sowie Hugo
Minister und den Vizepräsidenten des Lan-
Chávez und Nicolás Maduro in Venezuela zu
des. Auch auf bundesstaatlicher und kom-
Wahlerfolgen verholfen hatte, sitzt bereits
munaler Ebene ist die Partei in Regierungs-
in Untersuchungshaft. Auch im Fall einer
ämtern präsent.
Annullierung der Präsidentschaftswahlen
gäbe es Neuwahlen, die je nach verbleiben-
Diese Machtkonzentration kann einerseits
dem Mandatszeitraum direkt (in der Bevöl-
als geschickter Schachzug der Präsidentin
kerung) oder indirekt (im Parlament) abge-
zur Beteiligung des größten Koalitionspart-
halten würden.
ners gesehen werden; so hatte Rousseff bei
einer Kabinettsumbildung Ende 2015 der
Außerdem könnte Rousseff ihre Präsident-
Partei strategisch noch weitere Ministerpos-
schaft selbst durch Rücktritt beenden, wie
ten zugeschlagen. Andererseits macht die
die Demonstrantinnen und Demonstranten
Machtfülle die PMDB zur Schlüsselpartei im
am 13. März sowie weite Teile der Oppositi-
aktuellen politischen Schachspiel im Land.
on forderten. Diese Forderungen hat Rouss-
Diese Rolle ist für die PMDB nicht neu: Als
eff jedoch mehrfach als haltlos abgewiegelt.
pragmatisch-opportunistische Partei ohne
Ein Abberufungsreferendum durch die Be-
programmatische Bindung übernimmt sie
völkerung ist in Brasilien nicht vorgesehen.
traditionell die Funktion des „Königsmachers“, da sie Machtperspektiven mit beiden
Kein Ende von Rousseffs Präsidentschaft,
politischen Lagern hat und häufig bei der
aber eine Begrenzung ihrer Machtfülle wür-
Regierungsbildung oder Organisation von
de eine Reform hin zu einem (semi-) präsi-
Mehrheiten das Zünglein an der Waage dar-
dentiellen politischen System bedeuten. Vi-
stellt. Allerdings erschwert die mangelnde
zepräsident Temer sprach sich für eine sol-
Programmatik den Zusammenhalt der Par-
che Reform aus, und auch ein Senator der
tei.
Oppositionspartei PSDB stellte bereits in
seiner Kammer einen (wohl eher symboli-
Ihren Trumpf spielt die PMDB nun aus: Am
schen) Antrag auf Verfassungsänderung. Al-
Tag vor den Massenprotesten vom 13. März
lerdings hat Brasilien keine guten Erfahrun-
wurde auf einem Parteitag entschieden,
gen mit dem parlamentarischen System
dass innerhalb von 30 Tagen ein Entschluss
gemacht – der letzte Versuch endete 1964
über den Verbleib in der Regierungskoalition
in einem Militärputsch, dem 20 Jahre Mili-
getroffen werden müsse. Ein Ausscheiden
tärdiktatur folgten.
aus der Koalition hätte direkte Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament und damit auf den Ausgang des Im-
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peachmentverfahrens. Teile der Partei ha-
an, und die Demonstrationen waren im Sü-
ben bereits offen mit der Präsidentin gebro-
den um die Wirtschaftsmetropole São Paulo
chen, nun droht dies die gesamte Partei an
am stärksten, traditionell das Feld der kon-
– und würde damit nicht mehr nur faktisch,
servativ-liberalen Oppositionsparteien. Ob-
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sondern auch formell Oppositionspolitik ma-
wohl das Profil der Demonstranten also der
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chen. Wie dieser Beschluss letztendlich aus-
liberal-konservativen Klientel der Opposition
sehen und ob er überhaupt gefällt wird,
entsprach, gab nur etwa jeder Fünfte an,
bleibt offen – die Drohbotschaft an die Re-
die Opposition zu unterstützen. Dies deutet
gierung ist jedoch mit Sicherheit angekom-
auf eine Politikverdrossenheit gegenüber
men.
der gesamten politischen Klasse hin.
Vieles spricht dafür, dass die PMDB zu den
Neben Oppositionsparteien hatten über so-
primären Gewinnern einer wie auch immer
ziale Medien verschiedene dezidiert nicht
gearteten Beendigung von Rousseffs Präsi-
parteiliche, mehrheitlich liberal-konservative
dentschaft zählen würde: Ganz direkt stellt
regierungskritische Gruppen zu Demonstra-
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die Partei mit Vizepräsident Temer und dem
tionen aufgerufen. Die Forderungen der
Präsidenten des Abgeordnetenhauses Cunha
jungen Organisatoren verbinden den
die unmittelbaren Nachfolger, wenn Rouss-
Wunsch nach politischem Wandel mit einer
eff ihres Amtes enthoben oder ihre Wahl
liberalen Wirtschaftspolitik. Besonders in
annulliert werden würde. Als größte Frakti-
São Paulo hatten außerdem Wirtschaftsver-
on in beiden Kammern hat sie außerdem bei
einigungen zur Teilnahme aufgerufen.
einer Neuwahl des Präsidenten durch das
Parlament hohes Gewicht. Durch die früh-
Hoffnungsträger Justiz
zeitige Distanzierung von Teilen der Partei
von Rousseff könnte es ihr also gelingen,
Wurden Rousseff, Lula und ihre PT auf den
vom Niedergang einer Regierung zu profitie-
Massenprotesten der Lächerlichkeit und Kri-
ren, an der sie ursprünglich beteiligt war.
tik preisgegeben, so stammten die Sympathieträger nicht etwa aus der Opposition,
Und die Opposition?
sondern aus der Justiz. Allen voran wurde
Sérgio Moro mit Cape als „Super-Moro“ dar-
Die besondere Rolle der PMDB ist auch des-
gestellt. Der Bundesrichter aus Curitiba lei-
halb interessant, weil die Politik dieser Re-
tet die Ermittlungen zur Aufklärung des „La-
gierungspartei zeitweise oppositioneller er-
va Jato“-Skandals und hat durch rigorose
scheint als die der eigentlichen Opposition.
Ermittlungen auch gegen politische und
Es ist auffällig, dass es letzterer bisher nicht
wirtschaftliche Eliten – lange Zeit in Brasili-
gelingt, aus der enormen Krise der Präsi-
en undenkbar – sich und der Justiz zu gro-
dentin politisches Kapital zu schlagen. Auch
ßem Ansehen verholfen.
wenn sie bisher prozedurale Erfolge bei den
Verfahren zur Beendigung von Rousseffs
Präsidentschaft vorweisen konnte, bleibt
unsicher, ob insbesondere die größte Oppositionspartei PSDB das politische Momentum
eines Niedergangs von Rousseff in einen
Wahlsieg verwandeln könnte.
Zwar haben oppositionelle Parteien zum
ersten Mal seit Rousseffs Amtsantritt im
Vorfeld des 13. März durchaus aktiv zu Demonstrationen aufgerufen. Oppositionelle
Bundesrichter Sérgio Moro
Foto: Marcos Oliveira/Agência Senado
Politiker, die die Demonstrationen besuchten, stießen jedoch auf lautstarke Ableh-
Allerdings wurde auch das Vorgehen von
nung und verließen sie wenig später. Die
Justiz und Polizei im Rahmen der „Lava
Demonstranten aller Altersklassen gehörten
Jato“-Ermittlungen kritisiert: Lulas Abholung
mehrheitlich oberen Gesellschaftsschichten
zum Verhör durch etwa 200 Polizisten wur-
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de stark kritisiert, da der ehemalige Präsi-
Gleichzeitig wäre es falsch, anzunehmen,
dent immer seine Kooperationsbereitschaft
dass ein mögliches Ende von Rousseffs Prä-
betont hatte. So muss sich auch die Justiz
sidentschaft auch eine herbe Niederlage für
mit dem Vorwurf auseinandersetzen, den
ihre Partei mit sich bringen würde. Rouss-
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Prozess zu politischen Zwecken auszunut-
effs PT hat gute Verbindungen zu Gewerk-
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zen.
schaften und sozialen Bewegungen und damit großes Mobilisierungspotenzial, ihre
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Wie begründet der enorme Vertrauenszu-
Wählerschaft ist ihr eng verbunden. Ein En-
wachs der Bevölkerung in die Justiz ist, wird
de von Rousseffs Präsidentschaft muss da-
sich erst zeigen, wenn auch unter geänder-
her nicht unbedingt einen massiven politi-
ten politischen Vorzeichen Vorwürfe gegen
schen Machtwechsel bedeuten.
Politikerinnen und Politiker ebenso rigoros
verfolgt werden. Erst dann kann Brasilien
Der Opposition gelingt es bisher kaum, aus
eine nachhaltige Stärkung rechtsstaatlicher
der Regierungskrise politisches Kapital zu
Strukturen bescheinigt werden.
schlagen. Lediglich die Justiz erfährt einen
Vertrauenszuwachs in der Bevölkerung.
Fazit: Handlungsunfähige Präsidentin
Dies ist symptomatisch für die weit verbrei-
bangt um ihr Amt, statt Opposition ge-
tete Politikverdrossenheit der brasiliani-
winnt Justiz Vertrauen der Bevölkerung
schen Bevölkerung gegenüber „der Politik“ –
welche freilich durch die immensen Korrup-
Mindestens seit Ende 2015 befindet sich
tionsenthüllungen noch weiter verstärkt
Brasilien wegen inner- und interparteilichen
wurde.
sowie persönlichen Auseinandersetzungen
im politischen Stillstand. Statt dringend
Für das Parlament, in dessen Händen mo-
notwendige Strukturreformen zur Überwin-
mentan der weitere Verlauf des Impeach-
dung der stärksten Wirtschaftskrise seit den
mentverfahrens liegt, stellt der Umgang mit
1930er Jahren durchzusetzen, ist Präsiden-
den Massenprotesten einen Balanceakt dar:
tin Dilma Rousseff handlungsunfähig und
Einerseits ist es in repräsentativen Demo-
kämpft um ihr politisches Überleben. Am
kratien nicht Aufgabe der gewählten Volks-
Stuhl ihrer Präsidentschaft sägen Koaliti-
vertreterinnen und -vertreter, einzelnen
onspartner, Opposition und Bevölkerung –
Stimmungen oder Demonstrationsparolen
in laufenden Verfahren ihrer Amtsenthebung
hinterherzulaufen, sondern langfristig Politik
sowie der Annullierung ihrer Wiederwahl,
zu gestalten. Andererseits ist der Dialog
aber auch durch Diskussionen in Politik und
zwischen Regierenden und Bevölkerung es-
Medien über die Einführung eines (semi-)
senziell für den sozialen Zusammenhalt und
parlamentarischen Systems. Wie unzufrie-
eine funktionierende Demokratie, besonders
den die Bevölkerung mit ihrer Amtsführung
in einem Land mit so frappierenden wirt-
ist, zeigten die lautstarken Rücktrittsforde-
schaftlichen und sozialen Ungleichheiten wie
rungen bei den Massenprotesten vom 13.
Brasilien. Hier hat sich Rousseff der Unter-
März.
lassung schuldig gemacht, indem sie ihre
Politik zu wenig erklärt und dadurch die Be-
Offen bleibt, wie lange Rousseff dem Druck
völkerung nicht mitgenommen hat.
noch standhalten kann – Rücktrittsforderungen hat sie bisher abgetan, doch neben
Brasiliens Parlament sollte nun nicht kurz-
dem Rückhalt in der Bevölkerung verliert sie
sichtig-aktionistisch auf die Proteste reagie-
nun auch zusehends die Unterstützung in-
ren, sondern die anhängigen Verfahren zur
nerhalb ihrer Koalition im Parlament. Sollte
Amtsenthebung der Präsidentin bzw. Annul-
ihr größter Koalitionspartner vollständig mit
lierung der Präsidentschaftswahlen mit der
ihr brechen, hätte dies signifikante Auswir-
größten Sorgfalt und innerhalb des juristisch
kungen auf die Mehrheitsverhältnisse im
vorgegebenen Rahmens fortführen. Sollte
Parlament – auch wenn sich das erst auf
das nicht gelingen, verspielt Brasilien die
das Impeachmentverfahren auswirken wür-
Chance, sein Image auf der internationalen
de, sollten sich die Vorwürfe gegen Rousseff
Bühne wieder aufzupolieren. Die Ausrich-
als begründet erweisen.
tung der Olympischen Sommerspiele im Au-
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gust 2016 böte dazu eigentlich eine gute
Gelegenheit.
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Besonderer Dank für ihre Unterstützung bei der Recherche
zu diesem Bericht gilt Anisha Schwille, Studentin der Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg und aktuell Praktikantin im Auslandsbüro Brasilien
der Konrad-Adenauer-Stiftung.