Presseinformation April | Mai 2016 Das Österreichische Filmmuseum freut sich, mit Christian Petzold und Kelly Reichardt zwei herausragende Vertreter/innen des Gegenwartskinos in Wien begrüßen zu dürfen. Petzold wird von 7. bis 12. April, zum Auftakt der Retrospektive seines Gesamtwerks und einer umfangreichen Carte blanche, im Filmmuseum zu Gast sein. „Ein Abend mit Kelly Reichardt“ findet am 5. Mai statt. Von 22. April bis 4. Mai ist das Programm Unversöhnt zu sehen, das seinen Ausgang u.a. bei Petzolds Film Phoenix, bei Holger Meins (1941–1974) und der Deutschen Film- und Fernsehakademie der späten 60er Jahre sowie bei Jean-Marie Straub & Danièle Huillet genommen hat. Im April erscheint auch der dem Œuvre von Straub-Huillet gewidmete neue Band der FilmmuseumSynemaPublikationen – anlässlich der am MoMA New York startenden Retrospektive und Nordamerika-Tour sämtlicher Filme des Künstlerpaars. Einem Hauptvertreter des überaus virulenten Genres Video-Essay gilt die nächste Ausgabe der Serie „In person“ – Kevin B. Lee. Im aktuellen Kapitel der „Utopie Film“ schließlich (und in Kooperation mit dem Wien Museum) findet sich das Publikum an einem besonderen Ort der Schaulust wieder, der für das Kino von Beginn an entscheidend war: Im Prater. Christian Petzold Gesamtwerk und Carte blanche Als das Filmmuseum Christian Petzold (*1960) eine erste Retrospektive widmete, war er gerade mit seinem Kinodebüt Die innere Sicherheit (2000) „vom Geheimtipp des deutschen Gegenwartskinos zu einem seiner wichtigsten Vertreter avanciert“ – eine Einschätzung, die seither mehrfach bestätigt wurde. Preisgekrönte Arbeiten wie Gespenster, Yella und Jerichow rückten ihn immer stärker ins internationale Rampenlicht, während er seinen unverwechselbaren Stil perfektionierte. Petzold arbeitet an Phantombildern der deutschen Gegenwart, gespeist aus einer cinephilen Passion, die nicht am bloßen Zitat, sondern am (Ein-)Gemachten des Kinos interessiert ist. Und er beschwört gern Claude Chabrol als Referenzgröße, vor allem, was die Rolle der découpage betrifft: Die filmische Erzählung entsteht nicht so sehr am Schreib- oder Schneidetisch, sondern in der bewussten und präzisen Wahl von Blickpunkten, Bildgrößen, Kamerabewegungen; dort, wo die Kinobegriffe selbst eine Engführung von Sujet, Figuren und Welthaltigkeit erlauben. Zwischen den Trugbildern eines „dokumentarischen“ Naturalismus und einer demonstrativ ausgeschilderten „Message“ setzt Petzold auf eine entschlackte Idee von Künstlichkeit. Nicht schöne Oberflächen oder auffällige Erzählexperimente sind das Ziel, sondern die filmische Konkretisierung dessen, was im jeweiligen Stoff – und in der Gesellschaft – latent vorhanden ist: „Das Kino entdeckt diese Dinge ja nicht, sondern es kennt sich nur wahnsinnig gut aus im Bereich der Träume und der Verdrängung. Hier findet das kollektive Unbewusste Bilder und Töne, hier geht es um Menschen, die an den Verhältnissen zerbrechen und die sich dagegen zur Wehr setzen.“ Zuletzt hat Petzold zwischen erfolgreichen TV-Ausflügen die Beforschung des Unbewussten um historische Sujets erweitert: Die DDR-Geschichte Barbara und der Nachkriegs-Psychothriller Phoenix wurden weltweit seine größten Publikums- und Kritikererfolge. Nur in Deutschland stieß Phoenix auf wenig Gegenliebe – wohl ein Beleg für die Ausnahmeposition, die sich Petzold (in fruchtbarer Zusammenarbeit mit seinem 2014 verstorbenen Lehrer und Dramaturgen Harun Farocki) erkämpft hat: Als wäre sein Kino zu filigran, zu vielschichtig, zu intelligent für „Aufreger“-Debatten im Feuilleton, das sich in Oberflächlichkeiten verbeißt, statt den subtilen Reichtum dessen zu würdigen, was durch bloße Andeutung wirkt. Seit seinem Hochschul-Abschlussfilm, dem Road Movie Pilotinnen (1995), hat Petzold so gründlich wie gelassen deutsche Wirklichkeit mit mythischen Entwürfen fusioniert, insbesondere mit jenen des heißgeliebten Krimi-Genres (z.B. wenn er The Postman Always Rings Twice vor dem Hintergrund des Afghanistankriegs zu Jerichow umschreibt). Auch Geistergeschichten sind ihm nahe: Die RAF-Vergangenheit spukt durch Die innere Sicherheit, die ökonomische „Einverleibung“ des deutschen Ostens durch Yella, die Gespensterwelt des Holocaust durch Phoenix – als Edelzombie-Variante von Orpheus und Eurydike mit Schlaglichtern von Fassbinder-Melodram, Franju-Horror und allumfassender Noir-Ambivalenz. Nicht zuletzt beweist Phoenix sehr konsequent, dass Petzoldfilme erschütternde Liebesfilme sind: noch ein Kino-Kernmythos. Die aus 21 Werken bestehende Carte blanche vertieft dementsprechend Christian Petzolds Wahlverwandtschaften – im erinnernden Umgang mit dem Kino, das für ihn ein „Proust’sches Medium“ ist: „Manche glauben, dass Reflexion die Frische zerstört, aber ich denke, dass sie zu einer anderen Form des Ungekünstelten führt.“ Es sind Filme, wie er sie gemeinsam mit Crew und Schauspielern zur Vorbereitung sichtet. „Kino ist ein Kollektiv, man muss sich ja verständigen, das ist wie bei einem Bankraub.“ Erbeutet werden dabei auch neue Perspektiven: „Der Film wird ein anderer, wenn man ihn mit zwei verschiedenen Darstellern schaut.“ Das Verhältnis zwischen Petzolds eigenen Filmen und denen, die er ausgewählt hat, ist nur zum Teil thematisch begründet. Szabó Istváns Bizalom etwa korrespondiert mit Phoenix durch sein Weltkriegssujet, aber vor allem im Porträt einer Paarbeziehung, in der „Spiel zu Gefühl“ wird. An der Noir-Perle Phantom Lady faszinieren Petzold die „schwachen Männer“, aber auch der Irrwitz der Plot-Komplikationen. Eine starke Frau wie Petzolds Beischlafdiebin findet ihr Echo in einer Nebenfigur von Don Siegels Gangster-Geniestreich Charley Varrick. Auch Bewegungsformen des Kinos bieten Anknüpfungspunkte: Wie man langes Gehen filmt (in Gespenster und in La Fille seule) oder Bilder für „herumfahrende Gespenster“ findet (in Die innere Sicherheit und Near Dark). Wie die Titelheldin von Yella sich verkauft, haben es die Titelfiguren von American Gigolo und Pretty Woman getan, unter jeweils spezifischen historischen und sozialen Bedingungen. So vermag das „Proust’sche“ Kino sich und uns an seine und unsere Zeiten bzw. Orte zu erinnern. Christian Petzolds Filme suchen diese Kraft auch in der Bilderflut des 21. Jahrhunderts: Sie erzählen eine, seine wahre Geschichte Deutschlands und was es heißt, darin zu leben. Christian Petzold wird in Wien für eine Masterclass (in Kooperation mit dem Drehbuchforum Wien) und mehrere Publikumsgespräche zur Verfügung stehen sowie eine Lehrveranstaltung am TFM der Universität Wien halten, gemeinsam mit Ralph Eue und, als Gast, Linda Söffker (Berlinale/Perspektive Deutsches Kino). 7. April bis 4. Mai 2016 2 Ästhetik der Analyse Kevin B. Lee – In person Die moving images von Kevin B. Lee (*1975) lassen sich als zeitgenössische Antwort auf die von Raymond Bellour beschworene „Enteignung des Gegenstands“ Film durch dessen Übertragung in Sprache oder Schrift verstehen. Von der New York Times zum „King of Video Essays“ gekrönt, verfasst Lee seit 2007 kritisch-analytische Arbeiten über das Kino – anfangs noch sporadisch im Rahmen seines Blogs shootingdownpictures, mittlerweile u.a. für das New Yorker MoMI und einmal pro Woche für Fandor. Dieser Korpus von mittlerweile über 250 Kurzfilmen erstreckt sich von der Analyse einzelner Werke über Künstlerporträts bis hin zu essayistischen Reflexionen über das Verhältnis von Kino, Technologie und Gesellschaft. Neben faszinierend genauen Blicken auf Filme (stets geleitet von subjektiven Präferenzen) kristallisiert sich zunehmend eine spezifische Ästhetik der Analyse heraus. Mittels bewegter Bilder und Töne untersucht Lee eben diese beiden „Sprechweisen“ des Kinos – und bringt dabei Werke hervor, die auch der poetischen Erfahrung des Mediums nahe sind bzw. selbst zu einer ganz eigenen Insel im Kino werden: Sein fulminanter Transformers: The Premake etwa wurde in der Avantgarde-Sektion des Filmfestivals in Rotterdam gezeigt und von Sight & Sound als einer der „Dokumentarfilme“ des Jahres 2014 gefeiert. Das im Filmmuseum präsentierte Programm ist die erste ausführliche Würdigung von Lees Schaffen. Es lädt dazu ein, einen Autor kennen zu lernen, der entlang der Schnittstelle von Theorie und Kunst balanciert, und das Potenzial seiner kritischen Methode auszuloten. Im Sinne der permanenten Weiterentwicklung seiner Arbeit(en) wird Kevin B. Lee zu einigen Werken „LivePerformances“ abhalten und ausgewählte Video-Essays anderer Autor/inn/en in die Programme einschleusen. 18. bis 20. April 2016 Unversöhnt Filme von, mit und über Holger Meins – sowie von Roberto Rossellini, Peter Lorre, Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, Walter Krüttner, Harun Farocki, Johannes Beringer, Helke Sander, Gerd Conradt, Thomas Giefer, Günter Peter Straschek, Renate Sami, Gerhard Friedl, JeanGabriel Périot Die gezeigten Werke ergeben eine Konstellation, ein Sternbild. Der Satz von Holger Meins (1941– 1974), der auch Renate Samis Film über ihn als Titel dient, wäre eine andere mögliche Überschrift für das Programm: „Es stirbt allerdings ein jeder, fragt sich nur wie, und wie du gelebt hast.“ Meins, der als junger Filmemacher in den Untergrund ging und sich der RAF anschloss, wurde vor 75 Jahren geboren. Vor 50 Jahren, im September 1966, eröffnete der Berliner Bürgermeister Willy Brandt die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb), deren erstem Jahrgang Meins angehörte, neben Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, Helke Sander, Johannes Beringer, Gerd Conradt und anderen. „Von Beginn an war die Atmosphäre an der Schule politisch hoch aufgeladen. Nach dem 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, radikalisierte sich die Haltung vieler Studierender. 3 1968 wurden einige von ihnen nach der Besetzung des Rektoren-Büros und der symbolischen Umbenennung in ‚Dziga-Wertow-Akademie‘ zeitweilig relegiert. Mehrere Filme jener Zeit verstanden sich als direkte Gebrauchsanweisungen für den ‚revolutionären Kampf‘ oder stellten die Frage nach der Notwendigkeit von gewaltsamem Widerstand.“ (Claudia Lenssen) Der Grazer Günter Peter Straschek (1942–2009) war ebenfalls Teil des ersten dffb-Jahrgangs. Nach Versuchen, mittels sozialistischer Filmarbeit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft tätig zu werden (also über die Bohème hinaus), publizierte er 1975 das Handbuch wider das Kino und begann seine jahrzehntelangen Forschungen zum deutschsprachigen Filmexil. „Wenn man erfahren will, was GPS umtrieb, höre man sich an, wie er in Huillet & Straubs Film Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene die Briefe bzw. Briefstellen von Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky liest: etwas von dieser Abgrenzung und Schärfe war auch in seinem eigenen Wesen.“ (Johannes Beringer) Zur Frage, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 ihre Geschichte vor 1945 bearbeitet, verdrängt, inszeniert oder in Begleitmusik umgeschrieben hat, liegen ganze Bibliotheken vor. Einige Regale darin widmen sich dem um 20 Jahre verzögerten Bruch, auf den die Studentenbewegung und die militanten Gruppen abzielten: eine Bewusstmachung und Unterbrechung bestimmter Kontinuitäten zwischen dem NS-Staat und der BRD. Ein frühes, rares und für die Generation von Straschek, Bitomsky, Farocki prägendes Beispiel des Bruchs im deutschen Kino war das Schaffen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, beginnend mit Machorka-Muff (1962) und Nicht versöhnt (1964/65). Ihren späteren Film Moses und Aron (1974) widmeten sie dem im Hungerstreik verstorbenen Staatsfeind Holger Meins. Die deutschen Filme des Italieners Roberto Rossellini (Deutschland im Jahre Null, 1948) und des Remigranten Peter Lorre (Der Verlorene, 1951) sind ebenso rare Bruchstellen. Im Zentrum steht der Umgang mit einer Schuld, die 1945 nicht einfach verschwunden ist, sich vielfach auch fortsetzte oder auf neue Weise auftürmte. Die Schuld erkennen und (noch bei geschlossenen Augen) sehen zu können, bringt freilich keine Versöhnung. Die Filme enden tragisch. Ihr kathartisches Potential wiederum traf auf tote Augen: Kaum jemand in Deutschland oder Österreich wollte sie wahrhaben oder auch nur zeigen. Christian Petzold, dffb-Absolvent späterer Jahre (mit Lehrern wie Bitomsky und Farocki, der dann auch zu seinem Co-Autor wurde), schaut in seinem Film Phoenix (2014) auf eben diese Nachkriegsblindheit zurück. Auch die Filme von Gerhard Friedl (*1967, Bad Aussee, † 2009, Berlin) und Jean-Gabriel Périot (*1974, Bellac) spinnen die Fäden aus Sicht der Nachgeborenen fort – auf völlig konträre Art. Ausschließlich aus Archivmaterial rekonstruiert Périot „eine deutsche Jugend“ (jene der 60er und 70er Jahre; im engeren Sinne: jene der dffb 1966–68). Friedl denkt neu über Kontinuitäten nach, am Beispiel der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu die Landschaften des Kapitalismus: heute. „Die Dinge, die hier zwischen uns zur Sprache kommen könnten, die sind weder Ihnen noch mir sonderlich angenehm.“ (Der Verlorene) 22. April bis 4. Mai 2016 4 Ein Abend mit Kelly Reichardt Seit ihrem internationalen Durchbruch mit der wunderbaren Streuner-Geschichte Wendy and Lucy (2008) sind Kelly Reichardts Filme auch hierzulande regelmäßig ins Kino gekommen – und „Wendy“ Michelle Williams wurde seither zu ihrer buchstäblichen Haupt-Darstellerin. Reichardt gilt heute als zentrale Vertreterin eines neuen amerikanischen Kinos, das sowohl der ökonomisch prekären Gegenwart als auch der US-Gewaltgeschichte (wie in dem Pionier/innen-Western Meek’s Cutoff) zutiefst humane Perspektiven abringt. Reichardts frühe Spielfilme haben dagegen nur wenige Vorführungen in Österreich erlebt. Anlässlich der Restaurierung ihres von Bonnie & Clyde inspirierten Debüts River of Grass (1994) und des Neuerwerbs ihres zweiten Films Old Joy (2006, mit Will Oldham) für die Sammlung des Filmmuseums kommt die Regisseurin nach Wien, um dem Publikum diese beiden Werke persönlich vorzustellen. 5. Mai 2016 Filmauswahl: Christian Petzold – Gesamtwerk und Carte blanche Pilotinnen 1995, Christian Petzold Cuba Libre 1996, Christian Petzold Die Beischlafdiebin 1998, Christian Petzold Die innere Sicherheit 2000, Christian Petzold Toter Mann 2001, Christian Petzold Wolfsburg 2003, Christian Petzold Gespenster 2005, Christian Petzold Yella 2007, Christian Petzold Jerichow 2008, Christian Petzold Etwas Besseres als den Tod 2011, Ch. Petzold Barbara 2012, Christian Petzold Phoenix 2014, Christian Petzold Kreise 2015, Christian Petzold Phantom Lady 1944, Robert Siodmak Border Incident 1950, Anthony Mann He Ran All the Way 1951, John Berry Imitation of Life 1959, Douglas Sirk Cléo de 5 à 7 1961, Agnès Varda La Femme infidèle 1969, Claude Chabrol Klute 1971, Alan J. Pakula Rocker 1972, Klaus Lemke Charley Varrick 1973, Don Siegel The Driver 1978, Walter Hill Saint Jack 1979, Peter Bogdanovich Bizalom (Vertrauen) 1980, Szabó István American Gigolo 1980, Paul Schrader Thief 1981, Michael Mann …All the Marbles 1981, Robert Aldrich Near Dark 1987, Kathryn Bigelow Pretty Woman 1990, Garry Marshall [Ausschnitt] La Fille seule 1995, Benoȋt Jacquot Les Voleurs 1996, André Téchiné La stanza del figlio 2001, Nanni Moretti Le Petit lieutenant 2005, Xavier Beauvois Weitere Informationen und Fotos finden Sie auf www.filmmuseum.at oder Sie wenden sich direkt an: Alessandra Thiele, [email protected], T: + 43/1/533 70 54 DW 22 Eszter Kondor, [email protected], T +43/1/533 70 54 DW 12 5
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