Siri und der Sinn des Lebens

DER SPIEGEL vom 06.02.2016 Siri und der Sinn des Lebens
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Siri und der Sinn des Lebens
SPIEGEL-Gespräch Der Alltag ohne Apps wird unvorstellbar, für jede Lebenslage schlagen
die kleinen Programme Lösungen vor. Verändern sie Wahrnehmung und Welthaltung?
Verhindern sie persönliche Entwicklung? Zwei Forscher aus den USA machen sich Gedanken.
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völlig verloren fühlen, dann
Als ich vor etwa 20 Jahren auf
kann es ein Anzeichen dafür
ein Internat ging, weg von
sein, dass Sie ein Problem
den Bermudas, wo ich aufhaben. Wenn die Apps Ihnen SayHi Translate
gewachsen bin, habe ich besnur helfen, Ihren Alltag zu or- ist einer von mehreren Unitenfalls einmal in der Woche
die im
ganisieren, ist es kein Pro- versalübersetzern,
für zehn Minuten mit meinen
Ausland helfen, Gespräche
blem.
Eltern telefonieren können.
Gardner
Davis
zu führen. Zu kritisieren gibt
Gardner: Solange Sie die Din- es bei diesen Apps eigentlich Es gab ein Telefon auf dem
ge, die Sie mithilfe der Apps nichts. Einfach einen Satz
Flur unseres Wohnheims, und
Howard Gardner, Professor für Erziehungswis- erledigen, auch offline und auf Deutsch ins Handy sprewenn ich länger sprach, klopfsenschaften an der Harvard-Universität, Träger analog lösen können, ist alles chen, ein Computer im Netz
te mir jemand auf die Schulvon rund 30 weiteren akademischen Ehren- okay, denke ich. Problema- übersetzt dann in eine von
ter, um mir klarzumachen,
titeln, verliehen von Hochschulen in Amerika, tisch wird es erst, wenn das 30 oder mehr Sprachen,
dass jetzt der oder die Nächsauch Thailändisch, Hindi
Europa und Asien, erforscht seit acht Jahren nicht mehr möglich ist. Ich oder Rumänisch sind mögte an der Reihe sei. Der Bedie Wirkungen, die Apps auf deren Nutzer habe in der vergangenen Wo- lich. Die Antwort wird gransuch einer Universität war ein
haben, vor allem auf Kinder und Jugendliche. che einen kurzen Urlaub mit dioserweise auch übersetzt.
entscheidender Schritt in
Verändert sich die Psyche? Wie blicken wir 13 Mitgliedern meiner Familie
Richtung Selbstständigkeit.
auf uns, wie sehen wir andere, wenn Apps verbracht, an einem Ort, an
Heute haben Studenten mehrmitbestimmen über unser Heranwachsen, dem niemand von uns zuvor gewesen ist. mals am Tag Kontakt zu ihren Eltern, dank
unseren Alltag, unsere Beziehungen? Gardner Ich und eine meiner Töchter brachten eine diverser Apps.
war einer der ersten Wissenschaftler, die sich altmodische Karte mit, alle anderen nicht. SPIEGEL: Was nicht schlecht sein muss.
grundsätzlich mit dieser Frage beschäftigt Drei meiner Enkel wussten nicht einmal, Davis: Nein, aber das ständige Absichern
haben, wohl auch, weil ihm diese neue Welt was es mit diesem bedruckten Stück Papier kann das Erwachsenwerden erschweren
ursprünglich sehr fremd war. Gardner wurde auf sich hat. Sie wären ohne ihre Handys, und verzögern. Es kann schwieriger wer1943 geboren, in einer Welt, die langsamer ihre Apps aufgeschmissen gewesen, und den herauszufinden, wer man ist, denn es
getaktet war. Heute fragt er sich, was verloren, das kann ja durchaus passieren. Technische müssen weniger Entscheidungen ohne Hilwas gewonnen wurde durch die immense Geräte gehen kaputt, man verliert sie, oder fe der Eltern getroffen werden, wenn sie
technologische Beschleunigung der vergan- es passiert etwas Schlimmeres, eine Cyber- nur eine SMS weit fort sind. Im Einzelfall
genen Jahrzehnte, die sich in der jüngsten attacke beispielsweise.
mag das gut sein, aber wenn es zur Norm
Phase, dem Aufkommen der Apps, noch ein- SPIEGEL: Das klingt ziemlich dramatisch.
werden sollte, ist es das nicht.
mal verstärkt hat. Zusammen mit seiner Kol- Gardner: Es gibt keinen Grund, dramatisch Gardner: Junge Menschen kennen heute
legin Katie Davis, Lehrbeauftragte an der Uni- zu werden, aber entschiedene Warnungen auch nicht mehr das Gefühl, sich zu verversität in Seattle, Expertin für kognitive Wir- sind angebracht. Unsere Forschungsergeb- laufen. Sie sind nie mehr orientierungslos,
kungen digitaler Technologien und deutlich nisse zeigen, dass sich die jetzt Heranwach- sind nicht gezwungen, in einer solchen Sijünger als er, machte Gardner sich daran, Ant- senden in vielerlei Hinsicht von ihren Vor- tuation Fremde anzusprechen, sie müssen
worten zu finden. Er erläuterte sie in seinem gängergenerationen, die noch keine Apps nicht mehr lernen, alltägliche Krisen wie
Büro in Cambridge, Davis war per Telefon kannten und benutzten, unterscheiden. die gerade geschilderte zu überwinden.
zugeschaltet. Sie besuchte zum
Die Jugendlichen heute sind Stattdessen rufen sie einfach Google Maps
Zeitpunkt des Interviews ihre
weniger emphatisch, sie sind auf. Es ist sicherlich kein angenehmes GeFamilie auf den Bermudas.
ängstlicher, unselbstständiger, fühl, sich zu verlaufen, aber es ist eine hilfEingebettet in das Interview finsie vertrauen weniger den reiche Erfahrung. Außerdem entdeckt man
den sich auf den folgenden SeiMenschen in ihrer unmittel- manchmal auf Umwegen, die man macht,
ten Beispiele für populäre Apps,
baren Umgebung.
aufregende Dinge, die einem sonst entganSPIEGEL: Und verantwortlich gen wären, wenn man automatisch auf den
die unser Leben, die Art und
dafür sind die Apps?
Weise, wie wir uns kennenlereinen, angeblich besten Weg geführt wird.
Gardner: Nicht sie allein natür- SPIEGEL: Und wie kann der Gebrauch von
nen, unterhalten, uns im Netz Lovoo, Badoo, Tinder
lich, aber sie sind der verbin- Apps zu weniger Mitgefühl führen?
präsentieren, verändern – zum Dating-Apps haben den Flirt
dende und wohl auch ent- Davis: Wir sagen nicht, dass der Gebrauch
Guten oder Schlechten.
revolutioniert. Keine Nervoscheidende Faktor. Sie wer- von Apps die Menschen weniger mitsität mehr, kein Kribbeln im
SPIEGEL: Professor Davis, Pro- Bauch, nur ein cooler Wisch
den sehr intensiv, sehr häufig fühlend macht. Ich kenne keine Studie, die
fessor Gardner, ich habe ges- nach links oder rechts auf
genutzt, US-Teenager senden so eine Aussage unterstützt. Was wir altern 21 verschiedene Apps dem Bildschirm. Nie zuvor
im Schnitt 60 SMS pro Tag, äl- lerdings sagen, ist, dass es Arbeiten im Beauf meinem Handy benutzt. war der erste Kontakt einfatere Mädchen mehr als 100. reich der Neurowissenschaften gibt, die
cher und unpersönlicher. Die
Vier Nachrichten-Apps, fünf Apps haben nicht nur den
Das und andere Dinge haben zeigen, dass Introspektion wichtig ist, um
Textmessage-Apps, eine Fit- Flirt entzaubert, sie haben
Einfluss auf die Art, wie Kin- Empathie, Moral und ein Verständnis des
ness-App. Von morgens um auch neue Probleme geder und Teenager heute ihre eigenen Selbst zu entwickeln. Tagträumen
sieben bis abends um sieben bracht. Gefälschte Profile
Identität bilden, wie sie Be- und Introspektion sind wichtig für den
Uhr habe ich mein Handy beispielsweise. Neue Dating- ziehungen aufbauen und pfle- menschlichen Geist. Wenn unsere Auf71-mal in die Hand genom- Apps wie Blume versprechen, gen, wie sich ihre Kreativität merksamkeit zu stark nach außen gerichtet
men, also im Schnitt alle neun das zu beheben. Sie verlanist – in unseren Fällen durch das Hochlaentwickelt.
gen vom Nutzer ein aktuelles
Minuten. Halten Sie das für Selfie. Gefälschte Profile und SPIEGEL: Überschätzen Sie den neuer Selfies, das Spielen von Spielen
gesund?
nicht die Macht der Appa- auf unseren Handys –, versagen wir uns
Belästigungen durch Bots
Davis: Das kommt darauf an. dürften so verhindert werden, rate?
notwendige Zeit zur Reflexion, und das
Wenn Sie sich ohne die Apps unerwünschte Bilder meist
Davis: Sie ist ja kaum zu über- hat Konsequenzen für die Fähigkeit, uns
männlicher Genitalien, Crotschätzen. Ich gebe Ihnen ein in andere hineinzuversetzen.
chies genannt, wohl nicht.
Beispiel, eine Variante von Gardner: Ich werde manchmal gefragt, was
Das Gespräch führte der SPIEGELReporter Uwe Buse.
Howards Urlaubsanekdote. ich mache, wenn ich frei habe, abends
BRIAN SMALE / DER SPIEGEL
SHAWN G. HENRY / DER SPIEGEL
Gesellschaft
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etwa oder wenn mal ein Termin ausfällt. veröffentlicht und mir ein paar
Privatleben –, wird früher
Ich liege dann in meinem Bett oder sitze Tage später die Kommentare
oder später schwer enttäuscht
in einem Sessel und denke vor mich hin. in der Onlineausgabe durchwerden. Ich lehre seit JahrSonst nichts. Kein Lesen von E-Mails. Kei- gelesen. Eine große Zeitver- Beet
zehnten in Harvard, und noch
ne SMS. Keine YouTube-Videos. Einfach schwendung. Von mehreren Facebook verbindet Mennie sind mir so häufig empörschen miteinander und entnur ich, meine Gedanken und wohltuende Hundert Anmerkungen waren fremdet
te Studenten begegnet, die sasie zugleich, denn
Stille. Vielleicht noch etwas Musik. Man- nur wenige interessant. Wenn das Leben, wie es auf Facegen: „Wir haben Ihre Anweiche Menschen finden das befremdlich. Mir Technologiefans darüber kla- book präsentiert wird, ist viel sungen bis ins Detail befolgt.
gefällt das sehr. Ich kann Ihnen nur raten, gen, dass sie Probleme mit ih- zu oft geschönt, gehypt und
Warum bekomme ich dann
rem Zeitmanagement haben, unecht. Es gibt zu viele groß- kein ,sehr gut‘?“ Ich erwidere
das mal auszuprobieren.
SPIEGEL: Weniger Mitgefühl, ängstlicher, un- dann frage ich mich immer, artige Momente, tolle Partys, dann: „Wir sind hier in Harselbstständiger. Mit Männern oder Frauen, womit sie ihre Zeit verbringen. denkwürdige Begegnungen,
vard, hervorragende Noten
die so beschrieben werden, möchte ich SPIEGEL: Sie sprechen ja von es wird zu viel gelacht, gefei- brauchen hervorragende Arert, gelobt. Wer nicht durchder App-Generation – was schaut, dass Facebook auch
nicht befreundet sein.
beiten. Das Befolgen von AnDavis: So, wie Sie das sagen, klingt es, als zeichnet ihre Mitglieder aus, eine Egomarketing-Plattform
weisungen ist nicht hervorwürden wir die Jugendlichen verurteilen, jenseits der Eigenschaften, die ist, fragt sich schnell: Wieso
ragend, es ist bestenfalls eine
als wären sie verantwortlich für das, was Sie schon beschrieben haben? ist mein Leben nicht so?
Voraussetzung für eigene Gegeschieht. Aber das ist natürlich nicht so. Gardner: Ganz erstaunlich fin- Sean Thielen und Jonathan
danken, für das Schaffen von
Wir erkennen an, dass diese Jugendlichen de ich, dass dies die erste Miller, die Gründer von Beet,
etwas Neuem.“ Ein Student
nur auf eine Situation reagieren, auf Generation ist, die sich nicht haben dieses Problem gesefragte mich: „Warum sollen
hen und bieten seit einiger
Zwänge, die sie erleben, und auf Erwach- mehr in erster Linie über poli- Zeit eine Lösung an, ihre App. wir überhaupt noch zur Schusene, die nicht immer gute Vorbilder sind. tische Ereignisse definiert, son- Beet macht es möglich,
le gehen? Apps liefern uns
Die Jugendlichen versuchen, das Beste dern mithilfe technologischer kurze, sechs Sekunden lange doch alle Antworten, die wir
aus der Situation zu machen, und wir Er- Entwicklungen. Ihre Mitglie- Videos ins Netz zu stellen,
brauchen.“ Da bin ich andewachsene sollten ihnen dabei helfen, an- der sagen über sich nicht, der und das Besondere an Beet
rer Meinung. Apps mögen alstatt ständig mit unseren Smartphones zu 11. September hat unsere Welt- ist: Diese Videos lassen
le Antworten liefern, mit Aussicht geprägt oder der Börsen- sich nicht bearbeiten, egal
hantieren.
nahme der entscheidenden.
wie gelungen, misslungen,
SPIEGEL: Wie benutzen Sie Ihre Handys?
SPIEGEL: Für diesen Satz sind
crash oder die Ermordung lustig oder peinlich sie
Davis: Ich lese und schreibe E-Mails auf Kennedys. Sie sagen, sie gehö- sind. Beet bringt AuthentiSie harsch kritisiert worden.
Gardner: Das ist korrekt. Aber
meinem Gerät, nutze WhatsApp, um mit ren zur Generation Facebook, zität zurück ins Netz und,
er stimmt trotzdem. Keine
meiner Familie in Kontakt zu bleiben, ich zur Generation Instagram.
man muss es leider sagen,
App kann mir sagen, was der
höre im Fitnessstudio Musik auf dem SPIEGEL: Warum soll es denn auch die Langeweile.
Sinn meines Lebens ist.
Handy, ich werde von meinem Smartphone bedenklich sein, wenn sich
geweckt und lese die „New York Times“ Menschen über technische Entwicklungen SPIEGEL: Wie wirkt sich die überzogene Erauf ihm, na ja, eher die Schlagzeilen. Ich definieren anstatt über politische Ereignis- wartung, das Leben sei planbar, auf die
folge einigen Personen auf Twitter, tweete se? Beides kann Leben nachhaltig prägen. Psyche der Jugendlichen aus?
gelegentlich selbst, bin bei Instagram re- Gardner: Nun, es ist wahrscheinlich die ers- Gardner: Wir benutzen eine Theorie, die
te Generation, die nicht weiß, was sich in von Erik Erikson, einem Psychologen, aufgistriert und höre regelmäßig Podcasts.
SPIEGEL: Und? Alles im grünen Bereich?
der politischen Arena tut. Solange wir uns gewachsen in Deutschland und einer meiDavis: O ja. Es ist und bleibt
mithilfe von Zeitungen infor- ner Lehrer, entwickelt wurde. Erikson geht
für mich eine Organisationsmiert haben, überflogen wir von acht Krisen aus, denen wir Menschen
hilfe, mehr nicht. Ich kann
wenigstens die Schlagzeilen im Laufe unseres Lebens gegenüberstehen
auch ohne.
auf den ersten Seiten, auch und die wir bewältigen müssen. Mit der ersSPIEGEL: Und Sie, Professor
wenn man sich nur für Fuß- ten Krise werden wir als Säugling konfronGardner?
ball oder Klatsch interessierte. tiert, es geht um Vertrauen versus MisstrauGardner: Ich habe eine ganze
Informiert man sich über die en, und üblicherweise spielt sie sich ab zwiMenge Programme auf meiEreignisse in der Welt aber schen dem Kind und seiner Mutter. Ist diese
nem Telefon, die meisten wur- Siri, Google Now, Cortana mithilfe der sozialen Netzwer- Beziehung intakt, kümmert sich die Mutter
den allerdings von meinen Eine neue Generation digike oder digitaler Kuratoren, angemessen um ihr Kind, geht es gestärkt
Mitarbeitern hochgeladen, taler Butler soll unser Leben
erfährt man kaum noch etwas, aus dieser Krise hervor und besitzt ein geund ich benutze Apps nur, vereinfachen und unseren
das jenseits der eigenen Er- sundes Vertrauen in sich und in die Welt.
wenn ich muss. Dann schicke Alltag gleichzeitig umfassenfahrungen und Interessen Wird die Krise nicht erfolgreich bewältigt,
ich E-Mails, SMS oder lese der ausspionieren. Erneut
liegt; das ist natürlich nicht weil die Mutter sich falsch verhält, weil sie
gilt der sehr richtige Satz:
wie Katie die „New York Wenn eine Dienstleistung im erstrebenswert, und es ver- sich chaotisch, unvorhersehbar benimmt
Times“. Aber ich freue mich Internet umsonst ist, ist der
festigt das Bild, das sich die oder abwesend ist, dann ist es wahrscheinjeden Tag darauf, die gedruck- Kunde kein Kunde, sondern
Mitglieder dieser Generation lich, dass das Kind an sich stärker zweifelt
te „New York Times“ bei ei- das Produkt. Die neuen digivom Leben machen. Sie se- und weniger Vertrauen in Freunde und Vertalen Butler verstehen gener Tasse Kaffee zu lesen.
hen es als eine Art Super-App. wandte hat und den kommenden Krisen
SPIEGEL: Sind Sie technologie- sprochene Anweisungen erSie glauben, ihr Leben sei weniger gefestigt entgegentreten muss.
staunlich
gut,
rufen
unsere
feindlich?
planbar, berechenbar, sie er- SPIEGEL: Welche Krisen folgen?
Mails ab, organisieren unseGardner: Nein, ich gehöre nur re Termine und vieles mehr.
warten definitive, unmittel- Gardner: Wir interessierten uns für die Krinicht zu den „Early Adop- Im Prinzip ist es nicht anders bare Antworten auf jede Fra- sen fünf, sechs und sieben. Während der
ters“, ich nutze Techniken als früher mit menschlichem ge, aber das ist natürlich ein fünften Krise geht es um die Ausbildung
nicht, nur weil sie neu sind. Personal: Wer perfekt dienen absurder Wunsch. Wer sein der Identität. Krise Nummer sechs hat InSie müssen schon einen Nut- will, muss möglichst alles
Leben als Erwachsener mit timität versus Isolation zum Thema, Krise
zen für mich haben. Vor einer wissen.
der Erwartung beginnt, es sei sieben Imagination oder Kreativität versus
Weile habe ich einen Artikel
planbar – die Karriere, das intellektuelle und emotionale Stagnation.
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Forscher Gardner, Davis: „Ich würde App-freie Tage verfügen“
Während der fünften Krise, der Identitätskrise, die üblicherweise im Alter zwischen
16 und 21 Jahren bearbeitet werden muss,
geht es um folgende Fragen: Wer will ich
sein? Was ist mir wichtig im Leben? Wie
urteile ich über mich selbst? Und, ebenso
wichtig: Wie denken andere über mich?
Davis: Die Bildung der eigenen Identität
ist ein sozialer Prozess, man kann sie nicht
allein leisten, man braucht andere. Man
braucht beides, die Validierung durch andere, durch Freunde, durch die Familie,
durch die Gesellschaft im Allgemeinen,
aber man braucht auch die Zeit zur Reflexion. Was wir in unserer Forschung sehen,
ist, dass die externe Validierung wichtiger
wird. Es ist so einfach, immer neue Selfies zu posten, es ist so wichtig, möglichst
viele Freunde im Netz zu haben, möglichst
viele Likes zu bekommen. Das Erreichen
dieser Ziele kostet viel Energie, das Nichterreichen mit seinen Frustrationen auch,
und dann fehlen Energie und Zeit, um ein
stabiles Ich zu kreieren. Howard und ich
fürchten, dass die Balance zwischen den
externen und den internen Faktoren gestört ist. Vielen Jugendlichen geht es heute
vor allem darum, ein perfektes Bild von
sich selbst zu vermitteln.
SPIEGEL: Aber das war früher nicht anders.
Es ist doch normal und menschlich, auf
Fremde oder Bekannte, generell auf sein
Publikum, möglichst gut wirken zu wollen.
Davis: Natürlich ist das Selfie keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Selbstporträts
von Künstlern sind ja nichts anderes als
analoge Selfies. Der grundlegende Unterschied ist aber die Größe des Publikums,
online ist es um ein Vielfaches größer als
offline. Entscheidend ist auch, dass digitale
Artefakte in der Regel nicht verschwinden
oder nur in Museen oder Sammlungen zu
sehen sind. Moderne Momentaufnahmen
existieren für immer, zugänglich für alle,
und können innerhalb von ein paar Jahren
schon sehr peinlich sein.
Gardner: Hinzu kommt, dass das Internet
eine Welt der Zeichen, der Marken ist. Es
ist nötig, sich schnell orientieren zu können, und es existiert der Druck, sich selbst
in eine Marke zu verwandeln. Es beginnt
bei dem Bild, das man auswählt, um sich
der Welt auf Facebook oder Twitter vorzustellen. Aus psychologischer Sicht kann
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man diesen Vorgang interpretieren als den
Zwang, zu früh ein geschlossenes Bild von
sich zu produzieren. Es gibt allerdings auch
eine gegenteilige Entwicklung. Es gilt, unablässig neue Bilder des eigenen Ichs zu
produzieren. Es gibt hier eine Rollendiffusion, und ich bin sicher, dass diese beiden
gegensätzlichen Entwicklungen, der Zwang,
vorzeitig ein stimmiges Bild seiner selbst
zu produzieren, und die Unfähigkeit, dieses
Bild mithilfe eines tragfähigen Kerns anzulegen, dazu führen, dass es schwieriger ist,
ein stabiles Ich zu entwickeln. Ganz ähnlich
verhält es sich während der sechsten Krise,
die sich um soziale Bindungen dreht, um
unsere Fähigkeit, echte Nähe zuzulassen,
was immer mit Risiken verbunden ist, weil
man sich zeigt, wie man ist. Üblicherweise
geht es hier um die Beziehung zum Partner,
aber auch zu Freunden. Unsere Forschung
zeigt, dass sich die Zahl der wahren Freunde verringert hat. Vor 20 Jahren sagten die
Menschen in den USA, es gebe drei Personen, denen sie vertrauen können. Heute
sagen sie, es gebe zwei. Das ist eine erstaunliche Verringerung, um 33 Prozent.
SPIEGEL: Sind die Jugendlichen selbst eigentlich glücklich mit ihrem Lebensstil?
Gardner: Ich befrage zurzeit viele junge
Leute wegen einer neuen Studie, die wir
an zehn Universitäten erstellen, und ich
sehe, dass sie hungrig sind nach Erwachsenen, die ihnen bessere Wege zeigen können, aber dass sie sich dieses Hungers nicht
einmal bewusst sind. Meine Beobachtung
ist, die Jugendlichen wissen, dass irgendetwas zutiefst falsch ist mit der Art und
Weise, wie sie ihr Leben leben, aber sie
wissen nicht, was sie ändern sollen.
Davis: Fast alle Jugendlichen, mit denen ich
rede, sprechen von einer tief gehenden Ambivalenz gegenüber der Technik, die sie benutzen. Viele fühlen sich gezwungen, stets
online und verbunden zu sein. Sie genießen
dieses Gefühl nicht. Sie fühlen sich gedrängt, sich in einer bestimmten Art zu präsentieren. Wir müssen diese Ambivalenz
ernst nehmen, den Jugendlichen Unterstützung bieten. Wir dürfen sie nicht abschreiben.
SPIEGEL: Was sollten wir Ihrer Meinung
nach tun?
Davis: Gute Vorbilder sein.
Gardner: Wenn ich Meister über die Apps
wäre, würde ich App-freie Tage verfügen.
SPIEGEL: Das meinen Sie nicht ernst.
Gardner: Doch. Das wäre in meinen Augen
eine sinnvolle Entscheidung. Das wird aber
natürlich nicht passieren, deswegen noch
ein Tipp von mir: Man kann Apps auch
löschen.
SPIEGEL: Meine Tochter hat das vor Kurzem
gemacht, mit WhatsApp. Das Programm
ging ihr auf die Nerven.
Gardner: Gutes Kind.
SPIEGEL: Professor Davis, Professor Gardner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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