63. Jahrgang · März 2016 · D: € 4,95 · A: € 5,00 · CH: CHF 8,20 3 2016 Schreiadler und Windkraft Illegaler Singvogelhandel: Stieglitze Projekt: Erfassung häufiger Brutvögel Liebe Leserinnen und Leser, Einfluss von Windenergieanlagen die Auswirkungen von Windkraftanalgen auf die Vogelwelt waren be- auf den Mäusebussard stellen wir in der aktuellen Ausgabe von DER reits häufig Gegenstand von BeiträFALKE in Form eines Interviews mit gen in DER FALKE. Auch im aktudem Verhaltensforscher Oliver Krüellen Heft greifen wir dieses Thema ger von der Universität Bielefeld dar. auf. Für viele Naturschutzverbände Weiterhin beschreiben ist Windenergie ein „heißes wir im vorliegenden Eisen“: Einerseits wünscht Heft anhand von man sich mit gutem Grund Beispielen, zu welch eine Abkehr von fossilen kriminellen Handlungen Energieträgern und Atomder Konflikt zwischen kraft, andererseits wissen den wirtschaftlichen wir alle, dass Windenergie Interessen der Wind– eine zentrale Säule der energie und dem VogelEnergiewende – zu einem schutz führen kann. Für Aderlass für bestimmte Schreiadler. Vogel- und Fledermaus Foto: T. Krumenacker. mich ist klarer als je zuvor: Ohne Windenerarten führen kann. Dazu gie wird die Energiewende, die von kommen in vielen Regionen die zentraler Wichtigkeit für unser aller negativen Auswirkungen auf unser Landschaftsbild. Greifvogelarten wie Zukunft ist, nicht gelingen. Eine Rotmilan und Schreiadler, aber wohl pauschale Ablehnung der Windauch der Mäusebussard, leiden ganz energie ist ebenso wenig sinnvoll wie eine bedingungslose Akzeptanz. besonders durch WindenergieanAls Vogelbeobachter, Vogelkundler lagen, vielleicht sind sie hierdurch und Vogelschützer müssen wir eine sogar in ihrem Bestand gefährdet. solide Datengrundlage schaffen, die Neueste Ergebnisse zum möglichen es uns erlaubt, die Auswirkungen von Windkraftanlagen auf unsere Vogelwelt objektiv zu beurteilen. Nur so wird es uns gelingen, untragbare Standorte für Windkraftanlagen zu identifizieren und schmerzhafte Verluste in unserer Tierwelt zumindest zu reduzieren. Am 12. Februar habe ich dieses Jahr meinen ersten Buchfink singen oder – wie man eigentlich sagt – schlagen hören. Unpolitisch, unkritisch – einfach schön! Nicht mehr lange und der charakteristische Gesang des Zilpzalps wird wieder allgegenwärtig sein. Auch unsere Spechte sind bereits sehr aktiv. Deutschlands längstes und größtes Konzert hat begonnen. Ich wünsche Ihnen dabei viele Freude! Beste Grüße, Ihr Dr. Norbert Schäffer Inhalt Ornithologie aktuell Neue Forschungsergebnisse Beobachtungstipp Madeleine Flür, Christoph Moning, Christopher König, Christian Wagner, Felix Weiß: Die Königshovener Höhe in Nordrhein-Westfalen – neuer Lebensraum für für Schwarzkehlchen & Co. Waldvögel Anita Schäffer: „Waldgeister“ und Bodenhöhlen: Hohltaube Vogelschutz Im Gespräch mit Oliver Krüger: Windenergie und Mäusebussard: „Wir haben eine 2 potenziell bestandsgefährdende Entwicklung“ Axel Hirschfeld: Illegaler Handel mit Singvögeln in Deutschland: Stieglitze zu Schleuderpreisen – eine Fallstudie 5 29 Veronika Stegmann: 9 Unverschlossene Schildermasten: Tödliche Falle für Vögel Im Gespräch mit Ugis Bergmanis: Schreiadler-Hochburg Lettland: „Intensivierung der Landwirtschaft bringt Adler unter Druck“ Im Gespräch mit Alexander Mischenko: Russischer Experte zum Schreiadler: „Maximal 2000 Paare Schreiadler in Russland“ Thomas Krumenacker: Vom Spion zur Friedenstaube: Gänsegeier zwischen Fronten des Nahostkonflikts 46 leserbeobachtungen Achim Zedler: Nistkastenkamera beim Turmfalken 29 Thomas Krumenacker, Hinrich Matthes, Carsten Rohde: Fotogalerie Schreiadler in Deutschland: Augenblicke Vom Allerweltsvogel zum Opfer der Energiewende? 12 Thomas Krumenacker: Wie Windkraftplaner die letzten Tabus umgehen wollen: Skandale im Sperrbezirk 40 30 Mitmachen Jasper Wehrmann: 21 Kaukasischer Zugtrichter: Herbstzählung des Greifvogelzugs in Batumi 34 Projekt 25 Johanna Karthäuser, Sven Trautmann Vögel beobachten für die Wissenschaft: Das Monitoring häufiger Brutvögel in Deutschland 38 27 Leute & Ereignisse Termine, TV-Tipps 42 Bild des Monats 36 Rätselfoto und Auflösung Bitte beachten Sie die Beilage der Fa. Humanitas Versand in einer Teilauflage. 44 Der Falke 63, 3/2016 1 Vogelschutz Schreiadler in Deutschland: Vom Allerweltsvogel zum Opfer der Energiewende? Vor weniger als 200 Jahren war der Schreiadler ein Allerweltsvogel in weiten Teilen Norddeutschlands, und selbst bis Bayern gab es Brutvorkommen. In einigen Regionen wurde er sogar als der häufigste Greifvogel beschrieben, gleichauf mit dem Mäusebussard. Diese Zeiten sind lange vorbei, mittlerweile kämpft Deutschlands am stärksten gefährdeter Adler hierzulande ums nackte Überleben. Nach Niedersachsen und Schleswig-Holstein erlosch vor einigen Jahren auch das Restvorkommen in Sachsen-Anhalt. Die gegenwärtig noch annähernd 110 Paare in Deutschland sind der klägliche Rest einer einst ansehnlichen Population am westlichen Rand ihrer Verbreitung. Das hierzulande besiedelte Gebiet ist heute zusammengeschrumpft auf eine Fläche von nur noch rund 12 000 km2, verteilt auf die nordöstlichen Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Und der Abwärtstrend setzt sich langsam aber stetig fort. Der Erhaltungszustand des Schreiadlers wird als schlecht eingestuft. Die anspruchsvolle Vogelart gerät durch die beständig fortschreitende Intensivnutzung der letzten naturnahen Flächen immer weiter unter Druck. E uropäische Union und deutsche Bundes- wie Landesregierungen betreiben unbeirrt vom wachsenden Wunsch vieler Menschen nach einer Agrarwende eine Landwirtschaftspolitik, die auf Anreize für eine überholte Form der Bewirtschaftung setzt, die nicht Nur noch in wenigen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns finden Schreiadler ausreichend intakte Feuchtwiesen, in denen sie auf Jagd nach Amphibien gehen. Nur noch etwa 110 Paare brüten in Deutschland. Foto: T. Krumenacker. Brandenburg, 13.5.2015. 12 Der Falke 63, 3/2016 nachhaltig die Ressourcen schützt, sondern die Erwirtschaftung maximaler Erträge zu unverantwortbar hohen Umweltkosten fördert. Dies hat unmittelbare Folgen für viele Vogelarten der Agrarlandschaft und auch für den Schreiadler: Sein Lebensraum wird ihm genommen, seine Nahrung wird vergiftet oder vernichtet. Hinzu kommt seit einigen Jahren der Boom der erneuerbaren Energien in Form von Windkraft und der massenhaften Erzeugung sogenannter Bioenergie. Während in den einstigen industriellen Zentren wie dem Ruhrgebiet Kohlezechen zu Kulturdenkmälern werden, schreitet die flächendeckende Industrialisierung der ländlichen Regionen unter dem vermeintlichen Gütesiegel von „Ökostrom“ und „Bio-Kraftstoff“ in atemberaubendem Tempo voran. Raps, Mais und Windräder: Auch hier zählt der Schreiadler zu den großen Verlierern. Wie steht es also um die Zukunft des „Pommernadlers“, der einstigen Charakterart einer bäuerlich geprägten Kulturlandschaft? In diesem Dossier wollen wir einige Schlaglichter auf die gegenwärtige Situation der Art in Deutschland werfen. Horstzerstörung: Mit Kettensäge und Quad – Schreiadler als Hindernis für Windparks A ls sich Arnold Ritter wie in jedem Jahr an einem Frühlingstag 2014 auf den Weg in seinen Wald macht, ist die Welt noch in Ordnung. Der Naturschützer kümmert sich seit vier Jahrzehnten als Horstbetreuer um einige Schreiadlervorkommen im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Der Besuch an diesem Tag – Wochen vor Ankunft der Adler aus den Winterquartieren – gilt der Vorkontrolle. Der Horst hatte den Winter unbeschadet überstanden, erinnert sich Ritter. Mitte April dann registriert er das Adlerpaar im Revier, ein Vogel sitzt in Nestnähe. Die seltenen Adler sind zurück aus dem Winterquartier und bereiten sich auf die Brut vor. Ritter tritt zufrieden den Heimweg an. Er lässt den Adlern die nötige Ruhe. Erst Anfang Juni besucht er sie erneut, um den Bruterfolg zu kontrollieren. Doch statt des Nests mit Jungvogel findet er – nichts! Vom Horst keine Spur. Da, wo er stand, nicht einmal mehr ein Baum. Außer einem kleinen Stumpf, dicht über der Erde abgesägt, blieb nichts übrig von der Fichte, in der die Schreiadler über Jahre hinweg erfolgreich gebrütet hatten. Keine Zweige, kein Stamm. Von dem oder den jungen Schreiadlern ebenfalls keine Spur. Der Horstbaum wurde samt Nest komplett aus dem dichten Wald entfernt. Das Forstamt erstattet Anzeige, die Staatsanwaltschaft wird eingeschaltet. Doch die Nachforschungen erbringen kein Ergebnis. Ein paar Monate später wird das Ermittlungsverfahren eingestellt. Seit mehr als einem halben Jahrhundert brüten Schreiadler in diesem Wald. Doch 2014 ziehen sie hier keine Jungen auf. Die Täter haben das Schreiadlervorkommen förmlich vom Erdboden verschwinden lassen. Der zerstörte Horst liegt dicht an einem geplanten Windpark – innerhalb des 3000-Meter-Radius, der in Mecklenburg-Vorpommern als Tabuzone für die Errichtung neuer Windräder festgelegt ist. Hier kann ein einzelner Vogelhorst darüber entscheiden, ob ein Grundbesitzer Millio- när wird oder nicht. Denn pro Anlage sind 80 000 Euro Jahrespacht keine Seltenheit. Bei einer Laufzeit von zwanzig Jahren sind das 1,6 Millionen Euro. Mit dem zunehmend knapper werdenden Platz für immer weitere Windräder steigt auch die Zahl der registrierten Fälle dieser besonders krassen Form der Umweltkriminalität. Und so rückt auch der Schreiadler, eine der seltensten Vogelarten Deutschlands, immer stärker ins Visier der Wind-Goldgräber. Die Horstzerstörung im Revier des Naturschützers Ritter ist nach Recherchen von DER FALKE kein Einzelfall. In einem anderen Revier in Mecklenburg-Vorpommern – aus Schutzgründen wird hier nur der amtliche Standortcode W-36 genannt – wird 2012 zunächst die Brut eines Schreiadlerpaares massiv durch „gezieltes Herumfahren mit einem Quad unmittelbar am Horstbaum“ (Protokoll des Horstbetreuers) gestört. Das Paar hat keinen Bruterfolg und baut im Folgejahr ein Nest an einem anderen Standort im gleichen Revier. Daraufhin verschwinden beide Nester spurlos. „Da sie (die Horste) jeweils in den Stammgabeln angelegt und damit nicht absturzgefährdet waren, nach ihrem Verschwinden auch kein Nestmaterial unter den Horsten nachweisbar war, besteht der Verdacht einer vorsätzlichen Beseitigung“, stellt das Landesamt für Umwelt und Naturschutz (LUNG) in einem Schreiben fest. Auch hier steht mutmaßlich eine Windparkplanung in unmittelbarer Nähe im Hintergrund. Ein dritter Fall von Horstzerstörung ereignet sich nach gleichem Muster in Brandenburg, ebenfalls in unmittelbarer Nähe zu einem geplanten Windpark. Dort verschwanden 2013 und 2014 die Horste spurlos. Auch die Fledermauskästen wurden im ganzen Wald entfernt, „ganz so, als sollte hier ganz sichergegangen werden, dass auch wirklich jedes Planungshindernis für die Anlage beseitigt ist“, sagt ein mit dem Fall vertrauter Artenschützer. Dieses Revier ist seitdem verwaist. In keinem der Fälle wird ein Täter überführt. Arnold Ritter am Tatort: Mit seinem Wanderstock zeigt der Naturschützer, wo die Fichte stand, in der bis zu ihrer illegalen Fällung Schreiadler erfolgreich gebrütet haben. Foto: T. Krumenacker. Mecklenburgische Seenplatte, 14.1.2016. Für die Umweltbehörden stellt sich hier eine schwierige Frage: Einerseits müssen sie einen weiten Kreis von Personen informieren, um einen wirksamen Schutz eines Adlervorkommens zu gewährleisten: Revierförster, Untere Naturschutzbehörde, Privatwaldbesitzer, andere Ämter – sie alle erhalten die genauen Standortdaten von Schreiadlerhorsten auf den Meter genau. Denn sie müssen Bescheid wissen, um die Beschränkungen in den Horstschutzzonen einhalten oder kontrollieren zu können. Die Windfirmen selbst bekommen eine Karte, auf der zwar keine punktgenauen Standorte eingezeichnet sind, aber natürlich die von ihnen zu beachtenden Horstschutzzonen um ein Nest herum. Auch damit ist ein Horst bei entsprechendem Interesse rasch gefunden. So wächst der Kreis der Eingeweihten. Und das bei einer der störungsempfindlichsten Vogelarten überhaupt. Die Zahl von kriminellen Horstzerstörungen nimmt offenbar deutlich Der Falke 63, 3/2016 13 Vogelschutz Viele Vogelarten werden Opfer der Windkraftanlagen. Wie gewaltsam die für das menschliche Auge so gemütlich drehenden Rotoren auf Vögel einwirken, zeigt dieses Bild. Einem Weißstorch ist der Schnabel bei der Kollision abgehackt worden. Foto: Wildtierauffangstation Struck/www.wildtierauffangstation.homepage.eu. 7.8.2015. zu. Je knapper die Flächen für den Windenergieausbau werden, desto größer der Druck auf Vögel und Horste. Eine Idee des Ausmaßes von Straftaten gegen Greifvögel geben auch Recherchen von Deutscher Wildtier Stiftung, NABU und Komitee gegen den Vogelmord. Sie registrierten bereits 42 Fälle illegaler Verfolgung von Großvögeln im Umfeld von neuen oder geplanten Windparks – aber die Dunkelziffer ist hoch. Betroffen sind vor allem der Rotmilan, aber auch andere „windkraftrelevante“ Arten wie Seeadler, Schwarzstorch, Baumfalke – und eben Schreiadler, bei denen die drei bekannten Fälle auch 3 % der deutschen Population ausmachen! Schreiadlerreviere von Windrädern umzingelt H orstzerstörungen sind die wohl kriminellste und primitivste Form, „Planungshindernisse“ für Windkraftanlagen zu beseitigen. Aber sie sind beileibe nicht die Einzige. Denn die im Zuge der Energiewende ausgegebenen Ziele verlangen nach immer neuen Standorten für Windkraftanlagen ± 0 Windkraftanlagen in Betrieb Entfernung zu Schreiadlerbrutwäldern 20 40 Km Windenergie und Schreiadler Kartennummer: 1 Datum: 08.02.2016 Eignungsgebiete für Windenergie 3000 m Entwurf 6000 m bestehend, noch nicht bebaut Quellen: Regionale Planungsverbände, Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, Landesamt für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz Brandenburg Die Deutsche Wildtier Stiftung hat die Konzentration von Windeignungsgebieten in den letzten deutschen Schreiadler-Brutgebieten in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg analysiert. 14 Der Falke 63, 3/2016 und dies verschärft den Konflikt. Und die Windbranche eilt gerade auch in den einzigen beiden verbliebenen Bundesländern mit Schreiadlerbruten von Rekord zu Rekord: 2015 war das Jahr mit dem zweithöchsten Zubau in der Geschichte der Windenergie. Bundesweit erzeugten Windräder zu Ende 2015 mehr als 41 000 Megawatt (MW) Strom. Die Zahl der Windräder stieg auf knapp 26 000 in ganz Deutschland – ungezählte weitere Anlagen sind im Bau und in der Planung. Mit 3700 MW Leistung lag der Zubau im vergangenen Jahr sogar noch deutlich über den von der Bundesregierung angepeilten 2500 MW pro Jahr. Das Schreiadler-Bundesland Brandenburg ist mit 3463 Anlagen das Land mit der zweithöchsten Zahl von Windrädern in Deutschland. Mecklenburg-Vorpommern liegt mit 1788 Windriesen auf Platz sechs aller Bundesländer. Obwohl die Schreiadlerländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nur rund 14 % der Fläche Deutschlands ausmachen, stehen hier rund 20 % aller Windräder. Im Wettlauf um die knapper werdenden Flächen steigt in allen Bundesländern der Druck, in der Abwägung zwischen Naturschutz und Energiepolitik zugunsten der Windräder zu entscheiden. Dabei ist angesichts der ehrgeizigen Ausbauziele noch lange nicht Schluss. Die Zahl der Windräder dürfte sich in den nächsten zwei Jahrzehnten mindestens verdoppeln. In Brandenburg etwa wird derzeit nach Angaben des Umweltministeriums in Potsdam knapp ein Drittel des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien gedeckt. Bis 2030 sollen es 100 % sein – die Windkraft soll daran einen Anteil von 80 % haben. Ähnlich ambitionierte Ziele hat sich Mecklenburg-Vorpommern gesetzt. Die Reviere der letzten Schreiadler in Deutschland sind entsprechend vollgestellt mit Windrädern: Im brandenburgischen Teil des Vorkommens drehen sich 662 der Riesenräder, im größeren mecklenburg-vorpommerschen sind es derzeit 1017 Anlagen. Diese Zahlen illustrieren den Konflikt. Und sie erklären wohl auch den anhaltenden Widerstand, mit dem einige Landesregierungen die Verabschiedung der Abstandsempfehlungen der Staatlichen Vogelschutzwarten immer wieder verzögert haben. Dabei wollte die ursprünglich unter dem Begriff „Helgoländer Papier“ bekanntgewordene fachliche Leitlinie für die Abstände zwischen Brutplätzen und anderen bedeutenden Vogellebensräumen einerseits und Windenergieanlagen andererseits doch gerade einen wissenschaftlich abgesicherten Beitrag dazu leisten, absehbare Zielkonflikte zwischen Energiewende und Naturschutz zu vermeiden – im Interesse von Umwelt und Windenergie. Denn für die Investoren bedeuten klare Empfehlungen zugleich Planungssicherheit und das Vermeiden kostspieliger Prozesse. Zwar sind die überarbeiteten Abstandsempfeh- lungen der Vogelschutzwarten mittlerweile veröffentlicht, doch just die einzigen beiden Länder mit Schreiadlervorkommen haben sich entschlossen, ihnen bei dieser besonders anfälligen Art nicht zu folgen. Brandenburg und MecklenburgVorpommern halten statt des von den Vogelschutzwarten empfohlenen 6000-Meter-Abstands zu den Brutvorkommen einen 3000-Meter-Radius für ausreichend. Doch selbst der wird im großen Stil nicht erreicht. In Brandenburg befinden sich gegenwärtig nach einer Analyse der Deutschen Wildtier Stiftung mindestens 33 Windkraftanlagen innerhalb des 3-KilometerSchutzradius um Schreiadler-Brutvorkommen. Die von den Vogelschutzwarten als Mindestabstand definierten 6000 m unterschreiten sogar mehr als 270 Windräder. In Mecklenburg-Vorpommern – Heimat von rund 80 % der deutschen Schreiadler-Population – sieht es nicht besser aus: Hier befinden sich mindestens 136 Windräder innerhalb des eigentlich als Tabubereich angesehenen 3000-Meter-Radius und 439 unterhalb von 6000 m. Zusammengefasst: Im deutschen SchreiadlerSiedlungsgebiet stehen nicht weniger als 169 Windräder innerhalb des heute nicht als genehmigungsfähig angesehenen Minimalst-Tabubereichs von 3000 m und mehr als 700 unterhalb der von den Vogelschutzwarten als Minimum empfohlenen 6000 m um Schreiadlerbrutvorkommen. In anderen Worten heißt das, fast jedes sechste Windrad in diesen beiden Ländern dreht sich schon jetzt in einer von den Vogelschutzwarten als unzureichend eingestuften Entfernung zu Schreiadlervorkommen. » Es wird noch enger Auch die nähere Zukunft verspricht keine Besserung, denn in beiden Bundesländern sind Windeignungsgebiete für künftige Anlagen festgesetzt worden – sowohl innerhalb des 3000-Meter-Tabubereichs und vor allem im kaum geschützten Bereich zwischen 3000 und 6000 m. Ein Grund dafür ist, dass das Konzept der Waldschutzareale in MecklenburgVorpommern mit einem Schutz vor Windanlagen in einem Umkreis von 3000 m um den Brutwald erst seit 2008 gilt. Zuvor galt – wie in Brandenburg bis heute – die 3000-MeterGrenze vom Horst, nicht vom Rand des Brutwaldes aus, was den Schutzraum verkleinert. Durch die Ausweisung der Waldschutzareale können Windkraftanlagen so in den Mindestabstand hineingerückt sein. Nach der Analyse der Wildtier Stiftung sind in Brandenburg bereits acht Windeignungsgebiete in einem Umkreis von 3000 m zu Schreiadlervorkommen festgesetzt und in Mecklenburg-Vorpommern sogar neunzehn. Die meisten sind in beiden Ländern bereits zumindest teilweise bebaut. Wie locker über lange Zeit Windräder selbst unterhalb der 3000-MeterMarke von den Behörden durchgewunken wurden, zeigt ein Genehmigungsbescheid des Staatlichen Amts für Umwelt und Natur Neubrandenburg für einen Windpark in der Mecklenburgischen Seenplatte vom April 2006: „Das nächstgelegene Schreiadler-Brutpaar südlich in der Feldflur ... [Anmerk. d. Redaktion: Wir nennen den Namen des noch bestehenden Reviers aus Schutzgründen hier nicht.] ist vom neuen Windpark dann mindestens 2 km entfernt, direkte Beeinträchtigungen für die Brut sowie das Brutverhalten der Altvögel lassen sich hierbei für diesen Standort nicht ableiten.“ Doch auch der heute in den beiden Schreiadlerländern als Maßstab angelegte 3000-Meter-Abstand wird von den Vogelschutzwarten nicht ohne Grund als viel zu gering erachtet, wie folgendes Beispiel zeigt. Weideland ist ein idealer Lebensraum für Schreiadler. Hier können sie zu Fuß auf Beutejagd gehen. Foto: T. Krumenacker. Brandenburg, 7.8.2015. Der Falke 63, 3/2016 15 Vogelschutz Schreiadler gegen Klimaschutz – Das Schicksal von Schreiadler CA 002471 D as Urteil, welches das Schicksal von Schreiadler CA 002471 besiegeln sollte, wird am 23. März 2007 im Verwaltungsgericht Potsdam gesprochen. Ein Umweltverband hatte gegen die Genehmigung für sieben Anlagen im Windpark Hetzdorf in der brandenburgischen Uckermark geklagt. Im unmittelbar angrenzenden Vogelschutzgebiet Uckermärkische Seenlandschaft brüteten gleich vier Schreiadlerpaare, argumentierten sie. Die Klage wurde abgewiesen, mit einer bemerkenswert offenen Begründung durch den Vorsitzenden Richter: „Den Belangen des Naturschutzes kommt vorliegend ... ein geringeres Gewicht zu, als dem wirtschaftlichen Interesse der Beigeladenen (Windinvestor) und dem öffentlichen Interesse an der Förderung von Windenergie als regenerativer Energieform zum Schutz des Weltklimas.“ Schon sieben Jahre vor dem Urteilsspruch kam im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern ein Schreiadler Das traurige Ende von Schreiadler CA 002471 im Windpark Hetzdorf in der brandenburgischen Uckermark. Die Dunkelziffer der Kollisionsopfer ist vermutlich sehr hoch. Foto: M. Göttsche. 12.9.2008. zur Welt, für den der Richterspruch das Todesurteil bedeuten wird. Er wird im Juli 2000 im Nest durch Andreas Hofmann beringt und erhält den Ring mit der Nummer CA 002471. Der Adler wächst heran, brütet wahrscheinlich mehrere Jahre erfolgreich und übersteht insgesamt mehr als 100 000 km oft widriger, teils extrem gefährlicher Zugwege in seine afrikanischen Winterquartiere und zurück. Doch den nur gut 30 km von seinem Geburtsort entfernten Windpark Hetzdorf überlebt er nicht. Am 12. September 2008 wird er unter einem Windrad gefunden. „Sterbend bzw. frischtot“, wie es im Protokoll der Beringungszentrale Hiddensee heißt. 2991 Tage oder gut acht Jahre nach seiner Beringung „32 Kilometer Ost-Südost“ von seinem Geburtsort entfernt. Todesursache: „Kollision mit Windkraftanlage.“ Im Autopsiebericht des Instituts für Zoo- und Wildtierforschung Berlin liest sich das Ende des Adlers so: „Der adulte, männliche Schreiadler ist an den Folgen eines Traumas gestorben. Diese Gewalteinwirkung führte zur Fraktur des Schädels, des sechsten und siebten Halswirbels, diverser Rippen und des linken Mittelhandknochens. Aufgrund der nachgewiesenen Verletzungen und des Fundortes kann davon ausgegangen werden, dass der Adler durch den Rotor einer Windkraftanlage getötet wurde. Der Schreiadler befand sich zum Todeszeitpunkt in einem sehr guten Ernährungszustand.“ Schreiadler CA 002471 war also gut gerüstet für seinen unmittelbar bevorstehenden Zug nach Afrika, als er in der Uckermark starb – in jenem Windpark, den das Potsdamer Gericht für so wichtig zum Erhalt des Weltklimas und die Profitinteressen des Betreibers gehalten hatte. CA 002471 starb in seinen besten Jahren und hätte noch lange erfolgreich zur Reproduktion seiner Art beitragen können. Stattdessen ging er als erstes dokumentiertes SchreiadlerSchlagopfer in Deutschland in die Statistik ein. Der Windpark Hetzdorf liegt unterhalb der von den Vogelschutzwarten empfohlenen 6000-Meter-Grenze um die nächsten Schreiadler-Brutplätze, die 3,5, 5,2 und 5,7 km entfernt sind. Nach den in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern angewandten Abstandsregeln von 3000 m wäre die Anlage auch heute voll genehmigungsfähig. Intensivlandwirtschaft verschärft Probleme für Schreiadler I Hetzdorf ist kein Einzelfall: Insgesamt elf Kollisionen von Schreiadlern mit Windanlagen sind dokumentiert. Mit fünf Zusammenstößen entfällt fast die Hälfte davon auf Deutschland. Vier verliefen tödlich. Ein Adler überlebte, weil er nicht mit dem Rotor, sondern mit der Nabe kollidierte. Doch die dokumentierten Fälle sind allenfalls die Spitze des Eisbergs. Darauf deuten allein die Fundzeiten hin, die meistens im Spätsommer liegen – also zu einer Zeit, in der Felder und Wiesen 16 Der Falke 63, 3/2016 meist schon gemäht sind und Schlagopfer leichter entdeckt werden. Es ist davon auszugehen, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Kollisionsopfer gefunden wird. An weit über 1000 Windanlagen im Schreiadler-Siedlungsgebiet ist noch nie nach Schlagopfern gesucht worden. Das ganze Ausmaß der Vogelverluste durch Windräder könnte nur durch systematisches Monitoring ermittelt werden, das es aber nicht gibt. Ein weiterer Hinweis auf eine hohe Dunkelziffer ist die für Laien oft nicht leichte Bestimmung der Schreiadler. Zwei der vier in Deutschland tot aufgefundenen Vögel wurden lediglich aufgrund ihres Ringes überhaupt gemeldet und so als Schreiadler erkannt. Ein weiterer Totfund wurde zunächst als Schwarzmilan fehlbestimmt. Erst als ein versierter Federkenner hinzugezogen wurde, wurde das Opfer korrekt als Schreiadler bestimmt. Auch ein an der Autobahn A 20 als Verkehrsopfer gefundener Schreiadler wurde zunächst für einen „Bussard“ gehalten und nur wegen ANZEIGE — Vögel sicher bestimmen In einem Radius von 6000 m um Brutvorkommen sollten keine Windräder gebaut werden, empfehlen die Staatlichen Vogelschutzwarten. Brandenburg und MecklenburgVorpommern halten 3000 m für ausreichend. In der Praxis rücken die Windgiganten oft noch näher an die Nistplätze. Foto: T. Krumenacker. Lettland, 11.7.2015. seines Ringes weitergemeldet. Betreiber von Windparks ihrerseits haben kein Interesse daran, dass Kollisionen bekannt werden. „Keiner will einen toten Adler haben. Deshalb werden keine Suchen veranstaltet, denn das müsste dann ja Konsequenzen haben“, sagt ein amtlicher Naturschützer. Die nachgewiesenen Schreiadleropfer an Windrädern in Deutschland deuten also auf eine viel höhere Zahl tatsächlicher Opfer hin und sind angesichts der kleinen Population alles andere als eine Kleinigkeit. Und es gibt weitere Hinweise auf eine hohe Gefährdung von Schreiadlern durch Windenergieanlagen. In Polen ermittelten Wissenschaftler jüngst das Flugverhalten zweier mit Sendern versehener adulter Schreiadler, in deren unmittelbarer Horstnähe ein Windpark errichtet wurde. „Fast ein Viertel oder 23 % aller Aktivitäten der beiden Adler wurden in Höhen zwischen 55 und 145 m gemessen, also innerhalb der Reichweite der Rotoren von 2-Megawatt-Windrädern“, erläutert der Co-Autor der Studie, Pawel Mirski im Gespräch mit DER FALKE. Auch die häufige Raumnutzung in Entfernungen deutlich über 3000 m vom Nest bestätigt die Untersuchung – und untermauert damit die Forderung nach einem 6000-MeterSchutzradius. „Eines der Männchen besuchte regelmäßig – mindestens elf Mal – eine Wiese, die 5,5 km vom Nest entfernt ist“, berichtet Mirski. Die polnische Untersuchung bestätigt auch frühere Analysen in Deutschland durch Bernd-Ulrich Meyburg, der anhand von Daten eines über sechs Jahre hinweg telemetrierten Schreiadlers belegt, dass sich die Raumnutzung von Jahr zu Jahr änderte und im Laufe der Jahre weite Teile des 6-Kilometer-Radius um den Horst mit wechselnder Regelmäßigkeit genutzt wurden. »»Schreiadler werden nicht mehr satt In Deutschland ist die Lage für Schreiadler dabei ohnehin noch zugespitzter als in den Schreiadlerhochburgen in den baltischen Staaten oder Polen, wo das Nahrungsangebot an Kleinsäugern und Amphibien in Nestnähe insgesamt noch weitaus reichhaltiger ist. Deutsche Adler müssen zur Nahrungssuche doppelt so weit fliegen wie lettische oder polnische Artgenossen, weil sie in unmittelbarer Horstnähe oft nicht mehr genügend Nahrung finden. Weitverbreitete landwirtschaftliche Praktiken, wie das Walzen oder das Totspritzen von Grünland mit dem Herbizid Glyphosat („Roundup“) zerstören (neben vielem anderen) auch die Ernährungsgrundlage für die Schreiadler – gelten aber als Praktiken „ordnungsgemäßer Landwirtschaft“. Damit ist ihr Einsatz legal. Auch der Grünlandumbruch selbst in unmittelbarer Horstnähe kommt weiterhin vor – illegal, aber ebenso mit behördlicher Genehmigung. Auch andere Formen der Intensivlandwirtschaft machen dem Schreiadler Probleme, ein neuerer Trend ist der Spargelanbau. In einem Brandenburger Schreiadlerrevier verschwanden so innerhalb von zwei MIT TING� FUNKTION 400 Seiten, €/D 12,99 — Unglaubliche Artenfülle: 346 europäische Arten, über 1.400 Fotos und Illustrationen — Extra: Mit Ting-Funktion zum Anhören von über 188 Vogelstimmen Der Falke 63, 3/2016 BESTELLEN SIE JETZT AUF KOSMOS.DE 17 Vogelschutz »»Ministerien teilen Analyse – aber nicht Schlussfolgerung Müssen die Schreiadler-Altvögel wegen schlechter Nahrungsbedingungen in Nestnähe weitere Wege zurücklegen und deshalb ihr Nest länger allein lassen, erhöht sich auch die Gefahr, dass Gelege oder Junge zum Opfer von Prädatoren werden. Hier sieht sich ein Waschbär in einem bereits bezogenen Schreiadlerhorst um, allerdings vor der Eiablage. Foto: A. Ritter. Mecklenburg-Vorpommern, 24.4.2010. Jahren mehr als 400 ha Wiese und Acker unter Plastik. Auch der Anteil von Mais – vor allem zur Energiegewinnung in Biogasanlagen – am Ackerland hat sich nach Daten des Statistischen Landesamtes Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2005 und 2014 von 7,8 % auf 14 % fast verdoppelt. Wurden 2005 bereits 79 000 ha Fläche mit Silomais bepflanzt, explodierte dieser Anteil bis 2014 noch einmal auf 147 000 ha – riesige Flächen wurden für den Schreiadler und viele andere Arten unbrauchbar. Im gleichen Zeitraum gingen die für die Adler überlebenswichtigen Brachflächen von 82 000 ha auf 16 000 ha zurück. Diese industrialisierte Form der Landwirtschaft bleibt nicht ohne Folge für die wenigen verbliebenen natürlichen Nahrungsflächen in den Schreiadler-Revieren. Analysen in einem Dichtezentrum des Schreiadlers in der Uckermark (Brandenburg) haben eine extreme Belastung von Feldsöllen mit Herbiziden belegt. Am stärksten waren die Grenzwertüberschreitungen bei Bestandteilen des Breitbandherbizids Glyphosat. Hier wurde teils das 19-Fache des Erlaubten festgestellt. Entsprechend schlecht steht es um die Zahl der Amphibien – eine besonders für die 18 Der Falke 63, 3/2016 Schreiadlerweibchen während der Brutzeit wichtige Nahrung (siehe Interview S. 25). Die Problemfaktoren Intensivlandwirtschaft und Windenergie verschmelzen hier zu einer gravierenden und komplexen Gefahrenlage für Schreiadler. Müssen die Adler weitere Strecken zurücklegen, um genügend Nahrung zu finden, bedeutet das auch: Mehr Navigieren durch die mit Windrädern und Leitungen verbauten Lebensräume mit entsprechend höherem Kollisionsrisiko und längere Abwesenheiten vom Nest – mit größeren Risiken durch Prädatoren wie Waschbären oder Habichten. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Bruterfolg. In der Tat zeigen die polnischen wie auch deutsche Untersuchungen einen deutlich geringeren Bruterfolg von Schreiadlern in geringerer Entfernung zu Windrädern. Pawel Mirski fasst die Ergebnisse seiner Studie im Windpark Tolkowiec im ermländischen Schreiadler-Konzentrationsgebiet zusammen: „Der Bruterfolg in Nestern, die innerhalb eines 5-Kilometer-Radius um den Windpark lagen, war geringer als der in einem Puffer von 5 bis 10 km. Im Jahr davor – vor der Errichtung der Anlagen – waren die jetzt erfolglosen Reviere noch die erfolgreicheren.“ Die Umweltministerien in beiden deutschen Schreiadlerländern teilen die Analyse einer erheblichen Gefährdung des Schreiadlers durch die Windkraft – die von den Vogelschutzwarten geforderte Konsequenz daraus wollen sie aber nicht ziehen. „Windenergieanlagen sind geeignet, Adler von Nahrungsflächen fernzuhalten und dadurch direkt den Bruterfolg zu beeinflussen“, heißt es beispielsweise in den Brandenburger „Tierökologischen Abstandskriterien“, in denen die Mindestdistanzen geregelt sind. Trotz der auf eindeutigen Untersuchungsergebnissen basierenden Empfehlungen der Vogelschutzwarten nach einem Mindestabstand von 6000 m legen beide Länder aber nur einen 3000-Meter-Radius als „Schutzbereich“ um den Horst (Brandenburg) beziehungsweise als „Tabubereich“ um den Brutwald (MecklenburgVorpommern) fest. Auch im Entwurf für eine neue – wahrscheinlich für mindestens ein Jahrzehnt gültige – „Artenschutzrechtliche Arbeits- und Beurteilungshilfe für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen“ für Mecklenburg-Vorpommern wird an dem 3-Kilometer-Radius festgehalten. Dies wird von der Projektgruppe Großvogelschutz, einem Beratergremium aus Experten aus Forst, Wissenschaft und Ministeriumsfachleuten scharf kritisiert: „Die Raumnutzungen nach Telemetrieuntersuchungen zeigen, dass sich lediglich in Jahren ohne Bruterfolg der Aktionsradius überwiegend auf den 3 km Radius beschränkt. In Jahren mit Bruterfolg wird auch der Entfernungsbereich von 3 bis 6 km zum Horst in erheblichem Maße zur Nahrungssuche genutzt. Daraus begründet sich die Abstandsempfehlung der Vogelschutzwarten von 6 km. Es ist nicht nachvollziehbar, warum in Mecklenburg-Vorpommern von dieser Empfehlung derartig gravierend abgewichen und der Tabu-Radius auf die Hälfte reduziert wird“, schreibt die Expertengruppe in einer Stellungnahme. Gefordert wird von den Praktikern neben einer Freihaltung der Kerngebiete der Brutverbreitung eine Erweiterung des Tabu-Radius „auf mindestens 5, besser 6 km“. Die Projektgruppe zieht ein eindeutiges Fazit aus der bisherigen Erfahrung mit einer Schutzzone nur 3 km um den Brutwald: „Die bisher praktizierten Mindestabstände bieten für den Schreiadler keinen ausreichenden Schutz.“ Einen wirksamen Schutz vor tödlichen Kollisionen kann es nach Meinung der Projektgruppe nur geben, wenn die Dichtezentren der Art von Windanlagen freigehalten werden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Flächenanteil an Windeignungsgebieten ist genau in den Gebieten des Landes mit hoher und sehr hoher Schreiadlerdichte mit 0,84 % der Gesamtfläche deutlich höher als im Landesdurchschnitt mit 0,57 % – denn der scheue Schreiadler liebt die dünn besiedelten Regionen des Landes und eben dort werden Windanlagen häufiger genehmigt als in der Nähe menschlicher Siedlungsbereiche. Hinzu kommt, dass anders als etwa beim Seeadler, die Dichtezentren der Schreiadlerverbreitung nicht in den wasserreichen Großschutzgebieten und Nationalparks liegen und die Art damit wenig von den großen Flächenschutzgebieten profitiert. „Es kommt auf jeden einzelnen Adler an" D ass die Auswirkungen des Windkraftbooms auf den Schreiadler gravierend sind, kann also nicht ernsthaft bestritten werden. Aber sind die Verluste durch Windenergie mehr als bedauerliche Vorfälle? Fallen sie für das Überleben der Art in Deutschland ins Gewicht? Die Antwort auf diese Frage gibt womöglich eine schon 2004 veröffentlichte Studie, die den vielsagenden Titel trägt: „Warum kommt es auf jeden einzelnen Schreiadler in Brandenburg an?“ Darin gingen die Autoren Jörg Böhner und Torsten Langgemach mittels einer Computermodellierung auf Basis der Brandenburger Teilpopulation (rund 20 % des deutschen Bestands) der Frage nach, wie sich Veränderungen des Reproduktionserfolgs und der Sterblichkeitsrate auf den Bestandstrend auswirken. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Brandenburger Schreiadlerbestand bei Fortbestehen der damaligen Bedingungen weiter schrumpfen und nach fünfzig Jahren fast erloschen sein werde. Bereits eine Verschlechterung des Bruterfolgs von damals 60 auf 44 % – entsprechend vier flüggen Jungvögeln pro Jahr – würde den Bestand den Berechnungen zufolge innerhalb von nur 25 Jahren auf weniger als die Hälfte schrumpfen lassen. Eine nur geringfügige Erhöhung der Sterblichkeitsrate unter adulten Adlern würde zu einer klar negativen Bestandsentwicklung führen, ermittelten Böhner und Langgemach. Im Klartext heißt dies: Schon ein Altvogel als Schlagopfer eines Windrads – wie Adler CA 002471 in Hetzdorf – hätte unmittelbare nega- Stimmt das Nahrungsangebot, können Schreiadler auch zwei Junge erfolgreich großziehen. tive Auswirkungen auf den Bestand. Auch die seitdem gewonnenen Erkenntnisse zum reduzierten Bruterfolg in der Nähe von Windkraftanlagen sind in diesem Zusammenhang ein Alarmzeichen. Umgekehrt lässt sich das Ergebnis der Computermodellierung auch positiv lesen: Schon die Erhöhung der Population um einige wenige Individuen kann den Schwund weitgehend aufhalten. Doch dazu müssten sich die Bedingungen für die Adler verbessern. Die Autoren der Studie haben schon 2004 die Notwendigkeit stärkerer Schutzanstrengungen angemahnt: „Leichtfertige Fehlentscheidungen bei der forstlichen Planung oder bei der Planung von Vorhaben insgesamt, beim Wirtschaften oder beim Jagen Foto: C. Rohde. Mecklenburg-Vorpommern, 31.7.2014. Der Falke 63, 3/2016 19 Vogelschutz Literatur zum Thema: Böhner J, Langgemach T 2004: Warum kommt es auf jeden einzelnen Schreiadler Aquila pomarina in Brandenburg an? Ergebnisse einer Populationsmodellierung. Vogelwelt 125: 271-281. Dierschke V, Bernotat D 2012: Übergeordnete Kriterien zur Bewertung der Mortalität wildlebender Tiere im Rahmen von Projekten und Eingriffen – unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Brutvogelarten. www. bfn.de/0306_eingriffe-toetungsverbot. html Schreiadler verteidigen Revier und Jungvogel furchtlos auch gegen größere Gegner, hier einen Seeadler. Gegen Windräder und Lebensraumzerstörung sind sie aber machtlos Foto: C. Rohde. Mecklenburg-Vorpommern, 31.7.2015. in dem Gefühl, Brutverluste oder Habitatentwertungen können durch die Population kompensiert werden, müssen der Vergangenheit angehören“, schrieben sie vor mehr als zehn Jahren. Das Thema Windenergie war damals noch eher ein Randaspekt. „Auch die Kollision nur eines Individuums einer seltenen Art, beispielsweise des Schreiadlers, mit einer Windenergieanlage kann bereits negativen Einfluss auf die Population haben.“, bestätigt auch Oliver Krüger (siehe Interview auf S. 40). Und in einem Mortalitäts-Gefährdungsindex (Bernotat & Dierschke 2012) wird die Art unter allen deutschen Brutvögeln hinter dem Steinadler an zweiter Stelle eingeordnet, was bedeutet, „dass der Verlust bereits weniger Individuen „naturschutzfachlich kritisch“ zu sehen und in der Windkraft „planungsrelevant“ ist. Der Windstromboom ist nicht die alleinige Ursache für die alarmierenden Zukunftsaussichten für unseren am stärksten gefährdeten Adler. Aber in Verbindung mit einem „Weiter so“ in der Agrarpolitik könnte die Energiewende auf mittlere Sicht zum Sargnagel für den Schreiadler in Deutschland werden. Der bisherige Grundkonsens auch aller Naturschutzverbände, wonach ein naturschutzgerechter Ausbau der erneuerbaren Energien möglich ist, wird von immer mehr Praktikern mit einem Fragezeichen versehen. „Die 20 Der Falke 63, 3/2016 festgesetzten Ausbauziele für die Windenergie lassen sich nicht mehr im Einklang mit dem Naturschutz realisieren. Meinen wir es mit ökologischer Energiegewinnung ernst, bräuchten wir für einige Regionen einen sofortigen Ausbaustopp, sonst hat das mit ‚ökologisch’ nichts mehr zu tun“, warnt ein amtlicher Naturschützer, der – wie viele Gesprächspartner für diesen Artikel – seinen Namen aus Furcht vor Konsequenzen nicht genannt sehen will. Soll der Schreiadler auch in Deutschland überleben, muss den Naturschutzinteressen eine gewichtigere Stimme bei der Festsetzung der Rahmenbedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien gegeben werden. Das würde Mensch und Natur, Verbrauchern und Schreiadlern – sowie vielen weiteren Tier- und Pflanzenarten helfen. Der Schreiadler mit seinen komplexen Anforderungen an seinen Lebensraum ist geradezu ein Symbol für das notwendige Umsteuern in Forst-, Landwirtschafts- und Energiepolitik – für die gerade erst 20 000 Menschen unter dem Motto „Wir haben es satt“ in Berlin auf die Straße gegangen sind. Denn: Wo es dem Schreiadler gut geht, herrscht eine verträgliche Balance zwischen Naturnutzung und ihrem Schutz. Wo er unter die (Wind-)Räder gerät, leiden auch Menschen. Thomas Krumenacker, Hinrich Matthes, Carsten Rohde Krumenacker T 2012: Der Durchzug von Schreiadler Aquila pomarina, Wespenbussard Pernis apivorus, Kurzfangsperber Accipiter brevipes, Weißstorch Ciconia ciconia und Rosapelikan Pelecanus onocrotalus über Nordisrael – eine Bilanz aus 30 Jahren. Limicola 26 (3): 161-235. Langgemach T, Blohm T, Frey T 2001: Zur Habitatstruktur des Schreiadlers (Aquila pomarina) an seinem westlichen Arealrand – Untersuchungen aus dem Land Brandenburg. Acta ornithoecologica 4.2-4: 237-267. Langgemach T, Meyburg B-U 2011: Funktionsraumanalysen – ein Zauberwort der Landschaftsplanung mit Auswirkungen auf den Schutz von Schreiadlern (Aquila pomarina) und anderen Großvögeln. Ber. Vogelschutz 47/48: 167-181. Scheller W 2007: Standortwahl von Windenergieanlagen und Auswirkungen auf die Schreiadlerbrutplätze in Mecklenburg-Vorpommern. Naturschutzarb. Meckl.-Vorp. 50 (2):12-22. Thomas Krumenacker arbeitet als Journalist in Berlin und ist Mitglied der Fachredaktion von DER FALKE. www.krumenacker.de Hinrich Matthes, Dipl.-Ing. für Landschaftsnutzung und Naturschutz ist freiberuflicher Fachgutachter im Bereich des Natur- und Artenschutzes, ehrenamtlicher Mitarbeiter im NABU und betreut über viele Jahre mehrere Schreiadlerbrutvorkommen. Carsten Rohde ist freiberuflicher Kartierer und Gutachter mit Schwerpunktbereichen im Großvogelschutz, besonders zu den Themen Raumnutzung, Verhaltensbiologie und Beringung. http://blackstorknotes.blogspot.de Wie Windkraftplaner die letzten Tabus umgehen wollen: Skandale im Sperrbezirk Der Kampf um die knapper werdenden Flächen für den weiteren Ausbau der Windkraft führt zu einem immer stärkeren Druck selbst auf die Mindeststandards des Artenschutzes. Denn der von den Stromkunden stark subventionierte Windstrom verspricht weiterhin hohe Gewinne. Und so werden von Investoren immer noch Windräder in Gebieten geplant, die nach geltenden Bestimmungen eigentlich nicht genehmigungsfähig sind. Ermutigt werden sie dadurch, dass der Artenschutz auf der politischen Ebene der Ausweisung von Windeignungsgebieten nicht ausreichend berücksichtigt wird. So werden die Weichen oft schon früh in eine Richtung gestellt, an deren Ende die Konfrontation steht und die für Naturschutz wie Investoren gleichermaßen unerfreuliche Alternative: Der Biodiversitätsschutz bleibt auf der Strecke oder er muss über langwierige und teure Prozesse durchgesetzt werden. Auch der intransparente Umgang und die weitreichenden Freiheiten der Windplaner bei den für Genehmigungen mitentscheidenden avifaunistischen Gutachten führt oft zu Problemen, die frühzeitig vermieden werden könnten. Zwei Beispiele aus MecklenburgVorpommern. Das Windeignungsgebiet Gnoien: „Nicht mit dem Breitschwert“ – aber gegen die Regeln Der Fund des Gutachters war ebenso eindeutig wie ernüchternd für den Investor. In weniger als 300 m Entfernung zum Windeignungsgebiet Gnoien im Landkreis Rostock hatte der beauftragte Ornithologe einen besetzten Schreiadlerhorst gefunden. Die in den „Tierökologischen Abstandskriterien“ MecklenburgVorpommerns festgelegte Tabuzone für die Errichtung von Windrädern im Umfeld zu einem Horst dieser Vogelart beträgt 3000 m um den Brutwald – zehnmal so viel. Die Sache schien gelaufen, die Errichtung von zwölf großen Windrädern – eine Investition im zweistelligen Millionenbereich – geplatzt. „Mir ist die Brisanz dieses Fundes für Sie als Investoren und Planer sehr wohl bewusst“, schrieb der Fachmann noch am Abend des 24. Mai 2013, Stunden nach Auffinden des Nests, an seine Auftraggeber. In seinem Abschlussgutachten fasste er weitere während der Kartierungssaison ermittelte Ausschlussgründe für den Bau eines Windparks zusammen: • 62,5 % der beobachteten Flugrouten der Adler befanden sich innerhalb des Eignungsgebietes. • Die bevorzugte Flughöhe der beobachteten Schreiadler lag zu 72 % im gefährlichen Rotorblattbereich. • Das Gebiet wurde nach der Ansiedlung des neuen Adlerpaares zudem in schreiadlertypischer Manier von nicht weniger als vier weiteren Paaren „besucht“, die innerhalb des festgelegten 6-Kilometer-Prüfbereichs brüten. „Nach fachlicher Prüfung und umsichtiger Auswertung der Raumnutzungsdaten sind die Zugriffsverbote nach § 44 (1) BNatSchG zweifelsfrei in einem signifikant erhöhten Umfang Ein Schreiadler-Brutpaar im Tabubereich von 3000 m und Einzugsgebiet für vier weitere Paare: Ein Windpark dürfte in Gnoien nach geltenden Bestimmungen nicht entstehen. Der Falke 63, 3/2016 21 Vogelschutz Viele Schreiadler müssen auf der Nahrungssuche unter Lebensgefahr Windkraftanlagen passieren. Und der Ausbau der erneuerbaren Energien steht erst am Anfang. Foto: T. Krumenacker. Brandenburg, 30.4.2011. vorhanden“, so das Gutachterfazit. Mit anderen Worten: Ein Windpark ist eindeutig nicht genehmigungsfähig. „Das wird auf jeden Fall eine sehr knifflige Angelegenheit“, schrieb einer der Planer an den Gutachter zurück. Der Windprojektentwickler, die Rostocker UKA (Eigenwerbung: „Sensible Gebiete bleiben außen vor“), zog ihren Antrag auf die Errichtung der zwölf Anlagen zwar zunächst zurück. Doch nun will man offenbar 110 m Standort Foto Schreiadler und Rotmilan (Brutvogel und Nahrungsgast) sowie u.a. Schwarzmilan und Rohrweihe als regelmäßige Nahrungsgäste doch noch zum Zuge zu kommen – trotz des vernichtenden Expertenbefundes. Auf Basis des ursprünglichen Gutachtens ist dies allerdings nicht möglich. Also wurde der alte Gutachter bezahlt, das Gutachten abgeheftet – und ein neuer Gutachter beauftragt. Und der kommt nach „intensiver Raumnutzungsanalyse des Schreiadlerpaars“ im vergangenen Jahr nun zu einem ebenso erstaunlichen wie für den Auftrag- 110 m zwischen essenziellen Nahrungshabitaten und der WEA-Planungsfläche „Gnoien“ WEA/Planung „Gnoien“ geber erfreulichen Ergebnis: „Unser Gutachter hält grundsätzlich eine Errichtung von Windkraftanlagen dort für möglich“, sagt der zuständige UKA-Projektentwickler Daniel John unserem Journal. Eine steile Gutachterthese angesichts der Tatsachen, dass das gesamte Windeignungsgebiet innerhalb der Schreiadler-Schutzzone liegt, ein Teil in der für einen Seeadler und das Gebiet zudem von vier weiteren Schreiadlerpaaren genutzt wird. Das Gutachten hätte DER FALKE gerne eingesehen. UKA wollte es nicht zur Verfügung stellen. Wie hält UKA das Gebiet also trotz Unterschreitung der 3000-Meter-Tabuzone für genehmigungsfähig? Im Gespräch mit DER FALKE zieht UKA-Mann John die vom Landesamt für Umwelt (LUNG) festgelegte und seit Jahren angewandte Regelung der Tabuzonen grundsätzlich in Zweifel: „Die Frage ist, wie werthaltig sind solche Radien. Aus der Sicht eines Ingenieurs ist es sinnvoller, den jeweiligen Einzelfall anzusehen und aus den spezifischen Erkenntnissen dieses Einzelfalls Entscheidungen zu treffen, statt pauschale Radien festzulegen.“ Auch einen weiteren zentralen Baustein des Schreiadlerschutzes in Deutschland will UKA nicht gelten lassen: den zehnjährigen Bestandsschutz für die Horste. Nach derzeitiger Regelung könnte selbst dann, wenn der Adler das Revier jetzt aufgäbe, frühestens im Jahr 2024/2025 mit einer neuen Windanlagenplanung begonnen werden. „Auch das Problem ist uns bekannt“, sagt John. „Es stellt sich aber die Frage, wie sinnvoll so etwas ist.“ UKA will die Umgehung der Mindeststandards nun mit Umweltverbänden und Behörden diskutieren: „Wir werden das ganze Vorhaben im Dialog mit den Naturschutzverbänden und den Behörden betreiben“, versichert John. Man wolle nicht „mit dem Breitschwert an die Sache gehen“. »»Ansturm auf Windeignungsgebiete In unmittelbarer Nähe zum geplanten „Windpark“ befinden sich bevorzugte und überlebensnotwendige Nahrungshabitate für Schreiadler. 22 Der Falke 63, 3/2016 Dass in Gnoien überhaupt weiter auf Windräder gesetzt wird, ist nur möglich, weil das Gebiet immer noch als Windeignungsgebiet eingestuft wird, wie Matthias Plehn vom Amt für Raumordnung und Landesplanung in Rostock auf Anfrage bestätigt. Dies, obwohl sich spätestens seit dem Schreiadler-Brutnachweis hier niemals ein Windrad drehen dürfte. Aber ist ein Windeignungsgebiet erst einmal ausgewiesen, wird es in der Regel auch bebaut, selbst wenn dies rechtlich nicht zwingend ist. Denn sofort nach seiner Festsetzung setzt der Ansturm der Investoren ein. Im Wettlauf um die Flächen schicken Firmen ganze Scharen von Gutachtern los (ein weiterer erheblicher Störfaktor in Greifvogelrevieren), überbieten sich in Verhandlungen mit Landeigentümern und Gemeinden, um Land zu pachten oder zu kaufen. So werden von den Unternehmen bereits vor Beginn von Genehmigungsverfahren für konkrete Windparks teils erhebliche Summen investiert – selbst in Gebieten, die offenkundig nicht genehmigungsfähig sind. Der harte Konflikt wird dann später vor Ort ausgetragen: zwischen Projektbetreibern, die ihre Interessen wahren wollen, und Naturschützern. Mittendrin die oft personell und gelegentlich fachlich hoffnungslos überforderten Unteren Naturschutzbehörden, auf denen häufig genug enormer politischer Druck lastet. Denn Windanlagen bringen in der strukturarmen Region wichtige Einnahmen. Als Konsequenz aus dieser Situation fordert etwa der NABU, mögliche Konflikte frühzeitiger in der Planung zu berücksichtigen. „Trotz des auf dieser Ebene nicht vorhandenen Klagerechts der Naturschutzverbände fordern wir, dass die Behörden Artenschutzaspekte schon in der Regionalplanung berücksichtigen und Projektplaner bereits ganz am Anfang des Planungsprozesses mögliche Konflikte mit dem Artenschutz ausloten und berücksichtigen“, sagt NABU-Vogelschutzexperte Lars Lachmann. „Damit könnte verhindert werden, dass es nicht erst zu einem sehr späten Zeitpunkt, im schlimmsten Fall nach Erteilung der Genehmigung, zu Verzögerungen und wirtschaftlichen Verlusten durch Widersprüche und Klagen von Naturschutzseite kommt. Mögliche Konflikte sind immer am Anfang einer Planung leichter zu vermeiden als später, wenn bereits viel Geld in eine geplante Investition geflossen ist.“ Windkraft in der Schreiadler-Tabuzone: Ein „Vogelradar“ soll aus Investorensicht retten, was nach gültigen Bestimmungen nicht genehmigungsfähig ist. Das Beispiel Gnoien zeigt exemplarisch auch das Problem des intransparenten Umgangs mit Gutachten auf. Die Gutachter werden von den Investoren bezahlt, die ein Interesse daran haben, dass die Expertise keine unüberwindlichen Hindernisse für ihr Vorhaben aufwirft. Expertisen können nach Belieben verwendet werden oder in der Schublade verschwinden. Selbst Genehmigungsbehörden haben teils Probleme, die Original-Kartierungen einsehen zu können. Ihnen wird in der Regel eine bewertende Zusammenschau des Projektbetreibers vorgelegt. Die Gutachter selbst befinden sich in einer ökonomischen Abhängigkeit vom Auftraggeber, was mit dem von der Internationalen Naturschutzorganisation IUCN geforderten Prinzip nach „unabhängig und frei von Einseitigkeiten gewonnenen Erkenntnissen“ kaum zu vereinbaren ist. Oder, wie ein langjähriger Gutachter es formuliert: „Bei der Begutachtung strikt auch den artenschutzrechtlichen Anforderungen den gebührenden Rang einzuräumen, ist immer auch ein bisschen das Sägen am Ast, auf dem man sitzt“. Dem Weg für Gefälligkeitsgutachten wird durch diese Struktur Tür und Tor geöffnet. Lachmann plädiert für ein gebüh- renfinanziertes System, bei dem der Windkraftbetreiber zwar weiterhin die Gutachten bezahlt, die Vergabe aber durch eine unabhängige Behörde stattfindet. Die Gutachtenkosten würden in die Genehmigungsgebühr aufgenommen, die es bereits gibt. Das Vogelradar von Badresch – Der Schreiadler als Versuchskaninchen Um neue Anlagen auch innerhalb der Tabubereiche von 3000 m um ein Brutvorkommen des Schreiadlers genehmigt zu bekommen, verfallen Windplaner auf immer neue Ideen. Diese Tabubrüche werden dann häufig als Innovationen deklariert. Das Risiko eines Scheiterns liegt bei diesen „innovativen“, sprich: nicht erprobten Anlagen stets bei den Vögeln. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür ist der Versuch, eine Anlage in einem Windeignungsgebiet in weniger als einem Kilometer Entfernung von einem Schreiadlervorkommen zu errichten. Nahe Badresch an der Mecklenburgischen Seenplatte will die Schweriner Firma Naturwind zusammen mit den Stadtwerken Neustrelitz elf Riesenwindräder mit einer Gesamthöhe von 193 m betreiben. Der Falke 63, 3/2016 23 Vogelschutz In der Umgebung befinden sich ein Rotmilan- und ein Schreiadlerhorst. Die Anlage ist damit nach gängigen Maßstäben nicht genehmigungsfähig. Um das Projekt dennoch realisieren zu können, sollen zunächst zwei Anlagen innerhalb des Gebietes verschoben werden, sodass der 1000-Meter-Tabubereich um den Milanhorst einzuhalten wäre. Der Schreiadler-Schutzradius deckt aber das ganze Eignungsgebiet ab – ein K.-o.-Kriterium. Zudem brüten vier weitere Schreiadlerpaare innerhalb des 6000-Meter-Prüfbereichs. Die Lösung aus Sicht des Investors: Ein Vogelradarsystem soll die profitablen Windräder im Tabubereich des Adlers ermöglichen. Das bisher zu diesem Zweck nie angewendete Radar (es wird derzeit mit Blick auf Zugvögel und an Flugplätzen eingesetzt) werde bei „unmittelbarer Präsenz von windkraftsensiblen Arten“ eine Abschaltung der Anlagen auslösen, versprechen die Planer. Bei Präsentationen wird das von der Schweizer „Swiss Birdradar“ entwickelte System als technisches Wunderwerk dargestellt und als Königsweg und Modellprojekt zur Vereinbarkeit von Windkraft und Artenschutz gepriesen. „Durch das Kollisionsmanagement (werden) die Belange des Artenschutzes umfassend berücksichtigt und „neue Wege“ zur Vereinbarkeit von Artenschutz und die Verwirklichung landespolitischer Klimasetzungen aufgezeigt“, schwärmt der Projektträger in einer Projektskizze. Mehr noch: Die Errichtung eines Windparks im Tabubereich des Schreiadlers wird zum Beitrag zum Artenschutz umgedeutet. „Der Vorhabenträger leistet seinen Beitrag zur Verantwortung des Landes für die Erhaltung der Population von Schreiadler und Rotmilan und gleichzeitig zur Verwirklichung der landespolitischen Klimaziele, welche sich im Umkehrschluss langfristig auch nachhaltig auf den Erhalt der Flora und Fauna auswirken soll.“ Tatsächlich scheint nicht nur die Wirksamkeit und technische Realisierbarkeit des Vorhabens zweifelhaft und nicht erwiesen. Der Schreiadler als einer der seltensten Vögel Deutschlands genießt auch den größtmöglichen gesetzlichen Schutz. Blickt in eine ungewisse Zukunft: ein junger Schreiadler in seinem Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Foto: C. Rohde. 7.7.2010. 24 Der Falke 63, 3/2016 Damit sind Experimente mit „Vogelradaren“, bei denen die Adler gleichsam als Versuchskaninchen herhalten, nicht vereinbar. Zentrales Element der Risikominimierung ist nach gegenwärtigem Konsens die Standortwahl für eine Anlage. Diese Säule des Schreiadlerschutzes soll nach dem Willen der Planer offenbar ausgehebelt werden. Das Konzept hebt ausschließlich auf das Risiko einer Kollision ab und ignoriert völlig weitere, ebenso gravierende Gefahren im Zusammenhang mit der Windenergie: Schreiadler sind Charaktervögel der unzerschnittenen und unverbauten Landschaften. Sie siedeln möglichst fernab menschengemachter Strukturen wie Leitungen, Straßen, Eisenbahnlinien oder auch Windkraftanlagen. Die Errichtung von Windrädern in den Aktionsräumen der Adler ist damit – jenseits des Kollisionsrisikos – ein Problem an sich. Auch gehen aufgrund des Meidungsverhaltens großflächig Nahrungsflächen verloren. Geringerer Bruterfolg und Brutplatzaufgaben als Folge von Windkraft-Ansiedlungen sind dokumentiert (siehe Beitrag ab S. 12). Gegen diese Gefahren durch Windkraft kann auch das „Vogelradar“ nichts ausrichten – selbst, wenn es funktionieren sollte. Der Versuch, auch in Tabuzonen Windstrom zu erzeugen, ist auch deshalb unakzeptabel, weil er in eine Zeit fällt, da der massive Zubau die Netze ohnehin stark belastet. Immer wieder müssen die Netzbetreiber eingreifen und die Stromzufuhr aus Windanlagen wegen Überlastung abregeln – zu Kosten von mehreren Hundert Millionen Euro allein im vergangenen Jahr. Vielerorts stehen auch in den Schreiadlergebieten Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns bei etwas stärkerem Wind die Anlagen still. Dennoch will die Branche mit aller Macht weitere Zubauten. Der Ansturm auf die sensiblen Flächen könnte sich sogar noch verstärken. In der Branche macht sich nämlich so etwas wie eine „Torschlusspanik“ breit. Denn die Bundesregierung plant eine Umstellung des Fördersystems, das den Windstromern derzeit auf zwanzig Jahre Abnahmepreise garantiert, die deutlich über den Marktpreisen liegen. Thomas Krumenacker Schreiadler-Hochburg Lettland: „Intensivierung der Landwirtschaft bringt Adler unter Druck“ Lettland beherbergt gemeinsam mit Weißrussland, Litauen und Polen eine der größten bekannten Schreiadlerpopulationen. Der Biologe und Artenschutzexperte der Staatlichen Wälder Lettlands, Ugis Bergmanis, ist einer der besten Kenner der Art, die er seit vielen Jahren erforscht und schützt. Mit ihm sprach Thomas Krumenacker. DER FALKE: Lettland zählt zu den Top-3-Ländern für den Schreiadler. Der dortige Bestand spielt deshalb für die gesamte Weltpopulation eine wichtige Rolle. Wie hat sich die Population bei Ihnen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt? Ugis Bergmanis: Die hiesige Schreiadler-Population dürfte bis in die Zeit zum Ende der 1990er und der ersten Jahre nach der Jahrtausendwende ihre höchsten Bestände gehabt haben, ich schätze landesweit rund 4500 Brutpaare. Zwischen 2003 und 2011 verzeichneten wir eine moderate Abnahme und in den vergangenen drei Jahren stabilisierte sich der Bestand wieder auf dem etwas niedrigeren Niveau und nimmt zum Teil auch wieder leicht zu. Ich schätze, dass zurzeit 3700 bis 4000 Paare hier brüten. Das sind beeindruckende Zahlen. Welche Siedlungsdichten erreicht der Schreiadler in seinen lettischen Hochburgen im Vergleich etwa zu 0,44 Paaren auf 100 km2 beispielsweise in seinem brandenburgischen Vorkommensgebiet? Zu Spitzenzeiten gab es Regionen mit 30 bis 32 Paaren auf 100 km2. In Topgebieten meiner Probeflächen in Ostlettland sind es derzeit gebietsweise immer noch 23 bis 25 Paare. In guten, aber nicht herausragenden Gebieten sind es 10 bis 18 Paare. Als schreiadlerarm gelten hierzulande Regionen mit 2 bis 3 Paaren auf 100 km2. Die Art ist flächendeckend in Lettland verbreitet, keine Adler finden sich nur im direkten Einzugsgebiet der Hauptstadt Riga und entlang eines schmalen Streifens der Kiefernwälder unmittelbar an der Ostsee. Aber auch dort brüten die Adler bereits in einem bis drei Kilometern landeinwärts. Den Übergang nach dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union im Mai 2004 scheint die Art damit einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben. Ja und nein. Der EU-Beitritt fällt in die Zeit des eben beschriebenen Rückgangs, hat aber wohl eher hausgemachte Ursachen in der Forstwirtschaft. Es wäre falsch, der EU die alleinige Schuld zu geben – obwohl die in Brüssel verfolgte Landwirtschaftspolitik naturunfreundlich ist, um das Mindeste zu sagen. Der Rückgang in dieser Zeit fiel in Lettland aber geringer aus als etwa in Litauen, wo der Bestand nach der Jahrtausendwende um mehr als ein Viertel einbrach. Was sind denn gegenwärtig die größten Gefahren oder Bedrohungen für die lettischen Schreiadler? Eindeutig sind die Intensivierung der Forst- und der Landwirtschaft die gefährlichsten Entwicklungen. Der Umbau der Landwirtschaft in – für lettische Verhältnisse – großflächigen Ackerbau, der damit verbundene Verlust von Grünland und natürlich der auch hier immer weiter voranschreitende Flächenverbrauch für Energiepflanzen wie Mais und Raps sind ernsthafte Bedrohungen für die Schreiadler. Spielt Windkraft eine Rolle? Zum Glück konzentrieren sich die Windkraftanlagen hierzulande auf einen schmalen Streifen entlang der Küste, der ohnehin nicht von Schreiadlern bewohnt wird. Aber ich sollte noch eine weitere Entwicklung nennen, die zwar deutlich hinter den genannten Gefahren rangiert, aber nicht zu vernachlässigen ist: nämlich den voranschreitenden Flächenverbrauch. Wie in anderen europäischen Ländern wachsen die Städte auch hierzulande immer weiter in die Peripherie hinein. Auch in entlegeneren Landesteilen werden viele neue Straßen gebaut, Wege nahe Dörfern werden ausgebaut und die Zahl der Hochspannungsleitungen nimmt zu. Welchen Schutz genießt der Schreiadler in Lettland? Rechtlich einen sehr guten! Wir haben ein Konzept durchsetzen können, das sogenannte Mikroschutzzonen um Schreiadlerbrutplätze vorsieht. Diese müssen aber von Experten initiiert werden. Das bedeutet, dass um ein Nest herum zwischen 5 und 30 ha als totales Schutzgebiet gelten, in dem es das ganze Jahr keine forstlichen Maßnahmen geben darf. Darum gibt es eine Pufferzone, die einschließlich der Kernzone bis zu 100 ha umfassen kann. Darin sind forstliche Aktivitäten vom 1. März bis zum 31. Juli verboten. Auch die Ugis Bergmanis mit einem Jagd und Wildfütterung sind jungen Schreiadler aus seiner in Mikroschutzgebieten zur Pflegestation. Foto: T. Krumenacker. Der Falke 63, 3/2016 25 Vogelschutz mit rund 1000 angegeben. Das ist schon eine erheblich größere Zahl als bislang genannt. Mir erscheint sie dennoch zu gering. Wie bewerten Sie das Potenzial in Ihrer Nachbarregion? Eine Zahl kann ich natürlich nicht nennen, aber 1000 Brutpaare erscheint auch mir angesichts des riesigen potenziell geeigneten Gebietes zu gering. Ich selbst habe Horste unmittelbar an der russischen Grenze und die westrussische Region, die an unser Land angrenzt, ist von ihrer Struktur her sehr ähnlich der unsrigen. Dazu kommt, dass die Art nun nachgewiesenermaßen bis weit östlich von Moskau brütet. Auf der anderen Seite nimmt die Dichte nach Norden und Osten hin ab. Estland etwa ist im Vergleich zu Lettland bereits viel borealer geprägt mit einer entsprechend geringeren Dichte als hier. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für Russland mit gebietsweise nur ein bis zwei Paaren auf 100 km2. Dennoch erscheint mir die Zahl von 1000 Brutpaaren für Russland als deutlich zu gering gegriffen. Weitere Forschungen unserer russischen Kollegen werden sicher spannend. Nach jeder Brutsaison machen sich Schreiadler auf den weiten Weg in ihre Winterquartiere im südlichen Afrika. In vielen Ländern entlang der Route wird ihnen nachgestellt. Foto: T. Krumenacker. Nordisrael, 5.10.2012. Brutzeit verboten. Das Problem bei einer flächendeckend verbreiteten Art ist aber natürlich, dass man nicht jeden einzelnen Horst kennen kann. Im Gegenteil: Wir kennen nur einen Bruchteil der Horste und können so nur einen kleinen Teil entsprechend schützen. Ein kleiner Teil von circa 7 % unserer Schreiadler brütet in Natura 2000-Gebieten. Das bietet einen gewissen, aber keinen hundertprozentigen Schutz. Gibt es Lücken im Schreiadlerschutz? Ich denke, der gesetzliche Schutz der Brutpopulation ist ziemlich gut. Ein Problem ist aber, dass immer wieder Schreiadler durch die unbeabsichtigte Fällung von Horstbäumen zu Schaden kommen. Die Forstwirtschaft ist einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige und sie ist außerhalb von Natura 2000-Gebieten und Mikroschutzgebieten das ganze Jahr über erlaubt. Damit sind bestimmte Brutverluste verbunden. Ältere Jungvögel können in Pflegestationen überleben und ausgewildert werden und auf diese Weise für die Population erhalten werden. Daher habe ich nahe meines Hauses die erste Pflege- und Auswilderungsstation eingerichtet und die ersten Vögel vor dem letzten Herbstzug in die Freiheit entlassen. Aber natürlich darf man den Schreiadlerschutz nicht nur lokal oder regional sehen: Mit großer Sicherheit tragen die Verluste von Altvögeln auf dem Zugweg dazu bei, dass einige optimale und über Jahrzehnte besetzte Reviere von einer Saison auf die nächste verwaist sind. Abschuss, Vergiftung, Leitungskollisionen, Verkehrsopfer – das sind einige der Schlagworte. Hier bedarf es viel strikterer internationaler Schutzbemühungen durch unsere Regierungen. Über den Bestand des Schreiadlers in einigen wichtigen Ländern seiner Verbreitung ist wenig bekannt, beispielsweise in Russland. Dort wird nun die Zahl der Brutpaare 26 Der Falke 63, 3/2016 Viele Menschen auch in Deutschland verfolgen die Bruten „Ihrer“ Schreiadler, die Sie per Webcam im Internet übertragen. Eigentlicher Sinn der Videobeobachtung ist aber die Erforschung der Nahrungsgewohnheiten. Die ausführliche Analyse werden Sie noch publizieren. Können Sie uns schon ein paar spannende Details vom Speisezettel des Schreiadlers verraten? Ich habe fast 3000 einzelne Nahrungsobjekte aus zwei von 2008 bis 2013 mit Webcams überwachten Horsten präzise bestimmen können. Die überragende Bedeutung kommt den drei Arten bzw. Artengruppen der Feldmäuse, Frösche und Maulwürfe zu. Die ersten beiden bilden mit fast 90 % den Löwenanteil an Beutetieren. Doch auch den Maulwürfen kommt wegen ihrer größeren Biomasse eine herausragende Bedeutung zu, auch wenn ihr Anteil an den Beutetieren nur rund 10 % ausmacht. Ein Maulwurf bietet so viel Nahrung wie fünf Frösche. Was verrät der Speisezettel noch – beispielsweise über die Bedeutung des Brut- und Nahrungshabitats für den Bruterfolg? Viel. Vögel zum Beispiel machen zwar nur ein Prozent der Nahrung aus, aber es sind die Charakterarten des Schreiadlerlebensraums, die erbeutet werden: Wachtelkönig, Feldlerche und Wiesenpieper. Noch deutlicher wird die Bedeutung von nestnahen Feuchtgebieten für den Bruterfolg durch die Nahrungsanalyse belegt: Schon kurz nach dem Schlupf tragen auch die Adlerweibchen zum Nahrungserwerb bei, immerhin zu einem Drittel. Das ist für sich schon eine wichtige Erkenntnis, denn ihr Beitrag wurde bislang als nicht so existenziell bedeutend erachtet. Aber noch spannender wird es, wenn wir sehen, dass die Weibchen fast ausschließlich Frösche zum Nest bringen. Das liegt daran, dass Frösche viel einfacher und somit schneller zu fangen sind als etwa Mäuse. Denn das Weibchen schützt den Jungvogel und entfernt sich als gute Mutter nie lange vom Nest. Und wegen dieser engen Bindung an den Jungvogel und damit die unmittelbare Horstnähe liegt die Bedeutung von Feuchtgebieten in direkter Nestumgebung für den Bruterfolg auf der Hand. Russischer Experte zum Schreiadler: „Maximal 2000 Paare Schreiadler in Russland“ Russland ist potenziell eines der wichtigsten Länder für den Schreiadler. Aber aus dem riesigen Land liegen nur punktuelle Erkenntnisse zur Verbreitung vor. Alexander Mischenko ist Forscher am Moskauer Severtsov-Institut für Ökologie und Evolution der Russischen Akademie der Wissenschaften und einer der wenigen Experten, die sich mit der Art befassen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Forschung an Offenlandarten und die Erarbeitung von Schutzkonzepten für die zentralen und nordwestlichen Teile des europäischen Russlands. Über den gegenwärtigen Kenntnisstand zur russischen Population des Schreiadlers sprach Thomas Krumenacker mit Alexander Mischenko. DER FALKE: Das Wissen über die östliche Verbreitung des Schreiadlers ist in den vergangenen Jahren dank der Arbeit von Ihnen und Ihren Kollegen gewachsen. Früher galt es als Gewissheit, dass der Schreiadler etwa auf der Höhe Moskaus seine östliche Verbreitungsgrenze hat. Das ist überholt. Wo würden Sie gegenwärtig die östliche Verbreitungsgrenze der Art ziehen? Alexander Mischenko: Wir haben nicht genügend Daten, um dies mit Sicherheit zu sagen. In den Jahren zwischen 2000 und 2012 wurden Schreiadler in den relativ östlichen Bezirken Nischni Nowgorod, Saratow und Wolgograd nachgewiesen. Hinweise auf Brutvorkommen haben wir aber nicht gefunden, wahrscheinlich handelte es sich um Irrgäste. Nach meiner Einschätzung könnte das Wolga-Tal die östlichste Linie der gegenwärtigen Verbreitung darstellen. Seit einigen Jahren wird sowohl in Russland wie auch beispielsweise in der Ukraine eine weitere Ostausweitung des Schreiadlers beobachtet. Was wissen Sie bislang über dieses Phänomen? Die ersten Hinweise auf eine Neukolonisierung von Gebieten stammen von Mitte bis Ende der 1990er Jahre. Sie betrafen die Region Moskau und einige weitere Bezirke Alexander Mischenko versucht seit vielen Jahren, den tatsächlichen Brutbestand des Schreiadlers in Russland zu ermitteln. Foto: privat. nördlich, südlich und auch östlich davon. Eine wirkliche Erklärung dafür habe ich nicht. Wahrscheinlich spielt die Abnahme des Schelladlers und sogar das Verschwinden des (nahe verwandten, aber größeren) Schelladlers aus einigen Gebieten eine Rolle dabei. Systematische Daten zur Ostausweitung des Schreiadlers haben wir nicht. Wir können somit auch nicht sagen, ob der Trend anhält oder gestoppt ist. Schon zu Beginn der 2000er Jahre war ein Brutvorkommen rund 80 km südöstlich der Bezirkshauptstadt Iwanowo – rund 300 km östlich Moskaus – gefunden und als östlichster je nachgewiesener Brutplatz beschrieben worden. Gilt dies immer noch? Ja, das stimmt nach gegenwärtigem Wissen. Aber es kann wahrscheinlich daraus nicht geschlossen werden, dass von hier eine gerade Linie nach Süden bis zum Nordkaukasus verläuft und es eine flächendeckende Besiedlung der westlich dieser Linie gelegenen Regionen gibt. Das Brutvorkommen im Nordkaukasus ist isoliert von dem in der Mitte des europäischen Russlands, denn die Schreiadler besiedeln die zwischen beiden Populationen liegende Steppenzone nicht. Aus einigen Gebieten, beispielsweise Ostpolen, wissen wir, dass durch die zunehmende Entwässerung von flussbegleitenden Überschwemmungsflächen der Lebensraum zulasten des Schell- und zugunsten des Schreiadlers verändert und so quasi die Tür für den Schreiadler in die ökologische Nische des Schelladlers geöffnet wird. Gibt es den Trend zu großflächiger Trockenlegung auch in Russland und könnte dies Teil einer Erklärung für die Ostausweitung des Schreiadlers sein? Die intensive Phase der Entwässerungen hat in Russland bereits in den 1960er bis 1980er Jahren stattgefunden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde in diese Richtung kaum noch etwas unternommen. Dies allein kann also kaum eine Ursache für die Ostausweitung des Schreiadlers sein. Der Falke 63, 3/2016 27 Vogelschutz Haben Sie eine Hypothese, die das Phänomen erklären könnte? Meine Hypothese ist, dass die tiefgreifende Krise der russischen Landwirtschaft, die am Ende der 1980er Jahre begann und immer noch anhält, hier eine Rolle spielt. Riesige Ackerflächen wurden aus der Nutzung genommen oder weitaus weniger intensiv genutzt. Der Pestizideinsatz ist stark zurückgegangen, Heuwiesen und Weiden werden nicht mehr umgebrochen. Damit dürfte sich das Nahrungsangebot für den Schreiadler vielerorts deutlich verbessert haben. Ein weiterer Grund kann auch das seit einigen Jahren wärmere und trockenere Klima sein, das die Bedingungen für den Schelladler wiederum verschlechtert hat. Haben Sie eine Schätzung dazu, wie groß die für den Schreiadler heute geeignete Fläche in Russland ist? 2001 schätzten Sie diese auf 400 000 km2. Wenn man die Fläche der seitdem bekanntgewordenen neu besiedelten Bezirke hinzunimmt, kommt man auf eine Fläche von 750 000 km2. Ja, das klingt realistisch. Unmittelbar westlich an Russland angrenzend finden sich in den baltischen Staaten sehr hohe Dichten des Schreiadlers. In lettischen Gebieten sehr nahe der Grenze wurden 20 Brutpaare auf 100 km2 ermittelt. Die Struktur in Teilen Westrusslands ähnelt sehr derjenigen in diesen lettischen Regionen. Halten Sie ähnliche Siedlungsdichten dort für denkbar? Wir haben nur sehr wenige Erkenntnisse zu Siedlungsdichten. Aber ich denke, die Dichten in einigen Teilen der westlichen Regionen Russlands wie Kaliningrad, Pskow, Nowgorod und Briansk können hoch und durchaus den lettischen vergleichbar sein. Leider haben wir aber keine eigenen Forscher, die sich darum kümmern. Ihre neueste Populationsschätzung für den Schreiadler in Russland lautet auf circa 1000 Brutpaare, nachdem lange nur rund 400 Brutpaare angenommen wurden. Auch die neue Zahl erscheint gering angesichts der großen Fläche und der hohen Dichte in den Nachbarländern mit ähnlicher Struktur. In der bislang letzten Schätzung gehen wir von 1000 bis 1300 Paaren inklusive der Kaukasus-Population aus. Diese Schätzung geht auf Daten aus dem Birdlife-Projekt zur Europäischen Roten Liste von 2012 und 2013 zurück. Diese Zahlen können durchaus eine Unterschätzung sein, denn es handelt sich um Expertenschätzungen auf der Basis von Interpolationen einiger Probeflächen-Zählungen. Aber insgesamt glaube ich nicht, dass diese Annahme eine gewaltige Unterschätzung darstellt. Wahrscheinlich haben wir keinesfalls mehr als 2000 Brutpaare. Denn die Dichten sind – mit Ausnahme der genannten Grenzregionen – viel geringer als in den baltischen Staaten. Was sind die größten Bedrohungen für den Schreiadler in Russland? Das größte Problem ist die völlige Aufgabe der Landwirtschaft und das damit verbundene Zuwachsen geeigneter Nahrungsflächen über große Gebiete hinweg. Der zweite große Negativfaktor ist das großflächige Abholzen von Wäldern. Gefährlicher Zug in den Süden Als Langstreckenzieher sind Schreiadler auch auf dem Zug vielen Gefahren ausgesetzt. Windenergie spielt dabei zunehmend eine Rolle. Entlang des östlichen Zugweges nach Afrika – den fast alle Schreiadler nehmen – sind viele große Windkraftprojekte im Bau, etwa in der Türkei und in Ägypten. Am Golf von Suez, einer der wichtigsten Engstellen des Vogelzugs, reihen sich im Zafarana-Windpark schon jetzt Windräder aneinander, so weit das Auge reicht. Gravierender sind derzeit aber Gefahren für Zugvögel durch menschliche Nachstellung, vor allem im Nahen Osten: Hier fallen ungezählte Adler der Schießwut zum Opfer. Genaue Daten gibt es nicht, aber Indizien zeichnen ein düsteres Bild. So werden in jedem Jahr Hunderte Greifvögel, Störche und Pelikane im israelischen Wildtierhospital in Tel Aviv behandelt. Die meisten werden nahe der Grenzen zu Syrien, dem Libanon oder Jordanien aufgefunden. „30 Prozent der Greifvögel weisen Schusswunden auf, oft durch verschiedene Kaliber, also durch Mehrfachbeschuss“, sagt der Ornithologe der Israelischen Nationalparkbehörde, Ohad Hatzofe. Schreiadler sind wegen ihres geballten Zugs durch die Region besonders stark betroffen. Seit 2006 wurden 245 Schreiadler behandelt – eine angesichts der geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit erschreckende Zahl. Das Komitee gegen den Vogelmord kämpft seit Langem gegen die illegale Vogeljagd im Nahen Osten. 2013 28 Der Falke 63, 3/2016 wertete es gemeinsam mit dem libanesichen Lebanon Eco Movement Einträge auf Facebook aus, in denen sich Jäger mit ihrer Beute brüsteten. Auf 700 Trophäenfotos wurden 11 200 Vögel bestimmt, darunter 318 Greifvögel, und unter diesen sieben Schreiadler. Kurz nach Veröffentlichung der Auswertung wurde ein Foto bekannt, das gleich fünf oder sechs geschossene Schreiadler zusammen an einen Mast gebunden zeigt. „Die in unserer Auswertung entdeckten Adler sind mit Sicherheit nur ein sehr geringer Teil der pro Saison tatsächlich geschossenen Tiere“, sagt Axel Hirschfeld vom Komitee. „Die meisten libanesischen Jäger werden die Vögel nicht fotografieren oder die Fotos nicht ins Internet stellen“, ist er sicher. Und nur ein Bruchteil von ihnen dürfte überhaupt ein Facebook-Profil haben, der für die Vogelschützer einzige Anhaltspunkt zur Spurensuche. „Wir gehen deshalb davon aus, dass die Dunkelziffer enorm hoch ist und die Anzahl der pro Jahr im Libanon geschossenen Schreiadler mindestens im niedrigen dreistelligen Bereich, wahrscheinlich aber deutlich höher liegt“, sagt Hirschfeld im Gespräch mit DER FALKE. Welche Folgen dies haben kann, zeigt sich immer wieder im Brutgebiet: Selbst optimale Habitate verwaisen von einem Jahr auf das andere – ein Hinweis darauf, dass die Reviervögel die gefährliche Reise in den Süden nicht überlebt haben. Thomas Krumenacker Im 62. Jahrgang www.falke-journal.de Monat für Monat lesen Sie … Neues zur Biologie und Ökologie der Vögel Vorstellungen interessanter Beobachtungsgebiete Perspektiven im nationalen und internationalen Vogelschutz Hilfe bei „kniffligen“ Bestimmungsfragen Reise- und Freizeittipps Kurzberichte über bemerkenswerte Beobachtungen von Lesern Veranstaltungen, Kontakte, Besprechungen und Kleinanzeigen 1. 2. Poster „Stadtvögel“ als „Dankeschön“ für die Anforderung eines unverbindlichen Probeheftes Zusätzlich das „Merk- und Skizzenbuch für Vogelbeobachter“, wenn Sie sich für ein Test-Abo zum Preis von nur € 9,95 für 3 Hefte (inkl. Versand) entscheiden. Preisstand 2016– Änderungen vorbehalten » » » » » » » DER FALKE erscheint: 12 x im Jahr mit je 44 Seiten, durchgehend farbig, immer am Monatsanfang. € 56, - (Schüler/innen, Studenten/innen, Azubis € 39,95, Bescheinigung erforderlich) zzgl. Versandkosten. Verlagsanschrift: AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim, Tel.: 06766/903-141, Fax: -320, E-Mail: [email protected] Abonnentenservice: Frau Britta Knapp, Tel.: 06766/903-206 3. Wenn Sie sich zu einem Abonnement entschließen, erhalten Sie als Begrüßungsgeschenk ein Qualitäts-Multi-Tool im Lederetui … und SofortAbonnenten erhalten dazu noch den praktischen Sammelordner für einen Jahrgang! www.falke-journal.de Ja, ich möchte DER FALKE kennenlernen! Absender: Bitte schicken Sie mir ein unverbindliches Probeheft. Name Ich bestelle ein Test-Abonnement zum Preis von € 9,95. Wenn ich den DER FALKE anschließend im Abonnement zum Preis von € 56,- (ermäßigt € 39,95 – Bescheinigung erforderlich) für 12 Monate zzgl. 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