Aachleiche - Hegaukrimis

Aachleiche
Ein Roman von Uwe Johnen
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83 Seite(n)
29535 Wörter
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Uwe Johnen: »Aachleiche« - 1 -
Aachleiche
Montag, 6. Juli 2015, 13:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Die Vorlesungen waren aus. Endlich. Die Studenten verließen langsam das
Gebäude. Draußen war es heiß. Dimitra Zapatoupoulous hatte Kopfschmerzen.
Nach Hause wollte sie trotzdem nicht. Obwohl die Vorlesungen zu Ende waren
und sie Kopfschmerzen hatte. Sie wollte einfach nicht in diese sengende Hitze
hinaus.
Dimitra studierte an der Athener Universität Maschinenbau, doch heute
beherrschte die Vorlesungen nur ein Thema: Das Referendum, das gestern in
Griechenland stattgefunden hatte. Das Referendum, auf das ganz Europa
schaute. Das Referendum, bei dem es darum ging, ob Griechenland dem
europäischen Sparpaket zustimmen soll oder nicht. Die Mehrheit der
Bevölkerung hatte für ›Oxi‹, also für Nein gestimmt. Die Mehrheit der
Bevölkerung wollte nicht mehr der Sparpolitik von Europa und den Deutschen
folgen. Dimitra hatte mit ihren 25 Lebensjahren das Gefühl, noch nicht alles
über die komplexen Zusammenhänge der Finanzwirtschaft verstehen zu
können. Aber wahrscheinlich war es gerade das, was ihr Angst machte. Sie war
auf Gedeih und Verderben von den Meinungen anderer abhängig und musste
glauben, was die Anderen sagten. Und das stimmte oft nicht mit dem überein,
was ihr Bauch ihr zuflüsterte. Die Sonne knallte erbarmungslos auf ihren Kopf.
Auf dem Campus gab es weit und breit kein Objekt wie beispielsweise einen
Baum, das Schatten spenden könnte. Die anderen Kommilitonen hatten sich
schon verflüchtigt. Sie stand ganz alleine auf dem weiträumigen Platz, der von
den großen Institutsgebäuden umsäumt war. Ohne weiter nachzudenken,
begann sie, den Weg nach Hause einzuschlagen. Dimitra lebte in
Metaksourgeio, einem außenliegenden Stadtteil von Athen. Nicht gerade das
Hübscheste. Die Leute, die in diesem Stadtteil wohnten, hatten alle kein Geld.
Es gab viele Rentner und noch mehr Arbeitslose. Seit der Krise sowieso. Mit
großem Interesse verfolgte Dimitra die Nachrichten. Der griechische
Premierminister, Alexis Tsipras, hatte vor seiner Wahl versprochen, dass es mit
ihm an der Spitze allen besser gehen wird, weil er sich nicht der Diktatur von
dieser Deutschen, dieser Merkel, unterwerfen möchte. Seit einer Woche waren
nicht nur alle Geschäfte geschlossen. Die waren sowieso schon seit längerem
zu. Seit einer Woche hatten auch die Banken geschlossen. Und ihr Opa kam an
kein Geld mehr ran, denn Rentner besitzen keine Bankkarten und können
deswegen auch keine Geldautomaten benutzen. Sie sind auf die
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 2 -
Öffnungszeiten der Banken angewiesen, wenn sie Geld wollen. Dimitra nahm
sich vor, noch ihren Opa zu besuchen, denn seine Wohnung lag auf ihrem
Nachhauseweg. Sie schlenderte die Straßen entlang. In den Schaufenstern gab
es nichts zu sehen. Entweder, die Jalousien waren herabgelassen oder die
Schaufenster waren leer, weil der jeweilige Laden schon geräumt war. Müll lag
auf der Straße. Die Bediensteten der Stadt hatten ihre letzten Gehälter nicht
mehr ausgezahlt bekommen. Daher räumten sie auch den Müll nicht mehr weg.
Dimitra schleppte sich mit ihrer schweren mit Leihbüchern beladenen Tasche
auf dem Buckel durch die gleißende Sonne weiter durch die Straßen nach
Hause. Sie schwitzte. In einem Schaufenster konnte sie ihr eigenes Spiegelbild
erkennen. Sie erschrak über sich selbst. Krumm und buckelig sah sie im
Spiegel aus. Wie eine alte Frau. Ob sie wohl so in fünfzig Jahren aussehen
würde? Nein. Sie sah ja jetzt schon so aus. Dimitra blieb stehen und
betrachtete sich im Spiegel genauer. Sie stellte ihre Tasche etwas weiter
entfernt auf die Straße. Aufrecht laufend lief sie zum Spiegel zurück. Sie
wischte sich die verschwitzten Haare aus der Stirn und posierte nun in frischer
und frecher Gestik vor dem Spiegel. So gefiel sie sich schon besser. Ihr
Spiegelbild lächelte sie an. Dimitra lächelte zurück. Sie betrachtete sich
ausführlich. Ihre langen Beine, eine weibliche Hüfte, ein schlanker Bauch und
handfeste Brüste. Auch mit ihrem Gesicht war sie zufrieden, mit ihren leichten
Schmolllippen und einer kleinen Nase. Wenn sie lächelte, zog sich ein
Grübchen in die Backe. Mit einem Mal fielen ihr wieder ihre Kopfschmerzen ein.
Sie sackte in sich zusammen. Doch das konnte sie schon nicht mehr sehen,
denn sie war zu ihrer Büchertasche gelaufen, die sie wieder über ihre schmalen
Schultern warf. Erschöpft und schwitzend lief sie weiter. Sie kam an einem ihr
sehr vertrauten Geschäft vorbei, an dem allerdings vor dem Schaufenster ein
Gittertor heruntergelassen war. Vor ungefähr einem Jahr befand sich darin noch
eine der besseren Boutiquen, die in diesem Stadtteil existierten. Die Besitzerin
dieser Boutique war ihre Mama gewesen. Mit einem Mal lief der Laden immer
schlechter. Mama sagte, die Leute hätten immer weniger Geld, um sich schöne
Kleidung kaufen zu können. Vor einem halben Jahr etwa schloss Mama die
Boutique - hochverschuldet. »Die Troika ist schuld daran«, pflegte Mama zu
schimpfen. Und diese Merkel. Dimitra verstand nicht so ganz, weshalb die
Chefin der Deutschen Schuld daran sein sollte. Es war doch eine europäische
Krise und da kann es doch nicht sein, dass eine einzige Frau alleine Schuld an
dieser Misere haben sollte. Das Sparprogramm kam doch von diesen
Institutionen und nicht alleine von dieser deutschen Premierministerin. Dimitra
wusste nicht so genau, ob das ihr Denkfehler war oder der Denkfehler ihrer
Mutter. Eigentlich war sich Dimitra ziemlich sicher, dass ihre Logik stimmen
musste und nicht die ihrer Mutter. Andererseits hatte Mama einige Jahre
erfolgreich ein Geschäft geführt und musste ja schließlich auch etwas von Geld
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 3 -
verstehen.
Jetzt suchte Dimitras Mutter einen Job, aber zuletzt stieg die griechische
Arbeitslosenquote steil nach oben und die Chancen, Arbeit zu bekommen,
lagen bei ungefähr genau null Prozent.
Dimitras Papa war schon länger arbeitslos. Ungefähr seit dieser Zeit lag er
auf der Couch im Wohnzimmer und war besoffen. Rund um die Uhr. Zunächst
akzeptierte Mama, dass Papa frustriert war und deswegen zuviel trank.
Irgendwann war sie genervt und die beiden stritten sich häufig deswegen.
Inzwischen hatte Mama resigniert und bestrafte ihren Mann mit Nichtbeachtung,
wenn er den ganzen Tag auf dem Sofa herumlag. Dimitra hatte ebenfalls das
Gefühl, nichts mit ihrem Vater anfangen zu können. Meistens reagierte er gar
nicht, wen sie versuchte, mit ihm zu reden. Oder er murmelte irgendetwas, das
sie nicht verstand. Auf dem Nachhauseweg kam sie am Haus von ihrem Opa
vorbei, daher hatte sie sich schon angewohnt, jeden zweiten oder dritten Tag
vorbeizuschauen. Sie drückte die Haustüre auf, die nur abends von ihrem Opa
abgeschlossen wurde. »Opa?«, rief sie in seine Wohnung hinein. Keine
Antwort. Sie wartete kurz, dann lief sie besorgt weiter und ging als Erstes in die
Küche. Das, was sie sah, beruhigte sie zwar kurz, doch machte sich gleich
wieder Sorgen. In der schäbigen Küche, in der nur ein alter Holztisch, zwei
abgesessene Holzstühle und ein altes Sideboard standen, saß ihr Opa und
weinte. Vor sich hatte er ein Stück Papier liegen. »Opa, was hast du denn?«,
fragte sie besorgte. Opa schaute erstaunt auf. Als er sein kleines Enkelchen
erkannte, wischte er sich schnell die Tränen aus den Augen und richtete sich
auf. »Dimitra, mein Schatz. Bist du wieder hier? Das ist schön.« Er war
aufgestanden, um das kleine Mädchen zu begrüßen. Dimitra setzte sich auf
freien Stuhl. »Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal. Ihr Opa setzte sich
wieder. »Ach, es ist nichts«, sagte er. Als er in Dimitras Gesicht blickte und in
ihren Augen erkannte, dass sie entschlossen war, nicht nachzugeben, erzählte
er: »Ich habe Hunger. Und ich komme nicht an mein Geld heran. Die Banken
sind geschlossen. Und jetzt flattert noch ein Brief meines Vermieters herein. Er
besteht trotz der Krise auf die pünktliche Bezahlung der Miete und droht mir mit
Rausschmiss, wenn ich nicht bald meine Miete zahle. Ich kann sie aber nicht
zahlen. Ich hab nämlich kein Geld. Dafür Hunger.« Opa war wieder den Tränen
nahe. Dimitra wusste auch nicht, wie sie helfen konnte, und saß ziemlich ratlos
am Tisch. Sie musste hilflos zusehen, wie ihr Opa mit seinen Tränen kämpfte.
Sie glaubte auch, erkennen zu können, dass er etwas magerer geworden war.
Er stand wieder vom Stuhl auf und sie meinte, in ihm ihr Spiegelbild zu
erkennen, als sie wie eine alte Frau nach vorne gebeugt mit
herunterhängenden Schultern von der Uni zu Opa gelaufen war.
»Ich möchte, dass du jetzt heimgehst. Nicht, dass sich deine Mama noch
Sorgen um dich macht.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 4 -
»Opa, wenn ich nicht heimkomme, dann weiß doch Mama, dass ich bei dir
bin.«
»Trotzdem. Geh jetzt! Studiere noch in deinen Büchern und nutze den Rest
der Zeit noch, dich mit deinen Freunden zu treffen. Komm morgen wieder.«
Dimitra wollte widersprechen, doch dann packte sie ihre Büchertasche, warf
sie sich auf ihre Schultern, drückte ihrem Opa noch einen Schmatz auf die Stirn
und sagte: »Gut, aber ich komme morgen wieder. Abgemacht?«
Ihr Opa lächelte müde. »Abgemacht, kleine Maus. Ich freue mich auf dich.«
Dimitra lief die Straße weiter hinunter. Am Ende der Straße musste sie links
abbiegen, dann war sie zu Hause. Es war ein Reihenhaus, an dem überall der
Putz abbröckelte. Bei einem Nachbarfenster waren die Fensterscheiben zu
Bruch gegangen und noch nicht repariert worden. Weit und breit war
niemanden zu sehen. Es war viel zu heiß. Alle Bewohner dieser Häuserzeile
hatten sich in ihren Wohnungen verkrochen. Und zuhause waren sie alle.
Zumindest vermutete das Dimitra. Denn sie waren alle arbeitslos. Sie betrat ihre
Wohnung und es erwartete sie das vertraute Bild. Ihr Vater schlief auf dem
Sofa. Vor dem Sofa lag eine leere Ouzoflasche. »Mama?«, rief Dimitra.
»Küche«, rief Mama aus der Küche. Dimitra lief zu ihr. Mama war gerade dabei,
Salatblätter zu waschen. Auf dem Küchentisch lagen ein frisches Brot und
Tomaten. »Wie war’s in der Uni? Ich habe heute Glück gehabt. Ich konnte nach
zwei Stunden anstehen tatsächlich an den Geldautomaten. Und er hat mir
sogar 60 Euro ausgespuckt.«
»Toll, Mama.«
Dimitras Mutter schaute sie erstaunt an. »Ist was?«
»Nein. Alles gut. Es ist nur … Ach, mich kotzt das alles an. Ich war gerade
bei Opa. Er hat keinen Cent mehr und sein Vermieter will ihn aus seiner
Wohnung raus schmeißen. Du bist arbeitslos und wir können uns über 60 Euro
freuen. Papa ist nur noch besoffen. Was ist denn das für eine Perspektive? Ich
muss mich so langsam entscheiden, welche Vertiefungsrichtung ich wählen soll.
Aber egal, was ich wähle, ich werde sowieso keinen Job finden. Hier sind doch
eh alle arbeitslos. Kannst du mir mal erklären, was ich hier für eine Perspektive
habe?«
Ihre Mutter schaute sie betrübt an, sagte aber nichts. Irgendwann drehte sie
sich zur Spüle und meinte: »Hilf mir noch ein wenig. Du könntest den Salat
waschen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 5 -
Montag, 6. Juli 2015, 14:00 Uhr in Singen am Hohentwiel, Deutschland
Die Spuren am Fundort waren längst gesichert, als Kriminalkommissar
Florian Horn am Tatort angekommen war. Die Leichenbestatter sowie der Arzt
warteten nur noch auf ihn. Sie hatten damit gerechnet, dass Florian noch
einmal einen Blick auf die Leiche werfen wollte. Diese war von den
Spurensicherern inzwischen an Land gebracht worden und lag nun ganz am
Rande des Aachufers, dem kleinen Flüsschen, das sich durch die Stadt Singen
schlängelte. Die Leiche war am Stauwehr am Rande des Stadtgartens von
Spaziergänger gefunden worden. Da der Mann mit dem Rücken nach oben im
Wasser gelegen hatte, kamen die Passanten erst gar nicht auf die Idee, ihn
retten zu wollen. Sie riefen direkt im Bestattungsinstitut an, um einen
Leichenwagen mit Sarg zu bestellen. Das Bestattungsinstitut informierte
natürlich umgehend die Polizei, diese wiederum den Notarzt. Nachdem der
Mann an Land gezogen worden war, konnte der Arzt nur noch den Tod
feststellen. Florian schaute sich die Leiche an. Der Mann musste
schätzungsweise um die vierzig Jahre alt gewesen sein. Er besaß einen
akkuraten Haarschnitt, war glattrasiert und hatte neben einem weißen
langärmligen Hemd mit Krawatte eine schwarze Bundfaltenhose an. Dazu trug
er schwarze Schuhe. »Tja, das ist wohl ein Banker oder so etwas in die
Richtung«, meinte Florian. »Vielleicht ist es einer von den Mafiatypen. Ihr habt
ja nicht alle hopsgenommen, letzten Monat«, meinte einer der Bestatter.
»Quatsch. Mafiosos rennen doch nicht mit Anzug und Krawatte herum«,
antwortete Florian spontan, bedauerte seine Äußerung aber sofort. Zum einen
hatte er gelernt, dass es nie gut sein kann, jemanden zu kritisieren, nur weil er
ebenfalls Überlegungen anstellt. Zum anderen fragte er sich, warum es nicht
könnte, dass ein Mafioso in Anzug und Krawatte herumlief. Das Loch in seiner
Stirn, das ganz sicher von einer Schusswaffe her stammte, passte für Florian
mehr zu dem Typ ›Mafioso‹ anstatt zu einem Banker. Andererseits: Wenn ein
Banker das Geld anderer Leute verspielt, muss er sich nicht wundern, wenn er
als Banker auch so aussieht wie dieser Typ da am Boden. Florian hockte sich
hin, um sich die Schusswunde in der Stirn näher anzusehen. Blut befand sich
keines um die Wunde herum. Das war vom Wasser der Aach weggewaschen
worden. Rasch zog sich Florian Latexhandschuhe an und hob behutsam den
Kopf der Leiche. Die Leiche fühlte sich inzwischen einigermaßen kühl an, die
Leichenstarre hatte aber noch nicht eingesetzt. Vorsichtig versuchte er, einen
Blick auf die Rückseite des Schädels zu werfen und sah, was er sehen wollte.
»Glatter Durchschuss.« Vorsichtig legte er den Kopf wieder ab. »Wo ist
eigentlich der Gerichtsmediziner?«, fragte Florian.
»Auf Korsika. Noch zwei Wochen lang, hieß es. Wir haben den Auftrag, die
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 6 -
Leiche ins städtische Krankenhaus zu fahren. Dort würde die Leiche von einem
Gerichtsmediziner aus Freiburg untersucht werden. Der wurde inzwischen
informiert und sei auf dem Weg hierher.«
Florian grinste. Das gerichtsmedizinische Institut in Freiburg wurde von
Professor Dr. Menges geleitet. Dieser rührte in der Regel keinen Finger,
sondern schickte seine Laborassistentin, Sabrina Weber. Das tat Dr. Menges
schon deswegen, weil er auch wusste, dass seine Assistentin eine Beziehung
mit Florians Vater Ernst hatte, der ebenfalls hier in Singen bei der Kripo
arbeitete. Doktor Menges und Florians Vater waren alte Kumpels. Und Sabrina
war ein total durchgeknallter Vogel. Mit ihr zusammenzuarbeiten empfand
Florian immer als witzig. Sabrina war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Im
ganzen Umkreis gab es keine bessere als sie. »Hatte der Mann Papiere bei
sich? Lasst mich raten: Nein, hatte er nicht, richtig?«
»Richtig«, antwortete der Leichenbestatter.
»Dann fahre ich jetzt auf die Wache und gebe schon einmal eine
Beschreibung von dem Toten in unsere Datenbank ein. Vielleicht kann ich ja
schon mal was finden. Sabrina wird wohl in einer Stunde hier sein, wenn sie
sich sofort auf den Weg gemacht hat.«
»Wer ist Sabrina?«
»Ich meine, der Gerichtsmediziner aus Freiburg«, antwortete Florian und
spürte, dass er dabei leicht rot wurde. »In einer Stunde komme ich dann auch
ins Krankenhaus.«
Florian verabschiedete sich und setzte sich in seinen silbergrauen Audi A4,
um mit ihm zur Polizeiwache hinter dem Bahnhofsgelände zu fahren. Dort
angekommen parkte er den Wagen in der Tiefgarage und spurtete über das
Treppenhaus in den zweiten Stock in sein Büro. Dabei kam er an dem Büro
seines Chefs, Kühne, vorbei. Dieser hatte grundsätzlich immer seine Tür zum
Flur offen. Florian hatte manchmal das Gefühl, dass Kühne das nur machte, um
ihn abpassen zu können, wenn Florian daran vorbei lief. Seit dem Fall, dessen
Akten er mit ›Hegau in rechter Verfassung‹ betitelt hatte, war Kühne nicht mehr
besonders gut auf Florian zu sprechen. Aber seitdem der Fall abgeschlossen
war, konnte Kühne nichts Negatives an Florians Arbeit finden, so sehr er auch
suchte.
Florian flitzte an Kühnes Tür vorbei und stürzte sich auf seinen Computer in
seinem
Büro.
Er
rief
X-Pool,
die
Fahndungsdatenbank
der
baden-württembergischen Polizei auf und gab in die Suchanfrage die
Beschreibung ein, wie er die Leiche in Erinnerung hatte. Er musste nur kurz
warten, dann erschien auch schon die Dialogbox am Bildschirm: »Kein Treffer.
Möchten Sie die Suche verfeinern?« Er klickte auf »Nein«, denn er wollte
zunächst noch einmal darüber nachdenken, ob ihm nicht noch irgendein
besonders Merkmal an der Leiche einfallen würde. Natürlich war das lächerlich,
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 7 -
denn die wäre ihm an der Leiche direkt aufgefallen. Florian war routiniert genug,
als dass er direkt an den Leichen nach besonderen Merkmalen Ausschau hält.
»Hallo Florian. Du hast mal wieder einen neuen Fall? Wer ist der Tote?«
Florians Vater, Kriminalhauptkommissar Ernst Horn stand in der Tür. »Hi. Ja.
Und keine Ahnung. Also, ja, ich habe einen neuen Fall und ich habe keine
Ahnung, wer das ist.« Ernst grinste. »Und? Wer ist der Gerichtsmediziner?
Meine müden Augen haben gerade auf WhatsApp eine Nachricht von Sabrina
gesehen, die mich vermuten lassen, dass sie sich auf den Weg nach Singen
macht.« Florian grinste. »Dann wird sie es wohl sein. Ihr Singener Kollege
jedenfalls ist es nicht. Der ist auf Korsika.« »Prima. Nimmst du mich mit, wenn
du ins Krankenhaus gehst?« Florian lachte. »Klar, aber damit eins klar ist.
Sabrina gehört dir, aber der Fall gehört mir. Da brauchst du dich nicht
einmischen, klar?«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 8 -
Montag, 6. Juli 2015, 20:00 Uhr in Singen, Deutschland
Thomas Seiler wusste, dass er alles andere als attraktiv aussah. Er war, um
es kurz und knapp zu beschreiben, fett. Zurzeit brachte er stolze 127
Kilogramm auf die Waage. Er hatte das Problem, dass er sofort schwitzen
musste. Eigentlich bei jeder Bewegung, die er machte. Seine Haare waren
untypisch lang. Weil Seiler ständig schwitzen musste, wirkten sie strähnig und
fettig. Thomas Seiler wusste auch, dass er alles andere als beliebt war. Kurz
und knapp beschrieben war er unter seinen Bekannten - Freunde hatte er keine
- als Arschloch verschrien. Er war jemand, dem die Anderen am Arsch vorbei
gingen. Hauptsache ihm ging es gut. Nun saß er am Tresen seiner
Stammkneipe, dem Gleis 9 und zündete sich mit seinen kurzen Wurstfingern
eine Zigarre an, die er in seinen grinsenden Mund nahm. »Den Griechen geht
es ganz schön dreckig.« Der Wirt, Dennis Kästner, nickte und spülte weiterhin
seine Biergläser im Waschbecken sauber. »Die Idioten haben beim
Referendum mit ›Nein‹ gestimmt. Weißt du, was das heißt? Das heißt, die
fliegen aus dem Euro raus.«
»Glaub ich nicht«, meinte der Wirt mürrisch. Er hatte Mühe, dass beim
Reden seine Zigarettenkippe nicht aus seinem Mund fiel, während er weiter
seine Biergläser wusch.
»Wieso?«
»Weil die anderen die Griechen nicht gehen lassen werden. Ich glaube, die
bleiben. Wahrscheinlich handeln die doch noch einen Kompromiss aus. Aber
die bleiben. Es wird keinen Grexit geben.«
Seiler überlegte kurz, meinte dann aber freudig: »Vielleicht hast du recht.
Das ist mir aber auch egal.« Seiler grinste, zog an seiner Zigarre und versuchte,
dicke Rauchkringel in die Luft zu pusten, was aber nicht klappte. »Ob sie drin
bleiben oder nicht, eines bleibt gleich. Das Geld bleibt für die Leute knapp. Die
werden Schwierigkeiten haben, an Euros ran zu kommen.« »Na, das kann ich
unterschreiben. Das wird so sein.« Seiler grinste noch mehr, nahm seine
restliche Halbe und kippte sie mit einem Zug herunter. Das Glas stellte er vor
Kästner hin und nickte zum Zapfhahn. Kästner nahm ein frisches Glas und
begann, am Zapfhahn die Luft aus dem Bierglas herauszulassen.
»Die werden einiges dafür tun, um an Euros ranzukommen. Ich könnte mir
vorstellen, dass man den armen Menschen hier etwas Arbeit anbieten kann.
Also nicht jedem. Frauen vielleicht - oder Kinder.« Seiler grinste diabolisch, als
er die Frage stellte: »Was hältst du davon?« Kästner schwieg zunächst,
während er weiterhin seine Biergläser spülte, darunter nun auch das gerade
Geleerte von Seiler. Es dauerte eine ganze Weile, dann meinte er: »Ich habe
mir gerade überlegt, ob ich dich rausschmeißen muss. Kinder, das geht gar
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 9 -
nicht. Aber ich tu es nicht. Das mit den Frauen geht in Ordnung. Die können
hinten in der Scheune schlafen. Da können wir ein paar Betten rein stellen.«
»Prima. Dann können wir beide da was aufziehen. Ich kenne da einen
Griechen, der würde uns da helfen.«
»Ach.«
»Na ja, eigentlich hatte er die Idee. Er kennt ja die Situation dort unten
besser als wir. Er würde auch die Frauen rekrutieren. Und wir würden dann den
Verdienst teilen. Aber es wird mit Sicherheit für alle genug übrig bleiben.
Vielleicht setze ich mich auch nächste Woche in den Flieger und fliege nach
Athen, um mir die Lage mal direkt vor Ort anzusehen.«
»Nimm aber genug Bargeld mit. In Griechenland gibt es nämlich keins
mehr.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 10 -
Dienstag, 7. Juli 2015, 13:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Dimitra war zuhause, saß im Wohnzimmer in einem Polstersessel und las
ein Buch. Heute Morgen war sie wie gewohnt zur Uni gegangen, doch diese
war geschlossen. Die Professoren hatten, so hatte es Dimitra verstanden, seit
längerem kein Gehalt mehr bekommen und deswegen würden sie nun keine
Vorlesung mehr geben. Solange nicht, bis sie wieder Geld bekommen würden.
Also lief Dimitra wieder nach Hause. Beim Rückweg hatte sie bei ihrem Opa
vorbei schauen wollen, doch anscheinend war er nicht zuhause gewesen.
Dimitra machte sich darüber keine Gedanken, schließlich war es noch recht
früh gewesen, es war noch nicht heiß und Opa konnte ja nicht damit rechnen,
dass Dimitra schon so früh bei ihm vorbei schauen konnte. Wahrscheinlich
versuchte er, eine Bank zu finden, die geöffnet hatte, damit er wieder an etwas
Geld herankam. Oder war einfach so spazieren gegangen.
Gerade kam ihre Mutter herein. »Hallo. Gute Nachricht. Ich habe wieder 60
Euro vom Automaten erhalten.«
»Prima.«
Dimitras Vater grunzte auf dem Sofa. Er schlief tief und fest und stank nach
Alkohol. Mamas Handy klingelte.
»Maria Zapatoupoulous?«, meldete sie sich. Sie lauschte kurz. Dann
murmelte sie nur: »Oh Gott, oh Gott. Ich komme.«
Sie packte das Handy in ihre Handtasche und murmelte zu Dimitra: »Ich
muss ins Krankenhaus. Opa ist dort eingeliefert worden.«
Dimitra erschrak. »Ich komme mit.«
Ihre Mutter nickte zustimmend.
Das Krankenhaus befand sich zwar ein gutes Stück von der Wohnung der
Zapatoupoulous entfernt. Dennoch liefen sie zu Fuß. Der gelbe Planet zeigte
indes seine immense Kraft und die Sonnenstrahlen knallten auf die Köpfe der
beiden Frauen. Nach einem dreißigminütigen Fußmarsch hatten sie das
Krankenhaus erreicht und wurden bei der Anmeldung in den ersten Stock in
das Zimmer mit der Nummer 1102 geschickt. Als die beiden das Treppenhaus
hochliefen und in den Fluren nach der Zimmernummer Ausschau hielten,
meinte Maria zu ihrer Tochter fassungslos: »So stelle ich mir vor, dass die
Krankenhäuser direkt nach dem Krieg ausgesehen haben.« Dimitra wusste,
was ihre Mutter damit sagen wollte. Die Flure waren mit weißen Fliesen gefliest.
Die Fliesenfugen schienen mehr dunkelgrau als weiß, einige Fliesen waren
kaputt, hatten Risse und einige Ecken waren komplett abgeplatzt. Einige
Deckenelemente fehlten und gelbes Isoliermaterial von Installationsleitungen
hing herunter.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 11 -
Gerade, als die beiden das Zimmer gefunden hatten, stürmte auch schon
eine Frau in einem langen weißen Kittel auf sie zu. »Hallo? Hallo! Bleiben Sie
stehen. Sind sie die Tochter von Herrn Ravdreou?«
»Ja, wieso?«, antwortete Maria.
»Ich bekomme von Ihnen noch 118 Euro. Das haben uns die Medikamente
gekostet.«
»Wie bitte? Mein Vater ist krankenversichert. Wer sind Sie überhaupt?«
Inzwischen war die Frau bei den beiden angelangt. Arrogant postierte sie
sich zwischen die beiden und der Zimmertür, die zu Marias Vater führt.
»Ich bin die behandelnde Ärztin Dr. Papaddimos-Farindreou. Wenn Sie mir
die 118 Euro nicht geben, werde ich die Behandlung sofort abbrechen.«
Dimitras Mutter bekam einen hochroten Kopf. »Ich sagte doch, mein Vater
ist versichert. Haben Sie keine Versicherungskarte von ihm? Außerdem: Was
hat er eigentlich? Was ist denn passiert?«
Die Ärztin lächelte spöttisch. »Das sage ich Ihnen, wenn Sie mich bezahlt
haben.«
»Das ist mir doch zu blöd«, sagte Maria, schubste die Ärztin zur Seite und
hatte gerade die Türklinke in der Hand, als die Ärztin auf sie zuschoss, und sie
derart kräftig zur Seite schubste, dass Maria auf ihre Knie fiel.
»Ich rufe den Sicherheitsdienst«, sagte noch die Ärztin und hatte mit einem
Mal ein Handy in der Hand und wählte eine Nummer.
»Warten Sie«, sagte Maria, während sie sich wieder erhob und ihre
Schultern rieb. Sie musste sich beim Sturz verletzt haben.
»Weshalb nehmen Sie das Geld nicht von der Versicherung?«
Die Ärztin steckte zögerlich das Handy zurück in ihre Kitteltasche. »Weil die
Versicherungen nicht mehr zahlen. Wir nehmen nur noch Bargeld«, antwortete
die Ärztin, diesmal etwas freundlicher. Dimitra hatte das Gefühl, dass das die
Ärztin auch nicht gewollt hatte, dass sich ihre Mutter weh gemacht hatte.
»Und wenn ich Ihnen das Geld gebe? Was bekomme ich dafür?«
»Dann können wir die Behandlung zu Ende führen und Ihren Herrn Vater
heute Abend noch gesund und munter entlassen.«
Maria suche ihn ihrer Handtasche ihr Portemonnaie, suchte ein paar
Scheine zusammen und passend dazu Münzgeld. »Einhundertachtzehn«, sagte
sie und drückte das Geld der Ärztin in die Hand. Diese steckte das Geld in ihre
Hosentasche. »Ihr Vater ist kollabiert. Zu wenig getrunken und nichts gegessen.
Dazu die Hitze. Da musste er ja kollabieren. Seine Nachbarin hatte etwas in
seiner Wohnung poltern gehört. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, in die
Wohnung des alten Herrn zu gelangen, rief sie den Notruf. Dieser ließ sich vom
Schlüsseldienst die Wohnung öffnen und er wurde von Sanitätern bewusstlos
vorgefunden. Er war umgekippt. Beim Fallen muss er sich noch den Kopf an
der Tischkante angeschlagen haben. Wir haben die Wunde versorgt und
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 12 -
genäht. Es waren immerhin vier Stiche notwendig. Die Fäden können nächste
Woche entfernt werden. Und dann haben wir ihm noch an Infusionen gehängt
und päppeln ihn dadurch gerade ein wenig auf. Heute Abend wird er entlassen
werden können.«
»Und die paar Infusionen kosten mich einhundertachtzehn Euro?«, fragte
Maria fassungslos.
»Sie können jetzt zu ihrem Vater«, war die Antwort der Ärztin. Sie schwieg
kurz. Und bevor sie sich umdrehte, um zu gehen, meinte sie noch: »Aber sie
werden sich noch wundern. Der Krankentransport wird auch noch Geld kosten
und der Schlüsseldienst wahrscheinlich auch …«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 13 -
Dienstag, 7. Juli 2015, 17:00 Uhr in Singen, Deutschland
»Wisst ihr eigentlich, warum wir immer einen Mundschutz tragen, wenn wir
die Leichen aufschneiden? Damit wir hinterher das Messer nicht abschlecken.«
»Hoho«, lachten Ernst und Florian, als Sabrina gut gelaunt am
Untersuchungstisch stand und angefangen hatte, die Aachleiche zu
untersuchen. Sabrina nahm das Lanzenthermometer, zielte kurz und stach
dann die Lanze durch die Bauchdecke in die Leber und ließ es stecken.
»Autsch«, sagte Florian. »Weshalb kannst du nicht die Temperatur in
seinem Hintereingang messen? Das wird doch auch manchmal gemacht?«,
fragte Ernst, den Florian mit ins Krankenhaus genommen hatte.
Sabrina, die Laborassistentin der Gerichtsmedizin nickte. »Die
Temperaturbestimmung über die Leber ist genauer. Außerdem muss ihn erst
noch untersuchen, ob er nicht vielleicht Sex hatte.«
»Sex? Ach du meinst, dass er vielleicht mit einem Mann …?«
»Klar, vielleicht ist er ja vergewaltigt worden?« Sabrina sah die kritischen
Blicke der beiden Zuschauer.
»Ich will es ja nur ausschließen«, meinte sie entschuldigend.
»Normalerweise sagt man, kühlt der Körper ungefähr ein Grad Celsius pro
Stunde ab. Dabei müssen wir aber annehmen, dass seine Temperatur exakt
37,2 °Celsius hatte, als er erschossen wurde. Dann stimmt die
Betrachtungsweise nur annähernd, denn die Leichentemperatur passt sich
asymptotisch der Umgebungstemperatur an. Eine Leiche kühlt also am Anfang
schneller aus und nähert sich langsam der Endtemperatur. Der Tote wurde aber
im Wasser gefunden. Das Wasser der Aach ist im Moment nicht so kalt, aber
deutlich kälter als die Umgebungstemperatur.«
»Aber die Leichenstarre hilft uns vielleicht weiter?«, fragte Florian.
»Ach, die gute alte Leichenstarre«, murmelte Sabrina, während sie
inzwischen das Loch in der Stirn mit einer Speziallupe betrachtete. »Die
Leichenstarre ist höchst ungenau. Es kann sogar sein, dass sie unter gewissen
Umständen gar nicht einsetzt, beispielsweise, wenn der Tote ziemlich fett ist.
Und dann ist der Beginn der Leichenstarre mit einem unglaublichen Plus-Minus
zu versehen. Aber gehen wir mal davon aus, dass nach ungefähr sechs
Stunden bei dieser Leiche die Leichenstarre einsetzen würde, dann ist der Tote
noch keine sechs Stunden tot. Aber das Aachwasser hat den Beginn der
Leichenstarre sicherlich verzögert. Trotzdem: Ich bleibe dabei. Der Tote starb
vor ungefähr fünf Stunden.« »Ist das verlässlich?«, fragte Florian. »Nein,
natürlich nicht«, murmelte Sabrina, während sie die Einschussstelle mit einem
Messschieber vermaß. »Das wird dich auch nicht viel weiterbringen, lieber
Florian. Kaliber 38, glatter Durchschuss, Schuss aus nächster Nähe. Mehr kann
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 14 -
ich dir dazu auch nicht sagen.« »Das wird Florian wirklich nicht helfen. Kaliber
38 ist die Massenware der Handfeuerwaffen. Da dürfte es einige davon geben,
auch auf dem Schwarzmarkt«, meinte Ernst nachdenklich. »Ich bin übrigens
mal wieder hervorragend freundlich von meinen Kollegen hier empfangen
worden …«, ärgerte sich Sabrina mit einem Mal. »Dieser arrogante Sack von
Chirurg.« »Du weißt doch, die in Singen sind der Meinung, sie könnten die
Leichen selbst untersuchen und sehen dich als Bevormundung, wenn du extra
aus der Uniklinik Freiburg kommst«, meinte Ernst beschwichtigend.
»Ich kann auch nichts dafür, dass Singen keine eigene Gerichtsmedizin hat.
Und diesmal ist ja sogar der Pathologe im Urlaub. Hätte es der Chirurg selber
machen wollen, oder was?«
»Das weis ich doch nicht, fang doch nicht mit mir an zu streiten. Ich kann
nichts dafür.« Ernst hob abwehrend beide Hände vor sich.
»Apropos Chirurg. Wisst ihr eigentlich, wie viele Chirurgenwitze es
eigentlich gibt?«, fragte Sabrina.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich tausende«, antwortete Ernst.
»Nee, nur drei. Der Rest ist alles wahr.« Die drei lachten. Sabrina begann,
den toten Körper nach unten hin zu untersuchen - die Augen, die Nase, den
Mund und die Ohren, den Hals, die Arme und den Rumpf. Als sie an seinen
Penis angekommen war, meinte sie nur zu Ernst »Da weiß ich aber was
Besseres zum Untersuchen. Das machen wir mal nachher, zur Vorsorge.« Sie
schaute sich noch die Beine und die Füße an, dann bat sie die beiden, ihr beim
Umdrehen der Leiche zu helfen. Sie selbst nahm den Kopf, Ernst stellte sich in
die Mitte und Florian packte die Leiche an den Beinen. Sabrina zählte auf drei,
dann hievten sie die Leiche herum, so dass sie mit dem Gesicht nach unten zu
liegen kam. Auch hier arbeitete sie sich behutsam von oben nach unten. Am
After stellte sie, wie am Rest des Körpers auch, keine weiteren Verletzungen
fest. Besondere körperliche Merkmale konnte sie auch keine entdecken. Florian
hatte gehofft, dass der Tote irgendwo tätowiert war oder ein ausgesprochen
ausgeprägtes Muttermal hatte. Aber es gab nichts.
Sabrina befrachtete sich noch einmal den hinteren Schädelteil genauer. Sie
griff zur Lupe und begann, die Haare des Toten zur Seite zu drücken.
»Irgendetwas ist da. Eine Schürf- oder Platzwunde, oder so was.« Sie
untersuchte die Stelle noch etwas, kam dann aber zu dem Entschluss, dass das
wohl nichts Besonderes sei. Der Tote konnte sich überall vorher gestoßen
haben. Immerhin, Sabrina war sich sicher, dass der Tote sich diese Schramme
vor seinem Tod eingefangen hatte.
»Tja, zum Glück ist das dein Fall und nicht meiner, wie wir schon festgestellt
haben«, meinte grinsend Ernst und kicherte.
Florian war nicht zum Kichern zumute. Im Moment war er einigermaßen
ratlos, wie der den Toten identifizieren sollte. »Tja, Flo. Jetzt hilft dir nur der
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 15 -
Tatort weiter. Hast du den schon?«, fragte Sabrina, während sie ihre
Latexhandschuhe in von ihren Händen direkt in den Abfalleimer streifte. »Nein.
Im Moment habe ich keine Ahnung. Und keinen Plan.«
»Zum Glück ist das dein Fall und nicht meiner«.
Florians Vater grinste dabei von einem Ohr zum anderen, als er das sagte.
»Schraub mal deinen Sarkasmus zurück und hilf ihm lieber«, pflaumte Sabrina
Ernst an. Florian lachte. »Ne, lasst mal. Was macht ihr heute Abend?« Sabrina
grinste und umklammerte mit ihren Armen von vorne Ernst. »Das willst du gar
nicht wissen. Ich bin für medizinische Untersuchungen hier.«
»Ich dachte, wir könnten noch zum etwas trinken nach Radolfzell«, meinte
Ernst. Sabrina drückte Ernst einen Schmatz auf die Lippen. »Also gut. Und du,
Floh? Was machst du?«
»Ich werde mal zurück ins Büro fahren und mal schauen, was sich da so
ergeben hat.«
»Ich schlage vor, dass wir uns morgen früh bei Floh noch einmal im Büro
treffen. Einverstanden?«
Die Drei verabredeten sich um 9:00 Uhr bei Florian im Büro und verließen
das Krankenhaus. Im Büro angekommen lag ein Zettel auf Florians
Schreibtisch. Eine Frau würde ihren Mann vermissen. Florian wusste, dass
seine Kollegen niemals eine Vermisstenanzeige aufnehmen würden, nur weil
der Ehemann ein paar Stunden zu spät nach Hause kam. In diesem Fall war
dieser Ehemann nicht zum Mittagessen erschienen. Und danach sei er auch
nicht mehr erreichbar gewesen. Für Florian lag der Verdacht nahe, dass es sich
bei dem Vermissten um Florians Toten handeln könnte. Florian druckte sich
über seinen Fotodrucker vom Handy ein Foto der Leiche aus und steckte es
ein. Anschließend fuhr er zu der Frau in die Bodenseestraße in Böhringen, die
die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Die Familie hieß Vogler. Die Frau
hieß Anna Vogler und der vermisste Ehemann und vielleicht auch Florians
Aachleiche war ein Frank Vogler.
Böhringen war ein kleines Nachbarstädtchen von Singen und lag direkt
zwischen Singen und Radolfzell. Da Böhringen keine eigene Polizeidienststelle
hatte, hatte sich die Frau entscheiden müssen, ob sie lieber in Singen oder in
Radolfzell die Vermisstenanzeige aufgeben wollte. Aus Florians Sicht hatte sie
sich zum Glück für Singen entschieden gehabt. Denn so konnten Florians
Kollegen direkt reagieren und ihm diese Information zuspielen.
In Böhringen angekommen fand er ein kleines nettes Häuschen vor, mit
einem gepflegtem Garten und einer frisch gestrichenen Fassade. »Na, dann
schauen wir mal hinter die frisch gestrichene Fassade«, dachte Florian und
klingelte an der Klingel, die sich an dem kleinen Mäuerchen mit dem bereits
offen stehenden Gartentor befand. Schon ein paar Sekunden später öffnete
eine gut gekleidete Frau um die Vierzig die Haustüre. »Sind sie von der
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 16 -
Polizei?«, fragte sie freundlich und erwartungsvoll.
»Kriminalkommissar Horn«, antwortete Florian und hob dabei seinen
Dienstausweis hoch, den die Frau auf die Entfernung garantiert nicht lesen
konnte. Dabei lief Florian durch den kleinen Garten hindurch zur Haustüre. Die
Frau begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck. »Darf ich reinkommen?«,
fragte Florian.
»Gerne. Kommen Sie ins Wohnzimmer. Darf ich Ihnen etwas zu trinken
anbieten?«
Florian hätte bei der Hitze gerne ein Wasser genommen, doch er beschloss,
gleich zur Sache zu kommen. »Können wir uns setzen?«
»Nehmen Sie Platz, wo sie möchten.« Florian setzte sich im nett
eingerichteten Wohnzimmer in den weißen Ledersessel. Kaum hatte er Platz
genommen, spürte er, wie bequem dieser Sessel war und mit welcher Qualität
er hergestellt wurde. Das Leder fühlte sich ganz weich und samtig an. »Bevor
ich beginne, möchte ich noch einmal sicherheitshalber fragen: Sie sind Frau
Vogler, die Ehefrau von dem vermissten Frank Vogler?«
Die Frau lächelte ihn freundlich an. »Ja. Ich bin Anna Vogler, die Ehefrau.«
Es war selten, dass ihn bei solchen Gesprächen die gegenübersitzenden
Menschen derart offen und freundlich anschauen. Die freundlich auf ihn
ruhenden Augen brachten Florian etwas aus der Fassung und er wusste nicht
so recht, wie er nun anfangen sollte.
»Frau Vogler, es ist so, dass Ihr Mann … Also. Es könnte sein, dass … Ich
muss sie bitten, dass Sie sich dieses Foto anschauen. Es könnte sich um Ihren
Mann handeln. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass es ein grausames Foto
ist.«
Er hatte ihr hilflos das Bild hingestreckt. Sie nahm es entgegen und
betrachtete es interessiert. Nach einer kurzen Weile meinte sie: »Ja. Es ist mein
Mann.«
Sie senkte das Bild und wirkte etwas betroffen, aber auch sehr gefasst.
»Schrecklich. Wann haben Sie ihn gefunden? Und wo?«
Florian war von der gefassten Reaktion überrascht. »Wir fanden ihn vor
ungefähr einer Stunde. Zeugen haben ihn in der Aach gefunden?«
»In der Aach? Das tut mir leid. Frank hasste Wasser.«
»Frank hasste Wasser? Das ist alles?«, fragte Florian entsetzt.
Frau Vogler kicherte. »Ach Herr Horn. Jetzt verstehe ich. Ich hätte jetzt
entsetzt sein sollen oder in große Trauer verfallen. Entschuldigung, dass ich
nicht in diese Schublade rein passe. Ich glaube, dass ich das erklären muss.
Frank und ich haben uns schon seit langer Zeit auseinander gelebt. Wir fanden
uns am Schluss sympathisch, mehr aber auch nicht. Frank arbeitete als
irgendwas und ich habe eine gut laufende Boutique im LagoMax in Konstanz
mit 17 Angestellten. Da habe ich jede Menge um die Ohren. Dass Frank
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 17 -
erschossen wurde, finde ich schrecklich. Aber auch nicht schrecklicher, als
wenn ich hören würde, dass der Ehemann meiner Nachbarin erschossen
worden wäre.«
»Frau Vogler, durch Ihre Ausführungen haben sich bei mir mehrere Fragen
ergeben. Können Sie sie mir beantworten?«
»Wenn Sie sie mir stellen?«
»Was arbeitete Ihr Mann genau?«
»Er sagte, er sei Beamter und arbeite für ein Ministerium in Stuttgart.«
»Sie wissen gar nicht genau, als was Ihr Mann arbeitete?«
»Ich glaubte es ihm nie. Er arbeitete nämlich sehr oft hier in seinem Büro.
Und manchmal war er mehrere Tage auf Dienstreise. Für einen Beamten fand
ich das immer seltsam.«
»Sie sagten auf der Polizeiwache, sie hätten ihn zum Mittagessen
vermisst.«
»Das stimmt ja auch. Wenn er hier in Böhringen war, kam er immer zum
Mittagessen.«
»Wenn er hier in Böhringen arbeitete, dann arbeitete er außer Haus? Hatte
er hier ein Büro angemietet?«
»Nein, in seinem Büro im Keller. Das sagte ich doch gerade. Aber er kam
nicht zum Mittagessen.«
»Also war er einfach verschwunden?«
»Sie sind ein ganz schlauer. Das habe ich gleich gemerkt.« Frau Vogler
schaute ihn freundlich in die Augen. Florian war das unangenehm. Er drehte
sich mit seiner Befragung im Kreis.
»Meine Kollegen hatten verstanden, dass ihr Ehemann nicht zum
Mittagessen nach Hause gekommen war.«
»Das ist die Interpretation ihrer Kollegen. Gemeint hatte ich, dass mein
Mann nicht zum Mittagessen nach oben kam. Er war weg.«
»Dann habe ich das jetzt verstanden. Danke. Sie haben mir sehr geholfen.
Das wäre es für das Erste. Ich denke, wir werden uns noch ausführlicher
darüber unterhalten müssen. Ach ja. Ich muss Sie bitten, dass Sie im Laufe des
Tages zum Hegauklinikum fahren und dort ihren Ehemann identifizieren.«
»Selbstverständlich. Ich wollte ihn sowieso noch einmal sehen. Ich begleite
Sie noch zur Tür.«
»Vielen Dank. Aber ich finde alleine heraus.«
Florian streckte ihr zum Abschied die Hand hin und verließ dann das
Wohnzimmer. Er drehte sich noch einmal um. »Frau Vogler, eine Frage hätte
ich noch. Wenn Sie normalerweise in Konstanz arbeiten, weshalb kochen Sie
sich dann in Singen für sich und ihrem Mann zu Mittag?«
»Ich sagte doch, ich habe 17 Angestellte. Da darf ich mir sogar erlauben,
Urlaub zu machen. Zwei Wochen gönne ich mir. Eine davon ist vorbei.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 18 -
Florian verabschiedete sich nun endgültig und fuhr zurück zur Polizeiwache.
Er war äußerst unzufrieden, denn er konnte das gerade geführte Gespräch kein
bisschen einordnen. Anna Vogler hatte ganz anders reagiert, als er erwartet
hatte. Sie hatte aber alle seine Fragen schlüssig beantwortet. Anna Vogler war
sicherlich eine ganz ungewöhnliche Frau.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 19 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 08:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Maria Zapatoupoulou war gerade dabei, im Schlafzimmer einen Koffer zu
packen, als Dimitra hereinkam.
»Was machst du?«, fragte Dimitra einigermaßen erstaunt.
»Ich werde für ein paar Tage nach Deutschland fahren. Ich habe gestern
jemanden kennen gelernt, der mir einen Job angeboten hat. Dazu muss ich
allerdings für ein paar Tage im Monat nach Deutschland«, antwortete Dimitras
Mutter freudestrahlend. Dimitra hatte sie schon seit langem nicht mehr so
freudestrahlend gesehen.
»Aha. Und was soll das für ein Job sein?«
»Keine Ahnung. Irgendwas mit Dienstleistung. Aber sie brauchen dazu
griechische Muttersprachler.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Ich hatte gestern in der Zeitung eine Kleinanzeige gesehen und dort
angerufen. Wir hatten uns dann am Abend bei Giorgos in der Kneipe
verabredet, um die ersten Details zu klären. Da kam dann ein Typ, der als
Agent für internationale Unternehmen arbeitet und der vermittelt und handelt mit
Arbeit und Waren. Ein Generalvertreter sozusagen.«
»Mir kommt das alles komisch vor.«
»Mir auch. Aber er sagt, ich solle mir das Mal anschauen. Und wenn es mir
gefällt, dann kann ich den Job haben. Bis zu 3.000 Euro könne ich im Monat
verdienen und ich sei kranken- und rentenversichert.«
»Das klingt ja wirklich toll. Und wie oft musst du dann wie lange nach
Deutschland?«
»Das sei Verhandlungssache. Deswegen soll ich sofort nach Deutschland,
damit dann das dort beredet werden kann. Ich habe von dem Typ auch schon
ein Flugticket bekommen.«
»Und wohin nach Deutschland? Berlin, oder München?«
»Nein, an den Lake of Constanz, oder auf Deutsch heißt er ›Bodensee‹.
Ach, keine Ahnung, wo das sein soll. Ich soll in eine Stadt, die ›Singen‹ heißt.«
Dimitra zuckte mit den Schultern. Von dieser Stadt hatte sie noch nie gehört.
Auch den Bodensee kannte sie nicht.
»Wo ist eigentlich Papa? Er liegt gar nicht auf dem Sofa.«
»Der Ouzo ist alle. Ich nehme an, er besorgt sich ein paar neue Flaschen.«
»Und wann fliegst du?«
»Sofort. Sobald ich meinen Koffer fertig gepackt habe, muss ich zum
Flughafen. Hast du für mich noch etwas Kleingeld für das Taxi? Ich bin ehrlich
gesagt pleite. Ich musste den Rest für Opas Krankenhaus zahlen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 20 -
»Reichen zwanzig Euro? Soviel hätte ich noch.«
Dimitras Mutter nickte. Dimitra holte die zwanzig Euro und gab sie ihrer
Mutter. Maria hatte inzwischen ihre Sachen gepackt und die beiden
verabschiedeten sich. Marias Mutter versprach noch, sich sofort per WhatsApp
zu melden, wenn sie in Stuttgart landen würde und auch sobald sie die
Gespräche geführt worden wären und sie wüsste, wann sie wieder
heimkommen würde.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch schaute Dimitra ihrer Mutter nach, wie
sie in ein Taxi stieg und davon fuhr.
Dimitra würde vergeblich auf eine Nachricht ihrer Mutter warten.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 21 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 13:00 Uhr in Singen, Deutschland
Kästner, der Wirt vom Gleis 9, grinste und drückte seine Kippe im
Aschenbecher aus, der auf dem Tresen stand. Sofort zündete er sich den
nächsten Glimmstängel an. Dann nahm er einen Zettel und schrieb darauf:
»Bitte Bier selber zapfen. Bin hinten in der Scheune. Zum Zahlen bitte
rufen.« Er legte den Zettel auf den Tresen und lief nach hinten in die
angrenzende Scheune, die er normalerweise als Vortrags- und
Versammlungssaal nutzte, denn er hatte in dieser Scheune eine kleine Bühne
mit einem Rednerpult und Lautsprecher installiert. Vor einem Jahr hatte er in
dieser Scheune ganz schön Ärger gehabt. Sein Lieblingsverein, der ›Deutsche
Hohentwiel‹ hatte in dieser Scheune eine Informationsveranstaltung, als ein
junger Polizist die ganze Veranstaltung aufmischte. Und dieser Polizist, Horn
hieß er, hatte zuvor ein Vereinsmitglied kaltblütig erschossen gehabt. Soweit
Kästner wusste, lief dieser Polizist immer noch frei herum. Nicht einmal vom
Dienst war er suspendiert worden. Kästner verstand das nicht, doch er hatte
jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er wusste nur, dass nur ein toter Bulle
ein guter Bulle war. Kästner schloss die Tür zwischen Scheune und Kneipe.
Das, was er nun vorhatte, war nicht gerade für die allgemeine Öffentlichkeit
bestimmt. Er hatte vier alte Metallbetten aus der gerade geschlossenen
Jugendherberge organisiert und in die Scheune gestellt. Er griff in die
Plastiktüte, die er in der Scheune abgestellt hatte, und holte Handschellen
daraus hervor. Die ganze Tüte war voll mit soliden Handschellen. Allesamt
stammten sie aus dem Restbestand der NVA, der Nationalen Volksarmee der
ehemaligen DDR. Handschellen waren nicht die einzigen Überbleibsel des
ehemaligen Kommunistenstaates, die er für günstiges Geld eingekauft hatte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 22 -
An allen vier Metallbetten hatte er an jeden Bettpfosten die Handschellen
geschnallt. Seiler hatte ihm die Nachricht zukommen lassen, dass sich der erste
Fisch in seinem Netz verfangen hatte. Und wenn Seiler die politische und
wirtschaftliche Situation richtig deutete, würden noch zahlreiche folgen. Kästner
nahm seine inzwischen bis zum Filter herunter gebrannte Kippe und schmiss
sie auf den Lehmfußboden, wo er sie austrat. Reflexartig griff er zu seiner
Zigarettenschachtel in der Hosentasche und fischte nach einer neuen Zigarette,
die er auch sogleich anzündete. Die Tür zur Kneipe öffnete sich und ein
kahlrasierter Teenager streckte seinen Kopf rein. »Dennis, ich will zahlen«,
sagte er. Seine Stimme überschlug sich. Der Knabe war mitten im Stimmbruch.
»Was haste denn gehabt?«, fragte Kästner genervt. Er hatte jetzt keine
Lust, zurückzulaufen. Er war mit Wichtigerem beschäftigt.
»Zwei Bier.«
»Sonst nix?«
»Na ja, ich hab noch von dem Korn probiert.«
»Leg das Geld auf den Tresen.«
Der Teenie verschwand.
Kästner überlegte. In den Nachrichten hatte er gehört, dass sich einige
europäische Staaten zu Recht darüber ärgerten, dass Griechenland die
Milliardensubventionen nur so hinten rein gestopft bekämen. Gerade Bulgarien
und noch andere Länder seien viel ärmer und die jeweilige Bevölkerung auch.
Im Vergleich zu deren Bevölkerung würde die griechische Bevölkerung immer
noch im Schlaraffenland leben. Wenn das so wäre, dann müsste es doch
möglich sein, in Bulgarien ebenfalls Frauen ködern zu können. Kästner
beschloss, diese Länder ins Auge zu fassen. Das würde er allerdings ohne
diesen Wichtigtuer von Seiler machen. Und das Geld, das er mit diesen Mädels
verdienen würde, würde er auch nicht mit Seiler teilen müssen. Doch als Erstes
würde er noch mehr Betten benötigen. Noch viel mehr.
Wieder öffnete sich die Tür zur Kneipe. Seiler kam in die Scheune gelaufen.
In der Hand hielt er ein Weizenbierglas.
»Na?, alles vorbereitet?«, fragte er.
»Klar«, antwortete Kästner knapp. »Jetzt brauchen wir nur noch Kunden.
Und die Ware.«
»Die Ware hole ich jetzt in Stuttgart ab. Dann werde ich mit ihr noch essen
gehen, und wenn sie etwas trinkt, wird sie mit einem Male sehr müde werden,
sehr müde. Dann komme ich mit ihr hierher. Wenn sie ruhiggestellt ist, macht
sie auch nicht so viel lärm, wenn ich sie hier herein schleife. Mal im Ernst:
Deine Kneipe ist aber auch wirklich bescheuert gelegen. Genau gegenüber von
einer Polizeistation. Schon mal an einem Umzug gedacht?«
»Zwischen der Polizeiwache und meiner Kneipe liegen die Straße und eine
riesengroße Hecke. Die können nicht sehen, was hier läuft, das weißt du. Und
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 23 -
wo finde ich noch so eine billige Pacht, in der eine Kneipe und ein Vortragssaal
dabei sind.«
»Vortragssaal nennst du den Schuppen? Spinnst du? Bei der letzten
Veranstaltung hatte es durch das Dach durchgeregnet und der Lehmboden war
komplett aufgeweicht. Dadurch war mein Stuhlbein in den Boden versunken
und ich wäre beinahe mit ihm umgekippt.«
Kästner lachte. »Du warst besoffen. Du verträgst nämlich nichts mehr.«
»Dich trinke ich immer noch unter den Tisch.«
»Wetten, nicht?«
»Wette gilt. Aber jetzt muss ich unseren Goldschatz abholen. Ich komme
dann so gegen zehn Uhr heute Abend.«
Kästner kramte in seiner Hosentasche und zog einen Schlüssel heraus, den
er Seiler zuwarf. Geschickt fing er ihn mit einer Hand auf.
»Wenn das Mädchen halb bewusstlos ist, dann nimm den Seiteneingang
zum Parkplatz. Noch was: Nimm ihr so schnell wie möglich ihr Handy weg und
schalte es ab.«
»Klugscheißer. Von dir brauche ich keine Tipps. Ich mache den Job nicht
zum ersten Mal.«
Seiler drehte sich um und verschwand durch die Tür in die Kneipe.
»Leg die drei Euro für das Bier auf den Tresen«, rief Kästner ihm noch
hinterher, wohl wissend, dass Seiler das nicht machen würde.
Kästner lief in die Küche der inzwischen leeren Kneipe und holte dort ein
Geschirrtuch, das er als Knebel verwenden würde. Er wusste, dass Frauen am
Anfang widerspenstig und laut sein können. Aber das würde Kästner ihr schnell
austreiben. Er war sich sicher, dass sie ganz schnell gefügig werden würde.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 24 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 15:00 Uhr in Singen, Deutschland
Die beiden Polizeibeamten verabschiedeten sich von Florian. Dieser hatte
nun Zeit, sich wieder seinem XPool, der Fahndungsdatenbank der
baden-württembergischen Polizei zu widmen. Die beiden Beamten hatten ihm
gerade mitgeteilt, dass es für sie unmöglich gewesen war, Zeugen
auszumachen, zumal sie noch nicht einmal den Tatort wussten. Das war immer
so, wenn es zwar einen Fundort, aber einen zugehörigen unbekannten Tatort
gibt. Die beiden Polizeibeamten hatten schließlich den Spieß umgedreht und
zunächst einmal Florian Hausaufgaben aufgegeben, bevor sie ihren Job
machen konnten. Florian musste zunächst den Tatort und am besten auch den
Tathergang rekonstruieren. Dazu wäre es sinnvoll, wenn er wusste, wer der
Tote überhaupt war. Florian musste zunächst herausfinden, wie der Tote, Frank
Vogler, seinen Unterhalt verdient hatte. In XPool fand er keine Einträge. Er
wählte sich in das Einwohnermeldeamt von Böhringen ein, und schaute dort in
das Melderegister. Dort war er als Beamter geführt, seine Ehefrau als
Geschäftsführerin. Voglers Konten, dessen Einsicht er inzwischen hatte, zeigten
keine besonderen Auffälligkeiten, außer dass er ein recht hohes Gehalt aus
dem Innenministerium bezogen hatte. Somit war sein nächster Dienstgang
geklärt: Er würde nach Stuttgart fahren.
Im Internet suchte er die Telefonnummer des Innenministeriums heraus und
verlangte dort die Personalabteilung.
»Kriminalkommissar Horn aus Singen. Ich hätte gerne gewusst, was die
Aufgabe von Herrn Vogler war.«
Der dortige Beamte schien sich nicht so recht mit dem Computer
auszukennen. Es dauerte eine Weile, bis er nachfragte: »Können Sie mir
sagen, in welchem Referat Herr Vogler arbeitet?«
»Nein. Das will ich ja von Ihnen wissen«, antwortete Florian.
»Ich weiß nicht, ob ich befugt bin, Ihnen diese Auskunft zu geben.«
»Das sind Sie. Herr Vogler ist tot und ich ermittle in dem Mordfall.«
»Mord? Oh Gott oh Gott«.
Es entstand wieder eine Pause. Florian hörte, wie der Beamte die Tastatur
seines Computer bemühte. Dann hörte Florian im Telefon: »Hallo?«
»Ja?«
»Ich habe zwei ›Vogel‹, eine ›Vögele‹, aber keinen ›Vogler‹.«
Florian war genervt. »Das kann nicht sein. Herr Vogler steht auf Ihrer
Besoldungsliste.«
»Tut er nicht«, sagte der Beamte bestimmt und selbstbewusst.
»Natürlich tut er das. Ich habe seine Kontoauszüge.«
»Mmh. Dann bin ich im Moment ratlos.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 25 -
»Können Sie mich mit Ihrem Vorgesetzten verbinden?«
Der Beamte zögerte kurz, stellte aber die Leitung durch. Florian hatte nun
einen forschen, kurz angebundenen Beamten am Hörer.
»Schmid ohne D T«, meldete er sich.
»Horn, Kriminalkommissar. Ich ermittle in dem Mordfall ›Vogler‹. Vogler
bezog von Ihnen Sold in nicht unbeträchtlicher Höhe und ich möchte wissen,
was das Aufgabengebiet von Herrn Vogler war. Ihr Kollege konnte mir das
leider nicht sagen.«
»Ein Moment.«
Florian wartete kurz, dann meldete sich wieder der Beamte. »Tut mir leid,
mein Kollege hat Recht. Wir haben keinen Vogler auf unserer Besoldungsliste.
Wenn Sie möchten, schreibe ich Ihnen eine schriftliche Bestätigung.«
»Sind Sie sich da so sicher?«
»So viel kann man an diesem Computersystem nicht falsch machen. Ich bin
mir einhundertprozentig sicher.«
»Aber in seinen Kontoauszügen steht als Absender ›Innenministerium‹.«
»Herr Horn. Wenn jemand ermordet wird, wie Sie sagen, dann ist das
wahrscheinlich nach Strafgesetzbuch ein krimineller Akt. Wenn jemand in einen
kriminellen Akt verwickelt ist, dann ist sicherlich auch der Absender eines
Geldgebers fälschbar. Was meinen Sie zu meiner gewagten Theorie?«
Florian musste diesem Schmid ohne D T recht geben und legte auf. Er war
so weit wie zuvor. Florian trat auf der Stelle. Er kam in seinem Fall keinen
Schritt weiter.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 26 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 14:00 Uhr in Singen, Deutschland
Maria war nervös, als sie vom Flugzeug aus in die Ankunftshalle des
Stuttgarter Flughafens wechselte. Sie wusste, dass in wenigen Minuten ein
Vorstellungsgespräch beginnen würde, wenn auch ein Inoffizielle. Das offizielle
Vorstellungsgespräch würde wahrscheinlich morgen stattfinden. Doch sie
wusste, dass ihr Gegenüber sie jede Minute beobachten und beurteilen würde.
Es würde ein Vorstellungsgespräch sein, das darüber entscheiden würde, ob
sie zukünftig jeden Monat 3.000 Euro bekommen würde oder nicht. Und
nebenbei würde sie wieder sozialversichert sein. Das war ihre Chance
überhaupt. Mit dem Geld würde sie ihren Vater untersuchen lassen können.
Und sie würde ihrer Tochter Dimitra bei ihrem Studium finanziell helfen können.
Es musste einfach klappen. Maria wusste: Sie hatte nur diese eine Chance.
Sie zog einen kleinen Trolley hinter sich her. Viel Gepäck hatte sie nicht
mitgenommen. Erst beim Packen ihres Trolleys war ihr aufgefallen, dass sie gar
nicht wusste, wie lange sie in Deutschland bleiben würde. Aber dieser
griechische Arbeitsvermittler, mit dem sie sich in einem Kaffee getroffen hatte,
hatte davon gesprochen, dass es nur darum ginge, sich gegenseitig kennen zu
lernen. Sie blieb noch einmal in dem großen weiten Flur zur Ankunftshalle
stehen und suchte in ihrer Handtasche die Visitenkarte des Arbeitsvermittlers.
Vielleicht war es gut, wenn sie seinen Namen im Gedächtnis hatte. Sie musste
etwas suchen, bis sie seine Karte gefunden hatte. ›Giorgos Ravdreoum,
Arbeitsvermittlung‹, stand auf dem Kärtchen. Ravdreoum hatte ihr noch erklärt,
sie solle am Flughafen nach einem Mann Ausschau halten, der ein Schild mit
der Aufschrift ›International GmbH‹ in der Hand halten würde. Das sei die
Firma, für die sie arbeiten soll. Nach dem Treffen in diesem Arbeitsvermittler
war Maria unmittelbar danach in ein Internetkaffee gegangen, um dort nach
dieser Firma ›International GmbH‹ zu suchen, doch das war unmöglich. Das
Wort ›International‹ als nahezu einzigen Suchbegriff erbrachte in der
Suchmaschine über eine Million Treffer. Sie suchte eine Stunde lang nach
dieser Firma, musste dann aber abbrechen. Trotz ihrer Nervosität musste sie
schmunzeln. Das würde einer ihrer ersten Verbesserungsvorschläge sein.
Wähle einen Namen oder einen Namenszusatz, der in Internetsuchmaschinen
eindeutig gefunden werden kann. Vielleicht würde Maria diese Idee noch heute
oder morgen beim Vorstellungsgespräch verwenden können.
Inzwischen hatte Maria, während sie langsam weiter gelaufen war, in ihrer
Handtasche auch Ihr Handy gefunden und schaltete den Flugmodus aus.
Gleichzeitig hatte sie die Ankunftshalle erreicht. Sie überlegte kurz, ob sie noch
schnell ihre Tochter anrufen soll, um ihr zu sagen, dass sie gut in Deutschland
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 27 -
angekommen sei, doch dann sah sie schon einen etwas kräftig gebauten Mann
mit einem kurzen weißen Hemd und einem Schild in der Hand mit der Aufschrift
›International GmbH‹ zwischen anderen Schildträgern stehen. Er blickte
erwartungsvoll Maria an. Wahrscheinlich war er sich ziemlich sicher, dass sie
die Person sein musste, auf die er wartete. Erschrocken ließ Maria ihr Handy in
ihre Handtasche gleiten. Schnell setzte sie ein freundliches selbstbewusstes
Lächeln auf und lief zielstrebig auf diesen Herrn zu.
»Guten Tag. Mein Name ist Zapatoupoulous. Maria Zapatoupoulous.«
Der schwergewichtige Mann, der dicke Schweißperlen auf seiner Stirn mit
wenigen Haaren darauf hatte, erwiderte: »Herzlich willkommen bei uns in
Deutschland, Frau Zapatoupoulous. Mein Name ist Thomas Seiler und soll Sie
im Namen der International GmbH herzlich willkommen heißen. Hatten Sie
einen guten Flug?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er nach ihrem Trolley. Maria ahnte
schon, dass es außerhalb des Flughafengebäudes heiß sein würde. Daher
würde sie noch dankbar sein, wenn sie ihren Trolley nicht auch noch hinter sich
herziehen müsste. Maria bedankte sich und betonte, wie entspannt der Flug
gewesen sei.
»Wissen Sie schon über unseren geplanten Ablauf bescheid?«, fragte Seiler
höflich.
»Nein, ehrlich gesagt noch gar nicht. Ich habe keine Ahnung, was mich
erwartet.«
Seiler lächelte und schaute Maria freundlich an, während sie nach draußen
gingen. Sie mussten über eine kleine Brücke, um zum Parkhaus zu gelangen.
Kurz vor dem Ausgang stoppte Seiler abrupt.
»Wir haben jetzt eine zweistündige Fahrt vor uns. Wir fahren nach Singen.
Dort essen wir zu Abend und anschließend fahre ich Sie ins Holiday Inn, zu
Ihrem Hotel. Morgen früh können Sie in aller Ruhe frühstücken und ich werde
Sie um neun Uhr am Hotel abholen. Dann fahre ich Sie zur Firma. Ich denke,
dass das Gespräch bis zum Mittag gehen wird, dann können wir noch
gemeinsam Mittag essen und Sie können sich die Stadt etwas anschauen.
Übermorgen fahre ich Sie dann wieder zum Flughafen. Wenn Sie Glück haben,
buchen wir bereits zusammen den nächsten Flug von Athen nach Stuttgart.«
Maria lachte. »Das klingt ja vielversprechend.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie sich vielleicht noch einmal die Hände
waschen gehen, oder so etwas Ähnliches. Die Toiletten auf den Autobahnen
sind bei uns meistens nicht so appetitlich.«
Maria war dankbar. In der Tat hatte sie bemerkt, dass sie einen gewissen
Druck auf ihrer Blase bemerkt. Wenn sie noch Zeit gehabt hätte, die Toilette zu
besuchen, bevor sie diesen Herrn Seiler in der Ankunftshalle gefunden hätte,
dann wäre sie noch vorher gegangen. Aber jetzt fand sie es äußerst nett von
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 28 -
ihm, dass er es von sich aus anbot, noch etwas zu warten.
»Wenn Sie möchten, können Sie mir Ihre Handtasche geben. Ich passe auf
sie auf.«
Dankbar reichte sie ihm ihre Handtasche, die er sich leger über die Schulter
hängte und anschließend beide Hände in die Hosentasche schob. Maria beeilte
sich, die Toilette zu finden. Als sie zurückkam, stand Seiler immer noch
geduldig mit den Händen in den Hosentaschen und der umgehängten
Damenhandtasche an der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte.
»Vielen Dank. Aber das hat gut getan«, sagte sie.
»Aber gerne doch. Ich weiß doch, wie das ist. Sind Sie eigentlich nervös?
Das brauchen Sie nicht. Sie werden sehen, es ist alles ganz locker. Kommen
Sie, wir gehen zum Auto.«
Draußen vor der Halle bekamen beide durch die Hitze einen Schock. Es war
unsäglich heiß. Regelrechte Schweißbäche strömten aus der Haut von Seiler
und vom Kinn tropfte der Schweiß auf seinen Bauch. Im Nu war sein Hemd
nahezu transparent, denn es klebte von allen Seiten an ihm. Auch Maria hatte
mit dieser Hitze zu kämpfen.
»Wow. Bei uns in Griechenland ist es auch heiß. Aber hier ist es so enorm
drückend. So schwül.«
Seiler nickte. »Ja. Das ist immer so. Das ist gar nicht meine Jahreszeit. Da
kann ich machen, was ich will.«
Im Parkhaus angekommen fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage
und Seiler warf Marias Trolley auf den Rücksitz in einen großen silbergrauen
Mercedes GL. Dann öffnete er ihr die Beifahrertür. Als Maria einstieg,
bewunderte sie die Ausstattung. Alles schien nagelneu und der Wagen besaß
wahrscheinlich auch eine Exklusivausstattung. Maria war Geschäftsfrau genug,
um zu wissen, dass dieses Fahrzeug wahrscheinlich um die 70.000 Euro
gekostet haben musste. Seiler stieg ebenfalls ein. Als er Marias Gesicht sah,
lachte er.
»Ja. Die International GmbH kann es sich nicht leisten, an den Fahrzeugen
zu sparen. Für die Zeit, wo Sie in Deutschland sind, bekommen Sie auch einen
Dienstwagen. Mit Komfortausstattung versteht sich.«
Seiler startete den Motor und angenehme kühle Luft strömte aus der
Klimaanlage in die Fahrgastzelle. Während Seiler zunächst den Wagen aus
dem Parkhaus manövrierte und später aus dem Stuttgarter Flughafenareal, um
Richtung Singen anzusteuern, fing er an, Maria auszufragen.
»Erzählen Sie etwas über sich. Was haben Sie bisher gemacht?«
»Ich war Geschäftsführerin einer Boutique in Athen. Diese lief gut, bis die
Krise kam und die Troika die Sparpakete uns Griechen aufdiktierte. Dann hatten
alle kein Geld mehr für schöne Kleidung und ich musste meinen Laden
aufgeben. Jetzt habe ich Schulden, die ich zurückzahlen muss, bin arbeitslos,
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 29 -
habe eine Tochter, die studiert und einen kranken Vater, den ich pflegen muss.«
»Ach herrje. Das klingt ja schrecklich.«
»Ja, wissen Sie: Ich hatte zur Spitzenzeit bis zu 15 Angestellte und einen
Jahresumsatz von über zwei Millionen Euro.«
Seiler runzelte währen der Fahrt die Stirn.
»Zwei Millionen? Wie geht denn das? Ich meine, es war ja nur eine
Boutique.«
»Alles exklusive Ware. Ich war bekannt für meine Qualität und meinen
Beratungsfähigkeiten. Ich hatte nur zufriedene Kunden.«
Seiler nickte. »Das ist ja genau das, was wir suchen. Ihr Deutsch ist
übrigens hervorragend.«
Maria lächelte. »Danke. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich schnell meine
Tochter anrufe, um ihr zu sagen, dass ich gut angekommen bin?«
Seiler stutzte kurz, lächelte dann aber entspannt. »Natürlich. Das verstehe
ich doch.«
Maria begann, Ihr Handy in ihrer Handtasche zu suchen, fand es aber nicht.
Erschrocken fuhr sie herum. »Ich glaube, ich habe es verloren«.
»Ihr Handy? Wann hatten Sie es denn das letzte Mal?«, fragte Seiler.
Maria überlegte. »Zu Hause. Ich rief ein Taxi. Und dann hatte ich es im
Flughafen in der Hand. Ich telefonierte zwar nicht, aber ich steckte es in die
Handtasche. Oh Gott. Vielleicht ist es dort neben die Tasche gefallen und ich
habe es nicht gemerkt.«
Seiler lächelte. »Kein Grund zur Sorge. Wenn wir in Singen sind, rufen wir
im Flughafen an. So ein Handy kann sich ja nicht in Luft auflösen. Dann sperren
wir noch die Karte und alles ist gut.«
Schlagartig war sie wieder da, die Nervosität. Marias Fahrer merkte das und
redete beruhigend auf sie ein. »Ich werde mich in Singen sofort darum
kümmern. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Insgeheim hoffte Maria, dass Seiler ihr anbieten würde, sein Handy nutzen
zu dürfen. Doch auf dieses Angebot musste sie noch warten. Fragen wollte sie
ihn nicht. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als still im Auto zu sitzen und
abzuwarten.
»Was ist Ihnen an ihrem neuen Job das Wichtigste?«, fragte Seiler.
Maria konzentrierte sich, bevor sie antwortete. »Der Kontakt zu Menschen.
Ich bin gerne mit anderen Menschen zusammen.«
Seiler lachte. Maria erschauderte. Sie war schon immer mit vielen
Menschen zusammen und sie bildete sich ein, ein guter Menschenkenner zu
sein. Bislang war ihr dieser Seiler sympathisch gewesen, doch diesmal meinte
sie, in seinem Lachen eine gewisse Boshaftigkeit herauszuhören. Seiler
antwortete darauf hin: »Na, Kontakt mit Anderen werden Sie bei diesem Job
garantiert bekommen. Daran soll es nicht fehlen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 30 -
Während Maria noch über seine Antwort grübelte, begann er, weitere
Fragen zu stellen. »Und weshalb Deutschland?«
Maria war kurz irritiert. »Wie meinen Sie das? Ich hatte doch in Athen ihren
griechischen Kollegen kennen gelernt und er hat mir diesen Job angeboten. Ich
meine, ich spreche ganz gut Deutsch. Und dann bietet sich das doch an.«
Maria überlegte kurz, ob das klug war, das anzusprechen, aber bevor sie
nichts sagte, entschloss sie sich zu dieser Aussage: »Außerdem weiß ich nicht,
wie das in Griechenland weiter gehen soll. Vielleicht bekommen wir den Grexit.
Dann habe ich wenigsten einen Job, bei dem ich in Euros bezahlt werde. Das
ist mir irgendwie sicherer.«
Seiler nickte. »Wie sieht es bei Ihnen aus? Finanziell, meine ich.«
Maria lachte ironisch, bevor sie antwortete: »Nicht gut. Ich habe im Moment
noch ungefähr hunderttausend Euro Schulden. Das macht mir aber nichts aus.
Schlimmer ist, dass ich meine Tochter nicht bei Ihrem Studium unterstützen
kann. Es ist hart für meine Tochter ohne finanzielle Unterstützung. Und mein
Vater ist nun krank. Sie können sich nicht vorstellen, wie beschissen derzeit die
ärztliche Versorgung bei uns ist. Die Ärzte wollen Bares. Und genau das habe
ich nicht. Mein Vater auch nicht. Wir kommen ja an kein Geld mehr ran. Gestern
Abend wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und heute Morgen hatte er
wahnsinnige Schmerzen. Für 75 Euro hätte ich ihm ein Schmerzmittel kaufen
sollen. Ich hatte aber kein Geld. Ganz im Ernst. Das wird ein Diskussionspunkt
bei unseren Verhandlungen werden. Ich brauche einen Vorschuss, aber in bar.
Auf dem Konto nützt mir das Geld gar nichts.«
Seiler wirkte kurz irritiert, dann grinste er. »Sie gefallen mir, wenn Sie von
Verhandlungen sprechen. Das klingt gut. Aber etwas anderes: Sie haben eine
Tochter, die ebenfalls Geld braucht? Wie alt ist sie denn und was studiert sie?«
»Sie ist 25 und studiert Maschinenbau im vierten Semester. Weshalb?«
»Vielleicht hätte sie ja Lust, in den Semesterferien nach Deutschland zu
kommen und sich ein paar Euros zu verdienen? Ich glaube, wir hätten
Verwendung für sie.«
Maria strahlte von einem Ohr zum anderen. »Wirklich, das wäre super,
wenn das klappen würde.«
Nach zwei Stunden Autofahrt hatten die beiden endlich die Stadt Singen
erreicht. Nach der langen Autobahnfahrt kam Maria die Fahrt durch die Stadt
als reines Getuckere vor.
»Da drüben ist das Holiday Inn, wo Sie übernachten werden. Aber ich habe
jetzt Hunger. Ich schlage vor, dass wir zunächst in ein nettes Restaurant essen
gehen und anschließend fahre ich Sie in das Hotel, einverstanden?«
Eigentlich hätte sich Maria gerne vor dem Essen etwas frisch gemacht. Und
sie hätte gerne am Flughafen und ihre Tochter angerufen. Aber sie wollte nicht
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 31 -
gegen seinen Vorschlag stimmen und gab sich daher einverstanden.
Seiler suchte und fand einen Parkplatz vor dem Restaurant ›Zapa‹. »Das
Restaurant hat ein superschönes Ambiente. Und schmecken wird es Ihnen
auch«, meine Seiler, während er und Maria aus dem Auto stiegen.
Das Restaurant war es wirklich stilvoll und schön eingerichtet. Sie waren
noch alleine. Außer Ihnen befanden sich keine Gäste im Speisesaal, denn für
ein schönes Abendessen war es eigentlich noch etwas zu früh. Als Maria sich
im Restaurant umblickte, wusste sie, was Seiler mit ›Ambiente‹ gemeint hatte.
Die Einrichtung musste sehr teuer gewesen sein und alles war perfekt
aufeinander abgestimmt. Auf den Tischen lagen weiße Tischdecken und die
Sitzplätze waren mit noblem Geschirr, mehrteiliges Besteck und sowohl Weinals auch Wassergläser eingedeckt. Sie wusste, dass das Abendessen in
diesem Restaurant sicherlich ihr Budget sprengen würde. Maria erschrak sich
bei diesem Gedanken. Doch Seiler schien ihre Gedanken erraten zu haben. Er
wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Gefällt es
Ihnen? Sie sind natürlich zum Abendessen eingeladen. Für mich war das
selbstverständlich, aber ich dachte, ich erwähne es vorsichtshalber noch
einmal.«
Maria bedankte sich. Ein Kellner kam auf sie zu und bat sie, ihn zu
begleiten. Er führte sie an einen Tisch an einem Fenster. Maria nahm Platz und
schaute neugierig aus dem Fenster heraus. Seiler setzte sich ihr gegenüber.
»Darf ich schon etwas zu trinken bringen? Wasser? Es ist heute so heiß.«
Seiler lächelte den Kellner höflich an. »Gerne. Schön kalt, bitte. Und dazu
einen lieblichen Prosecco. Wir möchten anstoßen.«
Der Kellner verschwand, um die Getränke und die Speisenkarte zu holen.
Maria war etwas beschämt, als sie sagte: »Ich müsste noch einmal auf die
Toilette. Ich muss mich noch mal etwas frisch machen. Ich bin gleich wieder bei
Ihnen.«
Seiler nickte verständnisvoll. Auch auf der Toilette bewunderte Maria die
Einrichtung. Sie liebte es, wenn Lokale und Restaurants auch für diese
Örtlichkeiten Liebe zum Detail pflegten. Vor allem musste für Maria alles sauber
sein. »Wenn die Toiletten nicht sauber sind, wie sieht es dann erst in der Küche
aus?«, pflegte sie immer zu Dimitra zu sagen. Sie war sehr zufrieden. Als sie
zurückkam, stand Seiler an der Theke des Restaurants und strahlte Maria an.
»Ich habe gute Nachrichten. Ich habe gerade am Stuttgarter Flughafen
angerufen. Ihr Handy ist gefunden worden. Ich habe veranlasst, dass das
Handy per Eilboten in ihr Hotel gebracht wird. Heute Abend oder spätestens
morgen früh haben sie es wieder.«
»Das ist ja klasse«, sagte Maria voller Freude. »Aber wieso haben Sie von
hier aus angerufen?«
»Ich hatte mein Handy auf dem Schreibtisch liegen lassen. Sonst hätten wir
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 32 -
das doch während der Fahrt schon regeln können. Und Sie hätten Ihre Tochter
anrufen können. Aber das können Sie ja morgen früh nachholen. Jetzt lassen
Sie uns anstoßen und anschließend etwas zu essen aussuchen.«
Sie nahmen wieder an ihrem Tisch Platz. Sowohl das Wasser als auch der
Prosecco stand bereits auf dem Tisch. Seiler hob das Proseccoglas hoch und
hob es Maria hin. »Zum Wohl. Auf Ihr Wohl. Ich habe das Gefühl, dass wir
demnächst eine ziemlich gute Geschäftsbeziehung eingehen werden.«
Maria nippte zunächst an ihrem Glas. Seiler trank es zur Hälfte aus. Der
Prosecco schmeckte ausgesprochen gut und die Kühle in ihrer Kehle tat gut.
Sie nahm noch einmal einen kräftigen Schluck, ehe sie zum Wasserglas griff.
Maria hatte den Tag über wenig gegessen und so war es kein Wunder, dass
bereits das halbe Glas Prosecco seine Wirkung tat. Sie spürte sofort einen
leichten Schwindel und spürte auch, dass ihre Anspannung mit einem Mal von
ihr abfiel. Der Kellner brachte die Speisekarte.
»Na, dann lassen Sie uns was Leckeres aussuchen. Ich persönlich werde
auf die heiße Suppe als Vorspeise verzichten. Mir wäre ein Salat lieber. Wie ist
es bei Ihnen, Maria. Ich darf doch Maria sagen, oder?«
Maria war überglücklich. Alles schien wieder gut zu werden. Bald würde sie
wieder genug Geld verdienen, um ihren Vater zu pflegen und Dimitra bei ihrem
Studium unterstützen zu können. Bei dem Gedanke wurde ihr ganz heiß und
schwummrig.
»Ja. Ich mache es genau so«, sagte sie. Dabei hatte sie aber Mühe, sich zu
konzentrieren. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Sie stellte sich vor, wie sie in
einem Büro saß und mit Landsleuten über irgendetwas verhandelte. Zum
Vertragsabschluss, den Maria vor ihrem geistigem Auge gerade im Namen der
›International GmbH‹ abgeschlossen hatte, gab es vom Chef noch eine
Belobigung.
»Ein Glück, dass wir Sie gefunden haben«, sagte dieser Chef. Dann fiel
Maria ein, dass sie den Chef ja erst noch kennen lernen musste und gar nicht
wusste, wie er aussah. Um das herauszufinden, saß sie gerade mit diesem
Seiler beim Abendessen.
»Ich bin so glücklich«, sagte sie ganz aufgeregt.
Seiler lächelte wieder. »Das merkt man. Lassen Sie uns noch einmal
anstoßen.«
Wieder nahm er das Proseccoglas und hielt ihr es hin. Maria stieß mit ihm
an und trank das Glas mit einem Zug leer. Gleichzeitig meldete sich in ihrem
Gehirn eine Alarmglocke. »Ich glaube, ich habe für heute genug Alkohol. Der
Alkohol haut mich bei dem Wetter total um.«
Seiler lachte. »Das macht doch nichts. Solange es dir dabei gut geht, ist
doch alles in Ordnung.«
Maria wunderte sich für einen Moment, dass Seiler inzwischen komplett auf
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 33 -
das ›Du‹ übergegangen war, dann hatte sie mit einem Mal Lust, vor Freude zu
tanzen.
»Das ist verrückt. Ich bin verrückt. Ich möchte tanzen.«
»Tu es doch. Komm. Lass uns nach draußen gehen, in den Garten. Da
kannst du deiner Freude freien Lauf lasen.«
Seiler stand auf und half Maria vom Stuhl, die gar nicht mehr so sicher auf
ihren Beinen stand. Doch sie gab sich einen Ruck und folgte Seiler, der in einer
Nebentür verschwand. Mit einem Mal stand sie im Garten, in dem sie gerade
noch durch das Fenster hinaus geschaut hatte.
Maria musste tanzen. Sie fühlte sich frei und unbeschwingt. Sie nahm ihre
Arme hoch, versetzte ihren schlanken Körper in eine Drehung und klappte
zusammen. Seiler fing sie gerade noch auf.
»Die Hitze macht deinem Kreislauf wohl ziemlich zu schaffen. Ich bring dich
zum Auto.«
»Nein. Warte«, stieß Maria hervor. Gerade war ihr kurz schwarz vor den
Augen geworden, doch sie kämpfte sich mühsam ihr Bewusstsein zurück. Sie
hing schlaff in den Armen von Seiler. »Davor habe ich meine Tochter immer
gewarnt. Das waren K.-O.-Tropfen«, konnte sie noch flüstern, bevor sie eine
tiefe Nacht umhüllte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 34 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 21:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Dimitra fand das seltsam. Seit Stunden versuchte sie, ihre Mutter auf dem
Handy anzurufen. Doch ihre Mutter musste es ausgeschaltet haben. Dimitra
dachte zunächst, dass ihre Mutter ihr Handy nach dem Flug vergessen hatte,
ihr Handy wieder einzuschalten. Doch in WhatsApp konnte sie sehen, dass ihre
Mutter zuletzt um 14:23 Uhr online gewesen war. Das musste kurz nach ihrer
Landung in Stuttgart gewesen sein. Nun war sie wieder offline. Wenn sie
versuchte, anzurufen, kam vom Telefonanbieter die Mitteilung, dass der
Gesprächsteilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. Und die Ortungsfunktion fand
den Standort nicht - das Handy war komplett ausgeschaltet.
Bisher war ihre Mutter immer darauf bedacht gewesen, sich bei ihrer Tochter
zu melden, wenn sie mal verreiste. Früher, als sie noch ihre Modeboutique
besaß, reiste sie oft durch die ganze Welt. Meist hatte sie sich immer direkt
nach der Ankunft und später am Abend, wenn sie im Hotel war, noch einmal
gemeldet. Da sich ihre Mutter diesmal gar nicht meldete, sorgte bei Dimitra
durchaus für eine gewisse Aufregung.
Sie lief nervös im Zimmer auf und ab, bis sie irgendwann feststellte, dass
das keinen Sinn machte. Dann überlegte sie, wie sie die Zeit sinnvoller nutzen
könnte und beschloss, auch wenn es nun inzwischen spät war, noch einmal
ihren Opa zu besuchen. Immerhin war es heute so heiß gewesen, dass er sich
wahrscheinlich am Mittag hingelegt und geschlafen hatte. Dann würde er jetzt
noch wach sein. Als sie das Haus verließ, empfing sie auf der Straße eine
warme angenehme leicht föhnige warme Luft. Sie brauchte gerade mal zehn
Minuten, bis sie an seiner Haustüre stand. Sie klopfte vorsichtig an die
Haustüre. Als niemand öffnete, klopfte sie lauter. Ihr Opa öffnete immer noch
nicht. Ob er doch schlief? Dimitra trat zu einem der Fenster und schaute hinein.
Sie sah nur ein leeres Wohnzimmer. Nachdenklich lief sie zum nächsten
Fenster und versuchte, durch den Vorhangstoff etwas zu erkennen. Es war die
Küche mit dem Esstisch. Auch hier war alles leer. Bis auf einen großen Körper,
der am Boden lag.
Dimitra erschrak. Sie klopfte an die Fensterscheibe. Die Gestalt am Boden
regte sich nicht. »Opa. Opa. Mach auf. Ich bin’s«, brüllte sie durch das
geschlossene Fenster. Dabei hatte sie nicht wirklich die Erwartung, dass sich
die Situation ändern würde. Sie schaute sich um, ob sie etwas finden würde, mit
dem sie vielleicht die Fensterscheibe einschlagen könnte. Dabei sah sie, dass
zwei junge Männer die Straße entlang auf sie zukamen. Dimitra fand nichts, mit
dem sie werfen könnte, und rannte panisch zur Haustüre und klopfte daran.
»Hilfe. Opa. Mach auf, bitte«, brüllte sie und haute ihre Fäuste gegen die Türe.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 35 -
Die beiden Männer hatten die Situation bemerkt und beschleunigten ihren
Gang.
»Was ist los?«, rief einer von den beiden zu Dimitra.
»Mein Opa liegt bewusstlos auf dem Boden. Er braucht Hilfe.«
Die beiden setzten sich in Trab und hatten schnell Dimitra erreicht.
»Er liegt da drin. In der Küche.« Sie zeigte mit dem Finger auf die Haustüre.
Tränen schossen ihr aus den Augen und liefen ihr die Wangen hinab.
»Ganz ruhig. Ich schaue mal«, sagte der eine und lief zu dem Fenster, an
dem Dimitra zuletzt geschaut und ihren Opa auf dem Boden gesehen hatte.
Dann zog er sein T-Shirt aus und wickelte es sich um die Faust. Sogleich
schoss seine Faust durch das Glas hindurch. Dimitra bemerkte zwar noch, dass
er einen kräftigen durchtrainierten Oberkörper besaß, doch dafür hatte sie im
Moment kein Interesse. Zu zweit begannen sie, die Glasscherben, die noch im
Holzrahmen steckten, herauszubrechen.
»Hallo?«, rief der Mann in das Zimmer, der die Scheibe zerschlagen hatte.
Keiner der beiden warteten ernsthaft auf eine Reaktion, sondern beide
entfernten sorgfältig die Splitter. Es dauerte nicht lange, dann kletterte der Erste
durch das Fenster hindurch und kniete über der reglosen Gestalt.
»Hallo! Hallo! Sagen Sie was. Hallo«, hörte Dimitra den Mann rufen. Dann
rief er zum Fenster raus: »Ruft sofort einen Notarzt. Er lebt noch.«
Der andere Mann hatte schon sein Handy gezückt und rief den Notruf an.
Dimitra hing am Fenster und starrte hinein, während der junge Mann versuchte,
ihren Opa in eine stabile Seitenlage zu legen. Dann entfernte sich der Mann
und Dimitra realisierte, dass er dabei war, die Haustüre zu öffnen. Schnell
rannte sie hin, rannte in das Haus hinein, zu ihrem Opa in die Küche. Sie
beugte sich über die leblos am Boden liegende Gestalt und tastete an seinem
Handgelenk nach seinem Puls. Er lebte. Dimitra bemerkte seinen schlecht
riechenden Atem. Hilfesuchend blickte sie zu dem Mann, der über den beiden
stand und sie anschaute. »Notarzt ist unterwegs«, sagte er nur.
Dimitra tastete nach der Stirn ihres Opas. Sie war kalt und nass vom
Schweiß.
»Er braucht Wasser«.
Schnell stand Dimitra auf, rannte ins Bad, schnappte sich ein Handtuch und
hielt es und den Wasserhahn. Doch es kam kein Wasser. Sie drehte den
Wasserhahn auf und zu. Nichts zu machen. Sie nahm das Handtuch und rannte
in die Küche, um dort das Handtuch unter den Hahn zu heben. Doch auch hier
kam kein Wasser. Opa hatte kein Wasser gehabt. »Ich schau mal nach dem
Haupthahn«, sagte der junge Mann, der draußen den Rettungsdienst angerufen
hatte. Den Weg in den Keller hatte er schon gefunden und lief die Treppe hinab.
Dimitra blieb bei ihrem Opa, während der zweite junge Mann sich an die
Haustüre positionierte. Dimitra hörte eine Stimme aus dem Keller. »Im ganzen
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 36 -
Haus gibt es kein Wasser. Keine Ahnung, was hier los ist.«
Dann kam er wieder die Treppe hoch. Draußen ertönte ein Tumult und es
dauerte nicht lange, bis zwei Sanitäter mit einem mobilen Krankenbett
erschienen. Die Sanitäter drängten Dimitra zur Seite, packten routiniert Dimitras
Opa und hievten ihn auf die Bahre. Sofort verschwanden sie mit ihm aus dem
Haus. Dimitra lief hinterher. Die Sanitäter schoben Dimitras Opa in den
Krankentransporter und machten sich dran, seinen Blutdruck zu messen. Der
zweite Sanitäter begann, eine Infusion zu richten.
»Der Notarzt kommt sofort. Aber ich denke, das ging noch einmal gut«,
meinte der Sanitäter zu Dimitra, während er die Blutdruckmanschette von Opas
Arm abnahm und sein Stethoskop wegräumte.
»Was hat er denn?«, fragte Dimitra besorgt.
»Dehydration«, meinte der Sanitäter. »Das haben wir gerade haufenweise.
Die Wasserwerke haben das Wasser für alle abgeschaltet, die die Rechnung
nicht bezahlt haben. Und Rentner und Arbeitslose kommen ja gerade nicht an
Bargeld ran, so dass sie sich zu trinken kaufen können. Dazu kommt die Hitze,
die gibt denen den Rest. Die Leute trocknen aus, sie verdursten.«
»Das darf doch nicht wahr sein. Wir sind mitten in Europa«.
Dimitras Stimme war ein Mix aus Verzweiflung und Wut. Inzwischen hielt ein
Notarztwagen neben dem Krankentransporter. Der zweite Sanitäter hatte
inzwischen die Infusionsflasche an eine Halterung aufgehängt und die erste
Flüssigkeit tropfte aus der Flasche in Opas Arm.
»Hallo Doc. Wahrscheinlich das Übliche«, wurde der Notarzt von den
Sanitätern begrüßt.
»Ich schau es mir trotzdem gründlich an«, meinte der Arzt höflich. Er
schaute zuerst Dimitra, dann die beiden jungen hilfsbereiten Männer fragend
an. Einer der beiden Männer ergriff sogleich das Wort.
»Wir haben geholfen, die Tür zu öffnen und ich habe Sie angerufen. Können
wir jetzt gehen?«
»Wegen mir schon«, meinte der Arzt.
Dimitra ging auf die beiden zu und bedankte sich noch einmal. »Ohne euch
läge mein Opa immer noch auf dem Fußboden.«
»Kein Problem. Gerne wieder mal. Aber wir würden wirklich gerne weiter.«
Ohne weiteres abzuwarten liefen die beiden Männer weiter.
»Dann sind Sie die Enkelin, wenn ich das Gespräch richtig deute?«, meinte
nun der Arzt zu Dimitra. Sie nickte zur Bestätigung.
Der Arzt nickte und wandte sich nun ihrem Opa zu, um ihn zu untersuchen.
Er hörte ihn sorgfältig ab, leuchtete mit einer Pupillenleuchte in die Augen, und
machte weitere Untersuchungen.
»Tatsächlich. Meine Kollegen haben recht. Das Übliche«, meinte der Arzt
schließlich, nachdem er seine Untersuchung beendet hatte. »Bei dieser Hitze
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 37 -
trinken die meisten zu wenig, zumal sich die Rentner zur Zeit nichts zu trinken
kaufen können. Sie vertrocknen. Haben Sie seinen Atem gerochen? Dieser
Geruch ist ein typischer Indikator. Dabei beginnt die Magensäure den eigenen
Magen zu verdauen, weil die Schleimhaut zu dünn geworden ist. Bei Ihrem Opa
haben wir Glück im Unglück. Er ist kollabiert und es wäre nicht mehr lange
gegangen, dann wäre er gestorben. Sein Kreislauf ist nun in einem stabilen
Zustand, der Sauerstoffgehalt in seinem Blut ist den Umständen entsprechend,
dürfte aber besser sein. Ich gehe nicht davon aus, dass durch zu niedrigem
Sauerstoff sein Gehirn geschädigt wurde. Wie es allerdings mit der Niere
aussieht, kann ich nicht sagen. Das sind Untersuchungen, die in der Klinik
vorgenommen werden müssen. Wenn wir Pech haben, ist diese dauerhaft
geschädigt. Aber ansonsten gehe ich davon aus, dass sich Ihr Opa auf dem
Wege der Besserung befindet. Und das mit der Niere ist für mich im Moment
das einzige Risiko. Und eben nur ein Risiko. Wahrscheinlich ist sogar alles
soweit in Ordnung. Ich finde es nur nicht fair, Angehörigen immer nur von der
schönen heilen Welt zu reden, obwohl ein Risiko besteht.«
»Das ist mir auch lieb, wenn Sie mir die Wahrheit sagen«, antwortete
Dimitra.
»Dimitra, mein Kind«, hörte sie plötzlich Opas schwacher Stimme. Er hatte
seine Augen geöffnet und schaute Dimitra erschöpft und lächelnd an. »Wo bin
ich?«
»In einem Krankenwagen. Du warst bewusstlos in deiner Wohnung.«
»Ich erinnere mich. Es war so heiß und mir wurde auf einmal schwindlig.
Hast du mich gefunden?«
Dimitra nickte. Kraftlos hob ihr Opa beide Arme in die Höhe, um sie zu
umarmen, doch er schaffte es nicht. Er war zu schwach. Schnell beugte sich
Dimitra zu ihm hinab, um ihm einen Schmatz auf die Stirn zu geben.
»Wo ist Maria?«, fragte er´.
»Wenn ich das wüsste. Sie ist nicht hier.«
»Du weißt nicht, wo sie ist?«
»Nein, sie ist heute nach Deutschland geflogen und meldet sich nicht
mehr.«
Opa wurde sichtlich nervös. Er regte sich auf. »Was heißt das, sie ist nach
Deutschland? Weshalb?«
»Sie hat ein Jobangebot bekommen und wollte sich dort vorstellen.«
Opa schwieg. Er schloss die Augen. Dimitra war froh darüber, dass er sich
nicht weiter aufregte. Doch mit einem Mal riss er die Augen wieder auf.
»Dimitra! Du musst Maria wieder finden. Hörst du? Wenn eine Frau
unbedingt Geld braucht und Geld verdienen will, dann ist so eine Frau in
Gefahr. Verstehst Du?«
»Nein. Es ist alles gut, Opa. Es ist nur ein Vorstellungsgespräch.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 38 -
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es gibt genug Menschen, die es ausnutzen,
dass es anderen Menschen dreckig geht. Glaub mir, ich habe den Krieg
mitgemacht. Ich weiß, von was ich rede.«
Dimitra lächelte. »Ach Opa. Ich verstehe ja, dass dich die Kriegszeit
beschäftigt. Aber wir haben keinen Krieg mehr.«
Jetzt konnte sich ihr Opa nicht mehr halten. Mühsam richtete er seinen
Oberkörper auf und stütze sich ab. Der Sanitäter war sofort bei ihm. »Legen Sie
sich wieder hin. Bitte. Sie haben Infusionen in ihrem Arm.«
»Verkauf mich nicht für dumm«, brüllte Dimitras Opa aufgeregt mit der
wenigen Kraft, die er noch hatte. »Ich weiß auch, dass wir keinen Krieg haben.
Aber der Mensch ist gleich geblieben. Notlagen werden ausgenutzt. Es ist ein
Leichtes, die Notlage deiner Mutter auszunutzen. Verstehst du das denn
nicht?«
Dimitras Opa sank erschöpft nach hinten und schloss die Augen.
»Opa? Hörst du mich? Sag doch was!«, rief Dimitra besorgt und schüttelte
an seinem Oberkörper. Er öffnete wieder die Augen.
»Such Maria. Versprichst du mir das? Bitte!«, flüsterte er.
»Natürlich.«
»Wir bringen Ihren Opa nun ins Krankenhaus. Er braucht jetzt Ruhe«, sagte
der Arzt zu Dimitra. Sie nickte und sprang aus dem Krankentransporter heraus.
Der Sanitäter schloss die Verladetüren. Dann fuhr der Wagen davon.
Der Arzt kam auf sie zu. »Sie können heimgehen. Ihr Opa wird drei bis vier
Tage brauchen, dann ist er wieder der Alte. Uns Sie dürfen stolz auf sich sein.
Sie haben ihn gerade noch von der Schippe geholt. Wenn Sie ihn erst morgen
früh gefunden hätten, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen.«
Der Arzt setzte sich in seinen Notarztwagen und fuhr davon. Dimitra stand
alleine auf der Straße. Alleine mit sich und dem Versprechen, ihre Mutter zu
suchen. Dabei wusste Dimitra noch nicht einmal, ob es einen Grund gab, ihre
Mutter suchen zu müssen. Sie griff zum Handy und versuchte noch einmal, ihre
Mutter anzurufen. Doch wie zuvor auch kam der Hinweis der
Telefongesellschaft, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.
Anschließend versuchte sie erneut, das Handy ihrer Mutter zu orten, doch auch
dieser Versuch scheiterte erwartungsgemäß.
Dimitra überlegte und lief zwei Querstraßen weiter zur örtlichen
Polizeiwache. Vielleicht konnten die Beamten ihr irgendwie helfen. Dort
angekommen musste sie feststellen, dass die Tür zur Polizeiwache
verschlossen war. Nun sah sie ein von innen geklebtes Schild mit der Aufschrift:
›Bis auf weiteres geschlossen‹. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein?
Wenn gespart wird, dann auch bei der Polizei.
Dimitra hatte keine Ahnung, wo sich die nächste offene Polizeiwache
befand. Voller Zorn zog sie wieder ihr Handy heraus und wählte den Notruf.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 39 -
»Hallo?«, meldete sich eine tiefe Männerstimme.
»Guten Abend. Mein Name ist Zapatoupoulous. Ich möchte eine Person
vermisst melden.«
»Das ist doch kein Notfall«, antwortete kühl die Männerstimme.
»Ich stehe hier vor der Polizeiwache, die geschlossen ist und habe keine
Ahnung, wo ich nun eine Vermisstenmeldung aufgeben kann.«
Die Männerstimme lachte. »Auf einer offenen Polizeiwache natürlich.« Der
Beamte fand sich unglaublich witzig.
»Und wo ist die, Bitte schön?«
»Wir haben zwei Hauptzentralen in Athen-Mitte. Diese wechseln sich ab. Es
hat also immer nur eine offen. Morgen hat die am Hauptbahnhof offen.«
»Und Ihnen kann ich die Vermisstenanzeige nicht aufgeben?«
Inzwischen hatte die Männerstimme eine sachliche Tonlage. »Erstens
müssen Sie die Anzeige unterschreiben, zweitens: Wie lange vermissen Sie die
Person denn?«
»Seit heute Morgen.«
»Und es ist untypisch, dass sich die Person so lange schon nicht mehr
gemeldet hat. Richtig?«
»Stimmt genau.«
»Dennoch kann eine Person erst als vermisst gemeldet werden, wenn sie
24 Stunden verschwunden ist. Und wenn Sie sich zehnmal um sie Sorgen
machen. Also, gehen Sie jetzt schlafen. Morgen ist die Person vielleicht auch
wieder aufgetaucht und wenn nicht, können Sie immer noch zu uns kommen.«
Die Männerstimme legte auf.
Dimitra blieb nichts anders übrig, als wieder nach Hause zu gehen.
Immerhin konnte sie sich mit dem guten Gefühl ins Bett legen, dass sie bei
ihrem Opa alles richtig gemacht hatte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 40 -
Mittwoch, 8. Juli 2015, 23:00 Uhr in Singen, Deutschland
Kästner stand hinter dem Tresen. Die Zigarette im Mund machte ihm etwas
zu schaffen, denn der ganze Qualm zog ihm direkt in die Augen. Dass er
während des Biereinschenkens die Zigarette aus dem Mund nehmen könnte,
auf die Idee kam er gar nicht. Das Gleis 9 war gerammelt voll und er hatte
Mühe, mit dem Ausschank nachzukommen. Zwischendurch griff er immer
wieder zu seinem eigenen Bierkrug, streckte ihn dieses Mal über den Tresen,
um mit Seiler anzustoßen. Die beiden grinsten sich an. Beide tranken ihren
Humpen mit großen Schlucken auf Ex leer. »Auf unser Geschäftsmodell«, rief
Seiler Kästner zu. Es war wahnsinnig laut in der Kneipe, zum einen durch die
vielen Gäste und zum anderen durch die Musik der verbotenen rechtsradikalen
Rockgruppe ›Race War‹, die aus den billigen Lautsprechern schepperte.
Kästner versenke seinen Zigarettenstummel im auf dem Tresen stehenden
Aschenbecher und zündete sich sofort einen neuen Glimmstängel an. Dann
tippte er einen Jungen an, der an dem Tresen stand und sich mit anderen
Jugendlichen unterhielt.
»Tom, wie viel Bier hast du heute schon gehabt?«
Der Jugendliche schaute Kästner erstaunt an. Leicht lallend meinte er:
»Ungefähr sechs Halbe. Warum?«
»Kannste die denn zahlen?«
»Äh, nö. Ich dachte, du machst mir ›n Deckel.«
»Zahl mal deine anderen.«
»Was is’n mit dir los? Wie bist’n du drauf?«
»Ich mach dir ein Vorschlag. Du schenkst für ne halbe Stunde das Bier aus.
Und wenn nach der halben Stunde keine Klagen kommen, haste für heute
Freibier und einen deiner Deckel zerreiß ich.«
»Klasse. Is gebongt. Aber nicht länger als ne halbe Stunde.« Tom kam
hinter die Tresen und begann sofort, routiniert die Gläser mit Bier zu befüllen.
Kästner wirkte zufrieden und winkte Seiler zu. Die beiden verschwanden nach
hinten in die Scheune. Sorgfältig schloss Kästner die Tür hinter sich zu.
Grinsend liefen sie zu den mitten in der Scheune stehenden Betten. Aus der
Kneipe nebenan tönte noch Lärm, aber in der Scheune war es deutlich ruhiger.
Auf einem der Betten lag Maria. Mit einer Handschelle war sie an den
Bettrahmen gebunden. Die K.-O.-Tropfen zeigten noch ihre Wirkung. Maria war
völlig benebelt.
»Die kriegt noch nichts mit«, meinte Seiler, nachdem die beiden Maria eine
Weile beobachtet hatten.
»Was die Griechenlandkrise so alles mit sich bringt«, meinte Kästner und
grinste.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 41 -
»Das ist wie an der griechischen Küste. Da wird noch mehr rüber
schwappen. Der Bunny hier hat noch eine Tochter, die Geld braucht.«
»Ach, das ist ja geil«, meinte Kästner.
Maria lag hilflos auf dem Rücken und sie versuchte immer wieder, ihre
Augen zu öffnen. Doch sie war zu müde. Dann versuchte sie sich zu drehen,
doch ihr Arm war an das Bettgestell gefesselt und ließ es nicht zu.
»Wie sieht es mit Kundschaft aus?«, fragte Seiler.
Ȇbermorgen kommen die Rodeos. Ich habe denen versprochen, dass sie
diejenige sein dürfen, die das Mädel einreiten. Ich bin denen noch einen
Gefallen schuldig und immerhin zahlt jeder von denen 300 Euro für den
Abend.«
Seiler nickte zufrieden.
»Und dann?«, fragte er.
»Ich habe schon einen Hinweis in das Internetforum rein gestellt und die
ersten Anfragen kommen. Ich denke, wir bekommen das Mädel ausgelastet.
Wir werden eher Nachschub brauchen.«
»Hoch lebe Griechenland und Schäuble. Hast du mitbekommen, was
WikiLeaks, die Enthüllungsplattform im Internet veröffentlicht hat?«
»Ne«, antwortete Kästner, »was denn?«
»WikiLeaks hat veröffentlicht, dass Angela Merkel daran arbeitete, dass die
Linksregierung von Tsipras gestürzt wird«, antwortete Seiler.
»Die Merkel? Unsere Mutti soll Schuld daran sein, dass die griechische
Regierung gestürzt wird? Das glaube ich nicht.«
»Ich weiß nicht. Aber als CDU dürfte sie kaum eine Freundin linksextremer
Regierungen sein.«
»Schon, aber gleich eine Regierung stürzen wollen? Ich weiß ja nicht.«
Seiler machte eine kurze Pause, bevor er antwortete. »Ich auch nicht. Aber
es würde einiges erklären. Schließlich sind wir Deutschen besonders hart zu
den Griechen. Die anderen EU-Länder sind nicht so extrem in dieser Haltung
wie wir.«
»Ich glaube eher, es ist der Schäuble. Schäuble will die griechische
Regierung stürzen.«
Seiler lachte. »Der Schäuble verhält sich so, als wolle er alle Regierungen
der Welt absetzen und für sich die Weltherrschaft erobern.«
»Auf jeden Fall spült uns das Thema Geld in die Kasse«, meinte schließlich
Kästner, der nun begierig nach unten auf Maria schaute.
»Sollen wir sie uns nicht mal nehmen?«, meinte er schließlich.
Seiler schüttelte den Kopf. »Du kannst jetzt nicht so lange hier hinten
bleiben. Wir gehen wieder in die Kneipe zurück. Aber wir werden schon noch
unseren Spaß mit ihr bekommen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 42 -
Donnerstag, 9. Juli 2015, 17:00 Uhr in Singen, Deutschland
»Wir kommen einfach nicht weiter«, stelle Florian resigniert fest. Florian,
sein Vater Ernst, seine Lebensgefährtin Sabrina und sogar Florians Frau
Sabine saßen in Florians Büro und grübelten darüber, wie es weiter gehen
sollte.
»So eine dürftige Spurenlage hatte sogar ich in meinen 40 Dienstjahren als
Kriminalhauptkommissar nicht«, meinte Ernst.
Sabrina lachte. »Oh mein Gott. Ich habe keine vierzig Dienstjahre und bin
noch nicht mal vierzig. In welches Fossil habe ich mich denn da verguckt?«
Sabrina setzte sich lachend mit gespreizten Schenkeln auf Ernsts Schoß. Dann
gab sie ihm einen innigen Zungenkuss. Florian und Susanne schauten
anständig weg. Sabrina stand wieder auf.
»Diesmal ist es wirklich wahnsinnig. Ich hatte noch nie so eine Leiche, die
so wenig zu mir geredet hat. Außer der Schusswunde im Kopf war ja gar nichts
Auffälliges zu finden. Aber sonst war wirklich gar nichts. Nur die eine
Platzwunde am Kopf. Und die war so klein, von der war Vogler sicherlich nicht
einmal bewusstlos.«
Florians Frau, Susanne, lachte. »Tja. Ich kann ja mal als Psychologin
versuchen, die Leiche auf die Couch zu legen. Vielleicht erzählt sie mir ja etwas
über ihre Kindheit.«
Alle kicherten. Aber wie es weiter gehen sollte, hatte keiner einen Plan.
»Wir müssen uns an die Ehefrau des Toten halten«, meinte schließlich
Sabrina.
»Die weiß doch auch nichts. Sie denkt, Ihr Ehemann ist Beamter in Stuttgart
und hat keine Ahnung, was er eigentlich arbeitet. Einen Vorwurf kann man ihr
nicht einmal machen, denn schließlich hat sich der Geldgeber ja als
Innenministerium ausgegeben.«
»Ich trau ihr nicht«, antwortete Sabrina.
»Warum nicht?«, fragte Ernst.
»Weil sie eine Frau ist«, antwortete Sabrina. »Traust Du etwa Frauen?«
Wieder lachten alle. Doch Sabrina hatte es ernst gemeint. Sie stand auf.
»Ich versuche es mal bei ihr. Ernst und Florian, ihr müsst mit mir kommen.
Am besten mit zwei Fahrzeugen. Zuerst muss noch mal nach Hause. Ich muss
mich umziehen.«
Ȁh, hallo. Du kannst nicht zu Frau Vogler. Du bist nicht von der Polizei. Das
überlasse gefälligst uns.«
»Kein Mensch sagt, dass ich mich als Polizistin ausgebe«, antwortete
Sabrina und verschwand aus dem Büro. Die anderen standen irritiert auf und
liefen hinterher. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und teilten sich
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 43 -
dort auf. Sabrina setzte sich zu Ernst in sein Fahrzeug und Sabine gesellte sich
zu Florian. Ernst fuhr vor, Florian folgte ihm. Florian und Sabine staunten nicht
schlecht, als Ernst begann, in der Ekkehardstraße einen Parkplatz zu suchen.
Es dauerte nicht lange, dann hatte er einen gefunden und auch Florian hatte
Glück. Sie stiegen aus ihren Fahrzeugen. Sabrina lachte ein wenig verlegen.
»Ich habe ja ganz vergessen, dass ich hier nicht die Ausstattung habe wie
zuhause in Freiburg. Ich muss erst mal shoppen gehen. Wartet hier. Ich bin
gleich wieder da.«
Schnell lief sie davon. Ernst grinste.
»Weißt du, was sie vorhat?«
Ernst konnte sich nicht mehr an sich halten und lachte los. Es dauerte eine
Weile, bis er sich wieder einkriegte, und meinte dann: »Ja. Und es ist eine total
gute Idee. Wenn es schief gehen sollte, haben wir zumindest unseren Spaß
gehabt. Realistisch gesehen stehen die Chancen allerdings 20 : 50, dass es
klappt.«
»20 zu 50? Da fehlen ja noch 30 Prozent.«
»Die fehlenden 30 sind die, die sowieso nicht klappen.«
»Oh je.«
Sabrina kam mit einer großen Plastiktüte in der Hand um die Ecke.
»Wo warst du denn jetzt? Auf der Plastiktüte steht ja gar nichts drauf.«
»Dann ist die Tasche vom Sexshop, du Dödel«, antwortete Sabine. Florian
hustete los. »Wie bitte? Woher kennst du dich denn mit Sexshoptaschen aus?«
Sabine und Sabrina kicherten, doch Florian erhielt keine Antwort.
Sie stiegen wieder in ihre Autos ein und fuhren gemeinsam zu Ernsts
Wohnung. Sabrina stieg aus und lief zu dem Fahrzeug von Florian. »Bleibt
sitzen. Wir fahren gleich weiter.« Dann lief Sabrina in die Wohnung. Als sie
nach zehn Minuten wieder kam, trauten Florian und Sabine ihren Augen nicht.
Sabrina hatte nun Turnschuhe mit einem Rosa Plüsch an, ihre langen sportlich
durchtrainierten Beine wurden durch eine knappe kurze Hotpant betont. Die
Hotpant betonte allerdings nicht nur die langen Beine, sondern auch Sabrinas
straffes Hinterteil. Schließlich hatte sie ein transparentes Netz-Top an mit einem
ebenfalls transparenten BH, der auf den ersten Blick Mühe hatte, ihre
Brustwarzen abzudecken. Sabrina hatte sich zudem mit rotem Lippenstift und
dunklem Liedschatten geschminkt. Zügig lief sie zur Beifahrertüre von Ernsts
Wagen und stieg ein. Die beiden fuhren los.
»Sabrina sah aus wie eine aus dem horizontalen Gewerbe«, meinte Sabrina
und lachte dabei.
»Ich verstehe nicht, was Sabrina vorhat«, erwiderte Florian. Dann dachte er
noch einmal über die Situation nach und musste lachen. »So ein verrücktes
Huhn«, meinte er. Sabine lachte mit.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 44 -
Sie fuhren direkt nach Böhringen und hielten einige Häuser entfernt von den
Voglers. Sabrina und Ernst stiegen aus dem Fahrzeug. Ernst kam auf Florian
zu, der in seinem Wagen sitzen blieb. Ernst stellte sich neben die Fahrertür.
Florian ließ die Scheibe herab.
»Sabrina wird mit der Vogler reden. Für den Fall, dass die Vogler
anschließend telefoniert, werde ich versuchen, mich jetzt irgendwo zu
positionieren, wo ich etwas von dem Gespräch mitbekommen kann. Das Haus
ist ja nicht das modernste. Da wird man ja hoffentlich draußen etwas
mitbekommen. Für den Fall, dass die Vogler direkt nach dem Gespräch das
Haus verlässt und ich noch nicht am Wagen bin, fahrt ihr hinterher. Wir wollen
wissen, wohin sie fährt.«
Florian grinste. »Polizeischule, 1. Semester: Das kann nicht funktionieren.
Wir brauchen eine Abhörvorrichtung. Woher willst du wissen, in welchem Raum
sie telefonieren wird? Und warum sollte sie das überhaupt tun?«
Mit ernster Mine antwortete Ernst: »Polizeischule 40. Semester: Wenn du
nicht weiter kommst, setze alles auf eine Karte. Mehr als nicht weiterkommen
kann nicht passieren. Ich sage ja, die Erfolgswahrscheinlichkeit liegt bei
höchstens 10 Prozent. Aber wenn wir weiter kommen wollen, müssen wir das
bei der Vogler probieren. Es kann nicht sein, dass sie überhaupt nicht weiß,
was ihr Mann gemacht hat. Irgendetwas muss die gute Frau über ihren
Ehemann wissen.«
Florian nickte. Sein Vater hatte wahrscheinlich recht. Ernst drehte sich um,
lief in den Nachbargarten der Voglers und verschwand nach hinten. Florin
wusste, dass sein Vater nun über den niedrigen Zaun klettern und sich bei den
Voglers positionieren würde. Es dauerte nicht lange, dann stieg Sabrina aus
dem Wagen und stolzierte zur Haustür der Voglers. Genüsslich schwang sie
beim Laufen ihr Hinterteil.
»Ich halte das nicht aus, ich will wissen, was Sabrina für eine Show abzieht.
Wenn es mir nicht reicht, rechtzeitig zurückzukommen, musst du halt alleine
fahren«, sagte Sabine und stieg so schnell aus dem Wagen, dass Florian sie
nicht mehr zurückhalten konnte. Florian hätte auch gerne alles mitbekommen,
doch er blieb pflichtbewusst am Steuer sitzen. Sabine lief weiter nach vorne,
zückte ihr Handy, hob es sich ans Ohr und lehnte sich den Straßenbaum, der
am Nächsten zu den Voglers stand. Die Haustüre der Voglers öffnete sich und
Frau Vogler schaute auf Sabrina. Florian konnte erkennen, wie abfällig die
Vogler Sabrina von oben bis unten musterte.
»Was wollen Sie?«, hörte Sabine die Vogler fragen.
»Ich wollte nach Frank schauen«, antwortete Sabrina. Dabei rollte sie das
›R‹ extrem stark und ließ die Antwort in einem extremen Ostblockdialekt
klingen. Sabine war erstaunt. So müssen Russinnen klingen, die Deutsch
sprechen.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 45 -
»Nach Frank? Wer sind Sie?«, fragte die Vogler.
»Ich bin Natascha. Ich will Frank.«
»Jetzt mal ganz langsam. Woher kennen Sie Frank?«
»Frank besucht mich oft in Stuttgart. Er gibt mir gut Geld. Jetzt war er nicht
mehr bei mir und ich wollte fragen, was los ist. Wer bist eigentlich du?«
Die Vogler lachte. »Das glaube ich jetzt aber nicht. Frank geht doch nicht zu
einer Hure.«
»Ich bin keine Hure. Ich mache Dienstleistung.«
Die Vogler lachte zunächst weiter und wurde mit einem Mal boshaft. »Hör
mal, du kleine Nutte. Frank wäre viel zu dämlich gewesen, zu einer Nutte zu
gehen. Der hat ja nicht einmal gewusst, weshalb ihm der liebe Herrgott einen
Schwanz geschenkt hat. Also, was willst du wirklich?«
Nun war es Sabrina, die lachte.
»Ach, du bist seine Ehefrau. Er hat von dir erzählt. Aber er hat gesagt, dass
bei euch schon lange nichts mehr geht. Das ist ja auch kein Wunder. Schau
mal, was du für Hängetitten hast, im Vergleich zu meinen.«
Sabrina hob ihr Netzshirt hoch und streckte stolz ihre Brust heraus. Die
Vogler zuckte zurück. Solch eine Dreistheit hatte sie wohl nicht erwartet.
Sabrina machte weiter. »Dasselbe ist mit Hinterteil. Ich habe straffen Hinterteil,
den Frank sogar benutzen durfte. Und du? Da ist doch nichts außer
Schwabbelfett.«
Die Vogler lief knallrot an. »Jetzt reicht es aber. Ich lasse mich doch nicht
von einer Nutte beleidigen.« Sie versuchte, die Tür zuzuknallen, doch Sabrina
hatte ihren Fuß dazwischengestellt. »Und ich will zu Frank. Ich will wissen,
warum er nicht mehr kommt.«
»Weil Frank tot ist, deshalb«, brüllte die Vogler so laut, dass es sogar
Florian im Auto hören konnte.
»Frank schuldet mir noch über tausend Euro«, behauptete nun Sabrina.
»Seine Kreditkarte hatte das letzte Mal nicht funktioniert. Ich habe gesagt macht
ja nix. Du kommst ja wieder. Doch Frank kam nicht wieder. Jetzt wollte ich
Frank fragen. Ich wusste nicht, dass du so ein Problem bist. Er hat immer
gesagt, du und er hätten eine Vereinbarung, dass jeder seinen eigenen Weg
gehen kann.«
Die Vogler stutzte. Wahrscheinlich hatte Sabrina mit dieser Behauptung voll
ins Schwarze getroffen. Die Vogler brauchte einen kurzen Moment, dann
antwortete sie: »Aber das ist doch kein Grund, zu einer Nutte zu gehen. Das
glaube ich einfach nicht. Dazu hatte er nicht genug Eier in der Hose.«
»Och, Eier von ihm waren in meinem Mund. Waren groß.«
Mit einem Mal schubste die Vogler Sabrina die kleine Stufe vor der Haustüre
hinab und schlug die Haustüre zu. Sabrina fiel auf ihr Hinterteil, stand aber
sofort auf und klingelte wieder. Doch die Vogler machte nicht mehr auf. Sabrina
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 46 -
verließ daher das Grundstück, lief grinsend an der immer noch am Baum
lehnenden Sabine vorbei und bog die nächste Seitenstraße ein. Sabine kam
nun wie zufällig zurück geschlendert und stieg schnell als Beifahrerin in Florians
Wagen ein. Sofort startete Florian den Motor und setzte rückwärts in die Straße,
in die Sabrina verschwunden war. Sabrina wartete um die Ecke und stieg hinten
auf den Rücksitz. Als Florian wieder auf die Hauptstraße zurückfuhr, sah er, wie
Ernst in seinen Wagen sprang. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die
Haustüre der Voglers und Frau Vogler stackste in Riesenschritten aus dem
Haus. Sorgfältig schloss sie die Haustüre ab und rannte beinahe zur Straße, um
sich dort in einen silbergrauen Passat zu setzen. Dann schoss sie los. Ernst
preschte mit seinem schwarzen Ford Focus hinterher, anschließend Florian mit
seinem silbergrauen Audi A4. Flush - die Vogler wurde geblitzt. Ernst bremste
ab, um langsam an dem fest installierten Blitzer vorbei zu fahren. Florian tat
dasselbe. Kaum waren sie am Blitzer vorbei, beschleunigten sie wieder, um
hinter der Vogler hinterher bleiben zu können. Es dauerte nicht lange, da war
allen klar, dass sie sich auf die Autobahn zubewegte. »Sie fährt nach Stuttgart,
wetten?«
»Ich wette nicht dagegen«, meinte Sabine. Tatsächlich lenkte die Vogler
ihren Passat auf die Autobahn in Richtung Stuttgart und gab Gas. Da die
Wägen sowohl von Florian und von Ernst deutlich stärker motorisiert waren als
der Wagen der Vogler, konnten die beiden sich abwechseln, um an der Vogler
dranzubleiben. Mal schloss Florian mehr auf, ließ sich wieder zurückfallen und
Ernst schloss dann auf. Aber ohne sich weiter abzusprechen, war beiden klar,
dass die Vogler direkt nach Stuttgart fahren würde.
Florian, Sabine und Sabrina nutzten die Zeit, um während der Fahrt noch
einmal die Situation nachzuspielen, wie sie gerade Sabrina als Nutte inszeniert
hatte.
»Mir war klar, dass ich extrem provozieren musste. Und mir war es auch
egal, ob sie mir die Nummer abnehmen würde oder nicht, dass Frank Vogler
mich regelmäßig besucht hatte. Mir ging es darum, dass die Vogler so unsicher
sein würde, dass sie in Stuttgart nachfragen würde, was ihr Mann da so alles
gemacht hat. Mich wundert allerdings, dass sie das nicht telefonisch gemacht
hat.«
»Vielleicht hat sie Angst, dass sie abgehört wird? Oder sie will nicht, dass
am Apparat ihres Telefonpartners nachvollzogen werden kann, wer angerufen
hat.«
»Mmh, wenn Sie Angst hat, abgehört zu werden, würde dass bedeuten,
dass sie sich bereits bewusst ist, in irgendwelchen kriminellen Machenschaften
verwickelt zu sein und sie muss Angst haben, dass ihr die Polizei auf den
Fersen ist«, meinte Florian nachdenklich.
»Was ihr mir über die Vogler erzählt habt, glaube ich das auch nicht. Sie
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 47 -
scheint mir sehr selbstbewusst und selbstsicher zu sein«, überlegte Sabine laut.
»Angenommen, der Voglers Gesprächspartner möchte nicht angerufen werden,
kann das bedeuten, dass entweder er Angst hat, abgehört zu werden oder dass
er Angst hat, dass nachvollzogen werden kann, dass die Vogler Kontakt zu ihm
hatte.«
Florian lachte. »Nicht schon wieder.« Auch Sabine fasste sich an die Stirn.
»Könnt ihr mich mal aufklären?«, fragte Sabrina.
»Bei jedem komplizierten Fall habe ich irgendwie den Verfassungsschutz
am Wickel. Das war schon bei ›Der Hohentwiel, ganz rechts‹ und bei ›Der
Hegau in rechter Verfassung‹ der Fall.
Sabrina grinste. Oh je, an die Fälle kann ich mich gut erinnern. Aber sie
hatten was Gutes. Beim Hohentwiel, ganz rechts habe ich Deinen Vater kennen
gelernt.«
Sabine lachte. »Ja, und die ganze Polizeiwache hat sich darüber das Maul
zerrissen, dass eine zwanzig Jahre jüngere Frau sich an ihren langgedienten
Kriminalhauptkommissar ran macht.«
Sabrina lachte laut los. »Und gerade das finde ich so geil, wenn ich weiß,
dass man sich die Mäuler über mich zerreißt. Ich finde das zum Schießen.«
»Und der positive Nebeneffekt ist, seitdem mein Papa dich kennt, ist er auch
wieder zwanzig Jahre jünger.«
»Ich kann mich nicht klagen, dass er zu alt wirkt. Er geht ran wie ein junger
Bock. Der ist so spitz wie Nachbars Lumpi.«
Nun lachte Sabine laut. »Sabrina, ich glaube nicht, dass wir das jetzt
wirklich wissen wollen. Die Details überlassen wir dir.«
Die Drei kicherten noch und mussten sich dann darauf konzentrieren, nun
bei Ernst und der Vogler hinten dran zu bleiben. Der Verkehr wurde dichter und
Stuttgart näherte sich. Erwartungsgemäß bog die Vogler am Stuttgarter Kreuz
weder nach Karlsruhe noch nach München ab und dadurch erhöhte sich die
Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Stuttgarter Innenstadt fahren würden.
Florians Handy klingelte. Es war Ernst. »Wir sollten jetzt in Kontakt bleiben.
Wir dürfen die Vogler nicht verlieren.«
Tatsächlich fuhr die Vogler in die Stuttgarter Innenstadt. In der Nähe des
Schlossgartens fuhr die Vogler eine Tiefgarage an.
Ernst und Florian steuerten ihre beiden Wägen so, dass die Vogler die
Verfolger nicht bemerken konnte, und parkten ebenfalls.
Die Vogler stürmte weder nach rechts oder links schauend aus dem
Parkhaus direkt in die Fußgängerzone. Ihre vier Verfolger blieben ihr auf den
Fersen. Sabrina fühlte sich im Moment nicht so wohl, denn alle Männer in der
Fußgängerzone starrten ihr in ihrer Aufmachung hinterher. So gut ihre
Aufmachung für die Show an der Haustüre war, so nachteilig war sie nun bei
der Verfolgung. Doch sie konnte die Menschenmenge in der Fußgängerzone
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 48 -
geschickt nutzen, dass sie der Vogler nicht auffiel. Diese setzte sich am
Schlossplatz in der Königsstraße in ein Straßenkaffee, direkt an den Tisch, an
dem bereits ein etwas älterer, glatt rasierter Mann saß. Glatt rasiert war sowohl
sein Gesicht als auch seine Kopfhaut. Dazu trug er ein weißes Hemd und eine
dunkle Stoffhose. Die Vogler redete aufgeregt auf den Mann ein. Ernst lief zu
einem der Nachbartische und setzte sich. Sabine und Florian schlenderten nun
über den als Park angelegten Schlossplatz und setzten sich auf eine Parkbank.
Sabrina verschwand in den nächsten H&M-Laden, um sich auf die Schnelle
wieder ein ›normaleres‹ Outfit anzulegen. Es dauerte nicht lange, und sie
gesellte sich mit einer Plastiktüte in der Hand zu Sabine und Florian. Die
Hotpants hatte sie immer noch an, doch die plüschverzierten Turnschuhe hatte
sie nun gegen Sneakers ausgetauscht und ihr halbtransparentes Netz-T-Shirt
gegen eine weiße Bluse, die sie allerdings großzügig aufgeknöpft gelassen
hatte. Stolz erzählte sie den anderen: »Die Klamotten hier nehme ich mit nach
Singen. Die kann ich noch für einen schönen Abend mit Ernst gebrauchen.«
Alle lachten. Florian schüttelte den Kopf. »Du hast glaube ich auch nur eins im
Kopf.«
»Ich? Frag lieber mal deinen Vater, wer da was im Kopf hat.«
Sie saßen noch etwas auf der Bank, dann gesellte sich Ernst dazu.
»So. Die Vogler fährt wieder heim.«
»Und? Hast du etwas erfahren können?«, fragte Florian neugierig.
»Du wirst nicht glauben, was diesmal eine Rolle spielt, in deinem Fall.
Deinem Fall, wohlgemerkt. Mein Fall ist das zum Glück nicht. Und ich will auch
gar nicht mit dir tauschen.«
Alle starrten neugierig auf Ernst.
»Erzähl«, meinte schließlich Florian.
»Ich weiß nicht, wie du das machst. In meinen vierzig Dienstjahren hatte ich
ganz normale Fälle. Dabei waren ganz normale Diebstähle dabei, ganz normale
Wirtschaftskriminalität und auch ganz normale Morde. Aber Du legst dich immer
gleich mit dem Staat an.«
»Wie bitte? Jetzt erzähl halt mal.«
»Du bist mit deinem Fall gerade mitten in der Berliner Politik. In Berlin wird
doch gerade diskutiert, ob unsere Bundesregierung die sogenannte
›Selektorenliste‹ dem Bundestag oder einem Untersuchungsausschuss zur
Verfügung stellt oder nicht.«
»Du meinst, die ›Selektorenliste‹, bei der definiert ist, mit welchen
Suchbegriffen der Bundesnachrichtendienst BND im Auftrag des
amerikanischen NSA uns ausschnüffelte und die Informationen an die
Amerikaner weiter gab? Das ist doch die Liste, wo es darum geht, ob nun der
BND im Auftrag der Amerikaner Wirtschaftsspionage betrieben hat oder nicht?«
»Genau. Um diese Liste geht es. Und es geht darum, ob Angela Merkel und
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 49 -
Sigmar Gabriel und letztendlich aus Frank-Walter Steinmeier schon früher von
dieser Wirtschaftsspionage gewusst haben oder nicht.«
»Und was ist mit dieser Liste?«
»Frank Vogler war als BND-Mitarbeiter hier in Stuttgart für diese Liste
verantwortlich.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 50 -
Freitag, 10. Juli 2015, 17:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Die Geldautomaten gaben zwar nur 60 Euro in bar aus, aber der
Onlinezahlungsverkehr funktionierte noch. Das war Dimitras Glück. Sie hatte
gerade einen Flug vom Athener Flughafen nach Stuttgart gebucht und mit der
Kreditkarte ihrer Mutter bezahlt. Dimitra hatte keine Ahnung, ob das nun schlau
war oder nicht. Aber sie hatte das Gefühl, dass es sein musste. In Wikipedia
hatte sie gelesen, dass die Stadt Singen, zu der ihre Mutter gefahren war, nicht
allzu groß sein durfte. Was Dimitra total irritierte, war, dass sich in ganz Singen
keine Firma namens ›International GmbH‹ befand. Zumindest über das Internet
konnte sie diese Firma nicht finden. Das war um so mehr ein Zeichen dafür,
dass sie nur in Singen würde herausfinden können, was mit ihrer Mutter los
war. Dimitra würde sich noch die Zeit nehmen, ihren Opa zu besuchen.
Sie nahm die Straßenbahn und rechnete fest damit, dass die Kontrolleure
ihr Geld nicht erhalten hatten und daher auch die Fahrgäste nicht kontrollieren
würden. Zumindest bei der Hinfahrt in das Krankenhaus ging ihre Rechnung
auf. Ihrem Opa ging es den Umständen entsprechend. Er lag abgemagert und
müde in seinem Bett. Zwei Infusionsflaschen standen neben seinem Bett und
die Schläuche verschwanden unter einem dicken Pflaster in seinem Arm.
Opa freute sich sichtlich, als er Dimitra sah.
»Es geht mir schon wieder besser. Ich hatte nur zu wenig getrunken«,
meinte er.
»Ja, und zu wenig gegessen hast du auch. Das hat mir die Ärztin auf dem
Flur schon gesagt.«
»Ich habe gerade in der Zeitung gelesen, dass wir Rentner auch bald wieder
an Geld kommen können. Dann wird alles besser. Hast du was von deiner
Mutter gehört?«
»Ehrlich gesagt: Nein. Aber ich will sie suchen. Ich habe gerade einen Flug
nach Deutschland gebucht.«
Ihr Opa schwieg eine Weile, dann meinte er: »Es ist eine gute
Entscheidung. Aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht wird, sie zu
finden.«
»Sie ist in eine Stadt namens ›Singen‹ gefahren und diese Stadt ist zum
Glück nicht so groß.«
»Singen? Das kenn ich. Das ist in der Nähe vom Bodensee. Da war ich
schon mal.«
»Echt? Wann?«
»Ei, das ist schon ein paar Jährchen her. Meine Firma hat von in Singen
regelmäßig Aluminiumprofile gekauft. Dort befindet sich ein riesiges
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 51 -
Aluminiumwerk. Und da war ich einmal mit.«
»Und, wie war es?«
Opa lachte. »Das weiß ich nicht mehr. Das ist zu lange her. Ich weiß nur
noch, dass ich und mein Chef am Abend nach Konstanz gefahren sind und dort
sind wir dann versumpft. Aber Singen ist ein nettes Städtchen. Zumindest war
es das damals.«
Durch diese Worte merkte Dimitra, dass sie sich eigentlich davor fürchtete,
in ein fremdes Land in eine fremde Stadt zu fahren, ohne dass sie das vorher
detailliert geplant hat. Doch die Worte ihres Opas wirkten gleichzeitig
beruhigend. Singen war nicht groß und Opa war der lebende Beweis dafür,
dass man auch wieder gesund und munter zurückkommen kann.
»Ich muss dann mal los«, meinte Dimitra.
»Pass auf dich auf. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Und bring Maria
wieder mit.«
Dimitra lächelte ihren Opa an. »Ganz bestimmt.«
Beide wussten, dass die Chancen nur begrenzt waren, jemanden in einer
fremden Stadt zu finden.
Dimitra verließ das Krankenhaus, fuhr schwarz mit der Straßenbahn in ihre
Wohnung zurück, warf ein paar Klamotten in einen Rucksack und machte sich
dann zum Flughafen auf. Wieder nutzte sie die Straßenbahn und wie erwartet
tauchte keine Kontrolleure auf.
»Wenigstens streiken die Fahrer nicht«, dachte sie für sich.
Am Athener Flughafen lief alles routiniert, und ein paar Stunden später
landete sie bereits wohlbehalten in Stuttgart.
Dort lief sie zunächst planlos durch die Ankunftshalle des Flughafens und es
dauerte nicht lange, bis sie von zwei Zollbeamten angesprochen wurden.
»Sie machen einen etwas verlorenen Eindruck. Können wir helfen?«
»Ich möchte nach Singen«
»Und wie? Mit dem Zug, oder Taxi? Oder mit einem Leihwagen? Die
Leihwägen gibt es gerade da hinten.«
Der Zollbeamte zeigte mit seinen Fingern an das Ende der Halle.
»Wie weit ist denn Singen weg von hier?«
»Mmh, hundertfünfzig Kilometer vielleicht.«
»Ich habe nicht viel Geld. Wie komme ich am Günstigsten nach Singen?«
Die Beamten waren kurz irritiert. Dann hakte einer der beiden nach.
»Was wollen Sie denn in Singen machen?«
»Ich suche meine Mutter. Die ist seit vorgestern verschwunden. Und sie
wollte nach Singen fahren.«
»Kommen Sie mal bitte mit«, meinte der Beamte höflich, aber sehr
bestimmt. Dimitra folgte den Beamten und sie wurde in ein kleines Büro geführt.
»Können Sie sich ausweisen?«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 52 -
Dimitra suchte nun durch die Formalitäten eingeschüchtert zitternd ihren
Personalausweis. Sie fand ihn und hob ihn den Beamten hin. Der eine nahm in
sogleich und betrachtete ihn genauer.
»Dimitra Zapatoupoulous aus Athen«, las der Beamte laut vor. »Jetzt
erzählen Sie uns mal, was Sie hier eigentlich möchten. Vielleicht können wir
dann ja helfen.«
Dimitra traute den Beamten nicht, wenn sie ihre Geschichte erzählen sollte.
Aber sie hatte ja nichts Verbotenes getan und daher erzählte sie schließlich von
der Geschichte ihrer Mutter und dem ominösen Vorstellungsgespräch.
Zum Glück zeigten die Beamten tatsächlich Verständnis. Der eine Beamte
griff zum Telefon.
»Bundespolizei Flughafen Stuttgart. Grüß Gott, Kollege. Wie ist das Wetter
bei Euch in Singen?«
Er lächelte Dimitra freundlich zu, während er die Antwort abwartete. Dann
wurde er sachlich.
»Ich habe hier eine junge Dame aus Griechenland, die hierher gekommen
ist, um ihre Mutter zu suchen. Diese sei verschollen. Und zwar bei Euch, in
Singen. Wisst ihr ...? Aha.«
Der Gesprächsteilnehmer erzählte etwas. Der Gesichtsausdruck des
Beamten verfinsterte sich. Er runzelte bedenklich die Stirn. Dimitra hatte noch
nie jemanden derart die Stirn runzeln sehen. Nachdem der
Gesprächsteilnehmer am anderen Ende fertig war, fragte der Beamte:
»Die Firma ›International GmbH‹, die gibt es nicht wirklich, oder?«
Auch hier wartete er den Satz ab, dann sagte er nur: »Das habe ich mir
gedacht.«
Der Telefonpartner redete wieder etwas, und der Beamte begann wieder zu
lächeln.
»Gut. Das machen wir so. Ja, ich kann das organisieren. Das ist kein
Problem. Wir haben hier einen Praktikanten. Der macht das bestimmt gerne,
wenn er mal raus kommt.«
Der Beamte legte auf. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber der Kollege
von der Singener Polizei hat mir berichtet, dass es vorgestern ein Vorkommnis
gab. Ein Kellner eines Restaurants berichtete, dass er das Gefühl hatte, zu
beobachten, wie eine ausländische Frau, sie könnte Griechin gewesen sein,
vielleicht entführt wurde.«
Dimitra erschrak. »Um Gottes willen«, rief sie erschreckt. Ihr wurde mit
einem Mal übel.
»Ganz ruhig. Wir müssen der Sache nachgehen. Wir haben gerade vereinbart,
dass wir Sie nach Singen fahren. Dort werden sich meine Kollegen um Sie
kümmern.«
Dimitra war nun schrecklich nervös und das, was nun um sie herum
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 53 -
geschah, bekam sie wie in Trance versetzt mit. Sie war nicht mehr Herr der
Lage. Sie musste noch etwas in dem Büro warten, dann kam ein junger
Beamter und führte sie aus dem Büro hinaus zu einem Wagen. Dimitra wurde in
den Wagen gesetzt und direkt zur Polizeiwache nach Singen gefahren. Dort
wurde sie in Empfang genommen und in ein Büro geführt. Nun saß sie da.
»Kaffee?«, fragte der Polizeibeamte.
Dimitra nickte. Der Beamte servierte Kaffee, Milch und Zucker. Dimitra trank
einen kräftigen Schluck und spürte die kräftigende Kraft des schwarzen Goldes.
Begierig trank sie die Tasse leer. Sie spürte, dass sie sich nun wieder besser
auf ihre Mitwelt konzentrieren konnte.
»Wie sieht denn Ihre Mutter aus?«, hörte Dimitra den Beamten fragen. Sie
beschrieb Maria und der Beamte hörte aufmerksam zu. Nachdem Dimitra mit
ihrer Beschreibung geendet hatte, meinte er:
»Ihre Beschreibung passt mit der Beschreibung eines Zeugen überein. Wir
müssen davon ausgehen, dass Ihre Mutter entführt wurde. Warten Sie, bitte.«
Er griff zum Telefon und telefonierte kurz. Nachdem er aufgelegt hatte,
meinte er: »Ich bringe Sie zu einem Kollegen von der Kriminalpolizei. Er sitzt
gerade einen Stock über uns.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 54 -
Freitag, 10. Juli 2015, 20:00 Uhr in Singen, Deutschland
Florian legte den Hörer auf. »Wir bekommen noch einen Fall«, meinte er zu
den Anderen, die sich noch in seinem Büro befanden. Ernst lächelte, als er
sagte: »Na, als drauf. Das schaffst du schon. Ich bin dann wohl schon
abgeschrieben. Dann könnte ich ja morgen schon in Rente gehen.«
»Von wegen, du hilfst mir gefälligst«, keiferte Florian zurück. Sabine und
Sabrina lachten. Sie wussten, dass Florian nichts gegen viel Arbeit hatte. Aber
er konnte es nicht ausstehen, wenn er der Einzige war, der arbeiten musste.
Zumal er sicherlich gerne zuerst den Fall mit der Aachleiche gelöst gehabt
hätte.
Claudia Martin stand in der Bürotüre und klopfte zaghaft an die sowieso
offen stehende Türe. Claudia war in der Zentrale beschäftigt und koordinierte
die Kollegen auf der Streife. Sie kannten sich alle vom Sehen, aber eine
tiefergreifende Bekanntschaft bestand nicht.
»Hallo Florian. Ich soll dir jemanden bringen. Du wüsstest bescheid.«
»Nein, weiß ich nicht. Also, dass du jemanden zu mir bringen sollst, schon.
Aber ich weiß nicht, warum zu mir?«
»Klär das mit deinem Chef«, meinte sie nur und schob Dimitra in das Büro.
Claudia verschwand wieder, um so schnell wie möglich wieder die
Schaltzentrale zu besetzen.
»Hallo«, sagte schüchtern Dimitra.
»Guten Tag«, antwortete Florian sachlich. »Wie können wir Ihnen helfen?«
»Mein Name ist Dimitra Zapatoupoulou, ich komme aus Griechenland und
bin hier in Singen, um meine Mutter zu suchen.«
Florian runzelte die Stirn, und bevor er Dimitra auffordern konnte, Weiteres
zu erzählen, begann sie, ihre Geschichte zu erzählen. Die anfängliche
Neutralität und Sachlichkeit, die Florian mit Absicht an den Tag gelegt hatte,
wechselte schnell gegen sein Gefühl, dass man Dimitra unbedingt helfen
müsse.
»Wo übernachten Sie eigentlich?«, fragte Sabrina, nachdem Dimitra
geendet hatte.
Dimitra war etwas verlegen. »Ich weiß noch nicht. Ich habe nicht viel Geld.
Ich habe gesehen, dass es in Singen eine Jugendherberge gibt. Da wolle ich
mal fragen, ob da noch ein Bett frei ist.«
»Das wird wohl nichts. Die wurde geschlossen.«
Betretendes Schweigen.
»Macht nichts«, unterbrach Dimitra mit einer betont gut gelaunten Stimme.
»Ich werde schon was finden. Das ist nicht so wichtig. Hauptsache, Sie helfen
mir, meine Mutter zu finden. Ich habe Angst um sie.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 55 -
»Wir auch. Wenn sich das bewahrheiten sollte, dass Ihre Mutter entführt
worden ist ...« Ernst ließ seinen Satz unvollendet.
»Ich würde da jemanden kennen, der eventuell ein Gästezimmer zur
Verfügung stellen könnte«, sagte Sabrina und schaute Ernst starr an.
Ernst wurde rot und die anderen konnten zunächst nicht erkennen, ob er
sich nun über Sabrina ärgerte oder ob ihm das Thema peinlich war.
»Also, ich meine, wenn ich jedes Mal meine Wohnung zur Verfügung gestellt
hätte, wenn jemand in Not ist, dann ...«
»Schön, hast du nicht. Zeit damit, mal anzufangen«, unterbrach ihn Sabrina
barsch. Nun war es allen klar, dass Sabrina bereit war, für Dimitra zu kämpfen.
»Mmh, vielleicht so lange, bis Frau Zap ...?«
»Dimitra Zapatoupoulou«, wiederholte Dimitra ihren Namen.
»Ja genau. Bis sie etwas gefunden hat, wo sie unterschlupfen kann.«
»Oder, bis wir Ihre Mutter gefunden haben. Wir brauchen sowieso schnell
eine Antwort auf die Frage, wo sich ihre Mutter befindet.«
»Oder so«, meinte Ernst resigniert. Irgendwie war er frustriert, dass er
gerade den Kampf gegen Sabrina verloren hatte. Aber er wusste sowieso
schon, dass er ihr hörig war. Sabrina lächelte dafür wie ein Honigkuchenpferd.
»Du bist ein Schatz. Ich weiß, was ich an dir habe.« Sie legte ihre Hand auf
seinen Oberschenkel und streichelte ihn. Dabei glitt ihre Hand durchaus für alle
im Raum sichtbar nach oben. »Das wirst du nicht bereuen«. Dann drückte sie
ihn noch einen Schmatz auf die Wange.
»Wir müssen den Kellner befragen, der die beiden gesehen hat. Hat er
beobachtet, in was für ein Auto er sie geschleift hat?«, fragte Ernst.
»Nicht nur das. Er hat sich sogar das Kennzeichen gemerkt - zumindest die
Buchstabenkombination. Bei der Ziffer ist er sich nicht mehr sicher. Aber die
Buchstaben waren zufällig seine Initialen«, antwortete Florian, dessen Verlauf
er in Kurzfassung bereits von seinem Kollegen am Telefon erzählt bekommen
hatte.
»Also, wir haben den Autotyp und ein Teil des Nummernschildes. Auf
geht’s!«, meinte Ernst voller Tatendrang.
Florian griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Claudia Martin.
»Claudia. Kannst du bitte im Computer überprüfen, wer der Besitzer ... ach.
Na dann. Danke.« Irritiert legte Florian auf.
»Die Kollegen haben bereits den Computer durchsucht. Aber das
Nummernschild passt nicht zum Fahrzeug. Das bedeutet, dass das
Nummernschild wahrscheinlich gefälscht war. Dumm war der Entführer
wahrscheinlich nicht.«
»Wenigstens konnte der Kellner den Entführer beschreiben. Der muss ja ein
richtiger Fettsack sein«, meinte Ernst.
»Wir müssen nun überlegen, wie wir jetzt weiter machen. Aber das sollte ein
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 56 -
Interna bleiben«, meinte Florian mit Blick auf Dimitra. Sie verstand sofort, was
gemeint war. »Ich könnte noch etwas in die Stadt. Vielleicht können Sie mir die
Adresse des Restaurants geben? Dann kann ich da mal hin.«
Ernst lächelte. »Polizeiermittlungen übernehmen immer noch wir. Das mit
der Stadt ist in Ordnung. Also: Sie gehen aus dem Gebäude raus. Gegenüber
befindet sich der Bahnhof. Sie dürfen nicht geradeaus laufen, denn dann
kommen Sie an eine Kneipe, die wir hier nicht so gerne sehen. Zwielichtige
Gestalten und so. Sie halten sich nach links, gehen unter die Unterführung
durch und laufen wieder nach rechts. Dann sind sie am Bahnhof. Von dort aus
laufen Sie weiter nach oben, das ist nämlich die Fußgängerzone. Am Ende der
Straße könnten Sie dann nach links und dann die zweite Querstraße wieder
runter schlendern. Das ist die zweite Fußgängerzone. Geben Sie uns zwei
Stunden. Dann sollten wir hier fertig sein. Sie kommen dann wieder hier her und
dann fahren wir gemeinsam in meine Wohnung.«. Dimitra lächelte. »Prima, ich
bin so froh, dass ich bei Ihnen bin. Ich bin mit allem einverstanden.« Sie
verabschiedete sich und verließ das Büro. Wie ihr Florian aufgetragen hatte,
meldete sie sich beim diensthabenden Pförtner ab, erklärte ihm, dass sie in
zwei Stunden wieder zur Wache zurück kommen solle und verließ das
Gebäude. Für einen kurzen Moment musste sie sich an der Straße stehend
orientieren und sie schaute sich sorgfältig um. Schließlich war ihr nicht nur die
Stadt fremd, sondern das ganze Land. Und sie würde sich erst an die
Schriftzeichen gewöhnen müssen. Zum Glück hatte sie von ihrer Mutter einiges
von der deutschen Sprache mit bekommen. Mündlich konnte sich Dimitra sehr
gut verständigen, aber mit dem Lesen und Schreiben tat sich Dimitra schwer.
Deshalb würde sie sich die visuellen Eindrücke gut merken, damit sie die
Polizeiwache wiederfand. Denn die Straßenschilder lesen traute sie sich nicht
zu. Vor ihr kreuzte eine schmale Straße. Lief am an ihr nach rechts, würde man
zu diesem Hochhaus, dem Hegau-Tower und dem alten Maggi-Gebäude
gelangen. Direkt gerade aus gegenüberliegend befand sich eine kleine Zufahrt.
Das musste die Zufahrt zu dieser Kneipe sein, vor der sie von Florian gewarnt
worden war. Weit dahinter erhob sich mächtig dieser alte Vulkanberg, vom dem
Dimitra bereits im Internet gelesen hatte. Das war der Hohentwiel.
Beeindruckend. Deutlich konnte sie die Festungsruine erkennen. Links lief die
Straße auf eine größere Straße und rechts herum ging es in eine Unterführung,
über die die Gleise führten. An der Zufahrt fiel Dimitra ein fetter Kerl auf, der mit
einem Autoschlüssel in der Hand Dimitra anstarrte, als wäre Dimitra von einer
anderen Welt herabgestiegen. Der Typ drehte sich schließlich um und lief nach
hinten und die Gebäudeecke und verwand aus Dimitras Blickwinkel. Dimitra
wandte sich nach links und lief in die Richtung zur Unterführung, um vom
Bahnhof auf die Fußgängerzone genießen zu können. Außerdem hatte sie die
Hoffnung, dass sie irgendwo einen Restaurantführer entdecken würde. Dann
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 57 -
würde sie vielleicht versuchen, die Restaurants abzulaufen. Doch eigentlich
wusste, dass das illusorisch war. Sie würde es wohl kaum in zwei Stunden
schaffen, zu Fuß die Restaurants abzulaufen.
Indes stürmte Seiler in die Kneipe.
»Hammer, was ich gerade gesehen habe«, rief er, zuckte aber zurück. Er
hatte ganz und gar vergessen, dass der Achtklässler aus der Waldeckschule
am Tresen saß und sein Bier kippte.
»Was is’n los?«, fragte Kästner. »Und wieso bist’n wieder hier? Schlüssel
vergessen? Oder willst du doch mal mit unserer Kleinen im Gästezimmer?«
»Nein. Will ich nicht. Aber weißt du, wer gerade aus der Bullenstation raus
gekommen ist?«
»N Bulle?« Kästner griff nach einer Zigarette, nahm sie in den Mund und
zündete sie mit dem alten Stummel, der bis zum Filter abgeraucht war, an.
»Nee. Das, was wir in unserem Gästezimmer liegen haben, nur zwanzig
Jahre jünger.«
Kästner hörte auf, an dem Bierglas zu spülen.
»Im Ernst?«
Seiler nickte und grinste diabolisch. »Das ist gut, wenn die hier ist. Die
müssen wir finden und zu uns einladen.«
»Wo hast du sie denn gesehen?«, fragte Kästner.
»Sie kam aus der Wache heraus, hat sich kurz umgeschaut und ist dann die
Straße zur Unterführung runter. Ich nehme an, sie wird sich die Stadt
anschauen. Oder sie geht irgendwo hin zum Übernachten. Aber wir werden sie
finden. Wenn sie erst mal hier in Singen ist, mache ich mir keine Sorgen, dass
wir sie nicht finden können.«
Kästner beugte sich drohend zu dem Teenie. »Trink jetzt leer und
verschwinde.«
»He, ich wollte noch ›n Bier.«
»Nix gibt’s mehr. Wir halten uns an den Jugendschutz. Komm morgen
wieder.«
»Du kannst ihn ruhig sitzen lassen. Wir gehen sie morgen suchen. Ich muss
jetzt los.«
»Wohin willst du denn so dringend?«
»Wir wollten doch den Rodeos das Einreiten überlassen. Die sind aber
gerade in Spanien unterwegs und kommen erst nächste Woche. So lange will
ich nicht warten. Ich will schauen, dass wir Kundschaft bekommen.«
»Dann kann ich sie ja einreiten«, meinte Kästner.
»Von mir aus. Mir ist das egal. Mach mit ihr, was du willst. Aber morgen,
spätestens übermorgen haben wir Kundschaft. Verlass dich drauf.« Seiler
verschwand.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 58 -
Kästner nahm das noch halbvolle Bierglas des Teenies und kippte den Rest
in die Spüle. Der Teenie sprang auf. »Spinnst du oder was?«
»Hau ab. Ich muss weg.«
»Das Bier zahl ich aber nicht.«
»Von mir aus brauchst du heute gar nichts zu zahlen. Ist ja nicht meine Art,
meine Kundschaft raus zu schmeißen. Tut mir auch echt leid für dich.«
Kästner hatte sich den Schlüssel von seinem Van geschnappt und lief nun
um den Tresen herum. Mit seinem Körper drängte er nun den Teenie zum
Ausgang. Dieser hatte keine Chance gegen den riesigen Kästner und
verschwand. Kästner schloss die Kneipe ab und lief zu seinem Van. Zügig fuhr
er zur Unterführung, anschließend nach rechts. Vielleicht wollte das Mädchen ja
zum Bahnhof. Während er Richtung Bahnhof steuerte, schaute er sorgsam
nach den wenigen Fußgängern, die den Gehweg entlang der Bahnlinie
benutzten. Er konnte niemanden erkennen, der der gefangenen Griechin
ähnlich sah. Am Bahnhof angekommen ließ er seinen Van auf einem
Taxiparkplatz stehen und rannte in die Bahnhofshalle. Weiter würde die
Griechin auf keinen Fall gekommen sein. Dass sie sich bereits auf einem der
Gleise befand, war unwahrscheinlich. Sie würde zuerst schauen müssen, wo
sie überhaupt hin musste.
Kästner musste vom Rennen husten. Er hasste es, rennen zu müssen. Er
hatte es schon immer gehasst. Schon als Kind. Und jetzt erst recht. Er musste
immer husten, wenn er rennen musste.
Er lief durch die Bahnhofshalle. Die Läden und auch der Infoschalter der
Bahn hatten schon längst geschlossen. Nachdem er keine Griechin in der Halle
sehen konnte, entschloss er sich, noch über die Straße in die Fußgängerzone
zu gehen und zu schauen, ob er dort eine junge Griechin finden würde. Schnell
lief er über die Kreuzung in die breite Fußgängerzone hinein. In Singen
machten die Geschäfte in der Fußgängerzone alle so gegen sechs Uhr am
Abend zu. Daher musste die Griechin von hier aus zu sehen sein. Und
tatsächlich lief weiter hinten eine junge Frau, die dasselbe Haar wie die
Griechin hatte, die in seiner Scheune gefangen war. Das würde sie sein
müssen. Sie schaute sich gerade in einem Schaufenster etwas an und
schlenderte dann gemütlich weiter. Schnell lief Kästner zu seinem Van zurück
und fuhr weiter. Nach der ersten Querstraße fuhr er parallel die Straße zur
Fußgängerzone entlang, um dann wieder nach links abzubiegen. Er würde am
Ende der Fußgängerzone auf sie warten und parkte am Straßenrand.
Vorsorglich öffnete er bereits die seitliche Ladetüre des Vans.
Er musste lange warten, bis die Griechin auftauchte. Es bestand kein
Zweifel. Diese junge Frau war dieselbe Frau, die er in seiner Scheune
festgebunden hatte, nur gut und gerne zwanzig Jahre jünger. Die Alte sah
schon verdammt gut aus, aber ihre Tochter war noch um einiges hübscher. Die
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 59 -
Junge sah sich in aller Ruhe scheinbar alle Schaufenster an. Langsam aber
stetig kam sie auf Kästner zu. Kästner grinste. Singen war grandios. Inzwischen
waren kaum noch Passanten auf der Straße. Er wartete, bis er dachte, dass die
junge Griechin sich nicht mehr nähern würde. Sie war höchstens zehn Meter
vom Van entfernt und begann nun, in die linke Richtung weiter schlendern zu
wollen.
»Hallo!«, rief Kästner. »Hallo! Gratuliere. Sie haben gewonnen.«
Dimitra blieb erstaunt stehen, als ein stämmiger Kerl auf sie zukam und
fröhlich mit irgendwelchen Zetteln in der Hand winkte.
»Sie haben gewonnen«, sagte Kästner und hob ihr einen Zettel hin. Dimitra
traute dem Mann nicht und überlegte noch, was sie als Ausrede sagen könnte,
damit sie sich ohne Ärger entfernen könnte. Doch sie machte den Fehler, auf
den Zettel zu schauen, um zu sehen, was überhaupt auf diesem Zettel
draufstand. In dem Moment, als sie sich vorbeugen wollte, schoss auch der
Kopf dieses Riesenkerls nach vorne und knallte an die Stirn von Dimitra. Sie
schaute ihn kurz erstaunt an, dann brach sie bewusstlos zusammen. Die Beule,
die sich Dimitra auf diese Weise eingefangen hatte, würde Kästner verkraften.
In ein paar Tagen würde sie wieder rückstandslos verschwunden sein. Kästner
fing die kleine schlanke Frau geschickt auf und schmiss sie mühelos in den
Van. Schnell zog er die Tür von innen zu, drehte sie auf den Bauch, um ihr
dann auf dem Rücken die Hände mit einem Kabelbinder festzubinden. Dann
nahm er ein Stück Panzertape und klebte es ihr auf dem Mund. Vorsichtshalber
nahm er noch einen Kabelbinder und band damit ihre Fußknöchel zusammen.
Schnell verließ er wieder über die Seitentüre den Ladebereich des Vans und
kletterte in seine Fahrerkabine. Schwer keuchend saß er da. Ihm war bewusst,
dass er Kraft wie ein Bär hatte, aber wenn es an die Kondition ging, dann war er
der absolute Versager. Und das ärgerte ihn. Hier war er von der Natur völlig
benachteiligt worden. Bevor er losfuhr, zündete er sich noch eine Zigarette an.
Als er in die Zufahrt zu seiner Kneipe fuhr, sah er schon drei Fahrzeuge
stehen. Er schaute auf die Uhr.
»Mist. Jetzt kommt die Kundschaft«.
Er fuhr mit dem Van nach hinten und hielt den Wagen direkt so, dass sich
die Seitentüre direkt vor dem Seiteneingang der Scheune befand. Er schloss
zunächst die Tür auf, dann kletterte er in den Van und legte sich die junge
Griechin auf die Schulter. In der Scheune lief er zu den vier Betten in der Mitte.
In einem der Betten lag die Alte gefesselt und geknebelt. »Sei ja still«, maulte
sie Kästner an. Maria hatte ihre Tochter auf Kästners Schultern erkannt.
Mühelos schmiss sie Kästner in das danebenstehende leere Bett. Maria wandte
sich hin und her. Kästner nahm ein Messer, schnitt mühelos die Kabelbinder
auseinander, um dann die Hände und Füße an die Handschellen zu ketten, die
er schon an die vier Bettpfosten befestigt hatte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 60 -
Kästner grinste und schaute die beiden Griechinnen an. »Das wird ein
Spaß. Mutti, du machst mich ja schon geil. Aber mit deiner Tochter wird das ein
Kick. Da machen wir einen flotten Dreier. Da freue ich mich schon darauf.«
Maria schüttelte verzweifelt den Kopf. Das machte Kästner so wütend, dass
er sich über sie beugte und mit seiner Hand ihr Kinn fest hob. Drohend hob er
seine andere Hand zur Faust.
»Und du widersprich mir nicht.« Kästner wusste, dass er nicht zuschlagen
würde. Er brauchte noch das hübsche Gesicht dieser Griechin. Maria wusste es
nicht und hatte Todesangst. Sie blieb nun ganz still liegen.
Kästner ließ los, denn draußen wurde es lauter.
»Ja ja, ich komme«, brüllte er in Richtung Kneipe. Er lief zum Seiteneingang
und verschloss die Tür sorgfältig. Anschließend ging er in die Kneipe und
verschloss sorgfältig die Tür zur Scheune. An der Eingangstüre zur Kneipe
wurde mit Fäusten dagegen gehämmert.
»Kästner. Mach doch endlich auf. Wir haben Durst«.
Kästner öffnete die Tür und mindestens zehn Glatzköpfe kamen laut
krackelend in die Kneipe und stürzten sich zum Tresen. Jeder wollte noch einen
Hocker ergattern, auf dem er die halbe Nacht seinen Arsch platt sitzen wollte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 61 -
Samstag, 11. Juli 2015, 23:00 Uhr in Singen, Deutschland
»Ihr zieht das jetzt an«, brüllte Kästner. Die beiden Frauen schauten ihn
ängstlich an.
Seiler stand neben Kästner und lachte lauthals.
»Bist du eine Pfeife. Schaffst nicht einmal, dass sie sich ein wenig
zurechtmachen.«
»Halt du dein dreckiges Maul«, knurrte Kästner Seiler an. »Ihr zieht euch
jetzt aus, und zieht das da dafür an, kapiert?«, brüllte er und zeigte mit dem
Finger auf eine Handvoll Reizwäsche, die mitten in der Scheune auf dem
Boden lag.
»Muss ich dir zeigen, wie das geht? Ich muss dir wohl alles zeigen«, meinte
Seiler zynisch.
»Wieso musst du mir alles zeigen? Ich habe immerhin die Kleine besorgt.«
Kästner war nicht mehr zu halten und brüllte Seiler an.
»Und ich besorge dafür Kundschaft. Und hey. Das als Internet-Auktion
anzulegen, war die Idee. Der Höchstbietende darf die beiden einreiten - genial.
Ich bin richtig stolz auf mich.«
»Wirklich genial. Aber dass ich ihre Tochter bereits geschnappt habe, ist
auch genial. Wie viel zahlt der Typ jetzt eigentlich?«
»Das glaubst du nicht.«
»Wie viel?«
Seiler lachte, als er das sagte. Deswegen hatte Kästner Mühe, ihn zu
verstehen. »Fünftausend dafür, dass er Mutter und Tochter einreiten darf. Aber
wir müssen helfen, die Weiber zu bändigen. Das war seine Bedingung. Er sagt,
er mag es, wenn es etwas wild hergeht. Die Weiber müsste man deswegen
festhalten. Und jetzt kommt der Hammer: Die Hälfte von den Fünftausend hat er
schon auf unser Geschäftskonto überwiesen.«
Nun lachte Kästner. »Wir sollen beim Einreiten der beiden helfen? Aber mit
Vergnügen doch.« Dann brüllte er die beiden wieder an: »Ausziehen!«
Dimitra konnte nicht mehr und Tränen schossen ihr aus den Augen und
rannten ihr die Wangen herab. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie hatte
schreckliche Angst.
»Ich zeige dir mal, wie das geht«, meinte Seiler zu Kästner. Er fummelte
kurz an seiner Hose herum und mit einem Mal zog er seinen Ledergürtel aus
den Hosenschlaufen heraus. Ohne zu zaudern, tat er einen Schritt auf Dimitra
zu, hob sein Arm und ließ ihn voller Wucht herabsausen. Allerdings prallte der
Arm in die starke Hand von Kästner. Der Ledergürtel schoss pfeifend durch die
Luft und streifte um Haaresbreite an Dimitras Gesicht vorbei.
»Spinnst du? Meinst du, der Typ will eine gegerbte blaugeschlagene
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 62 -
irgendwas?«
Seiler überlegte.
Kästner stand nun ganz dicht vor den beiden Frauen und knurrte sie an.
»Ausziehen und die Wäsche da anziehen.«
Maria machte den Anfang. Rasch zog sie ihr Shirt über den Kopf und zog,
ohne weiter zu zögern ihre BHs aus. Als Dimitra sah, dass sich ihre Mutter nicht
mehr dagegen wehrte, tat sie ihr gleich. Beide standen nun mit nacktem
Oberkörper vor den beiden Männern.
»Mmh, lecker«, sagte Kästner. Seiler grinste und sein fettes Gesicht wurde
dabei immer breiter, als er nach einem Busen von Dimitra grabschte und
begann, ihn zu kneten.
»Hübsch, hübsch. Da werden wir uns wohl morgen daran vergnügen«,
meinte Seiler. »Aber heute ist die Kundschaft dran«.
»Los. Der Rest auch noch«; befahl Kästner scharf.
Maria streifte ihre Hose nach unten und Dimitra ebenfalls. Beide standen
nur noch mit einem Slip bekleidet da.
»Und das letzte Stück auch noch«, rief Kästner keuchend.
Maria zog ihren Slip nach unten. Dimitra zitterte vor Angst, als sie den
ihrigen nach unten zog.
Die Männer waren sichtlich enttäuscht.
»Ach du Scheiße. Da ist ja noch das ganze Fell dran. Das sieht scheiße
aus«, brüllte Kästner.
»Wir brauchen einen Rasierer. Einen Nassrasierer. Und Rasierschaum.
Hast du was da?«, fragte Seiler.
»In meiner Küche, oder was? Statt Sahne aufs Eis mache ich
Rasierschaum. Du Dödel. Das heißt, einen Elektrorasierer habe ich noch im
Van. Den könnte ich holen.«
Seiler schaute auf die Uhr. »Es reicht nicht mehr, nach Hause zu fahren. Hol
du den Rasierer und ich sorge dafür, dass sich die beiden wieder anziehen. Wir
sagen dem Typ, dass das zu unserem Programm von ihm dazugehört. Er darf
die Fotzen selbst rasieren.«
»Das ist gut«, kicherte Kästner nun. »Das ist gut«. Er verschwand aus der
Seitentüre und kam rasch mit einem Rasierer in der Hand wieder.
Die beiden Frauen mussten nun Strapse sowie einen Tanga anziehen. Für
Ihre Brüste bekamen sie einen knappen BH mit durchsichtiger Spitze. Zu guter
Letzt mussten sie High Heels anziehen.
»Ich kann damit nicht laufen«, getraute sich Maria zu sagen. Es war das
erste Mal, das sie etwas sagte. Am Morgen hatten die beiden ihren Knebel
entfernt bekommen und Maria wollte Dimitra begrüßen und sie fragen, wie es
ihr geht, doch Seiler hatte sofort zugeschlagen. Dabei hatte er so in die
Magengegend geschlagen, dass Maria enorme Schmerzen gehabt hatte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 63 -
Seitdem hatte sich Maria nicht mehr getraut, auch nur irgendetwas zu sagen.
»Du sollst auch nicht herumlaufen«, lachte Seiler. »Es soll nur geil
aussehen, wenn du auf dem Rücken liegst«.
Es klopfte an die Seitentüre. Zuerst dreimal. Dann zweimal. Dann nur noch
einmal.
»Das ist er«, sagte Seiler.
Kästner lief zur Tür und öffnete sie.
»Guten Abend«, grüßte ihn ein Mann, der sogleich hereintrat. Trotz der
Hitze trug er einen Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Eine
Mütze hatte er sich tief in das Gesicht gezogen. Kaum war er in der Scheune,
zog er die Mütze vom Kopf und legte sie auf einen Stuhl, der neben dem
Ausgang stand.
»Ist das eine Hitze, heute. Aber ich will nicht, dass mich jeder erkennt. Ist
der Hof eigentlich videoüberwacht?« »Nee«, antwortete Seiler und lachte. »Wir
sind die Letzten, die Videos brauchen können. Sie sind ...?«
»Meier. Mein Name ist Meier«. Meier war um die sechzig Jahre alt und zeigte
trotz Jacke, die er noch anhatte, eine sportlich durchtrainierte Figur. Er zeigte
auf die beiden Frauen.
»Sind sie das?«
Seiler nickte. »Das sind sie. Na? Was halten Sie davon.«
Meier lief auf die beiden zu, um sich die Gesichter näher anzuschauen.
»Die haben Angst vor mir. Sehen Sie sich mal die starren Blicke an.«
»Sie sind ja auch ein Bär von einem Mann. Ein Mann wie eine deutsche
Eiche, sozusagen. Da würde an denen ihrer Stelle auch Angst kriegen«.
Meier lachte und fasste Maria am Kinn.
»Sogar die Alte ist richtig hübsch«, meinte er.
»Bevor wir ins Geschäft einsteigen, würde ich Sie gerne überprüfen«,
meinte Seiler.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Meier mürrisch.
»Ich will nicht, dass ... sagen wir, dass wir unliebsame Überraschungen
bekommen. Stellen Sie sich bitte mit den Händen an die Wand und spreizen die
Beine.« Meier tat das bereitwillig. Seiler klopfte Zentimeter für Zentimeter von
Meiers Jacke ab, dann die Arme, den Oberkörper und die Beine.
»In Ordnung«, sagte er.
Meier richtete sich wieder auf und zog seine Jacke aus, die er auf den
nächsten Stuhl schmiss. Gut. Dann möchte ich aber auch keine unangenehmen
Überraschungen. Wo sind die Videokameras?
»Was für Videokameras?«
»Diejenigen, die aufzeichnen werden, was ich gleich mit den beiden Frauen
machen werde.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 64 -
»Wir haben keine Kameras, wirklich nicht«, antwortete Kästner. Doch Meier
machte sich daran, die Scheunendecke abzusuchen. Sorgfältig suchte er alle
Winkel ab. Schließlich stand er vor der Holztüre zur Kneipe.
»Was ist da dahinter?«
»Da geht es zu meiner Kneipe.«
»Ach, und da sind jede Menge Helfer, die hereinstürmen und mich filmen?«
»Nein«, rief Kästner. Wir haben heute geschlossen und die Tür ist auch
verschlossen.
Meier grinste. »Ich traue Euch beiden nicht. Aufschließen.«
Kästner zog seinen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Meier blickte kurz
in die leere Kneipe, dann zog er die Tür selbst wieder zu und verschloss sie.
»Der Schlüssel bleibt stecken. Nicht, dass jemand von der anderen Seite
aus die Tür aufschließt.«
»Sie leiden ja unter Paranoia«, meinte Seiler.
»Nein, ich habe nur meine einschlägigen Erfahrungen gemacht. Ich lerne.«
Die Drei liefen wieder zur Scheunenmitte zu den beiden Frauen.
»Haben Sie das Geld dabei?«, fragte Seiler.
»Ich habe Ihnen doch die erste Hälfte schon überwiesen.«
»Die erste Hälfte hat die Eigenschaft, dass es nur die Hälfte der
vereinbarten Summe ist. Deswegen hätte ich gerne die zweite Hälfte.«
Meier lachte. »Hinterher, natürlich.«
»Ich habe aber keinen Geldbeutel bei Ihnen gefunden, wenn ich ehrlich
bin.«
»Der ist im Auto. Und das Geld gibt es hinterher. In bar.«
»Ich will zumindest sehen, dass Sie das Geld dabei haben«. Seilers Augen
funkelten dabei äußerst fordernd, als er das zu Meier sagte.
»Dann gehe ich jetzt das Geld holen«.
»Nein«, sagte Kästner. »Dann fangen wir ja von vorne an. Wenn er hier
rausgeht und wiederkommt, müssen wir ihn ja wieder durchsuchen.« Kästner
zündete sich eine Zigarette an. »Ich schlage vor, wir fangen an. Schau dir den
Knilch mal an. Wenn er nicht zahlen will, überlässt du ihn mir. Mit dem werde
ich locker fertig«, nuschelte Kästner zu Seiler, während er die Zigarette glühend
paffte. Endlich brannte sie und er inhalierte tief das Nikotin.
»Ich will auch endlich anfangen«, sagte Meier, während er gierig auf die
beiden Frauen schaute.
Kästner schaute ebenfalls gierig die beiden Frauen an. »Los, zieht euren
Slip runter«, befahl er den beiden Frauen.
»Hey, das ist mein Job«, sagte Meier wütend zu Kästner. »Ich bin der, der
bezahlt hat. Also gebe ich die Kommandos. Klar?«
»Entschuldigung«, murmelte Kästner.
»Also los, Slip runter«, befahl nun Meier in einem scharfen Ton.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 65 -
Zögernd zogen Maria und Dimitra ihren Slip herab und zogen ihn aus.
»Wow«, sagte Meier anerkennend, doch sowohl Kästner als auch Seiler
hörten das Zögern in seiner Stimme.
»Wir dachten, dass Sie den Busch selbst entfernen dürfen. Schließlich
wollen sie die beiden einreiten. Dann gehört das auch dazu.«
»Ach so«, lachte Meier erleichternd. »Jetzt habe ich schon gedacht, sie
wollen mich verarschen.«
»Nein. Hier haben wir schon den Rasierer vorbereitet.«.
»Einen Elektrorasierer?«
»Na ja. Es geht vielleicht ein wenig schwer, aber wir werden es schon
schaffen.«
Meier lachte. »Ihr seid mir zwei Anfänger. Ihr macht das wohl zum ersten
Mal?«
»Von wegen. Wir sind Profils. Ich habe die Bunnyfarm in Leipzig
aufgebaut.«
»Die Bunnyfarm? Das war doch der Laden, der mit den eingeschleusten
Afrikanerinnen aufflog.«
»Ja, aber mich als Geschäftsführer haben die Bullen nie erwischt«. Seiler
grinste von einem fetten Ohr zum anderen.
Meier überlegte kurz. Dann meinte er: »Mit dem Elektrorasierer geht das
nicht. Darf ich mal?« Kurzerhand nahm er die Zigarette aus Kästners
Mundwinkel und hielt sie spitz zwischen Daumen und Zeigefinger.
Seiler lachte. »Das verspricht, ein interessanter Abend zu werden. Sie
mögen die harte Tour?«
Kästner fragte: »Was haben Sie vor?«
»Kennen Sie nicht dieses Spiel? Es ist herrlich. Eine Zigarettenkippe eignet
sich hervorragend dazu, Haare wegflammen. Das ist geil und die Mädels
werden stöhnen vor Schmerzen. Die Verletzungen werden nicht allzu groß sein.
Wenn man vorsichtig ist, tut es nur weh und es bleiben keine Narben zurück.
Aber man muss vorsichtig sein.«
»Nein!«, riefen Maria und Dimitra gleichzeitig voller Angst.
»Legt sie mir auf die Betten«, befahl nun Meier mit kalter Stimme.
Kästner trat zu Maria, fasste sie und zwang sie mit hartem Griff, sich in das
Bett zu legen. Sofort waren die Fesseln um Marias Hand- und Fußgelenke. Um
sich zumindest den harten Griff zu ersparen, legte sich Dimitra freiwillig auf ihr
Bett. Sie hatte sowieso das Gefühl, dass ihr ihre Beine ihren Dienst versagen
wollten. Dimitra zitterte am ganzen Körper vor Angst.
Meier beugte sich über Marias Schritt und näherte sich mit der Zigarette.
»Kommen Sie her. Wenn Sie das noch nicht kennen. Wenn Sie genau
hinschauen, wird das Weib in dieselben Zuckungen verfallen, als wenn sie
einen Orgasmus hätte. Schauen Sie!« Meier war nun kurz davor, die Glut in
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 66 -
Marias Schrittbehaarung zu versenken. Maria begann, zu schreien und sich hin
und her zu winden. Auch mit ihrer Hüfte drehte sie sich nach links und rechts.
Als sie ihre Hüfte stoßartig nach ob schob, musste Meier aufpassen, dass er
nicht vorzeitig Marias Busch anzündete. »Maul halten. Du machst alles nur
schlimmer«, brüllte Meier nach oben zu Maria. Kästner beugte sich ganz weit
nach vorne, um alles sehen zu können. Inzwischen hatte er die Erwartung, dass
er heute jede Menge von diesem Meier lernen könnte. Meiers Einladung würde
er sich nicht entgehen lassen. Anstatt mit der Kippe endlich zuzustoßen,
lächelte Meier Kästner an.
»Ich muss zuerst noch einmal betonen, was ich heute für ein Glückspilz bin.
Als hätte ich das schon wissen müssen, als ich bei euerem Angebot im Internet
zugriff.«
Kästner lächelte irritiert zurück.
Meier lächelte weiterhin. Nichts passierte.
Gerade, als Kästner fragen wollte, ob alles in Ordnung sei, sagte Meier noch
einmal: »Ich hatte so ein Glück, als ich zugriff!« diesmal betonte er das ›zugriff‹
besonders laut.
Seiler wollte gerade ›Achtung‹ rufen, als sowohl die Tür von der Kneipe als
auch die von der Seitentüre aufflog. Mit der Kippe, die Meier in der Hand hielt,
stieß er nun zu, allerdings nicht gegen Maria, sondern genau in das Auge von
Kästner, der sich die ganze Zeit nur einige Zentimeter von Marias Schritt und
der Kippe befunden hatte. Kästner brüllte vor Schmerz laut auf und fasste sich
mit beiden Händen an sein Auge. Nicht lange, denn Ernst, der die Rolle des
Meiers erschreckend realistisch gespielt hatte, war inzwischen aufgestanden
und rammte sein Knie in das Gesicht von Kästner.
»Polizei! Hände hoch oder ich schieße!«, brüllte Florian aus der Seitentüre
heraus.
In der Tür zur Kneipe stand ein weiterer Polizeibeamter mit seiner
Dienstpistole im Anschlag. Kästner war durch die Wucht des Kniestoßes nach
vorne Richtung Bühne geschleudert worden. Seiler flog auf einmal auf Florian
zu. Florian hatte nicht damit gerechnet, dass Seiler so schnell war. Dank Seilers
Masse schmiss er Florian um. Trotz Pistole in der Hand hatte Florian nicht mehr
schießen können. Während Florian nach hinten flog, sah er im Augenwinkel,
dass Kästner seiner Meinung nach zu heftig gegen die Bühnenbretter knallte.
Dann knallte es in Florians Kopf und ihm wurde schwarz vor Augen. Er war
beim Fallen auf die Kante der Steinstufe geknallt. Für einen kurzen Moment
gingen bei Florian die Lichter aus. Seiler rannte in zwischen über den Hof
davon. Florian rappelte sich schnell wie möglich wieder auf. Er bemerkte, dass
seine Pistole ihm aus der Hand geglitten war. Schnell hob er sie wieder auf und
sprang in die Scheune hinein. Was er sah, ließ ihn für einen kurzen Moment
erschaudern. Sein Vater war gerade dabei, zu den beiden Frauen in ihren
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 67 -
Betten zu laufen und befand sich genau zwischen dem Polizeibeamten, der sich
an der Tür zur Kneipe positioniert hatte und Kästner. Kästner hatte inzwischen
ein Brett an der Bühnenverkleidung zur Seite geschoben, und hatte von dort
eine deponierte Pistole hervorgeholt. Er war gerade dabei, auf Ernst zu zielen.
Der Beamte brüllte Ernst an. »Weg! Runter! Ich kann nicht schießen.« Florian
drückte ab. Einmal. Zweimal. Kästner wurde nach hinten geworfen. Blut spritze.
Kästner landete auf dem Rücken und blieb regungslos liegen. Ernst hatte sich
zwischen die Betten auf den Boden geschmissen. Erstarrt blieb Florian stehen.
Auch der Beamte stand still. Kästner lag still am Boden. Alles war nach den
lauten Pistolenknallen unwahrscheinlich still.
Florian wagte kaum zu atmen. Genau so erging es seinem Vater. Auch er
wagte nicht, zu atmen.
Der Beamte war unschlüssig. Er konnte im Moment nur Florian sehen, der
in der Nähe des Seiteneinganges stand. Vier Betten standen im Quadrat
zueinander angeordnet. In zweien der Betten mussten die beiden Frauen
gefesselt liegen. Zwischen den Betten musste Florians Vater auf dem Boden
liegen. Und hinter den Betten lag irgendwo der Verbrecher. Die Betten
verdeckten seine Sicht.
Der Beamte begann, sich in der Scheune nach vorne zu bewegen, bis er
den Verbrecher am Boden liegen sah. Das musste Kästner sein, der da lag.
Sein Hemd war blutdurchtränkt. Florian bewegte sich nun auch langsam. Er
fasste sich an die Stirn. »Oh Scheiße. Oh Scheiße«, rief er. Ernst erhob sich
langsam und mühsam zwischen den Betten hervor. Er und der Beamte liefen zu
dem am Boden liegenden Kästner. Dieser lag schwer atmend am Boden.
»Holen Sie den Notarzt!«, befahl Ernst den Beamten. Dieser nickte und griff zu
seinem Funkgerät, um bei Claudia Martin die Situation zu klären und den
Notarzt zu ordern. »Scheiße. Oh Scheiße«, brüllte Florian immer wieder. Ernst
lief auf Florian zu, haute ihm eine runter und nahm ihn dann in seinen Arm.
»Oh Gott. O Gott. Ich habe gedacht, das wäre es für dich gewesen.«
»Das hast du gut gemacht. Du hast alles gut gemacht«, murmelte Ernst,
während ihm Tränen über die Wange nach unten liefen.
Alle drei hatten mit einem Male zur selben Zeit dieselbe Idee, die beiden
Frauen endlich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Ernst durchsuchte die
blutdurchtränkte Kleidung von Kästner und fand den Schlüssel für die
Handschellen. Er warf sie Florian zu, der sie auffing und schnell die
Handschellen aufschloss. Dimitra weinte.
»Ich habe es gewusst. Ich habe es gewusst. Ich habe gewusst, dass Sie es
waren. Aber mit einem Mal war ich so unsicher. Sie waren so echt. Ich habe
wirklich gedacht, Sie wollten mich foltern«, meinte sie, während sie immer noch
zitternd aufstand. Sie fiel Ernst um den Hals.
»Ich hatte solche Angst vor Ihnen gehabt. Sie haben Ihre Rolle so verdammt
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 68 -
gut gespielt. Ich hatte solche Angst.«
»Wir hatten auch alle Angst. Können Sie sich vorstellen, wie das war? Wir
schicken Sie in die Stadt und Sie tauchen am Abend nicht mehr auf? Wir haben
zuerst die ganze Stadt nach Ihnen abgesucht. Dann dachten wir, dass Sie
wahrscheinlich auch entführt worden sind. Zum Glück hatten wir es mit totalen
Anfängern zu tun. Es war offensichtlich, dass die beiden die Notlage von Euch
Griechen ausnutzen wollten. Es ist ein Leichtes, jemanden zu ködern, der nicht
mehr an Geld kommt. Die ganze Nacht haben wir die einschlägigen
Internetforen überwacht, hatten aber nicht wirklich damit gerechnet, dass die
Verbrecher so dumm waren, direkt am selben Tag Euch anzubieten. Aber
anscheinend sind die Zwei dümmer, als die Polizei erlaubt. Zum Glück. Jetzt ist
alles vorbei. Keiner wird Ihnen und Ihrer Mutter etwas antun«, versuchte Ernst
Dimitra zu trösten.
Maria stand inzwischen auch vor Ernst. Es war offensichtlich, dass sie sich
in ihrer Aufmachung genierte.
»Wissen Sie, wo sich Ihre Kleidung befindet?«, fragte Florian Maria.
Sie nickte und zeigte mit ihrem Zeigefinger in die Ecke der Scheune. Der
Beamte holte die in der Ecke stehenden Plastiktüten, in denen sich die Kleidung
der beiden Frauen befand. Dankbar nahmen sie diese in Empfang. Die Männer
drehten sich um, während sich die beiden umzogen. Ernst nutzte diese Zeit, um
aus seiner Mütze, die er bei seiner Ankunft in die Scheue auf den Stuhl gelegt
hatte, das Mikrofon und den Sender zu entfernen. Als die beiden Frauen mit
dem Umziehen fertig waren, fühlten sie sich sichtlich wohler. Der Beamte lief
zurück in die Kneipe und kam mit einem Tablett mit fünf großen Gläsern Wasser
darauf zurück. »Geht aufs Haus«, meinte er lächelnd.
»Wir müssen eine Fahndung nach diesem Fettsack veranlassen«, meinte
Ernst zu dem Beamten.
»Ich kümmere mich darum«, meinte der Beamte.
Schließlich hörten sie die Sirene des Notarztes oder eines
Krankentransporters. Die beiden Frauen tranken begierig das Wasser und auch
für Ernst und Florian war es eine Erfrischung. Doch der Notarzt fuhr nicht vor.
Alle wunderten sich. Kästner lag auf dem Boden und stöhnte vor Schmerzen.
»Vielleicht findet er uns nicht«, meinte schließlich Ernst. »Ich gehe mal raus,
nachsehen«, meinte er und lief durch den Seitenausgang nach draußen. Es
dauerte eine Weile, dann kam mit einem Mal ein Wagen mit Blaulicht
vorgefahren. Der Notarzt sprang heraus und Ernst stieg als Beifahrer auch aus.
»Ihr werdet es nicht glauben. Seiler lag an der Ausfahrt: Herzinfarkt. Aber er
lebt noch. Pech, wenn man so fett ist und meint, man müsste wegrennen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 69 -
Sonntag, 12. Juli 2015, 10:00 Uhr in Singen, Deutschland
Florian machte es nichts aus, sonntags zu arbeiten. Susanne, seine Frau
hatte sich mittlerweile auch daran gewöhnt, und seitdem sie für die Polizei ihre
psychologischen Gutachten schrieb, war sie ebenfalls voll bei der Sache. Ernst
war sowieso ein Arbeitstier und Sabrina war so in diesen Fall vertieft, dass
sogar sie es war, die darauf drängte, zu Florian ins Büro zu fahren.
So saßen sie zu viert im Büro und ärgerten sich. Nicht, dass sie am Sonntag
arbeiten mussten. Alle vier saßen freiwillig in diesem Büro. Sie ärgerten sich
über das Fax, das gerade Florians Drucker gedruckt hatte.
»Amtsgericht Singen: Aufgrund mangelhafter Beweislage ist es nicht
möglich, Ihrem Ersuchen eines Hausdurchsuchungsbeschlusses der Familie
Vogler in Böhringen stattzugeben. Gez. Direktion Gruber«, lasen sie.
»Das gibt es doch nicht«, meinte Florian, zitternd vor Wut. »Lass uns
gefälligst unsere Arbeit machen«.
»Kennst du den Gruber?«, fragte Florian Ernst. Dieser schüttelte den Kopf.
»Aber hier steht seine Mobilnummer. Komm, lass uns anrufen«, antwortete
Ernst. Florian griff zum Telefon und wählte die Nummer.
»Gruber?«, meldete sich eine etwas ältere, dünne Stimme.
»Horn hier, von der Polizeidirektion Singen. Sie haben uns gerade ein Fax
geschickt.«
»Ja.«
»Ich sehe das anders. Für die Aufklärung des Falles ist eine
Hausdurchsuchung sinnvoll.«
»Ja.«
»Sehen Sie das also genau so?«
»Ja, natürlich«, antwortete Gruber gelassen.
»Würden Sie uns dann einen Hausdurchsuchungsbeschluss durchfaxen?«
»Nein.«
»Nein? Aber ... Sie haben doch selbst gesagt, dass ...«
»Ich sagte, dass für die Aufklärung Ihres Falles eine Hausdurchsuchung
sinnvoll wäre. Ich an Ihrer Stelle würde das genau so sehen.«
»Wo ist dann das Problem?«, fragte Florian erstaunt.
»Nationale Interessen sind das Problem, Herr Horn. Nationale Interessen.
Ich fürchte, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Nationale Interessen sind
übergeordnete Interessen. Tut mir leid.«
»Wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie sich dann mit dem Stichwort
›Nationale Interessen‹ abspeisen lassen?«
Gruber lachte leise und dünn in das Telefon. »Nein. Natürlich nicht. Ich würde
nichts unversucht lassen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 70 -
»Na also, dann ...«
»Ich kann nichts weiter für Sie tun, Herr Horn. Meine Entscheidung ist
weisungsgebunden. Schauen Sie bitte im Organigramm nach, wem das
Amtsgericht untersteht und wenden Sie sich bitte an einen meiner
Vorgesetzten. Ich habe heute meinen einzigen freien Tag in der Woche, und
den möchte ich noch genießen. Tut mir leid und auf Wiederhören.«
Gruber legte auf.
»Das gibt es doch nicht. Nationale Interessen. Was soll das sein?«, fragte
ungläubig Sabine, die wie die anderen auch, mitgehört hatte.
»Ist doch klar. Wir wissen doch, dass dieser Vogler für die Separatorenliste
des Bundesnachrichtendienstes zuständig war.«
Ernsts Handy machte ein Geräusch, das nach einem Furz klang. Ernst
lächelte verlegen: »Eine WhatsApp-Nachricht.« Er griff zu seinem Handy und
las auf dem Display. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Die beiden Griechinnen haben es geschafft. Es ist Boarding Time. Sie
steigen jetzt in den Flieger nach Athen ein. In drei Stunden werden sie wieder in
Athen sein.«
»Gott sei Dank«, meinte Sabine. »Hoffentlich geht es ihrem Opa wieder
besser.«
»Mir reicht's«, sagte auf einmal Sabrina und stand auf. »Wir können hier
nicht nur rumsitzen. Lasst uns zu Voglers Haus fahren. Dort fragt ihr in Gottes
Namen die Vogler, ob ihr euch mal umschauen dürft. Das ist besser als nichts.«
»Das bringt doch nichts«, meinte Florian genervt. »Die Vogler wird uns nicht
rein lassen.«
»Ein Versuch ist es doch wert«, meinte Sabrina.
»Sie hat recht. Es ist besser, als nichts tun«, meinte Ernst.
Sabine lachte. »Kein Wunder, dass du ihr Recht gibst. Nur eins dürfen wir
nicht machen. Sie darf Sabrina nicht zu Gesicht bekommen. Es könnte sein,
dass sie ihr die Nummer mit der Nutte etwas krummgenommen hat.«
Die Vier verließen die Polizeiwache und fuhren mit zwei Fahrzeugen
getrennt zu dem Haus der Voglers nach Böhringen.
Ernst und Florian liefen zusammen zur Haustüre. Sabine stieg zu Sabrina in
das Fahrzeug. Florian klingelte. Alle warteten gespannt, dass sich die Haustüre
öffnen würde. Doch nichts passierte. Florian klingelte wieder.
»Der silberne Passat der Vogler steht gar nicht auf der Straße«, bemerkte
Sabine. Die beiden Frauen stiegen aus dem Wagen, um ihre Entdeckung den
beiden Männern mitzuteilen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Florian und sah Ernst fragend an.
»Schaut mal!«, rief leise Sabrina. »Das Kellerfenster hier ist gekippt.« Ernst
grinste. »Denkt ihr, was ich denke?«
»Durch das Fenster kommt doch keiner rein. Das ist doch nur eine kleine
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 71 -
Luke«, meinte Sabine.
»Wenn jemand durchpasst, dann du. Du bist die Kleinste von uns«, meinte
Ernst.
»Ich? Ich geh da nicht rein«, wehrte Sabine energisch ab.
Florian lachte. »Erstens ist das Fenster noch nicht auf und zweitens, wenn
wir es aufbekommen sollten, dann musst du nur in das Erdgeschoss, und von
innen das Küchenfenster öffnen.«
»Und wenn da drin die Vogler ist, tot?«
Nun lachten die drei anderen. »Sie ist doch weggefahren.«
Ernst lief zu seinem Fahrzeug und holte einen langen Draht aus seinem
Kofferraum. An einem Ende bog er einen Haken und kniete sich dann vor die
Kellerluke. Langsam fädelte er den Draht hinein und versuchte, die
innenliegende Aufhängung zu angeln. Es dauerte eine kurze Weile, dann zog
Ernst mit einem kräftigen Ruck am Draht und das Fenster sprang nach innen
auf.
»Rein mit dir, Sabine!«, befahl Ernst in einem freundlichen, aber sehr
bestimmenden Ton. Sabine schob ihre Füße durch den Rahmen hindurch,
drehte sich dann um, so dass sie sich rückwärts nach unten rutschen lassen
konnte. Schnell hatte sie festen Boden unter den Füßen. Sie verschwand im
Keller. Es dauerte nicht lange, da kam ein leises ›Hallo‹ von der linken Seite.
Sabine hatte das Küchenfenster geöffnet.
»Du kommst wieder raus und wir gehen rein. Wenn der Wagen der Vogler
vorfährt, lässt du mein Handy klingeln. Wir schauen dann, dass sie uns nicht
erwischen wird.«
Sabine kletterte hinaus, die anderen hinein. Sabine setzte sich in ihren
Wagen und wartete eine halbe Stunde. Plötzlich klopfte es an die Scheibe.
Ernst stand neben ihr am Wagen. Sie öffnete die Tür.
»Wir machen einen geordneten Rückzug. Du gehst wieder rein und
verschließt das Küchenfenster und kommst wieder durch die Kellerluke raus.
Schaffst du das?«
»Das müsste gehen. Das Fenster war nicht hoch.«
Die drei anderen hatten das Haus bereits verlassen.
»Und? Habt ihr was gefunden?«
»Ja«, antwortete Florian ganz aufgeregt. »Jetzt ist auch klar, was der
Richter gemeint hat mit den öffentlichen Interessen.«
Mehr konnte Sabine im Moment nicht aus Florian herausholen. Dieser hatte
es ganz eilig, von hier weg zu kommen.
Sabine kletterte in die Küche und schloss das Fenster. Die Drei verließen
das Grundstück. Kaum waren sie vom Grundstück unten, sahen sie den Wagen
der Vogler. Langsam fuhr er auf das Haus zu. Die Vogler suchte einen freien
Parkplatz.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 72 -
»Oh mein Gott«, sagte Sabrina entsetzt. »Hoffentlich läuft Sabine der Vogler
nicht in die Arme.«
Die Vogler parkte den Wagen und stieg aus. Sie war schwarz gekleidet.
Dabei hängte sie sich eine modische weiße Handtasche um.
»Sie war in der Kirche«, sagte Sabrina.
»Sehen und gesehen werden. Das ist ihr Geschäftsmodell«, meinte Ernst.
Sabrina betrat das Haus. Eine Minute später lief Sabine aus dem
Grundstück heraus. Schnell sprang sie in den Wagen.
»Mann, was für eine Scheiße. Die ist gerade heimgekommen, als ich im
Lukenrahmen steckte.«
»Das hast du gut gemacht«; meinte Ernst.
»Erzählt jetzt mal endlich. Was habt ihr gefunden?«
Florian lachte. »Das Gute ist, dass dieser Vogler ein komplettes Büro
eingerichtet hatte. Wir konnten sogar alles kopieren.«
»Was konntet ihr kopieren?«
»Vogler arbeitete für den BND und war für die Separatorenliste zuständig.«
»Danke. Das weiß ich bereits.«
»Jetzt kommt es: In dieser Separatorenliste sind Begriffe wie
›Fuchs-Panzer‹, ›Heckler & Koch‹, ›Mercedes Benz‹ und andere nette Begriffe
enthalten. Die USA hat uns ausgespäht«.
»Das habe ich vermutet. Eigentlich ist das auch nichts Neues. Das
Parlament möchte diese Liste sehen und die Regierung verweigert das. Es ist
sowas von logisch, was das bedeutet. Was ist nun das Brisante?«
»Eigentlich nichts. Zumindest nicht, was diese Liste angeht.«
»Was dann?«
»Die Abhörprotokolle der Telefone«
»Wie bitte?«
»Das Telefon unserer Bundeskanzlerin ist durch den BND im Auftrag des
amerikanischen NSA abgehört worden. Deswegen konnte der US-Präsident
Obama wiederholt betonen, dass der NSA die Merkel niemals abgehört hatte.
Es war unser eigner Bundesnachrichtendienst, der Merkel abhörte. Und diese
Infos hat der BND ungefiltert den Amis weiter gegeben. Im Zuge einer guten
Kooperation.«
»Was? Das gibt es doch nicht«, rief Sabine aufgeregt.
»Und ich glaube, dass das auch nicht das Problem ist. Problematisch ist der
Schriftverkehr zwischen dem WikiLeaks-Betreiber Julian Assange und dem
Vogler. Vogler bot Assange Unterlagen an, die belegen sollen, dass Angela
Merkel durch ihre Europapolitik angeblich am Sturz der linken griechischen
Regierung Syriza arbeitet. Sie soll diesen Unterlagen zufolge die Regierung
Syriza zu Fall bringen wollen. Und Tsipras gleich mit. Und das ist eben fein
säuberlich vom BND protokolliert und an Obama weiter transferiert worden.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 73 -
»Warum sollte die Merkel den Sturz von Tsipras wollen?«
»Weil seine griechische Regierung eine linksgerichtete Regierung ist. Das
kann man als Unionspolitikerin nicht wollen. Und wenn sie den Sparkurs für
Griechenland aufrechterhält, muss diese Regierung darüber stolpern. Die Partei
Syriza und Alexis Tsipras werden durch Merkels Haltung ihr Wahlversprechen
weit verfehlen«, erklärte Ernst.
»Und? Stimmt das? Habt Ihr die Unterlagen gefunden?«, fragte Sabine,
immer noch etwas ungläubig.
»Ich weiß nicht«, gab Ernst zu. »Vielleicht lässt sich da etwas hinein
interpretieren. Aber ein Protokoll mit dem Inhalt: ›Ich, Angela Merkel, setze mich
mit aller Kraft dafür ein, dass Alexis Tsipras seinen Hut nehmen muss und die
Syriza-Regierung gestürzt wird‹. Diese Aussage habe ich auf die Schnelle nicht
entdecken können.«
Sabine lachte. »Das wirst du auch nicht. Die Politikersprache unterscheidet
sich deutlich von der eines Normalbürgers. Das ist wie beim Arbeitszeugnis
eines Arbeitgebers. Da werden Phrasen benutzt, die erst mal gut klingen. Aber
wer den Schlüssel zu dieser Sprache besitzt, und nur der, kann den wahren
Inhalt der Formulierung erkennen.«
»Vielleicht hast du recht«, meinte Ernst.
Sabine und Florian stiegen nun aus Ernsts Wagen und stiegen in ihren
Eigenen ein. Sie hatten heute noch viel vor. Denn es galt nun, jede Menge
geklauter Unterlagen durchzusehen und wahrscheinlich galt es auch, jede
Menge Inhalte zu interpretieren und zu deuten.
Florian hoffte inständig, dass es nicht der Dunstkreis des BND es war, der
Vogler ermorden ließ. Denn dann würde eine Aufklärung des Falles
›Aachleiche‹ unwahrscheinlich.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 74 -
Montag, 13. Juli 2015, 10:00 Uhr in Singen, Deutschland
Ernst war am Morgen gut gelaunt. Der Seebote schrieb in seinem Leitartikel,
dass die Banken in Griechenland wieder geöffnet hatten. Maria Zapatoupoulous
hatte Ernst eine WhatsApp-Nachricht hinterlassen, dass sie gut angekommen
seien. Am Morgen seien sie zum Geldautomaten gelaufen und hatten für ihren
Opa wieder Geld abheben können. Mit dem konnten sie die erste Rate der
Krankenhausrechnung bezahlen. Denn auch das konnten sie regeln. Sie
durften nun die Rechnung 60-Euroweise pro Tag abbezahlen. In einer Woche
hätten sie die Rechnung bezahlt. Ihrem Opa ginge es auch wieder besser.
»Zum Glück. Nur Marias Traum ist geplatzt. Leider hat sie immer noch
keinen Job«, meinte Ernst nachdenklich.
»Die Situation wird die nächste Zeit auch nicht besser. Ich glaube, dass das
nächste Sparpaket ganz schön hart werden wird.«
»Klar. Immerhin will die Merkel den Tsipras stürzen«. Ernst grinste, als er
das sagte. Florian fand das gar nicht spaßig. Er wollte gerade eine passende
Antwort geben, als das Telefon klingelte.
»Hier ist das Hegau-Klinikum in Singen. Wir wollten nur bescheid geben,
dass sowohl der Patient Seiler als auch der Patient Kästner bei Bewusstsein
sind. Wir hätten nichts dagegen, wenn Sie die beiden befragen wollen. Beide
sagten, dass sie bereit seien, eine Aussage zu tätigen. Wir mussten den beiden
versprechen, dass Sie sich dann für ein mildes Urteil eingesetzt würden.«
Florian lachte. »Na, das Versprechen werden wir nicht geben können. Das
ist Sache der Staatsanwaltschaft. Aber ich komme vorbei. Vielleicht werden sie
ja auch etwas aussagen, wenn ich verspreche, mich bei der Staatsanwaltschaft
für sie einzusetzen.«
Florian legte auf. »Auf geht’s. Irgendwas haben die beiden noch zu
erzählen.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 75 -
Freitag, 17. Juli 2015, 10:00 Uhr in Metaksourgeio, einem Stadtteil von
Athen, Griechenland
Dimitrios Zamdreou fühlte sich gut. Sehr gut sogar. Er saß im Flugzeug
nach Deutschland. Noch waren sie nicht gestartet, aber alle hatten schon Platz
genommen. Neben ihm saß eine junge Frau. Eine Griechin. Sie lächelte
ebenfalls glücklich vor sich hin.
Zamdreou hatte es geschafft. Er würde demnächst seinem
Parteivorsitzenden, Nikolaos Michaloliakos beweisen können, dass seine
Pläne, die er geschmiedet hatte, erfolgreich sein würden. Er arbeitete für die
neofaschistische Partei Chrysi Avgi, der goldenen Morgendämmerung. Und er
hasste nichts mehr als diesen linksgerichteten Tsipras, diesen Lügner. Dieser
Populist, der es verstanden hatte, nur durch nicht haltbare Wahlversprechen die
Wählerstimmen zu bekommen. Aber nun war damit zu rechnen, dass Tsipras
demnächst kapitulieren musste. Und die Syriza-Partei würde ein für alle Mal
von der Bildfläche verschwinden müssen.
Das war aber nicht das Einzige, was zur Zeit planmäßig lief. Auch seine
Geschäfte zeigten Erfolge. Dieser fette Deutsche, Seiler, hatte mit seinem
Geschäftsmodell Erfolg und brauchte Nachschub an Frauen. Und dieses
Mädchen neben ihm auf dem Sitz zu bekommen, war ein Leichtes gewesen.
Eine Zeitungsannonce, ein Kneipenbesuch, ein Versprechen, dem Mädchen
Arbeit in Deutschland zu beschaffen, und schon war alles erledigt. Nun saß sie
neben ihm und träumte wahrscheinlich davon, viel in der Welt herumreisen zu
dürfen und viele Euros zu verdienen. »Ich spreche neben Griechisch fließend
Deutsch und Englisch«, hatte sie gesagt. Zamdreou grinste. Es würde reichen,
wenn sie Französisch können würde. Aber dazu sind ja keine Sprachkenntnisse
notwendig. Als er diese junge Frau in der Kneipe traf, war er etwas überrascht,
denn sie erinnerte ihn stark an die Griechin, die er vor zwei Wochen nach
Deutschland geliefert hatte. Nur war sie viel jünger. Und hübscher. Dabei war
diese Maria auch schon hübsch gewesen - für ihr Alter.
Das Flugzeug rollte zur Startbahn. Die Maschine blieb kurz stehen, dann
startete sie durch. Die Maschine hob ab.
»Für die Anmeldung und für die Arbeitserlaubnis benötige ich noch Ihre
ID-Card«, sagte Zamdreou zu seiner Sitznachbarin.
»Die habe ich im Handgepäck. Reicht das, wenn ich sie Ihnen am Flughafen
gebe?«, fragte die junge Frau.
»Natürlich. Das wäre jetzt umständlich, die Tasche in der
Handgepäckablage zu suchen. Daran hätten wir vorhin denken können. Dann
hätte ich die Daten schon mal in meinen Laptop eintragen können.«
»Was fehlt Ihnen denn an Daten?«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 76 -
Zamdreou öffnete seinen Laptop und starrte auf den Bildschirm.
»Die ID-Cardnummer, zum Beispiel.«
»Die weiß ich auch nicht.«
»Vor- und Nachname, und Ihr Geburtsdatum«, sagte Zamdreou. »Aber das
machen wir später«, sagte er und klappte den Deckel seines Laptops zu.
Die beiden saßen mehr oder weniger schweigend den Flug über
nebeneinander, bis das Flugzeug in Stuttgart landete. In Stuttgart würde sie
Seiler abholen und er würde das Mädchen übergeben. Anschließend würde
Zamdreou direkt mit derselben Maschine zurück nach Athen fliegen. Von dort
aus würde er sich bemühen, entweder noch einen weiteren Seiler als
Kundschaft zu bekommen oder er würde Seiler darauf drängen, sein
Geschäftsmodell auszuweiten. Für diese junge Frau würde er auf jeden Fall
irgendetwas zwischen 30.000 bis 50.000 Euro verlangen können. Mit 50.000
Euro würde er die Verhandlung beginnen.
Die Passagiere begannen, das Flugzeug zu verlassen. Zamdreou wartete
mit dem Aufstehen, bis nahezu alle Passagiere draußen waren. Nur der
Fluggast in der Reihe hinter ihnen hatte es auch nicht eilig. Er saß in seinem
Sitz und beobachtete scheinbar amüsiert das hektische Treiben der anderen.
»Sie können mir Ihre ID-Card rüber reichen«, meinte Zamdreou zu seiner
Flugbegleiterin. Diese holte ihren Rucksack von der Handgepäckablage
herunter und fischte ihren Geldbeutel heraus. »Hier, bitte«, sagte sie und
überreichte ihm ihren griechischen Ausweis. Zamdreou steckte ihn in die
Hosentasche. Dann drängte er die junge Griechin nach draußen. Sie waren fast
die Letzten, die das Flugzeug verließen. Nur zwei oder drei andere Fluggäste
waren noch langsamer gewesen.
In der Gepäckhalle liefen sie weiter. Bei Zamdreou machte sich nun eine
gewisse Nervosität breit. Wahrscheinlich war er in zehn Minuten 50.000 Euro
reicher. Er schätzte Seiler als ziemlich naiv ein und rechnete sich daher für
diese Summe eine recht hohe Erfolgswahrscheinlichkeit aus. 40.000 würden
auch in Ordnung sein. Aber darunter ... .
Der Zollschalter war nicht besetzt, da an diesem Gate nur innereuropäische
Flugzeuge landeten. Zwei Zollbeamte standen zufällig herum. Zamdreou hatte
nie ein gutes Gefühl, wenn er an Zollbeamten vorbei musste.
»Entschuldigung«, sprach der eine Beamte Zamdreou an. Zamdreou
rutschte vor Schreck das Herz in die Hose.
»Sind Sie Herr Zamdreou? Herr Nikolaos Zamdreou?«
Irritiert blieb Zamdreou stehen. »Ja, wieso? Habe ich etwas verbrochen?«
Der Beamte fragte seine Begleitung. »Und Sie sind Frau Dimitra
Zapatoupoulous?« Dimitra nickte.
»Herr Zamdreou. Ich muss Ihnen mitteilen, dass gegen Sie ein Haftbefehl
wegen Menschenhandel vorliegt.«
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 77 -
Zamdreou überlegte kurz, wie er jetzt reagieren sollte. Sein erster Gedanke
war, weg zu rennen. Flucht. Aber er wusste, dass das auf dem Flughafen kaum
Sinn machen würde.
Der Fluggast, der sich die ganze Zeit hinter den beiden befunden hatte,
legte mit einem Mal Zamdreou Handschellen an.
»Sehen Sie, Dimitra, ich hatte Ihnen versprochen, dass das völlig
unproblematisch werden wird. Und wie versprochen habe ich Sie nicht einmal
aus den Augen gelassen. Die Belohnung ist Ihnen sicher.«
»Ich freue mich trotzdem, dass die Geschichte nun wirklich ausgestanden
ist, Herr Horn.« Florian lächelte und fühlte sich wie in dem Kinofilm des
A-Teams. Am liebsten hätte er sich nun wie Hannibal eine Zigarre angezündet
und gesagt: »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.«
Zamdreou wurde umgehend in den Streifenwagen gesetzt, der im
Flughafengelände gewartet hatte. Florian nahm Dimitra in seinen Wagen nach
Singen mit. Während der Fahrt unterhielten sie sich angeregt.
»Zamdreou war das fehlende Glied in der Kette«, erklärte Florian. »Dieser
Seiler hätte die Frauen von Zamdreou bekommen sollen. Zum Glück setzt
Seiler auf Kooperation und hofft auf ein mildes Urteil. Gut, dass er uns geholfen
hat, Zamdreou hierher zu locken.«
»Dieser Zamdreou ist ein Parteifunktionär der Chrysi Avgi, der Partei der
goldenen Morgendämmerung«, erzählte Dimitra.
»Ich weiß«, antwortete Florian. »Ist das nun eine rechtsradikale Partei oder
ist nur rechtspopulistisch?«
»Sie ist eindeutig mehr als nur populistisch. Ob man sie als Radikal
bezeichnen kann, weiß ich nicht. Auf jeden Fall sagte er, dass es ihm nur
aufgrund seiner politischen Connection möglich gewesen sei, mir diesen Job zu
beschaffen.«
Florian lachte los. »Sogar die griechischen Menschenhändler müssen, um
ihre Glaubwürdigkeit herzustellen, sich auf Korruption und Vitamin B beziehen.
Nur dann ist man in Griechenland glaubwürdig.«
Beide lachten.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 78 -
Sonntag, 19. Juli 2015, 10:00 Uhr in Singen, Deutschland
Zamdreou saß im Untersuchungsraum in der Singener Polizeiwache. Vor
ihm befand sich ein Tisch mit einem Mikrofon, gegenübersitzend Florian als
ermittelnder Beamter und Sabine als Polizeipsychologin. Hinter den beiden
befand sich ein verspiegeltes Glas mit einem Technikraum dahinter. Von dort
wurden die Gespräche Digital aufgezeichnet. Neben den Tonaufnahmen
wurden neuerdings auch Videoaufzeichnungen durchgeführt. Deswegen stand
auf einem Stativ ein Camcorder, dessen Mikrochip für Innenaufnahmen
optimiert war. Außerdem befanden sich Ernst und Sabrina hinter der Scheibe
und hörten aufmerksam zu. Sogar Kühne, Florians und Ernsts Chef kam für
eine viertel Stunde vorbei und hörte zu. Dann verschwand er wieder
kommentarlos. Kühne konnte Florian nicht besonders gut leiden. In Kühnes
Augen hatte Florian im Fall, der unter dem Namen ›Hegau in rechter
Verfassung‹ geführt wurde, einen großen Fehler gemacht, den er ihm immer
noch krummnahm. Jedes Mal, wenn Florian zu kritisieren war, hielt er sich nicht
zurück. Wenn ein Fall gut lief, nahm das Kühne kommentarlos zur Kenntnis. So
wie heute.
Seit zwei Stunden lief das Verhör. Florian gab sich heute keine besonders
große Mühe, Fangfragen zu stellen. Immer wieder fragte er nach dem Motiv,
immer wieder betonte Zamdreou seinen wohltätigen Charakter, indem er den
Frauen Arbeit geboten hatte. Den einzigen Fehler, den Zamdreou gemacht
hätte, sei gewesen, dass er Seiler nicht überprüft hätte, ob dieser die
versprochene Arbeit auch tatsächlich hätte. Aber er habe Seiler vertraut.
Zamdreou sah die Schuld bei Seiler und nicht bei sich. Gebetsmühlenartig
wiederholte Florian, dass sowohl Seiler als auch ein zweiter Zeuge gegen
Zamdreou ausgesagt hätten und Zamdreou nun des Menschenhandels
beschuldigt werden würde.
Ursprünglich wollte Florian Zamdreou mit dieser Methode ermüden. Doch
stattdessen wurde dieser immer nervöser. Je länger er auf dem Stuhl saß,
desto unruhiger wurde er. Immer öfter strich sich Zamdreou durch das Haar,
klopfte nervös mit den Fingern auf die Tischkante und drehte heftig an einen
Schmuckring mit seinen Initialen, die groß in einen Stein eingraviert waren, den
er am linken Ringfinger trug.
Florian verließ das Verhörzimmer und winkte Sabine zu, dass sie
mitkommen sollte.
»Weshalb wird er immer nervöser?«, fragte er Sabine.
»Er ist sich seiner Situation voll bewusst. Er kam nach Deutschland, weil er
dachte, er kann Seiler über den Tisch ziehen. Nun sitzt er in Singen fest und
weiß, dass du als deutscher Polizist dein Handwerk gelernt hast. Mit jeder
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 79 -
Minute, die er hier drin verbringen muss, wird ihm bewusster, wie sehr er in der
Scheiße steckt. Und er weiß genau, dass du dabei bist, die Schlinge
auszulegen und sobald er einen Fehler machen wird, wirst du die Schlinge
zuziehen. Er weiß, dass du darauf spekulierst, dass er müde und unkonzentriert
wird. Und genau davor hat er Angst.«
»Das bringt mir aber nichts. Wenn er mit Adrenalin vollgepumpt ist, wird er
hellwach und aufmerksam sein. Dann macht er keine Fehler.«
»Stimmt genau. Eigentlich kannst du abbrechen. Morgen ist auch noch ein
Tag. Gebt ihm morgen keinen Kaffee. Nur Schwarztee, mindestens zehn
Minuten gezogen. Das beruhigt zumindest.«
»In Ordnung.« Er lief in den Technikraum.
»Seid so nett, und macht bitte einen Ausdruck eines ›Kurzprotokolls‹. Ich
möchte das möglichst amtlich machen. Und er muss Dokumente
unterschreiben. Vielleicht schüchtert ihn das noch ein wenig ein.«
»In Ordnung. Ich mache dir was fertig. Zwei Seiten reichen?«, fragte
Sabrina.
»Mir reicht schon eine. Hauptsache, das Polizeilogo ist darauf und er muss
etwas unterschreiben.«
»Zehn Minuten«, sagte sie noch, doch Florian hatte den Technikraum
verlassen und betrat den Verhörraum. Sabine folgte ihm.
»Ist Ihre Partei rechts- oder linksradikal?«, fragte Florian. Ihm war keine
bessere Frage eingefallen.
Wutentbrannt brüllte Zamdreou in das Mikrofon: »Die Chrysi Avgi ist doch
nicht links. Sie haben keine Ahnung. Wir sind keine solchen Kommunisten wie
dieser verfluchte Tsipras. Wir machen rechte Politik. Verstehen Sie? Rechte
Politik. Richtige Politik. Bei uns hätte jeder Arbeit und jeder Geld.« Zamdreou
regte sich weiter auf, während er weiter auf Tsipras und seine Partei Syriza
eindrosch. Irgendwann kam er wieder zur Ruhe. Sabrina kam herein und legte
Florian einen amtlichen Briefbogen auf den Schreibtisch. Dazu legte sie einen
Kugelschreiber. Als Sabrina den Raum verlassen wollte, stand Sabine hektisch
auf und ging mit ihr raus.
Florian war etwas erstaunt darüber, dass Sabine ohne weitere Begründung
den Raum verließ.
Er legte Zamdreou den Bogen hin.
»Hier ist ein Kurzprotokoll des heutigen Tages. Darin ist festgehalten, was
wir heute besprochen haben. Können Sie das bitte Unterschreiben?«
Zamdreou las die DIN-A4 Seite durch.
»Das sind ja mehr oder weniger meine Personalien. Und die Aussage, dass
ich es nicht war, sondern Seiler. Wir hatten doch noch viel mehr gesprochen!«
»Das wird alles ausgedruckt und sie unterschreiben das, wenn wir vor
Gericht gehen. Für den Moment wollen wir dokumentieren, dass Sie sagen, sie
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 80 -
sind unschuldig. Wenn sich das bewahrheitet, haben Sie Anspruch auf
Entschädigung.«
Das war das Stichwort. Zamdreou griff zum Kugelschreiber und
unterschrieb. Kurze Zeit später betraten Sabrina und Sabine den Raum.
»Als Sie unterschrieben haben, habe ich gesehen, dass Sie Linkshänder
sind«, stellte Sabrina fest.
»Ja. Ist das jetzt auch ein Verbrechen?«
Sabrina lächelte. »Nein. Aber Ihr Ring gefällt mir. Darf ich den mal sehen?«
»Nein. Weshalb?«
Florian wurde stutzig. Mit einem Mal hatten Sabrina und Sabine die Fäden
in der Hand und leiteten das Verhör. Florian hatte keine Ahnung, worum es
plötzlich ging.
»Ich möchte mir den Ring aber einmal anschauen«, antwortete Sabrina.
Sabine bemerkte, dass Florian nun überhaupt nichts mehr verstand.
»Entschuldige, Florian. Mir war Herr Zamdreou einen Ticken zu nervös mit
seinem Ring. Das ist ja auch ein Riesenteil. Mit dem kann man schon mal
zuschlagen.«
»Und was hat das jetzt mit unserem Fall zu tun?«
»Nichts. Das ist ja auch nur eine Vermutung von mir und Sabrina.«
Inzwischen hatte ein Polizeibeamter den Raum betreten und forderte den
Ring. Zamdreou zog ihn von seinem Finger ab und der Beamte steckte den
Ring in eine Plastiktüte, die er Sabrina übergab. Sabrina bedankte sich und
verschwand mit dem Ring, um ihn auf DNA-Spuren zu untersuchen.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 81 -
Montag, 20. Juli 2015, 10:00 Uhr in Singen, Deutschland
Florian betrat als Letzter den Verhörraum. Zamdreou reichte er nicht die
Hand, aber seinem Anwalt. Florian begann das Verhör.
»Herr Zamdreou, Sie befinden sich in Deutschland und Deutschland hat
sich zu einem Rechtsstaat verpflichtet. Auch polizeiliche Ermittlungen,
Anklagen, Gerichtsprozesse und alles drum herum ist rechtsstaatlich. Ich
versichere Ihnen einen fairen Prozess. Wenn Sie sich kooperativ verhalten,
sichere ich Ihnen zu, das bei der Staatsanwaltschaft zu bestätigen.«
Zamdreou nickte.
»Gestern hatten wir Sie festgenommen, weil Ihnen Menschenhandel
vorgeworfen wird, und ...«
»... und heute wird mir Mord vorgeworfen. Ich weiß schon«, unterbrach ihn
Zamdreou.
Florian nickte. »Hinter meinem Rücken, hinter dieser Scheibe befindet sich
bereits die Staatsanwaltschaft und hört zu. Es soll Ihr Nachteil nicht sein, wenn
Sie geständig sind.«
Zamdreou nickte.
»Wir haben auf Ihrem Ring ...«
»Ich weiß schon«, unterbrach Zamdreou. »Sie haben DNA-Spuren von
diesem Vogler gefunden. So ein Idiot.«
»Sie geben es zu?«
Zamdreou schaute fragend seinen Anwalt an, und dieser nickte. Dann fing
Zamdreou an zu erzählen.
»Vogler war es, der mich auf die Idee mit dem Mädchenhandel brachte. Es
war ja auch offensichtlich. In Griechenland sind alle arbeitslos. Keiner hat mehr
Geld. Jeder vertraut dem Euro als starke Währung. Die Drachme gilt als
unsicher. Wenn also jemand kein Geld hat und den Euro möchte, was liegt
näher, als in Deutschland zu arbeiten? Oder noch besser. Einen deutschen
Arbeitgeber zu haben und in Griechenland bleiben zu können. Das musste
einfach klappen. Dieser Vogler brachte mich mit Seiler in Kontakt. Seiler war ein
Ekel. Ich mag diesen fetten Kloß nicht. Aber der war von dieser Idee sofort
Feuer und Flamme. So ist das entstanden.«
»Und deswegen musste Vogler sterben?«
»Quatsch. Mit Vogler hatte ich mich gestritten. Er hatte mir Unterlagen
gezeigt, aus denen hervorging, dass die Merkel, eure Kanzlerin, am Sturz von
Tsipras arbeitete.«
»Wo ist das Problem? Das müsste Ihnen doch gefallen haben?«
»Natürlich hat mir das gefallen. Tsipras muss weg. Der ist nicht gut für unser
Land. Aber Vogler wollte diese Unterlagen veröffentlichen. Er wollte sie
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 82 -
der Enthüllungsplattform WikiLeaks zuspielen.«
»Und das hat Ihnen nicht gefallen!«, ergänzte Florian.
»Das hat mir ganz und gar nicht gefallen. Wenn bei WikiLeaks, wenn dieser
Assange in der ganzen Welt verbreitet, dass Angela Merkel dem Sturz Tsipras
vorbereitet, wird sie ihren Plan nie und nimmer durchführen können. Deshalb
wäre eine Veröffentlichung bei WikiLeaks töricht gewesen.«
»Aber Vogler wollte unbedingt die Veröffentlichung. Weshalb?«
»Assange bietet bis zu 50.000 Euro für geheime Dokumente. Außerdem hat
Vogler diesen Whistleblower Edward Snowden bewundert. Vogler wollte
wahrscheinlich ausbrechen aus seinem Beamtenleben. Aus seiner Ehe. Was
weiß ich. Ich kann nicht in andere Menschen hinein gucken. Auf jeden Fall
wollte er sich nicht abbringen lassen. Er wollte die Veröffentlichung. Und er
hatte im Kopf, dass sein Name groß in den Medien erscheinen würde.«
»Da haben Sie miteinander gestritten«, stellte Florian fest.
»Stimmt genau. Es kam zu einer handfesten Auseinandersetzung. Unter
anderem schlug ich ihn mit meinem großen kantigen Ring gegen seinen
hartnäckigen Schädel. Er fasste sich an den Schädel und es blutete etwas.
Während er sich erschrocken sein Blut betrachtete, zog ich meine Pistole und
schoss. Ich hatte immer eine Pistole bei mir. War ja auch kein Problem, denn
ich war mit meinem Auto angereist und nicht mit dem Flugzeug. Wenn Sie die
Fahrtzeiten überprüfen wollen: Drei Tage und zwei Nächte. Ich kann Ihnen die
Hotels nennen, in denen ich übernachtet habe.«
»Wie oft haben Sie geschossen? Nur der Vollständigkeit halber.«
Zamdreou lächelte müde. »Deutsche Gründlichkeit, was? Einmal. Genau
zwischen die Augen.«
»Wo befindet sich nun ihre Pistole?«
»Ich nahm die Leiche, wickelte sie in eine Abdeckplane aus Plastik, die ich
in seiner Garage fand, und fuhr mit ihm in dieses kleine Städtchen Aach, um ihn
dort im Grünen in die Aach zu schmeißen, in der Hoffnung, dass das
Aachwasser so viel wie möglich meine Spuren wegwaschen würde.«
»Was es eigentlich auch getan hat«, meinte Florian.
»Aber die Verletzung durch meinen Ring hat es nicht weggewaschen. Das
war mein Fehler. Ich bin dann zurück zum Haus der Voglers gefahren und habe
dort die Plastikfolie in die Restmülltonne gestopft und bin dann nach Konstanz
gefahren. Dort ging ich auf die Fähre.«
»Wo sie dann unterwegs die Pistole in den Bodensee entsorgt haben«,
ergänzte wieder Florian die Ausführung von Zamdreou.
Dieser nickte.
Florian ergriff wieder das Wort. »Herr Zamdreou. Ich verhafte Sie hiermit
wegen Mordverdachts an Frank Vogler sowie wegen Menschenhandels.«
Zamdreou nickte.
Uwe Johnen: »Aachleiche« - 83 -
»Wissen Sie eigentlich, was die Zeitungen heute berichten?«, fragte Florian.
Zamdreou schüttelte verneinend den Kopf.
»Die Medien berichten, dass es der Finanzminister Yanus Varoufakis war,
der die Regierung Tsipras stürzen wollte. Er wollte unbedingt den Grexit. Dass
es Merkel war, die an einem möglichen Sturz Tsipras gearbeitet hatte, konnte
laut Medienberichten nicht bestätigt werden.«