Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung Fragen und Antworten 1. Was regelt der Gesetzentwurf? Mit dem Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung wird vor allem die gegenwärtige Vorschrift des § 179 StGB (Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) wesentlich umgestaltet. Unter der neuen Überschrift „Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände“ macht sich zukünftig nach § 179 Abs. 1 StGB-E strafbar, wer unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person 1. aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands zum Widerstand unfähig ist, 2. aufgrund der überraschenden Begehung der Tat zum Widerstand unfähig ist oder 3. im Fall ihres Widerstandes ein empfindliches Übel befürchtet, sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt. Erstmalig werden Handlungen im Sexualstrafrecht als Missbrauchsdelikt kriminalisiert, die der geltende § 177 Abs. 1 StGB (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) nicht oder nur unzureichend erfasst. 2. Warum gibt es eine Neuregelung? Die aktuelle Rechtslage im Sexualstrafrecht ist unbefriedigend. Im Zusammenhang mit der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung sind Strafbarkeitslücken offenbar geworden: Der geltende § 177 Abs. 1 StGB (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) erfasst bestimmte strafwürdige sexuelle Handlungen nicht, obwohl sie das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung verletzen. Alle Tatbestandsvarianten des § 177 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB setzen voraus, dass das Opfer mit Gewalt oder gleichwertigen Nötigungsmitteln (=Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder Ausnutzung einer schutzlosen Lage) genötigt wird, also ein entgegenstehender Wille des Opfers vom Täter gebrochen wird. Das führt dazu, dass Fälle straflos bleiben, weil der Täter entweder kein hinreichendes Nötigungsmittel einsetzt oder gar nicht nötigt, obwohl er weiß oder zumindest in Kauf nimmt, dass das Opfer die sexuelle Handlung ablehnt und lediglich wegen besonderer Umstände keine Gegenwehr leistet. Im Einzelnen geht es um die folgenden Fallgruppen: Der Täter nutzt einen Überraschungseffekt aus Das Opfer befürchtet Beeinträchtigungen, die keine Körperverletzungs- oder Tötungsdelikte darstellen Das Opfer befindet sich objektiv nicht in einer schutzlosen Lage, nimmt diese aber an Zwischen der Gewalt bzw. der Drohung mit Gewalt und der sexuellen Handlung besteht kein finaler Zusammenhang Mit dem Gesetzentwurf werden die aufgezeigten Fallgruppen erfasst, wobei namentlich die Überraschungsfälle § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB-E und die weiteren genannten Fallgruppen § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E unterfallen. 3. Worin besteht die Verbesserung der Rechtslage durch die Neuregelung des § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E (= Opfer befürchtet „empfindliches Übel“)? Gemäß § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E macht sich zukünftig strafbar, wer unter Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person im Fall ihres Widerstands ein empfindliches Übel befürchtet, sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt. Damit werden erstmalig auch Fälle erfasst, bei denen das Opfer Nachteile befürchtet, die unterhalb der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte angesiedelt sind. So ist die neue Vorschrift etwa einschlägig, wenn das Opfer befürchtet, dass der Täter das Wohnungsmobiliar zerstört und der Täter dies erkennt und sich den Umstand für seine Zwecke zunutze macht. Solche Fälle können bislang allenfalls als Nötigung gemäß § 240 StGB bestraft werden, wenn der Täter mit dem empfindlichen Übel ausdrücklich oder konkludent gedroht hat. § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E knüpft dabei im Unterschied zu § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB an dem eigentlichen Unrechtskern an, der darin besteht, dass das Opfer aus Furcht vor einem empfindlichen Übel keinen Widerstand leistet und der Täter diesen Umstand ausnutzt. Anknüpfungspunkt wird künftig also nicht mehr eine schutzlose Lage sein. Denn § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt voraus, dass sich das Opfer aus objektiver Sicht tatsächlich in einer schutzlosen Lage befindet. Der Täter bleibt daher bislang straflos, wenn er sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt, obwohl er erkennt, dass das Opfer irrtümlich davon ausgeht, dass keine Hilfe zu erwarten ist und er sich diesen Umstand für die sexuelle Handlung zunutze macht. Schließlich können durch den neuen § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E auch Fälle erfasst werden, in denen es für eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB an dem notwendigen Zusammenhang zwischen der Gewalt bzw. deren Androhung und der sexuellen Handlung fehlt. Straflos ist bislang etwa folgender Fall: Das Opfer lebt mit seinem Partner in einem Klima der Gewalt. Das Opfer lehnt die sexuelle Handlung ab, wehrt sich aber nicht, weil es sich dies wegen vorangegangener Gewaltanwendung nicht traut. Die Rechtsprechung hat hier häufig die frühere Gewalt bzw. deren Androhung nicht als hinreichende Nötigung zum Tatzeitpunkt angesehen, indem sie einen finalen Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und der sexuellen Handlung verneint hat. Weil der Täter sich künftig auch strafbar machen kann, wenn er den Umstand ausnutzt, dass das Opfer ein empfindliches Übel befürchtet, können Fälle wie der Genannte strafrechtlich geahndet werden. Durch § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E werden also wesentliche Fallgruppen erfasst, die derzeit straflos sind, zumal auch § 240 StGB überwiegend nicht einschlägig ist. 4. Warum werden die Tathandlungen, die von § 179 Abs. 1 StGB-E unter Strafe gestellt werden, nicht als „Vergewaltigungen“ bezeichnet? Eine Vergewaltigung setzt begriffsnotwendig voraus, dass der Täter den Willen des Opfers gewaltsam bricht. Fehlt es an der Gewalt, liegt auch keine Vergewaltigung vor. Entscheidend ist, dass nun erstmals eine Reihe von Tathandlungen unter Strafe gestellt werden, die bislang straffrei waren. Die Gründe, warum die neuen Tathandlungen nicht unter § 177 Abs. 1 StGB gefasst werden, sind rechtssystematischer Natur. Es ist richtig, dass sich die Strafrahmen von § 177 Abs. 1 StGB und § 179 Abs. 1 StGB-E unterscheiden. Grund für diese Differenzierung ist der unterschiedliche Unrechtsgehalt, den die Regelungen sanktionieren. So muss bei § 177 Abs. 1 StGB Gewalt oder ein vergleichbares Zwangsmittel angewendet werden, damit der Tatbestand erfüllt wird. Das rechtfertigt dann eine Bestrafung mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Demgegenüber ist bei § 179 Abs. 1 StGB-E keine Gewalt erforderlich. Unter § 179 Abs. 1 StGB-E fallen z. B. Fälle, bei denen der Täter dem Opfer überraschend unter den Rock in den Schritt greift (Nr. 2) oder bei denen sich das Opfer gegen das Streicheln des Intimbereichs nicht wehrt, weil es anderenfalls mit einer Kündigung rechnet (Nr. 3). Es wäre nicht angemessen, diese Handlungen auch mit einem Jahr Mindestfreiheitsstrafe zu ahnden. Aus diesem Grund wurde der Strafrahmen von sechs Monaten Mindestfreiheitsstrafe beibehalten. Eine solche Differenzierung entspricht der üblichen Abstufung im Strafrecht, wie man sie etwa im Verhältnis Raub - Diebstahl kennt. Kommt es jedoch zum Beischlaf, so sieht auch der Missbrauchstatbestand gemäß § 179 Abs. 1 und 5 Nr. 1 StGB – ebenso wie die Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StGB – eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren vor. 5. Gibt es einen besonderen Schutz für Opfer mit einer Behinderung? Ja, den gibt es. § 179 Abs. 3 S.2 StGB-E benennt erstmals konkrete besonders schwere Fälle, bei deren Vorliegen die Mindestfreiheitsstrafe ein Jahr beträgt. Ein besonders schwerer Fall liegt u.a. vor, wenn der Täter die Widerstandsunfähigkeit ausnutzt, die auf einer Behinderung des Opfers beruht (§ 179 Abs. 3 S. 2 StGB-E). Diese Regelung trägt dem besonderen Schutzbedürfnis von Menschen mit einer Behinderung Rechnung. 6. Werden bisher bestehende Straftatbestände aufgehoben? Ja, zum einen § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Ausnutzen einer schutzlosen Lage). Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift 1997 eingeführt, um Fälle zu erfassen, bei denen Opfer „vor Schrecken starr oder aus Angst vor Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“. Die Erwartungen des Gesetzgebers haben sich jedoch in der Praxis nicht erfüllt. Da die Vorschrift eine Nötigung voraussetzt und mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr zu ahnden ist, wird sie von der Rechtsprechung eng ausgelegt. Mit dem Gesetzentwurf werden diese Fälle erfasst, ohne dass eine Nötigung vorausgesetzt wird. Die Fälle, die gegenwärtig von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst werden, werden weiterhin nach § 179 Abs. 1 StGB-E strafbar sein. Darüber hinausgehend erfasst die Neuregelung aber auch die Konstellationen, die bei § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB wegen der restriktiven Auslegung durch die Rechtsprechung nicht zu einer Strafbarkeit geführt haben. § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist daher neben der Neuregelung nicht mehr erforderlich und kann gestrichen werden. Zum anderen wird § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB gestrichen. Gemäß § 240 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Gemäß § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB liegt in der Regel ein besonders schwerer Fall vor, wenn das Opfer zu einer sexuellen Handlung genötigt wird. Droht der Täter dem Opfer mit einem empfindlichen Übel, um sexuelle Handlungen mit diesem vornehmen zu können, verletzt er die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers. Aus diesem Grund ist es konsequent, dass sich der Täter zukünftig nach § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E strafbar macht, weil diese Vorschrift die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers schützt. § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist daneben nicht mehr erforderlich, weil das gesamte Unrecht von der neuen Vorschrift erfasst wird. 7. Wie wird sichergestellt, dass Tathandlungen, die gegenwärtig von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Ausnutzen einer schutzlosen Lage) erfasst werden, auch nach Streichung dieser Regelung weiterhin mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr geahndet werden? § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt gegenwärtig voraus, dass sich das Opfer objektiv in einer schutzlosen Lage befindet, das Opfer dies erkennt und im Hinblick auf die schutzlose Lage untätig bleibt. Das Opfer muss ferner eine Gewalteinwirkung befürchten, also mit einem Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt rechnen. Liegen diese Voraussetzungen vor, macht sich der Täter auch zukünftig nach § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar, weil er eine Lage ausnutzt, in der das Opfer ein empfindliches Übel befürchtet. Zusätzlich verwirklicht der Täter bei dieser Fallkonstellation das neue Regelbeispiel aus § 179 Abs. 3 Nr. 1 StGB-E. Danach liegt ein besonders schwerer Fall in der Regel vor, wenn der Täter eine Lage ausnutzt, in der das Opfer einer Gewalteinwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Der besonders schwere Fall sieht – vergleichbar dem § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB – eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vor. Es steht daher nicht zu befürchten, dass Täter, deren Handlungen den Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllen, zukünftig mit einer milderen Strafe davonkommen als bislang. 8. Enthält der Gesetzentwurf die „Nein-heißt-Nein“-Lösung? Ist auch ein Tatbestand der sexuellen Belästigung geplant? Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis der Abstimmung mit den Ressorts, den Ländern, den Verbänden und der Justiz. Mit dem Gesetzentwurf erfassen wir alle strafrechtlich relevanten Fallgruppen – und zwar auch, soweit sie nicht einverständliche sexuelle Handlungen betreffen. Es ist dringend erforderlich, die bestehenden Strafbarkeitslücken schnell zu schließen. Durch das geplante Gesetz sollen Frauen – aber auch Männer – zeitnah besser vor sexuellen Übergriffen geschützt werden. Die Kritik, es verblieben relevante Schutzlücken, ist daher so nicht zutreffend. Die Erörterung eines Tatbestandes der sexuellen Belästigung bleibt dem parlamentarischen Verfahren vorbehalten. Schon jetzt kann die sexuelle Belästigung, wie etwa der flüchtige Griff an die Brust einer Frau, im Einzelfall gemäß § 185 StGB (Beleidigung) strafbar sein. Voraussetzung dafür ist, dass der Täter über die mit der sexuellen Handlung verbundene Beeinträchtigung hinaus zusätzlich die „Geschlechtsehre“ angreift oder das Opfer die Tathandlung als entwürdigende Herabsetzung begreifen muss. Ein Straftatbestand im Sexualstrafrecht, der sexuelle Übergriffe unterhalb der Erheblichkeitsschwelle sanktioniert, ist vom Gesetzentwurf nicht vorgesehen. 9. Werden mit dem Gesetzentwurf die Vorgaben der Istanbul-Konvention umgesetzt? Ja. Gemäß Artikel 36 der Istanbul-Konvention sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, jede nicht einverständliche sexuelle Handlung unter Strafe zu stellen. Ausweislich des erläuternden Berichtes ist diese Regelung jedoch auslegungsfähig. In den Erläuterungen heißt es, dass es den Vertragsstaaten überlassen sei, „über die genaue Formulierung in der Gesetzgebung sowie über die Faktoren zu entscheiden, die eine freie Zustimmung ausschließen.“ Daraus folgt, dass die Mitgliedsstaaten sicherstellen müssen, dass die Fälle der nicht einverständlichen sexuellen Handlungen strafrechtlich erfasst werden. Diese Vorgabe wird mit dem Gesetzentwurf erreicht. Er nimmt sich der Fallgruppen an, in denen nicht einverständliche sexuelle Handlungen bislang straflos bleiben und führt diese einer Strafbarkeit zu. Entscheidend ist, dass wir mit dem Gesetzentwurf auch die Fälle strafrechtlich erfassen, in denen der Täter keine Nötigungsmittel (insbesondere Gewalt oder Drohung mit Gewalt) anwenden muss, weil das Opfer aus Furcht keine Gegenwehr leistet oder weil das Opfer wegen der Überraschung zur Gegenwehr gar nicht fähig ist. 10. Wie ist der Zeitplan? Der Gesetzentwurf ist am 16. März 2016 vom Bundeskabinett beschlossen worden. Daran anschließend findet das parlamentarische Verfahren statt.
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