- Lucian J. Peters

Lucian J. Peters
Aron©
Die entführten Seelen
Roman
Copyright © 2013 Peter Labusch
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Für meine geliebte Frau und Tochter
„Es muss doch einen Sinn haben,
wenn einer wie Du Seelenbegleiter wird.“
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Es war sicher nicht die Art, mit seinem Arbeitsgerät
umzugehen. Arons Dienstwagen machte einen ungepflegten
Eindruck. Der Lack wies etliche Kratzer auf, die Sitze waren
zerschlissen, und der Innenraum war mit leeren Flaschen und
Verpackungen zugemüllt. Allerdings war Aron selbst auch nicht
der Wunschkandidat für den Job eines Seelenbegleiters. Ein
Gothik-Typ mit langen, schwarzen Haaren, schwarzen
Klamotten und einer Unzahl silberner Ketten und Ringe,
inklusive eines großen Totenkopf-Rings an seiner rechten
Hand. Optisch die komplette Fehlbesetzung.
Nicht nur seine Kollegen, auch er selbst hatte sich schon
einige Male gefragt, warum ausgerechnet jemand wie er dazu
auserkoren worden war, die Seelen von gerade Verstorbenen
zum nächsten Himmelstor zu begleiten. Er hatte nicht den
Hauch einer Idee, warum, aber letztlich war es ihm auch egal.
Der Job war gut. Die Tätigkeit machte Spaß und die
Arbeitszeiten waren trotz der Schichtarbeit moderat. Die
Kolleginnen und Kollegen waren zwar langweilig und etwas
steif, sonst aber sehr nett, und die meisten akzeptierten ihn,
wie er war. Und vor allem hatte er als Dienstwagen sein
Wunschauto bekommen. Einen alten, schwarzen Ford
Mustang. Dass der Wagen einen etwas verlebten Eindruck
machte, lag auch nicht daran, dass Arons Herz nicht an ihm
hing, sondern allein an seiner chaotischen, schusseligen und
unbedachten Art. Er war vernarrt in das Auto. Am Wohlsten
fühlte er sich in seinem Mustang, laute Musik hörend.
So drang auch jetzt ohrenbetäubende Heavymetal-Musik aus
dem geparkten Wagen nach draußen. Aron hatte den Sitz weit
nach hinten gedreht und lauschte mit geschlossenen Augen,
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eine Coke in der linken Hand haltend. Das zunächst
langsame, dann hektischer und heller werdende Blinken unter
einem Stapel Burger-Packungen auf dem Beifahrersitz nahm
er nicht wahr. Er sang mit, laut und falsch. Erst als die CD zu
Ende war, richtete er sich auf und nahm das Leuchten wahr.
„Oh, ein Auftrag“, sagte er zu sich selbst und kramte ein Buch
unter dem Stapel Verpackungen hervor, das sehr alt aussah.
Der Ledereinband war abgegriffen und zerknittert. Am rechten
oberen Ende war eine Art Metall-Clip angebracht, der hektisch
blinkte. Aron versuchte das Buch zu öffnen, was ihm misslang,
denn er hielt in der linken Hand immer noch den Coke-Becher.
Er hielt kurz Ausschau nach einem Platz, an dem er den
Becher hätte abstellen können. Dann grinst er und nahm ihn
zwischen die Zähne.
„Na also, geht doch“, quetschte er zwischen den
geschlossenen Zähnen hervor, schlug die Seite mit dem
heutigen Datum auf und nahm den Becher wieder in die Hand.
„Mal sehen, wen es heute in den Himmel verschlägt.“
Aron wollte sich bequem im Sessel zurücklehnen, vergaß
dabei aber, dass er den Sitz noch weit nach hinten gestellt
hatte. Er fiel hintenüber und ein Schwall Coke ergoss sich auf
seine Hose und das aufgeschlagene Buch.
„Oh Mist, Mist.“ Arons Gesicht verzog sich. „Das darf doch
nicht wahr sein.“
Hektisch versuchte er die Coke von der Seite zu wischen, was
die Sache aber nur noch schlimmer machte.
„Ok, ok, nur ruhig Blut. Mal sehen.“ Er versuchte, die
verschmierte Schrift zu entziffern. „Also, 16:34 Uhr, LincolnStreet, Nr. äh irgendwas, blauer äh irgendwas – Mist, Mist,
Mist!“
Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war exakt 16:28 Uhr. Das
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würde knapp werden und Aron hasste es, zu spät zu kommen.
Nicht nur, dass man sich in der Regel den Zorn des
Wartenden zuzog, wenn der nicht gerade selbst unpünktlich
war, es war auch äußert respektlos. Seine Mutter hatte immer
gesagt, dass es schlimmer ist, einem Menschen Zeit zu
stehlen, als ihm Geld wegzunehmen, denn vergeudete Zeit
kann man niemals zurückgeben. Und obwohl er ihr recht gab,
sich also Unwohlsein mit Erkenntnis paarte, gelang es ihm
immer wieder, zu spät zu kommen. Es war auch nicht
unbedingt clever, dann loszufahren, wenn man da sein sollte,
oder für die Fahrt fünf Minuten einzurechnen, wohl wissend,
dass man sonst mindestens eine viertel Stunde benötigte. Das
Pünktlichkeits-Gen fehlte ihm, anders ließ es sich nicht
erklären. Aron startete den Wagen, fuhr los und raste durch
die Stadt.
„Oh Mann, was mache ich nur? Die Lincoln-Street ist endlos.“
Er fuhr noch schneller und überholte mit einigen riskanten
Manövern mehrere Autos. Dann hatte er eine Idee. Der
Bordcomputer, natürlich, der hat doch alle Informationen. Wie
beliebte der Kollege, der ihn eingebaut hatte, mit
stolzgeschwellter Brust zu sagen.
„Hast Du den Computer im Auto, brauchst Du kein Buch mehr.
Alle Informationen auf einen Blick verfügbar, jederzeit und
immer aktuell.“
Aron hielt nicht viel davon. Ihm war sein gutes, abgenutztes
Buch lieber. Da war er altmodisch. Dennoch hellten sich seine
Gesichtszüge etwas auf. Dann halt doch das elektronische
Ding. Er schaltete den Bordcomputer vorne am Armaturenbrett
ein.
„Herzlich willkommen“, begrüßte ihn eine freundliche
Frauenstimme. „Bitte sprechen Sie Ihr Passwort laut und
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deutlich in das Mikrofon links neben dem Einschaltknopf. Und
denken Sie daran: Bitte benutzen Sie dieses Gerät nie
während der Fahrt, nur im Stehen auf einem sicheren
Parkplatz.“
Aron schaute verdutzt. „Passwort, Passwort“, murmelte er.
Dann rief er laut: „Oh Mist!“
„Das Passwort ist falsch“, sagte die Frauenstimme. „Bitte
sprechen Sie Ihr Passwort laut und deutlich in das Mikrofon
links neben dem Einschaltknopf. Und denken Sie daran: Bitte
benutzen Sie dieses Gerät nie während der Fahrt, nur im
Stehen auf einem sicheren Parkplatz.“
Aron wurde sauer. Diese IT-Heinis, immer alles kompliziert
und unverständlich. Seine Hände krallten sich ins Lenkrad.
Dann entspannte er sich wieder.
„Aron, bleib cool. Denk nach. Wie war noch mal das Passwort
Es war etwas aus der Weihnachtsgeschichte - ah, ich weiß, es
war einer der heiligen drei Könige, ganz bestimmt.“
Er beugte sich etwas vor und sprach laut und deutlich.
„Kaspar.“
„Das Passwort ist falsch“, war wieder die Stimme des
Bordcomputers zu hören. „Bitte sprechen Sie Ihr Passwort laut
und deutlich in das Mikrofon links neben dem Einschaltknopf.
Und denken Sie daran: Bitte benutzen Sie dieses Gerät nie
während der Fahrt, nur im Stehen auf einem sicheren
Parkplatz.“
„Ist ja gut, ich hab's kapiert. Nie während der Fahrt“, murmelte
Aron leise vor sich hin.
Er überholte drei Wagen, wich im letzten Moment einem LKW
aus, fuhr ein Stück auf dem gegenüberliegenden Bordstein,
auf dem gerade keine Fußgänger unterwegs waren, bevor er
mit einem scharfen Schlenker wieder auf seine Spur kam.
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„Ok, ok, dann eben einer der beiden anderen.“
Er beugte sich vor und sprach wieder laut und deutlich.
"Melchior."
„Das Passwort ist falsch . . .“
Aron war jetzt wirklich genervt.
„Oh Mann, dann eben Balth . . ."
„Sie haben drei mal das falsche Kennwort eingegeben. Der
Zugang ist für eine Stunde gesperrt. Bitte versuchen Sie es in
einer Stunde erneut. Und denken Sie daran: Bitte benutzen
Sie dieses Gerät nie während der Fahrt . . .“
„Ahhhhh!“ Arons Stimme übertönte den Rest der Ansage.
Er wurde jetzt richtig wütend, lehnte sich zurück und begann
mit dem rechten Fuß gegen den Bordcomputer zu treten,
während er mit dem linken Gas gab. Der Wagen geriet ins
Schlingern und einige Mal hätte er um ein Haar einen Unfall
gebaut, aber keiner hupte oder wich ihm aus. Für die anderen
Verkehrsteilnehmer schien er Luft zu sein. Schließlich kam er
in die Lincoln-Street und sah sich suchend um.
„Komm schon, zeig Dich. Du musst hier irgendwo sein.“ Aron
war merklich nervös. Er überholte einige Wagen, darunter
einen blauen Kleinwagen, in dem eine ältere Dame am Steuer
saß. Er sah hinein, aber die Frau, wie alle anderen, ignorierte
ihn. Er setzte sich vor die Dame und blickte prüfend in den
Rückspiegel. Plötzlich wurde er von einem schnellen, blauen
Sportwagen überholt.
„Na also, da haben wir Dich. Wer so fährt, ist selbst schuld.“
Er gab Gas und fuhr hinter dem Wagen her. Aron grinste
zufrieden und deutlich entspannt.
„Mal sehen, wie weit Du noch kommst, um welchen Baum Du
Dich wickelst.“
Der blaue Wagen folgte etwa zweihundert Meter dem Verlauf
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der Lincoln-Street, wobei er sich durch seine aggressive
Fahrweise sicherlich keine Freunde machte, dann bog er
plötzlich ab.
Aron war konsterniert. „He, he, das geht nicht. Was macht der
Idiot?“
Er blätterte wieder in seinem Buch, was seinen eigenen
Fahrstil nicht besser machte.
„Hier steht Lincoln-Street. Mach doch keinen Mist, Mann.“
Er war nun äußerst beunruhigt. Der blaue Wagen bog noch
zwei mal ab und hielt in der Einfahrt vor einem Reihenhaus.
Der Fahrer stieg aus und sprang gut gelaunt ins Haus. In der
Hand hielt er einen großen Strauß Blumen. Offensichtlich hatte
er noch einiges vor an diesem Abend. Aron saß einen Moment
wie versteinert im Wagen.
„Oh Scheiße, das ist der Falsche.“ Er blickte fassungslos über
das Lenkrad auf das kleine Grundstück. „Das ist der Falsche,
verdammt.“
Der Seelenbegleiter wendete und raste durch die LincolnStreet zurück.
„Wo bist Du? Wo bist Du?“
Er kam an dem korrekt auf dem Seitenstreifen geparkten
blauen Wagen vorbei, in dem die ältere Frau gesessen hatte.
Fast wäre er vorbeigefahren, da fiel ihm auf, dass mehrere
Menschen um den Wagen herumstanden und aufgeregt
diskutierten. Aron wechselte mit quietschenden Reifen die
Straßenseite, hielt hinter dem Kleinwagen und stieg aus. Die
ältere Frau saß zusammengesunken hinter dem Steuer. Sie
hatte es gerade noch geschafft, korrekt zu parken, bevor der
Tod sie aus dem Leben gerissen hatte. Aron sah sich suchend
um und lief den Gehsteig entlang. Schließlich entdeckte er
eine verloren wirkende Person ein Stück von der Straße
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entfernt auf einem Rasenplatz und ging zu ihr. Sie kehrte ihm
den Rücken zu und schluchzte leise.
„Madam“, Arons Stimme war ganz sanft.
Die Person drehte sich um. Es war die ältere Frau aus dem
Auto.
„Oh mein Gott. Was ist nur passiert?“ Ihre Stimme zitterte.
„Sie müssen sich nicht sorgen. Es ist alles gut.“
„Keiner hört oder sieht mich. Niemand reagiert auf mich. Bin
ich tot?“
„Machen Sie sich keine Gedanken. Ich bringe Sie jetzt zu
Ihrem Mann. Er wartet auf Sie und freut sich darauf, Sie
wieder in den Arm zu nehmen.“
„Rupert? Sie meinen wirklich Rupert?“
„Ich meine wirklich Rupert. Ihren Ehemann.“
„Der gute Rupert.“ Sie dachte nach. „Vor vier Jahren ist er von
mir gegangen. Wissen Sie, junger Mann, zweiundfünfzig Jahre
waren wir verheiratet.“ Sie klang stolz.
Aron lächelte: „Und er ist glücklich über jedes einzelne Jahr.“
Er legte seine Hand auf ihre Schulter und zog sie sanft mit
sich.
„Ist es schön, dort, wo wir jetzt hingehen?“ fragte die Frau.
„Es ist wunderschön. Es wird Ihnen gefallen.“
Sie gingen gemeinsam den Weg entlang. Die ältere Dame
hatte sich bei Aron eingehakt, so als würden sie sich schon
lange kennen.
„Ist es weit? Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß?“
„Nein, gar nicht. Nur ein paar Meter. Und dort, wo sie
hingehen, werden Sie wieder laufen und springen wie ein
junges Reh.“
Die ältere Frau musste lachen: „Ach, junger Mann, ich weiß
gar nicht, ob ich das noch möchte. Aber schmerzfrei wieder
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gehen zu können, das wäre schon schön.“
„Das werden Sie, glauben Sie mir. Oder sehe ich aus wie
jemand, der die Unwahrheit sagen könnte.“
„Also wissen Sie, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen . . .“ Sie
war jetzt ganz fröhlich.
„Und schon sind wir da“, unterbrach Aron sie, der genau
wusste, was sie sagen wollte. Er schmunzelte.
Sie standen mitten in einem kleinen Park. Plötzlich schien ein
Licht vom Himmel. Zuerst war es nur ein kleiner Strahl, wie
von einer Taschenlampe, der dann immer heller und breiter
wurde.
„Gehen Sie. Sie werden schon erwartet.“
„Kommen Sie nicht mit?“
„Nein“, Aron schüttelte den Kopf. „Meine Aufgabe ist erfüllt. Es
gibt noch eine Menge anderer Seelen, die begleitet werden
wollen.“
„Na dann, vielen Dank. Wenn Sie einmal so weit sind, werde
ich oben auf Sie warten.“
„Das ist nett von Ihnen. Ich freue mich darauf.“
Die Frau drehte sich um und wurde behutsam durch das Licht
hindurch nach oben gezogen. Ihre Haltung straffte sich dabei
und sie lächelte glücklich. Aron winkte zum Abschied noch
einmal, dann ging er zufrieden zu seinem Wagen.
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Als er aus dem schwach erleuchteten Gang in die kleine Höhle
trat, blieb er stehen. Es war dunkel. Nur aus einem Loch in der
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Mitte schien ein unheilvolles, orangefarbenes Licht, das aber
die Höhlenränder nicht erreichte und die Wände im Schatten
ließ. Die Höhle selbst war nicht groß. Der Durchmesser betrug
keine sieben Meter. Pesasteron hatte keine Zeit. Sie konnten
jederzeit da sein. Dennoch versuchte er, die Dunkelheit mit
seinen Blicken zu durchdringen. Der Schwanz, der aus seinem
unteren Rücken ragte und an einen Löwenschwanz erinnerte,
schwang als Ausdruck seiner Nervosität von einer Seite auf
die andere. Er hielt die Luft an und lauschte, aber außer dem
Rauschen des eigenen Blutes, das durch seine Ohren jagte,
war nichts zu hören. Es schien, als sei die Höhle leer, als habe
keiner damit gerechnet, dass er diesen Weg wählen würde.
Sein Verstand sagte ihm, dass es nicht clever war,
weiterzugehen. Und nicht nur sein Verstand, auch sein Instinkt
riet ihm vehement, diesen Weg auf alle Fälle zu meiden und
umzukehren, egal was ihm entgegenkommen würde, aber er
musste ihn unbedingt warnen, und die Verfolger durften
inzwischen schon dicht hinter ihm sein. Es war zu wichtig.
Pesasteron zog sein Schwert aus der Scheide und bewegte
sich vorsichtig vorwärts. Als er auf der gegenüberliegenden
Seite ein Geräusch hörte, duckte er sich und fixierte die Stelle
mit den Augen. Gebannt hielt er wieder den Atem an und
lauschte. Es war still, kein Laut war zu hören, keine Bewegung
erkennbar. Den Schlag, der in seinem Gesicht explodierte, sah
er nicht einmal im Ansatz kommen.
'Also mehr als ein Angreifer', dachte er, während er rückwärts
in die Richtung des Loches taumelte, 'oder der alte Trick mit
dem geworfenen Steinchen. Wie konnte er nur so . . .'
Pesasteron kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu
führen, denn als er sich gerade wieder gefangen hatte und
den Arm zur Abwehr heben wollte, traf ihn ein Tritt gegen die
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Brust, der so hart war, dass er rückwärts in das Loch fiel. Er
spreizte Arme und Beine und tatsächlich gelang es ihm, den
Sturz abzufangen, denn der Durchmesser entsprach ungefähr
der Länge seines ausgestreckten Körpers. Pesasteron war
trainiert und stark. Seine mächtigen Muskeln spannten sich,
als er Hände und Füße gegen die Wände drückte. Er kämpfte
gegen die Schwerkraft an und versuchte, sich Stück für Stück
wieder nach oben zu schieben. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Nach unten zu sehen, war ihm in dieser Haltung nicht möglich.
Er hätte es aber auch nicht getan, denn er hatte panische
Furcht vor dem, was dort lauerte. Zentimeter um Zentimeter
gelangte er näher an den Rand, der schon in verführerischer
Reichweite vor ihm lag.
Als ihm der Speer tief in die Brust drang, griff er automatisch
danach und verlor sofort den Halt. Er fiel ohne ein Wort, ohne
zu schreien. Seine sterbenden Augen starrten nach oben zu
seinem Mörder, der an den Rand getreten war, erkannten ihn
aber schon nicht mehr. Er stürzte der orangefarbenen Masse
entgegen und verschwand.
Aron fuhr rasant mit dem Mustang vor. Langsam zu fahren,
war nicht sein Ding. Um ein Haar hätte er auf dem Parkplatz
einen weißen Mitsubishi gerammt, dessen Fahrer, sich aber
nicht weiter um Aron kümmerte. Er kannte ihn und hatte es
sich abgewöhnt, über den Chaoten nachzudenken oder sich
etwas daraus zu machen, was er tat.
Vor dem großen Gebäude liefen viele Männer und Frauen
herum, fast ausnahmslos in hellen Farben, vornehmlich weiß
und beige, gekleidet. Aron fiel mit seinen schwarzen
Klamotten, insbesondere dem schwarzen Stoffmantel, extrem
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auf, was jedoch weder ihn noch jemand anderes zu stören
schien. Der Aufbau, die Einrichtung und die gesamte
Anmutung des Gebäudes ließen erahnen, dass es sich um ein
Verwaltungsgebäude handelte. Dafür sprach auch der
Empfang, der mittig in der Halle hinter den großen
Eingangstüren angebracht war. Was es allerdings nicht gab,
waren wie auch immer geartete Zugangskontrollen. Alles war
offen und einladend. Insofern war der Empfang auch mehr ein
Informationspunkt, als eine Anmeldung. Gerade als Aron dort
vorbeilaufen wollte, sprach ihn eine Stimme hinter dem Tresen
an.
„Na Charon, wieder mal zu spät gewesen?“ Das süffisante
Lächeln des Mannes ließ keinen Zweifel daran, dass er Aron
nicht unbedingt wohlgesonnen war. Der Seelenbegleiter ging
zu ihm.
„Immer wieder der gleiche Witz, und er wird einfach nicht
komisch, egal wie oft Sie ihn wiederholen. Und woher wissen
Sie das mit dem Zuspätkommen denn schon wieder?“
„Man hat so seine Quellen. Ich zumindest habe sie. Übrigens
der Chef will Dich sprechen, Charon.“
„Mein Name ist Aron. Aron. Und ich habe nichts, aber auch gar
nichts mit dem greisen Typ auf dem Boot gemeinsam.“
„Ist ja gut, Charon, äh ich meine, Aron.“ Der Mann lehnte sich
grinsend über den Tresen. „Nur nicht so gereizt. Ach übrigens,
wo wir schon beim Thema sind: Siehst Du den Mann, der da
drüben sitzt?“
Ein paar Meter entfernt saß ein Mann in einer kleinen
Sitzgruppe und las in Unterlagen. Er hatte auch auf dem Stuhl
eine so gerade Haltung, als wäre er kurz vor dem Ende einer
Ausbildung zum Marine. Seine kurz geschnittenen blonden
Haare verstärkten noch den Eindruck, dass er zur Armee
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gehörte. Er trug ein kariertes Hemd, das bis zum letzten Knopf
geschlossen war, ein braunes Jackett und eine braune
Stoffhose.
„Den unsympathischen, stocksteifen Typen?“ fragte Aron, nur
mäßig interessiert.
Der Mann, über den Aron gerade gelästert hatte, lächelte. Er
hatte die Bemerkung gehört, sah Aron aber nicht an, sondern
schüttelte nur ein wenig den Kopf und blätterte weiter in den
Unterlagen.
„Genau den.“ Der Empfangsmitarbeiter machte eine kurze
Pause. „Das ist Dein neuer Schüler.“
Der Mann hatte auch das gehört. Er sah konsterniert von den
Unterlagen auf.
„Mein was?“ fragte Aron ungläubig.
„Dein Schüler. Man sagt, er war früher Bulle. Einer von der
knallharten, unnachgiebigen Sorte. Wenn das nicht
zusammenpasst: Ihr zwei gemeinsam auf Tour.“
„Das darf doch nicht . .“, Aron achtete nicht weiter auf den
Empfangsmitarbeiter, dem noch ein paar Bemerkungen auf
der Zunge lagen, sondern stürmte los. Er verzichtete auf den
Fahrstuhl, da gerade alle Türen geschlossen waren, und nahm
die Treppe. Im fünften Stockwerk angekommen rang er nach
Luft und lehnte sich an die Wand.
„Ok, das nächste Mal doch mit dem Aufzug.“ Er nahm noch ein
paar kräftige Atemzüge, dann stürmte er ins Zimmer seines
Vorgesetzten.
„Ich will keinen Schüler. Und schon gar nicht diesen Typ.“
„Nun mal langsam, Bruder Aron“, der Vorgesetzte blieb ganz
ruhig hinter seinem Schreibtisch sitzen. Sein rundes,
asiatisches Gesicht sah Aron gütig an.
Der Mann kam ebenfalls ins Zimmer gestürzt.
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„Ich brauche keinen Lehrer und schon gar nicht diesen Freak.“
„Nun mal langsam, Bruder Jim.“ Der Vorgesetzte stand auf.
„Vielleicht bin ich ein Freak, aber besser ein Freak als ein
stocksteifer Bulle.“
„Vielleicht bin ich ein stocksteifer Bulle, aber zumindest weiß
ich, wie man eine Dusche benutzt.“
„Aber Brüder.“ Der Vorgesetzte ging auf die beiden
Streithähne zu und bemühte sich, die Stimmung zu beruhigen.
Aron ließ sich jedoch nicht besänftigen. Im Gegenteil. Er geriet
jetzt erst richtig in Fahrt.
„Die brauchst Du auch, um Dein schlechtes Gewissen
abzuwaschen, wenn Du wieder mal das verlogene, korrupte
Establishment geschützt hast.“
„Du meinst, wenn ich ehrbare Bürger vor Kleinkriminellen wie
Dir bewahrt habe.“
„Brüder, liebe Brüder, ich bitte Euch.“ Der Vorgesetzte
versuchte es noch einmal: „Also Aron. Du sollst Jim nur
einweisen. Zeig ihm, was er als Seelenbegleiter alles wissen
muss. Ein oder zwei Tage werden langen, mehr braucht es
nicht.“
„Aber das geht nicht. Ich bin dafür denkbar ungeeignet. Ich bin
kein Vorbild. Erst heute war ich doch zu spät und musste
meine Seele suchen.“
Der Vorgesetzte sah ihn irritiert an: „Wie bitte?“
„Oh, das wussten Sie noch gar nicht?“
„Na toll“, schaltete sich Jim wieder ein. „Und der soll mir was
zeigen. Bis gestern habe ich auf Typen wie den geschossen.“
Der Vorgesetzte und Aron sahen ihn entgeistert an: „Wie
bitte?“ fragten beide wie aus einem Munde.
Aron hatte sich nach einer kurzen Pause wieder gefangen
„Und die Großkopferten laufen lassen, damit sie sich auf
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Kosten des kleinen Mannes weiterhin die Taschen vollstopfen
können.“
Er und Jim fingen an, sich zu beschimpfen – auf eine ganz
und gar unchristliche Art und Weise. Der Vorgesetzte konnte
zum Glück fast kein Wort verstehen, und er war froh darüber.
„Aber Brüder, meine lieben Brüder, ich muss Euch wirklich
bitten.“
Aron und Jim machten weiter. Sie konnten sich auf Anhieb
nicht leiden und machten keinen Hehl daraus.
„Brüder, nicht doch“, versuchte sich der Vorgesetzte noch
einmal Gehör zu verschaffen.
Auch jetzt stritten Aron und Jim unbeeindruckt weiter.
„Brüder!“ schrie der Vorgesetzte.
Erst in diesem Moment waren beide ruhig. Den Vorgesetzten
schreien zu hören, kannte Aron nicht, und auch Jim spürte
instinktiv, dass das kein Normalzustand bei dem gemütlich und
gütig wirkenden Mann war. Aron schaffte es zwar in der Regel
schnell, den Vorgesetzten in eine leicht genervte Stimmung zu
versetzen, aber er behielt immer seine Haltung und die Würde,
die mit seiner Funktion verbunden war. Auch dieses mal
gelang es ihm schnell wieder, sich zu fangen. Er lächelte die
Streithähne an, öffnete die Arme und legte jedem der beiden
eine Hand auf die Schulter.
„Zwei Tage“, sagte er. „Ihr schafft das.“
„Aber sagten sie nicht ein bis zwei Tage“, versuchte Aron die
Zeit mit dem Bullen zu verkürzen.
„Zwei Tage“, betonte der Vorgesetzte mit Nachdruck.
Aron und Jim verließen zusammen das Büro des
Vorgesetzten. Beide schnaubend, in dem Bewusstsein, dass
sie um die zwei Tage gemeinsamen Arbeitens nicht herum
kamen.
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