A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 EINHUNGERKÜNSTLER(ERSCHIENEN1922) 1 IndenletztenJahrzehntenistdasInteresseanHungerkünstlernsehrzurückgegangen.Währendessichfrühergut 2 lohnte,großederartigeVorführungenineigenerRegiezuveranstalten,istdiesheutevölligunmöglich.Eswaren 3 andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag 4 stiegdieTeilnahme;jederwolltedenHungerkünstlerzumindesteinmaltäglichsehn;andenspäternTagengabes 5 Abonnenten,welchetagelangvordemkleinenGitterkäfigsaßen;auchinderNachtfandenBesichtigungenstatt, 6 zurErhöhungderWirkungbeiFackelschein;anschönenTagenwurdederKäfiginsFreiegetragen,undnunwaren 7 esbesondersdieKinder,denenderHungerkünstlergezeigtwurde;währenderfürdieErwachsenenoftnurein 8 Spaßwar,andemsiederModehalberteilnahmen,sahendieKinderstaunend,mitoffenemMund,derSicherheit 9 halbereinanderbeiderHandhaltend,zu,wieerbleich,imschwarzenTrikot,mitmächtigvortretendenRippen, 10 sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß, 11 einmal 12 beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine 13 Magerkeitbefühlenzulassen,dannaberwiederganzinsichselbst 14 versank, um niemanden sich kümmerte, nicht einmal um den für 15 ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das einzige Möbelstück des 16 Käfigs war, sondern nur vor sich hinsah mit fast geschlossenen 17 Augen und hie und da aus einem winzigen Gläschen Wasser 18 nippte,umsichdieLippenzufeuchten. 19 Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom 20 Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich 21 Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beo- 22 bachten,damiternichtetwaaufirgendeineheimlicheWeisedochNahrungzusichnehme.Eswardasaberledig- 23 licheineFormalität,eingeführtzurBeruhigungderMassen,denndieEingeweihtenwusstenwohl,dassderHun- 24 gerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das ge- 25 ringstenurgegessenhätte;dieEhreseinerKunstverbotdies.Freilich,nichtjederWächterkonntedasbegreifen, 26 esfandensichmanchmalnächtlicheWachgruppen,welchedieBewachungsehrlaxdurchführten,absichtlichin 27 eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel vertieften, in der offenbaren Absicht, dem 28 HungerkünstlereinekleineErfrischungzugönnen,dieerihrerMeinungnachausirgendwelchengeheimenVorrä- 29 tenhervorholenkonnte.NichtswardemHungerkünstlerquälenderalssolcheWächter;siemachtenihntrübse- 30 lig;siemachtenihmdasHungernentsetzlichschwer;manchmalüberwanderseineSchwächeundsangwährend 31 dieserWachzeit,solangeeresnuraushielt,umdenLeutenzuzeigen,wieungerechtsieihnverdächtigten.Doch 32 half das wenig; sie wunderten sich dann nur über seine Geschicklichkeit, selbst während des Singens zu essen. 33 Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des 34 Saalessichnichtbegnügten,sondernihnmitdenelektrischenTaschenlampenbestrahlten,dieihnenderImpre- 35 sario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein 36 wenighindämmernkonnteerimmer,beijederBeleuchtungundzujederStunde,auchimübervollen,lärmenden höflich nickend, angestrengt lächelnd Fragen http://thenonist.com/images/uploads/polkfka.jpg 1 A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 1 Saal.Erwarsehrgernebereit,mitsolchenWächterndieNachtgänzlichohneSchlafzuverbringen;erwarbereit, 2 mitihnenzuscherzen,ihnenGeschichtenausseinemWanderlebenzuerzählen,dannwiederihreErzählungen 3 anzuhören,allesnur,umsiewachzuhalten,umihnenimmerwiederzeigenzukönnen,dassernichtsEssbaresim 4 Käfighatteunddasserhungerte,wiekeinervonihneneskönnte.Amglücklichstenaberwarer,wenndannder 5 MorgenkamundihnenaufseineRechnungeinüberreichesFrühstückgebrachtwurde,aufdassiesichwarfen 6 mit dem Appetit gesunder Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht. Es gab zwar sogar Leute, die in 7 diesemFrühstückeineungebührlicheBeeinflussungderWächtersehenwollten,aberdasgingdochzuweit,und 8 wennmansiefragte,obetwasienurumderSachewillenohneFrühstückdieNachtwacheübernehmenwollten, 9 verzogensiesich,aberbeiihrenVerdächtigungenbliebensiedennoch. 10 DiesesallerdingsgehörteschonzudenvomHungernüberhauptnichtzutrennendenVerdächtigungen.Niemand 11 warjaimstande,alledieTageundNächtebeimHungerkünstlerununterbrochenalsWächterzuverbringen,nie- 12 mandalsokonnteauseigenerAnschauungwissen,obwirklichununterbrochen,fehlerlosgehungertwordenwar; 13 nurderHungerkünstlerselbstkonntedaswissen,nureralsogleichzeitigdervonseinemHungernvollkommen 14 befriedigteZuschauersein.ErwaraberwiederauseinemandernGrundeniemalsbefriedigt;vielleichtwarergar 15 nichtvomHungernsosehrabgemagert,dassmanchezuihremBedauerndenVorführungenfernbleibenmuss- 16 ten,weilsieseinenAnblicknichtertrugen,sondernerwarnursoabgemagertausUnzufriedenheitmitsichselbst. 17 Eralleinnämlichwusste,auchkeinEingeweihtersonstwusstedas,wieleichtdasHungernwar.Eswardieleich- 18 testeSachevonderWelt.Erverschwiegesauchnicht,abermanglaubteihmnicht,hieltihngünstigenfallsfür 19 bescheiden,meistaberfürreklamesüchtigodergarfüreinenSchwindler,demdasHungernallerdingsleichtwar, 20 weileressichleichtzumachenverstand,undderauchnochdieStirnhatte,eshalbzugestehn.Dasallesmusste 21 er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit 22 immeranihm,undnochniemals,nachkeinerHungerperiode–diesesZeugnismusstemanihmausstellen–hatte 23 er freiwillig den Käfig verlassen. Als Höchstzeit für das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt, 24 darüberhinausließerniemalshungern,auchindenWeltstädtennicht,undzwarausgutemGrund.VierzigTage 25 etwa konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer 26 mehraufstacheln,dannaberversagtedasPublikum,einewesentlicheAbnahmedesZuspruchswarfestzustellen; 27 esbestandennatürlichindieserHinsichtkleineUnterschiedezwischendenStädtenundLändern,alsRegelaber 28 galt,dassvierzigTagedieHöchstzeitwar.DannalsoamvierzigstenTagewurdedieTürdesmitBlumenumkränz- 29 tenKäfigsgeöffnet,einebegeisterteZuschauerschafterfülltedasAmphitheater,eineMilitärkapellespielte,zwei 30 Ärzte betraten den Käfig, um die nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon 31 wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen zwei junge Damen, glücklich darüber, dass 32 geradesieausgelostwordenwaren,undwolltendenHungerkünstlerausdemKäfigeinpaarStufenhinabführen, 33 woaufeinemkleinenTischcheneinesorgfältigausgewählteKrankenmahlzeitserviertwar.UndindiesemAugen- 34 blick wehrte sich der Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die hilfsbereit 35 ausgestreckten Hände der zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade jetzt 36 nachvierzigTagenaufhören?Erhätteesnochlange,unbeschränktlangeausgehalten;warumgeradejetztaufhö- 37 ren,woerimbesten,janochnichteinmalimbestenHungernwar?WarumwolltemanihndesRuhmesberau- 38 ben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich 2 A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 1 schonwar,aberauchnochsichselbstzuübertreffenbisinsUnbegreifliche,dennfürseineFähigkeitzuhungern 2 fühlteerkeineGrenzen.WarumhattedieseMenge,dieihnsosehrzubewundernvorgab,sowenigGeduldmit 3 ihm;wenneresaushielt,nochweiterzuhungern,warumwolltesieesnichtaushalten?Auchwarermüde,saß 4 gutimStrohundsolltesichnunhochundlangaufrichtenundzudemEssengehn,dasihmschonalleininder 5 VorstellungÜbelkeitenverursachte,derenÄußerungernurmitRücksichtaufdieDamenmühseligunterdrückte. 6 UnderblickteemporindieAugenderscheinbarsofreundlichen,inWirklichkeitsograusamenDamenundschüt- 7 teltedenaufdemschwachenHalseüberschwerenKopf.Aberdanngeschah,wasimmergeschah.DerImpresario 8 kam,hobstumm–dieMusikmachtedasRedenunmöglich–dieArmeüberdemHungerkünstler,so,alsladeer 9 denHimmelein,sichseinWerkhieraufdemStroheinmalanzusehn,diesenbedauernswertenMärtyrer,welcher 10 der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn; fasste den Hungerkünstler um die dünne Taille, 11 wobeierdurchübertriebeneVorsichtglaubhaftmachenwollte,miteinemwiegebrechlichenDingereshierzu 12 tunhabe;undübergabihn–nichtohneihnimgeheimeneinwenigzuschütteln,sodassderHungerkünstlermit 13 denBeinenunddemOberkörperunbeherrschthinundherschwankte–deninzwischentotenbleichgewordenen 14 Damen.NunduldetederHungerkünstleralles;derKopflagaufderBrust,eswar,alsseierhingerolltundhalte 15 sichdortunerklärlich;derLeibwarausgehöhlt;dieBeinedrücktensichimSelbsterhaltungstriebfestindenKnien 16 aneinander,scharrtenaberdochdenBoden,so,alsseiesnichtderwirkliche,denwirklichensuchtensieerst;und 17 dieganze,allerdingssehrkleineLastdesKörperslagaufeinerderDamen,welchehilfesuchend,mitfliegendem 18 Atem–sohattesiesichdiesesEhrenamtnichtvorgestellt–zuerstdenHalsmöglichststreckte,umwenigstens 19 dasGesichtvorderBerührungmitdemHungerkünstlerzubewahren,dannaber,daihrdiesnichtgelangundihre 20 glücklichereGefährtinihrnichtzuHilfekam,sondernsichdamitbegnügte, zitternddieHanddesHungerkünst- 21 lers,dieseskleineKnochenbündel,vorsichherzutragen,unterdementzücktenGelächterdesSaalesinWeinen 22 ausbrachundvoneinemlängstbereitgestelltenDienerabgelöstwerdenmusste.DannkamdasEssen,vondem 23 der Impresario dem Hungerkünstler während eines ohnmachtähnlichen Halbschlafes ein wenig einflößte, unter 24 lustigemPlaudern,dasdieAufmerksamkeitvomZustanddesHungerkünstlersablenkensollte;dannwurdenoch 25 einTrinkspruchaufdasPublikumausgebracht,welcherdemImpresarioangeblichvomHungerkünstlerzugeflü- 26 stertwordenwar;dasOrchesterbekräftigteallesdurcheinengroßenTusch,mangingauseinander,undniemand 27 hattedasRecht,mitdemGesehenenunzufriedenzusein,niemand,nurderHungerkünstler,immernurer. 28 So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei 29 alledemabermeistintrüberLaune,dieimmernochtrüberwurdedadurch,dassniemandsieernstzunehmen 30 verstand.Womitsolltemanihnauchtrösten?Wasbliebihmzuwünschenübrig?UndwennsicheinmaleinGut- 31 mütigerfand,derihnbedauerteundihmerklärenwollte,dassseineTraurigkeitwahrscheinlichvondemHungern 32 käme,konntees,besondersbeivorgeschrittenerHungerzeit,geschehn,dassderHungerkünstlermiteinemWut- 33 ausbruchantworteteundzumSchreckenallerwieeinTierandemGitterzurüttelnbegann.Dochhattefürsolche 34 Zustände der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerkünstler vor ver- 35 sammeltem Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen nicht ohne 36 weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers verzeihlich machen könne; kam dann im 37 ZusammenhangdamitauchaufdieebensozuerklärendeBehauptungdesHungerkünstlerszusprechen,erkönn- 38 tenochviellängerhungern,alserhungere;lobtedashoheStreben,dengutenWillen,diegroßeSelbstverleug- 3 A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 1 nung, die gewiss auch in dieser Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug 2 durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen, denn auf den Bildern sah 3 man den Hungerkünstler an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung. Diese dem 4 Hungerkünstlerzwarwohlbekannte,immerabervonneuemihnentnervendeVerdrehungderWahrheitwarihm 5 zuviel.WasdieFolgedervorzeitigenBeendigungdesHungernswar,stelltemanhieralsdieUrsachedar!Gegen 6 diesenUnverstand,gegendieseWeltdesUnverstandeszukämpfen,warunmöglich.Nochhatteerimmerwieder 7 ingutemGlaubenbegierigamGitterdemImpresariozugehört,beimErscheinenderPhotographienaberließer 8 das Gitter jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte Publikum konnte wieder heran- 9 kommenundihnbesichtigen. 10 Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten, wurden sie sich oft selbst 11 unverständlich.DenninzwischenwarjenererwähnteUmschwungeingetreten;fastplötzlichwardasgeschehen; 12 es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der 13 verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen 14 Schaustellungenströmte.NocheinmaljagtederImpresariomitihmdurchhalbEuropa,umzusehn,obsichnicht 15 noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverständnis hatte 16 sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in Wirklichkeit 17 nichtplötzlichsokommenkönnen,undmanerinnertesichjetztnachträglichanmanchezuihrerZeitimRausch 18 der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu 19 unternehmen,warzuspät.Zwarwaressicher,dasseinmalauchfürdasHungernwiederdieZeitkommenwerde, 20 aber für die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerkünstler tun? Der, welchen Tausende 21 umjubelthatten,konntesichnichtinSchaubudenaufkleinenJahrmärktenzeigen,undumeinenandernBerufzu 22 ergreifen,warderHungerkünstlernichtnurzualt,sondernvorallemdemHungernallzufanatischergeben.So 23 verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und ließ sich von einem 24 großenZirkusengagieren;umseineEmpfindlichkeitzuschonen,saherdieVertragsbedingungengarnichtan. 25 EingroßerZirkusmitseinerUnzahlvoneinanderimmerwiederausgleichendenundergänzendenMenschenund 26 Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler, bei entsprechend 27 bescheidenen Ansprüchen natürlich, und außerdem war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hunger- 28 künstlerselbst,derengagiertwurde,sondernauchseinalterberühmterName,jamankonntebeiderEigenart 29 dieserimzunehmendenAlternichtabnehmendenKunstnichteinmalsagen,dasseinausgedienter,nichtmehr 30 aufderHöheseinesKönnensstehenderKünstlersichineinenruhigenZirkuspostenflüchtenwolle,imGegenteil, 31 der Hungerkünstler versicherte, dass er, was durchaus glaubwürdig war, ebensogut hungere wie früher, ja er 32 behauptete sogar, er werde, wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres, 33 eigentlicherstjetztdieWeltinberechtigtesErstaunensetzen,eineBehauptungallerdings,diemitRücksichtauf 34 dieZeitstimmung,welchederHungerkünstlerimEiferleichtvergaß,beidenFachleutennureinLächelnhervor- 35 rief. 36 ImGrundeaberverlorauchderHungerkünstlerdenBlickfürdiewirklichenVerhältnissenichtundnahmesals 37 selbstverständlichhin,dassmanihnmitseinemKäfignichtetwaalsGlanznummermittenindieManegestellte, 38 sonderndraußenaneinemimübrigenrechtgutzugänglichenOrtinderNähederStallungenunterbrachte.Gro- 4 A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 1 ße,buntgemalteAufschriftenumrahmtendenKäfigundverkündeten,wasdortzusehenwar.WenndasPubli- 2 kumindenPausenderVorstellungzudenStällendrängte,umdieTierezubesichtigen,waresfastunvermeidlich, 3 dass es beim Hungerkünstler vorüberkam und ein wenig dort haltmachte, man wäre vielleicht länger bei ihm 4 geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die Nachdrängenden, welche diesen Aufenthalt auf dem Weg zu 5 denersehntenStällennichtverstanden,einelängereruhigeBetrachtungunmöglichgemachthätten.Dieseswar 6 auch der Grund, warum der Hungerkünstler vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck natürlich 7 herbeiwünschte, doch auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten 8 können; entzückt hatte er der sich heranwälzenden Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald – auch die 9 hartnäckigste, fast bewusste Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen nicht stand – davon überzeugte, dass es 10 zumeist der Absicht nach, immer wieder, ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser Anblick von der 11 Ferne blieb noch immer der schönste. Denn wenn sie bis zu ihm herangekommen waren, umtobte ihn sofort 12 GeschreiundSchimpfenderununterbrochenneusichbildendenParteien,jener,welche–siewurdedemHun- 13 gerkünstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune 14 undTrotz,undjenerzweiten,diezunächstnurnachdenStällenverlangte.WardergroßeHaufevorüber,dann 15 kamendieNachzügler,unddieseallerdings,denenesnichtmehrverwehrtwar,stehenzubleiben,solangesienur 16 Lusthatten,eiltenmitlangenSchritten,fastohneSeitenblick,vorüber,umrechtzeitigzudenTierenzukommen. 17 UndeswarkeinallzuhäufigerGlücksfall,dasseinFamilienvatermitseinenKindernkam,mitdemFingeraufden 18 Hungerkünstlerzeigte,ausführlicherklärte,umwasessichhierhandelte,vonfrüherenJahrenerzählte,woerbei 19 ähnlichen, aber unvergleichlich großartigeren Vorführungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen ihrer 20 ungenügendenVorbereitungvonSchuleundLebenher,zwarimmernochverständnislosblieben–waswarihnen 21 Hungern?–,aberdochindemGlanzihrerforschendenAugenetwasvonneuen,kommenden,gnädigerenZeiten 22 verrieten.Vielleicht,sosagtesichderHungerkünstlerdannmanchmal,würdeallesdocheinwenigbesserwer- 23 den,wennseinStandortnichtgarsonahebeidenStällenwäre.DenLeutenwurdedadurchdieWahlzuleicht 24 gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das 25 VorübertragenderrohenFleischstückefürdieRaubtiere,dieSchreiebeiderFütterungsehrverletztenunddau- 26 erndbedrückten.AberbeiderDirektionvorstelligzuwerden,wagteernicht;immerhinverdankteerjadenTie- 27 rendieMengederBesucher,unterdenensichhieunddaaucheinfürihnBestimmterfindenkonnte,undwer 28 wusste,wohinmanihnversteckenwürde,wenneranseineExistenzerinnernwollteunddamitauchdaran,dass 29 er,genaugenommen,nureinHindernisaufdemWegezudenStällenwar. 30 EinkleinesHindernisallerdings,einimmerkleinerwerdendesHindernis.MangewöhntesichandieSonderbar- 31 keit,indenheutigenZeitenAufmerksamkeitfüreinenHungerkünstlerbeanspruchenzuwollen,undmitdieser 32 GewöhnungwardasUrteilüberihngesprochen.Ermochtesoguthungern,alsernurkonnte,undertates,aber 33 nichtskonnteihnmehrretten,manginganihmvorüber.Versuche,jemandemdieHungerkunstzuerklären!Wer 34 esnichtfühlt,demkannmanesnichtbegreiflichmachen.DieschönenAufschriftenwurdenschmutzigundunle- 35 serlich,manrisssieherunter,niemandemfielesein,siezuersetzen;dasTäfelchenmitderZifferderabgeleiste- 36 tenHungertage,dasindererstenZeitsorgfältigtäglicherneutwordenwar,bliebschonlängstimmerdasgleiche, 37 dennnachdenerstenWochenwardasPersonalselbstdieserkleinenArbeitüberdrüssiggeworden;undsohun- 38 gerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe 5 A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924) E IN H UNGERKÜNSTLER D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016 1 ganzso,wieeresdamalsvorausgesagthatte,aberniemandzähltedieTage,niemand,nichteinmalderHunger- 2 künstlerselbstwusste,wiegroßdieLeistungschonwar,undseinHerzwurdeschwer.Undwenneinmalinder 3 ZeiteinMüßiggängerstehenblieb,sichüberdiealteZifferlustigmachteundvonSchwindelsprach,sowardasin 4 diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn 5 nichtderHungerkünstlerbetrog,erarbeiteteehrlich,aberdieWeltbetrogihnumseinenLohn. 6 DochvergingenwiedervieleTage,undauchdasnahmeinEnde.EinmalfieleinemAufseherderKäfigauf,under 7 fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt 8 stehenlasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man 9 rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der 10 Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der 11 Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiss«, sagte der Aufseher und legte den Finger an die 12 Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.« »Immerfort 13 wollteich,dassihrmeinHungernbewundert«,sagtederHungerkünstler.»Wirbewundernesauch«,sagteder 14 Aufseherentgegenkommend.»Ihrsolltetesabernichtbewundern«,sagtederHungerkünstler.»Nun,dannbe- 15 wundernwiresalsonicht«,sagtederAufseher,»warumsollenwiresdennnichtbewundern?«»Weilichhun- 16 gernmuss,ichkannnichtanders«,sagtederHungerkünstler.»Dasiehmaleiner«,sagtederAufseher,»warum 17 kannstdudennnichtanders?«»Weilich«,sagtederHungerkünstler,hobdasKöpfcheneinwenigundsprachmit 18 wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich 19 nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen 20 gemachtundmichvollgegessenwieduundalle.«DaswarendieletztenWorte,abernochinseinengebrochenen 21 Augenwardiefeste,wennauchnichtmehrstolzeÜberzeugung,dasserweiterhungere. 22 »NunmachtaberOrdnung«,sagtederAufseher,undmanbegrubdenHungerkünstlersamtdemStroh.Inden 23 KäfigabergabmaneinenjungenPanther.EswareineselbstdemstumpfstenSinnfühlbareErholung,indemso 24 langeödenKäfigdieseswildeTiersichherumwerfenzusehn.Ihmfehltenichts.DieNahrung,dieihmschmeckte, 25 brachtenihmohnelangesNachdenkendieWächter;nichteinmaldieFreiheitschienerzuvermissen;dieseredle, 26 mitallemNötigenbisknappzumZerreißenausgestatteteKörperschienauchdieFreiheitmitsichherumzutra- 27 gen;irgendwoimGebissschiensiezustecken;unddieFreudeamLebenkammitderartstarkerGlutausseinem 28 Rachen,dassesfürdieZuschauernichtleichtwar,ihrstandzuhalten.Abersieüberwandensich,umdrängtenden 29 Käfigundwolltensichgarnichtfortrühren. Quelle:http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-erz-161/7-Zuletztbesuchtam01.03.2016 6
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