01.03.2016, 30 Jahre nach Tschernobyl - Tödliches Erbe

Manuskript
Beitrag: 30 Jahre nach Tschernobyl –
Tödliches Erbe
Sendung vom 1. März 2016
von Joachim Bartz
Anmoderation:
Die meisten von Ihnen werden sich noch an den Moment
erinnern, als die Nachricht von Tschernobyl kam. Angela Merkel
hat die Katastrophe nicht besonders ernst genommen, verriet sie
mal in einem Interview. Die Sowjetunion braucht einfach bessere
Atomkraftwerke, dachte die Physikerin damals. Später, als
Kanzlerin, verlängerte sie die Laufzeiten der deutschen Meiler
und dachte erst nach Fukushima um. Die Lasten bleiben trotz
Atom-Ausstieg. Denn der Müll strahlt für die Ewigkeit. Die
Entsorgung kostet hunderte Milliarden. Unser Reporter Joachim
Bartz reiste zur Ruine von Tschernobyl. Mahnmal für das atomare
Erbe, das teuer ist - und tödlich.
Text:
Ein Volksfest wollten sie hier feiern, zum 1. Mai 1986. In Pripjat,
wo die Tschernobyl-Ingenieure mit ihren Familien lebten. Das
Karussell drehte sich schon ein paar Tage vorher. Doch dann
plötzlich Alarm - alle mussten raus aus der Stadt.
Reaktor 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl war explodiert, fünf
Kilometer von Pripjat entfernt - ein Super-GAU. Tschernobyl hat
die Welt verändert. Der Glaube an die Atomkraft geriet ins
Wanken. Und die Supermacht Sowjetunion erholte sich nie
wieder.
O-Ton Wladimir Choloscha, Tschernobyl-Minister 1994-1996:
Das war ein starker ökonomischer Katalysator für den Zerfall
der Sowjetunion. Das Unglück kostete 20 Milliarden Rubel damals eine gewaltige Summe. Außerdem empörte die
Menschen, dass der Kreml das Ausmaß der Katastrophe
lange verschwieg, viele Sicherheitsmaßnahmen unterließ.
Das war dann der sozialpolitische Katalysator für den
Untergang der Sowjetunion.
In den ersten zehn Tagen nach der Katastrophe verteilen sich
radioaktive Stoffe in weiten Teilen Europas. Sogar in Japan, den
USA und in Kanada werden Tschernobyl-Emissionen
nachgewiesen.
Auslöser für den Unfall: ein Reaktor-Test, der vollkommen aus
dem Ruder lief. Heute steht fest: Das Bedienungspersonal hat
schwere Fehler gemacht und der sowjetische Kernreaktor hatte
fatale Systemschwächen. Wie viele Menschen durch Tschernobyl
starben, ist dagegen hoch umstritten und wird sich wohl nie
genau klären lassen.
Der russische Biologe Alexej Jablokow forscht seit Jahren über
die Gesundheitsfolgen von Tschernobyl. Er analysierte Daten
über die vielen Aufräumarbeiter, die an den Folgen der Strahlung
starben. Er untersuchte Säuglingssterblichkeit und Fehlgeburten,
außerdem psychosoziale Folgen wie Selbstmorde, nach der
Katastrophe.
Jablokow schätzt die Zahl der Tschernobyl-Toten auf rund eine
Million. Schuld, erklärt er mir, sei auch die menschenverachtende
Politik der Sowjetunion gewesen.
O-Ton Alexej Jablokow, Umweltpolitiker, TschernobylExperte:
Nach Tschernobyl erlebten wir eine dunkle, tragische Seite
der Katastrophe. Unglaublich viele landwirtschaftliche
Produkte waren hierzulande durch Radionuklide massiv
verseucht. Um die Radioaktivität insgesamt zu senken, fasste
die Staatsführung einen geheimen Beschluss: Unbelastetes
und verstrahltes Fleisch wurden vermischt. Das Gleiche
passierte bei Getreide, Milch und anderen Lebensmitteln. Zu
den Opferzahlen hat das ganz natürlich eine direkte
Verbindung.
Wie sieht es heute aus in der Todeszone von Tschernobyl? Und
wie schützt sich die Welt vor den langfristigen Folgen?
Ich mache mich auf den Weg in den Norden der Ukraine. Ein
Land, wirtschaftlich am Boden und zerrissen vom Krieg. Zwei
Sperrgürtel sollen ungebetene Gäste fernhalten. Den ersten
passiere ich 30 Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt, den
zweiten zehn Kilometer davor.
Und da ist er: der zerstörte Reaktor 4 des Kernkraftwerkes
Tschernobyl. Seit 30 Jahren überdacht von einem Sarkophag, der
vor sich hin rostet und an vielen Stellen undicht ist.
Vom Kraftwerksbetreiber wird mir Wolodja Werbizkij zur Seite
gestellt. Er gibt mir einen Strahlungsmesser. Der warnt, wenn es
gefährlich wird. Werbizkij mahnt, wir sollten uns nirgends hinknien
und nichts anfassen, denn es strahle überall - mal mehr, mal
weniger, mal enorm.
An einer unscheinbaren Stelle schlägt sein Dosimeter plötzlich
Alarm. Die Strahlendosis steigt rapide auf 13 Mikrosievert pro
Stunde. Das etwa 30-Fache des in Deutschland erlaubten
Grenzwertes. An dieser Stelle beobachtete Wolodja Werbizkij vor
30 Jahren Lastwagen, die verstrahltes Material abtransportierten.
Im Kernkraftwerk Tschernobyl waren vier Blöcke in Betrieb. Block
1 und 2 in einem Gebäudekomplex, Block 3 und 4 in einem
weiteren daneben. Block 3 und 4 waren spiegelgleich konstruiert.
Block 4 explodierte am 26. April 1986. Block 3 dagegen blieb
intakt. Nach einer kurzen Unterbrechung ging Block 3 wieder ans
Netz und blieb in Betrieb - bis zum 15. Dezember 2000. Solange
lieferte Tschernobyl Strom - trotz der Reaktorkatastrophe.
Im Block 3 dürfen wir drehen. Damit sich radioaktiver Staub nicht
auf meinen Sachen ablagert, muss ich mir etwas überziehen. Von
Igor Starowoitow, einem anderen Begleiter, erfahre ich
Überraschendes: In Tschernobyl arbeiten immer noch 1.500
Leute, obwohl alle Blöcke inzwischen außer Betrieb sind. Auch
die Leitwarte von Block 3 ist noch besetzt. Ventilations-, Kühl- und
Feuerlöschsysteme müssen überwacht und gewartet werden.
Diese Wand trennt Reaktor 3 vom Unglücksreaktor 4.
O-Ton Igor Starowoitow, Kernkraftwerk Tschernobyl:
Ein paar Meter dahinter, vielleicht drei Meter, befindet sich
das Trümmerfeld. Und hier ist eine Gedenktafel für den
Ingenieur Walerij Cholimtschuk, er starb durch die
Explosionen in der Unglücksnacht - das erste Opfer. Seine
Leiche wurde nie gefunden.
Das Dosimeter sendet Warntöne - klar, wo, wenn nicht hier.
O-Ton Igor Starowoitow, Kernkraftwerk Tschernobyl:
Na ja, einen vollen Arbeitstag dürfen wir hier natürlich nicht
verbringen. Hier sind wir nicht sicher, können nur kurz
bleiben. Wir sollten mal lieber wieder.
Und so sieht es hinter der Wand aus. Bilder vom April 1996,
gedreht im Auftrag des Kraftwerksbetreibers. Die Strahlung ist so
hoch, dass die Aufnahmen flimmern.
Geschmolzenes Material. Schlacke. Radioaktiv verseuchtes
Wasser. Die nukleare Kettenreaktion ist unterbrochen, zum
Glück. Innen ist es kalt. Wissenschaftler stellen Messinstrumente
auf, unter Lebensgefahr und dokumentieren, wie löchrig die
Außenwände des Sarkophags sind. Überall, wo Licht einfällt,
kann radioaktiver Staub entweichen. Das ist bis heute so. Wie mir
an einem Modell erklärt wird.
O-Ton Sergej Swertschkow, Abteilungsleiter alter Sarkophag,
Kernkraftwerk Tschernobyl:
Zählt man alle undichten Stellen zusammen, sind das 150
Quadratmeter. Und der Staub ist natürlich ein Problem. Mit
Zerstäuberdüsen versprühen wir eine staubdämpfende
Mischung. Besonders schwierig ist auch die Instandhaltung
der ganzen Konstruktion. Bei Sturm oder Erdbeben kann sie
zusammenbrechen. Und wir haben immerhin noch etwa 190
Tonnen Kernbrennstoff im Inneren.
Dazu kommt das, was bei zahlreichen Hubschrauberflügen direkt
nach dem Unfall abgeworfen wurde, um eine erneute
Kettenreaktion zu verhindern. Ursprünglich nicht-radioaktive
Materialien wie Bautrümmer und Schutt wurden so zusätzlich
verstrahlt.
O-Ton Sergej Swertschkow, Abteilungsleiter alter Sarkophag,
Kernkraftwerk Tschernobyl:
Wir schätzen das radioaktive Material auf 630.000
Kubikmeter. Und es gibt noch keine Technologie, wie man
die entfernt.
Das ist mehr, als in 60 Jahren Atomkraft in Deutschland
zusammengekommen ist. Bis heute weiß keiner, wo das
verstrahlte Material aus dem Unglücksreaktor am Ende hin soll.
Mit diesem Koloss will man Zeit gewinnen. Es ist der neue
Sarkophag, eine gewaltige doppelwandige Haube - 110 Meter
hoch und 30.000 Tonnen schwer. Über den Katastrophen-Block 4
mit dem alten Sarkophag - kommt der neue. 2017, so ist der Plan.
O-Ton Viktor Salisezkij, Vize-Chef Bauprojekt „New Safe
Confinement“:
Dieses Objekt ist auf 100 Jahre ausgelegt. Es soll vor allem
den Austritt von radioaktivem Staub aus dem alten
Sarkophag verhindern. Der Neubau soll außerdem die
Infrastruktur dafür schaffen, dass der alte Sarkophag
demontiert werden kann, durch bewegliche Kräne im
Inneren. Irgendwann soll auch das radioaktive Material
entsorgt werden. Aber das liegt noch in sehr weiter Ferne.
Der neue Sarkophag kostet anderthalb Milliarden Euro. 43 Länder
zahlen, nach jahrelangen, zähen Verhandlungen. Auch
Deutschland beteiligt sich, mit rund 100 Millionen Euro. Offiziell
endet die internationale Finanzierung, wenn die neue Hülle fertig
ist. Wie die Ukraine den Koloss allein unterhalten kann, ist
ungeklärt.
Hier soll der neue Sarkophag einmal stehen. Trotz der
allgegenwärtigen Strahlung wird gearbeitet. Chefingenieur
Salisezkij erklärt: Eine massiven Betonwand zwischen altem und
neuem Sarkophag vermindert die Strahlung.
Das Dosimeter warnt erneut. 20 Mikrosievert pro Stunde. Doch
Salisezkij beruhigt:
O-Ton Viktor Salisezkij, Vize-Chef Bauprojekt „New Safe
Confinement“:
Fünf Stunden können wir bei diesem Wert hier arbeiten,
bevor es gefährlich wird. Da unten ist es viel weniger, hinter
der Wand aus Beton.
Nach zehn Minuten gehen wir wieder runter, sicher ist sicher.
Der milliardenschwere neue Sarkophag wird über den größten
Atomunfall der Welt geschoben. Ob der radioaktive Abfall jemals
beseitigt wird, ist völlig offen. Keiner weiß, wie und wohin.
So bleibt die Sperrzone auf Jahrtausende unbewohnbar - und
Tschernobyl ein Albtraum.
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