Ein Hungerkünstler - karg-mgb

A RBEITSBLATT /I NFOBLATT 3: D IE V ERWANDLUNG / F RANZ K AFKA (1883-1924)
E IN H UNGERKÜNSTLER
D EUTSCH / K ARG / J2 – 2015/2016
EINHUNGERKÜNSTLER(ERSCHIENEN1922)
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IndenletztenJahrzehntenistdasInteresseanHungerkünstlernsehrzurückgegangen.Währendessichfrühergut
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lohnte,großederartigeVorführungenineigenerRegiezuveranstalten,istdiesheutevölligunmöglich.Eswaren
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andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag
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stiegdieTeilnahme;jederwolltedenHungerkünstlerzumindesteinmaltäglichsehn;andenspäternTagengabes
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Abonnenten,welchetagelangvordemkleinenGitterkäfigsaßen;auchinderNachtfandenBesichtigungenstatt,
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zurErhöhungderWirkungbeiFackelschein;anschönenTagenwurdederKäfiginsFreiegetragen,undnunwaren
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esbesondersdieKinder,denenderHungerkünstlergezeigtwurde;währenderfürdieErwachsenenoftnurein
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Spaßwar,andemsiederModehalberteilnahmen,sahendieKinderstaunend,mitoffenemMund,derSicherheit
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halbereinanderbeiderHandhaltend,zu,wieerbleich,imschwarzenTrikot,mitmächtigvortretendenRippen,
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sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß,
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einmal
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beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine
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Magerkeitbefühlenzulassen,dannaberwiederganzinsichselbst
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versank, um niemanden sich kümmerte, nicht einmal um den für
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ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das einzige Möbelstück des
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Käfigs war, sondern nur vor sich hinsah mit fast geschlossenen
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Augen und hie und da aus einem winzigen Gläschen Wasser
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nippte,umsichdieLippenzufeuchten.
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Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom
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Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich
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Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beo-
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bachten,damiternichtetwaaufirgendeineheimlicheWeisedochNahrungzusichnehme.Eswardasaberledig-
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licheineFormalität,eingeführtzurBeruhigungderMassen,denndieEingeweihtenwusstenwohl,dassderHun-
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gerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das ge-
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ringstenurgegessenhätte;dieEhreseinerKunstverbotdies.Freilich,nichtjederWächterkonntedasbegreifen,
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esfandensichmanchmalnächtlicheWachgruppen,welchedieBewachungsehrlaxdurchführten,absichtlichin
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eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel vertieften, in der offenbaren Absicht, dem
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HungerkünstlereinekleineErfrischungzugönnen,dieerihrerMeinungnachausirgendwelchengeheimenVorrä-
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tenhervorholenkonnte.NichtswardemHungerkünstlerquälenderalssolcheWächter;siemachtenihntrübse-
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lig;siemachtenihmdasHungernentsetzlichschwer;manchmalüberwanderseineSchwächeundsangwährend
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dieserWachzeit,solangeeresnuraushielt,umdenLeutenzuzeigen,wieungerechtsieihnverdächtigten.Doch
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half das wenig; sie wunderten sich dann nur über seine Geschicklichkeit, selbst während des Singens zu essen.
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Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des
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Saalessichnichtbegnügten,sondernihnmitdenelektrischenTaschenlampenbestrahlten,dieihnenderImpre-
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sario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein
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wenighindämmernkonnteerimmer,beijederBeleuchtungundzujederStunde,auchimübervollen,lärmenden
höflich
nickend,
angestrengt
lächelnd
Fragen
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Saal.Erwarsehrgernebereit,mitsolchenWächterndieNachtgänzlichohneSchlafzuverbringen;erwarbereit,
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mitihnenzuscherzen,ihnenGeschichtenausseinemWanderlebenzuerzählen,dannwiederihreErzählungen
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anzuhören,allesnur,umsiewachzuhalten,umihnenimmerwiederzeigenzukönnen,dassernichtsEssbaresim
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Käfighatteunddasserhungerte,wiekeinervonihneneskönnte.Amglücklichstenaberwarer,wenndannder
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MorgenkamundihnenaufseineRechnungeinüberreichesFrühstückgebrachtwurde,aufdassiesichwarfen
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mit dem Appetit gesunder Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht. Es gab zwar sogar Leute, die in
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diesemFrühstückeineungebührlicheBeeinflussungderWächtersehenwollten,aberdasgingdochzuweit,und
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wennmansiefragte,obetwasienurumderSachewillenohneFrühstückdieNachtwacheübernehmenwollten,
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verzogensiesich,aberbeiihrenVerdächtigungenbliebensiedennoch.
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DiesesallerdingsgehörteschonzudenvomHungernüberhauptnichtzutrennendenVerdächtigungen.Niemand
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warjaimstande,alledieTageundNächtebeimHungerkünstlerununterbrochenalsWächterzuverbringen,nie-
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mandalsokonnteauseigenerAnschauungwissen,obwirklichununterbrochen,fehlerlosgehungertwordenwar;
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nurderHungerkünstlerselbstkonntedaswissen,nureralsogleichzeitigdervonseinemHungernvollkommen
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befriedigteZuschauersein.ErwaraberwiederauseinemandernGrundeniemalsbefriedigt;vielleichtwarergar
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nichtvomHungernsosehrabgemagert,dassmanchezuihremBedauerndenVorführungenfernbleibenmuss-
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ten,weilsieseinenAnblicknichtertrugen,sondernerwarnursoabgemagertausUnzufriedenheitmitsichselbst.
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Eralleinnämlichwusste,auchkeinEingeweihtersonstwusstedas,wieleichtdasHungernwar.Eswardieleich-
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testeSachevonderWelt.Erverschwiegesauchnicht,abermanglaubteihmnicht,hieltihngünstigenfallsfür
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bescheiden,meistaberfürreklamesüchtigodergarfüreinenSchwindler,demdasHungernallerdingsleichtwar,
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weileressichleichtzumachenverstand,undderauchnochdieStirnhatte,eshalbzugestehn.Dasallesmusste
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er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit
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immeranihm,undnochniemals,nachkeinerHungerperiode–diesesZeugnismusstemanihmausstellen–hatte
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er freiwillig den Käfig verlassen. Als Höchstzeit für das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt,
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darüberhinausließerniemalshungern,auchindenWeltstädtennicht,undzwarausgutemGrund.VierzigTage
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etwa konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer
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mehraufstacheln,dannaberversagtedasPublikum,einewesentlicheAbnahmedesZuspruchswarfestzustellen;
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esbestandennatürlichindieserHinsichtkleineUnterschiedezwischendenStädtenundLändern,alsRegelaber
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galt,dassvierzigTagedieHöchstzeitwar.DannalsoamvierzigstenTagewurdedieTürdesmitBlumenumkränz-
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tenKäfigsgeöffnet,einebegeisterteZuschauerschafterfülltedasAmphitheater,eineMilitärkapellespielte,zwei
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Ärzte betraten den Käfig, um die nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon
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wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen zwei junge Damen, glücklich darüber, dass
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geradesieausgelostwordenwaren,undwolltendenHungerkünstlerausdemKäfigeinpaarStufenhinabführen,
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woaufeinemkleinenTischcheneinesorgfältigausgewählteKrankenmahlzeitserviertwar.UndindiesemAugen-
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blick wehrte sich der Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die hilfsbereit
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ausgestreckten Hände der zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade jetzt
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nachvierzigTagenaufhören?Erhätteesnochlange,unbeschränktlangeausgehalten;warumgeradejetztaufhö-
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ren,woerimbesten,janochnichteinmalimbestenHungernwar?WarumwolltemanihndesRuhmesberau-
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ben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich
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schonwar,aberauchnochsichselbstzuübertreffenbisinsUnbegreifliche,dennfürseineFähigkeitzuhungern
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fühlteerkeineGrenzen.WarumhattedieseMenge,dieihnsosehrzubewundernvorgab,sowenigGeduldmit
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ihm;wenneresaushielt,nochweiterzuhungern,warumwolltesieesnichtaushalten?Auchwarermüde,saß
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gutimStrohundsolltesichnunhochundlangaufrichtenundzudemEssengehn,dasihmschonalleininder
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VorstellungÜbelkeitenverursachte,derenÄußerungernurmitRücksichtaufdieDamenmühseligunterdrückte.
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UnderblickteemporindieAugenderscheinbarsofreundlichen,inWirklichkeitsograusamenDamenundschüt-
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teltedenaufdemschwachenHalseüberschwerenKopf.Aberdanngeschah,wasimmergeschah.DerImpresario
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kam,hobstumm–dieMusikmachtedasRedenunmöglich–dieArmeüberdemHungerkünstler,so,alsladeer
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denHimmelein,sichseinWerkhieraufdemStroheinmalanzusehn,diesenbedauernswertenMärtyrer,welcher
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der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn; fasste den Hungerkünstler um die dünne Taille,
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wobeierdurchübertriebeneVorsichtglaubhaftmachenwollte,miteinemwiegebrechlichenDingereshierzu
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tunhabe;undübergabihn–nichtohneihnimgeheimeneinwenigzuschütteln,sodassderHungerkünstlermit
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denBeinenunddemOberkörperunbeherrschthinundherschwankte–deninzwischentotenbleichgewordenen
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Damen.NunduldetederHungerkünstleralles;derKopflagaufderBrust,eswar,alsseierhingerolltundhalte
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sichdortunerklärlich;derLeibwarausgehöhlt;dieBeinedrücktensichimSelbsterhaltungstriebfestindenKnien
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aneinander,scharrtenaberdochdenBoden,so,alsseiesnichtderwirkliche,denwirklichensuchtensieerst;und
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dieganze,allerdingssehrkleineLastdesKörperslagaufeinerderDamen,welchehilfesuchend,mitfliegendem
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Atem–sohattesiesichdiesesEhrenamtnichtvorgestellt–zuerstdenHalsmöglichststreckte,umwenigstens
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dasGesichtvorderBerührungmitdemHungerkünstlerzubewahren,dannaber,daihrdiesnichtgelangundihre
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glücklichereGefährtinihrnichtzuHilfekam,sondernsichdamitbegnügte, zitternddieHanddesHungerkünst-
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lers,dieseskleineKnochenbündel,vorsichherzutragen,unterdementzücktenGelächterdesSaalesinWeinen
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ausbrachundvoneinemlängstbereitgestelltenDienerabgelöstwerdenmusste.DannkamdasEssen,vondem
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der Impresario dem Hungerkünstler während eines ohnmachtähnlichen Halbschlafes ein wenig einflößte, unter
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lustigemPlaudern,dasdieAufmerksamkeitvomZustanddesHungerkünstlersablenkensollte;dannwurdenoch
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einTrinkspruchaufdasPublikumausgebracht,welcherdemImpresarioangeblichvomHungerkünstlerzugeflü-
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stertwordenwar;dasOrchesterbekräftigteallesdurcheinengroßenTusch,mangingauseinander,undniemand
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hattedasRecht,mitdemGesehenenunzufriedenzusein,niemand,nurderHungerkünstler,immernurer.
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So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei
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alledemabermeistintrüberLaune,dieimmernochtrüberwurdedadurch,dassniemandsieernstzunehmen
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verstand.Womitsolltemanihnauchtrösten?Wasbliebihmzuwünschenübrig?UndwennsicheinmaleinGut-
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mütigerfand,derihnbedauerteundihmerklärenwollte,dassseineTraurigkeitwahrscheinlichvondemHungern
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käme,konntees,besondersbeivorgeschrittenerHungerzeit,geschehn,dassderHungerkünstlermiteinemWut-
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ausbruchantworteteundzumSchreckenallerwieeinTierandemGitterzurüttelnbegann.Dochhattefürsolche
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Zustände der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerkünstler vor ver-
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sammeltem Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen nicht ohne
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weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers verzeihlich machen könne; kam dann im
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ZusammenhangdamitauchaufdieebensozuerklärendeBehauptungdesHungerkünstlerszusprechen,erkönn-
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tenochviellängerhungern,alserhungere;lobtedashoheStreben,dengutenWillen,diegroßeSelbstverleug-
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nung, die gewiss auch in dieser Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug
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durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen, denn auf den Bildern sah
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man den Hungerkünstler an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung. Diese dem
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Hungerkünstlerzwarwohlbekannte,immerabervonneuemihnentnervendeVerdrehungderWahrheitwarihm
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zuviel.WasdieFolgedervorzeitigenBeendigungdesHungernswar,stelltemanhieralsdieUrsachedar!Gegen
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diesenUnverstand,gegendieseWeltdesUnverstandeszukämpfen,warunmöglich.Nochhatteerimmerwieder
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ingutemGlaubenbegierigamGitterdemImpresariozugehört,beimErscheinenderPhotographienaberließer
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das Gitter jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte Publikum konnte wieder heran-
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kommenundihnbesichtigen.
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Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten, wurden sie sich oft selbst
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unverständlich.DenninzwischenwarjenererwähnteUmschwungeingetreten;fastplötzlichwardasgeschehen;
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es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der
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verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen
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Schaustellungenströmte.NocheinmaljagtederImpresariomitihmdurchhalbEuropa,umzusehn,obsichnicht
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noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverständnis hatte
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sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in Wirklichkeit
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nichtplötzlichsokommenkönnen,undmanerinnertesichjetztnachträglichanmanchezuihrerZeitimRausch
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der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu
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unternehmen,warzuspät.Zwarwaressicher,dasseinmalauchfürdasHungernwiederdieZeitkommenwerde,
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aber für die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerkünstler tun? Der, welchen Tausende
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umjubelthatten,konntesichnichtinSchaubudenaufkleinenJahrmärktenzeigen,undumeinenandernBerufzu
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ergreifen,warderHungerkünstlernichtnurzualt,sondernvorallemdemHungernallzufanatischergeben.So
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verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und ließ sich von einem
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großenZirkusengagieren;umseineEmpfindlichkeitzuschonen,saherdieVertragsbedingungengarnichtan.
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EingroßerZirkusmitseinerUnzahlvoneinanderimmerwiederausgleichendenundergänzendenMenschenund
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Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler, bei entsprechend
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bescheidenen Ansprüchen natürlich, und außerdem war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hunger-
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künstlerselbst,derengagiertwurde,sondernauchseinalterberühmterName,jamankonntebeiderEigenart
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dieserimzunehmendenAlternichtabnehmendenKunstnichteinmalsagen,dasseinausgedienter,nichtmehr
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aufderHöheseinesKönnensstehenderKünstlersichineinenruhigenZirkuspostenflüchtenwolle,imGegenteil,
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der Hungerkünstler versicherte, dass er, was durchaus glaubwürdig war, ebensogut hungere wie früher, ja er
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behauptete sogar, er werde, wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres,
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eigentlicherstjetztdieWeltinberechtigtesErstaunensetzen,eineBehauptungallerdings,diemitRücksichtauf
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dieZeitstimmung,welchederHungerkünstlerimEiferleichtvergaß,beidenFachleutennureinLächelnhervor-
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rief.
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ImGrundeaberverlorauchderHungerkünstlerdenBlickfürdiewirklichenVerhältnissenichtundnahmesals
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selbstverständlichhin,dassmanihnmitseinemKäfignichtetwaalsGlanznummermittenindieManegestellte,
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sonderndraußenaneinemimübrigenrechtgutzugänglichenOrtinderNähederStallungenunterbrachte.Gro-
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ße,buntgemalteAufschriftenumrahmtendenKäfigundverkündeten,wasdortzusehenwar.WenndasPubli-
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kumindenPausenderVorstellungzudenStällendrängte,umdieTierezubesichtigen,waresfastunvermeidlich,
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dass es beim Hungerkünstler vorüberkam und ein wenig dort haltmachte, man wäre vielleicht länger bei ihm
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geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die Nachdrängenden, welche diesen Aufenthalt auf dem Weg zu
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denersehntenStällennichtverstanden,einelängereruhigeBetrachtungunmöglichgemachthätten.Dieseswar
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auch der Grund, warum der Hungerkünstler vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck natürlich
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herbeiwünschte, doch auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten
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können; entzückt hatte er der sich heranwälzenden Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald – auch die
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hartnäckigste, fast bewusste Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen nicht stand – davon überzeugte, dass es
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zumeist der Absicht nach, immer wieder, ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser Anblick von der
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Ferne blieb noch immer der schönste. Denn wenn sie bis zu ihm herangekommen waren, umtobte ihn sofort
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GeschreiundSchimpfenderununterbrochenneusichbildendenParteien,jener,welche–siewurdedemHun-
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gerkünstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune
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undTrotz,undjenerzweiten,diezunächstnurnachdenStällenverlangte.WardergroßeHaufevorüber,dann
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kamendieNachzügler,unddieseallerdings,denenesnichtmehrverwehrtwar,stehenzubleiben,solangesienur
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Lusthatten,eiltenmitlangenSchritten,fastohneSeitenblick,vorüber,umrechtzeitigzudenTierenzukommen.
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UndeswarkeinallzuhäufigerGlücksfall,dasseinFamilienvatermitseinenKindernkam,mitdemFingeraufden
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Hungerkünstlerzeigte,ausführlicherklärte,umwasessichhierhandelte,vonfrüherenJahrenerzählte,woerbei
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ähnlichen, aber unvergleichlich großartigeren Vorführungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen ihrer
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ungenügendenVorbereitungvonSchuleundLebenher,zwarimmernochverständnislosblieben–waswarihnen
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Hungern?–,aberdochindemGlanzihrerforschendenAugenetwasvonneuen,kommenden,gnädigerenZeiten
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verrieten.Vielleicht,sosagtesichderHungerkünstlerdannmanchmal,würdeallesdocheinwenigbesserwer-
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den,wennseinStandortnichtgarsonahebeidenStällenwäre.DenLeutenwurdedadurchdieWahlzuleicht
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gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das
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VorübertragenderrohenFleischstückefürdieRaubtiere,dieSchreiebeiderFütterungsehrverletztenunddau-
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erndbedrückten.AberbeiderDirektionvorstelligzuwerden,wagteernicht;immerhinverdankteerjadenTie-
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rendieMengederBesucher,unterdenensichhieunddaaucheinfürihnBestimmterfindenkonnte,undwer
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wusste,wohinmanihnversteckenwürde,wenneranseineExistenzerinnernwollteunddamitauchdaran,dass
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er,genaugenommen,nureinHindernisaufdemWegezudenStällenwar.
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EinkleinesHindernisallerdings,einimmerkleinerwerdendesHindernis.MangewöhntesichandieSonderbar-
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keit,indenheutigenZeitenAufmerksamkeitfüreinenHungerkünstlerbeanspruchenzuwollen,undmitdieser
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GewöhnungwardasUrteilüberihngesprochen.Ermochtesoguthungern,alsernurkonnte,undertates,aber
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nichtskonnteihnmehrretten,manginganihmvorüber.Versuche,jemandemdieHungerkunstzuerklären!Wer
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esnichtfühlt,demkannmanesnichtbegreiflichmachen.DieschönenAufschriftenwurdenschmutzigundunle-
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serlich,manrisssieherunter,niemandemfielesein,siezuersetzen;dasTäfelchenmitderZifferderabgeleiste-
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tenHungertage,dasindererstenZeitsorgfältigtäglicherneutwordenwar,bliebschonlängstimmerdasgleiche,
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dennnachdenerstenWochenwardasPersonalselbstdieserkleinenArbeitüberdrüssiggeworden;undsohun-
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gerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe
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ganzso,wieeresdamalsvorausgesagthatte,aberniemandzähltedieTage,niemand,nichteinmalderHunger-
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künstlerselbstwusste,wiegroßdieLeistungschonwar,undseinHerzwurdeschwer.Undwenneinmalinder
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ZeiteinMüßiggängerstehenblieb,sichüberdiealteZifferlustigmachteundvonSchwindelsprach,sowardasin
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diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn
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nichtderHungerkünstlerbetrog,erarbeiteteehrlich,aberdieWeltbetrogihnumseinenLohn.
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DochvergingenwiedervieleTage,undauchdasnahmeinEnde.EinmalfieleinemAufseherderKäfigauf,under
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fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt
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stehenlasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man
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rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der
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Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der
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Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiss«, sagte der Aufseher und legte den Finger an die
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Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.« »Immerfort
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wollteich,dassihrmeinHungernbewundert«,sagtederHungerkünstler.»Wirbewundernesauch«,sagteder
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Aufseherentgegenkommend.»Ihrsolltetesabernichtbewundern«,sagtederHungerkünstler.»Nun,dannbe-
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wundernwiresalsonicht«,sagtederAufseher,»warumsollenwiresdennnichtbewundern?«»Weilichhun-
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gernmuss,ichkannnichtanders«,sagtederHungerkünstler.»Dasiehmaleiner«,sagtederAufseher,»warum
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kannstdudennnichtanders?«»Weilich«,sagtederHungerkünstler,hobdasKöpfcheneinwenigundsprachmit
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wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich
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nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen
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gemachtundmichvollgegessenwieduundalle.«DaswarendieletztenWorte,abernochinseinengebrochenen
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Augenwardiefeste,wennauchnichtmehrstolzeÜberzeugung,dasserweiterhungere.
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»NunmachtaberOrdnung«,sagtederAufseher,undmanbegrubdenHungerkünstlersamtdemStroh.Inden
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KäfigabergabmaneinenjungenPanther.EswareineselbstdemstumpfstenSinnfühlbareErholung,indemso
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langeödenKäfigdieseswildeTiersichherumwerfenzusehn.Ihmfehltenichts.DieNahrung,dieihmschmeckte,
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brachtenihmohnelangesNachdenkendieWächter;nichteinmaldieFreiheitschienerzuvermissen;dieseredle,
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mitallemNötigenbisknappzumZerreißenausgestatteteKörperschienauchdieFreiheitmitsichherumzutra-
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gen;irgendwoimGebissschiensiezustecken;unddieFreudeamLebenkammitderartstarkerGlutausseinem
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Rachen,dassesfürdieZuschauernichtleichtwar,ihrstandzuhalten.Abersieüberwandensich,umdrängtenden
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Käfigundwolltensichgarnichtfortrühren.
Quelle:http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-erz-161/7-Zuletztbesuchtam01.03.2016
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