Thomas Ettl Eine Anorexie avant la lettre∗ Schlenderte man 2007

Thomas Ettl
Eine Anorexie avant la lettre∗
Schlenderte man 2007 über die Mailänder Modemesse, wurde man Zeuge einer Aufsehen erregenden Aktion.
Wo immer man war, begegnete man hauswandgroßen Plakaten, die eine junge unbekleidet Frau zeigten, die sich, bis
auf die Knochen abgemagert, für die Fotokampagne »No-Anorexia«- des italienischen Modelabels »No-l-ita« von
Starfotograf Oliviero Toscani für spärliche 700 € hat ablichten lassen. Die Kampagne flankierend wurden Fotos in Zeitungsanzeigen veröffentlicht.
Die Nackte – Isabelle Caro, 25 Jahre alt – wurde weltweit bekannt und ihr Konterfei zu einem der sog. celebs (von
celebrities), Bilder von dünnen Promis, von Covergirls, Idolen, die sich mit hervorstehenden Knochen und Stäbchenbeinen präsentieren, oft digital verschlankt, wie Victoria Beckham, Kate Moss oder Keira Knightley. Celebs werden
ihrer Knochen wegen bewundert und verehrt.
Die Plakate fallen wegen ihrer überlebensgroßen Personendarstellung unter die Kategorie „Schlagbild“ und ermöglichen ein schnelles Erfassen der Bildaussage. Als abschreckendes Beispiel für Magersucht inszeniert, als sog. bone
pictures, als Bilder von schwer Kranken oft im Endstadium, wollen sie Gefühle erzeugen, funktionieren mithin als Gefühlsgenerator, was gelang, denn viele der Betrachter reagierten gesteigert emotional, zumal der Kontext einem Bild
seine Bedeutung gibt. Wären die Plakate mit dem Skelettkörper Bilder aus einer Dokumentation der Alliierten über die
Befreiung aus dem KZ, würde man denken: Gott sei Dank, die junge Frau wurde gerettet. Auf der Mailänder
Modemesse ausgestellt, sozusagen im Modelspace, erzeugten sie andere Reaktionen: Entsetzen bei den einen, Empörung bei anderen. Die Presse hingegen war fasziniert vom autoaggressiven Exhibitionismus der Plakate. In Windeseile
verbreiteten sie sich auf diversen Plattformen und in anderen Medien und lösten heftige Diskussionen aus.
Allerdings: Nur was der Betrachter emotional akzeptiert, lässt er in seinen Kopf. Die mit Hunger kein Problem haben, nicht mit Magersucht liebäugeln, denen die Schreckensbilder die eigene ungefährdete Position vergewissern und
die, die ohne Verlangen sich öffentlich darzustellen sind, lassen sich nicht zur Zielgruppe machen. Sie wenden sich ab,
vielleicht erleichtert darüber, selbst nicht betroffen zu sein. „Wonnevoll ist’s bei wogender See, wenn der Sturm die
Gewässer aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht, nicht als ob es uns freute, wenn jemand
Leiden erduldet, sondern aus Wonnegefühl, dass man selber vom Leiden befreit ist.“ (Lukrez)
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Andere wiederum dürften sich angesichts des Röntgenbilds in Farbe , missbraucht fühlen und die Plakate als Zumutung empfunden haben. Und diejenigen, denen bei soviel phantasiezertrümmerndem „Knochenrausguck“ (ein
User) die Pupille nicht von Erotik gekitzelt wurde, winkten ohnehin ab.
Die Kampagne stieß auch auf harte Kritik, weil die Knochenschau anstatt abzuschrecken jungen Frauen als Inspiration hätte dienen können. Diese Sorge war berechtigt. Hat man sich etwas mit dieser Thematik beschäftigt, fällt auf,
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dass die Plakate alle Anforderungen und Vorgaben erfüllen, die ProAna an Thinspos stellt, um werbewirksam die dort
propagierte Hunger-Religion zu vertreten.
Tatort Körper
Diese Plakate sind als Blick auf einen Tatort inszeniert. Tatort ist der Körper einer Frau. Wir sehen ihn gepeinigt,
geschunden, ausgezehrt, wie bis aufs Skelett abgenagt. Das Verbrechen lautet: Raubüberfall mit Todesfolge. Trifft man
die Unterscheidung, die die Philosophische Anthropologie zwischen Körper und Leib vornimmt, kann man sagen: Dieser Körper wurde um seinen Leibanteil beraubt. Wir finden keine Leibspuren mehr, keine Individualität, nichts Lebendiges, nur anatomisches Rohmaterial. Isabelle Caro sagt, wäre die Magersucht ein Tier, wäre dieses Tier eine Ratte,
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„ein Nager, der fortwährend an dir knabbert, Dich beißt und Dir weh tut und Dich irgendwann auffrisst“ .
Bei diesem Raubüberfall muss ein Kampf um Sieg oder Niederlage stattgefunden haben. Mehr noch: So wie sich
Isabelle Caro auf den Plakaten exponiert, scheint der dürre Körper die Bedeutung einer Trophäe zu haben. In der Antike nahm der Sieger nach einer Schlacht dem Feind Dinge ab oder sammelte Stücke vom Schlachtfeld als Siegeszeichen auf. Moderne Trophäen sind die Pokale, die sportliche Leistung dokumentieren sollen. Wenn der dürre Körper
eine solche Trophäe ist, die öffentlich ausstellbar ist, müsste Isabelle Caro also den Sieg davongetragen haben. Besteht
‚Avant la lettre’ (vor dem Buchstaben) meint, dass in der Kindheit über spezifische Beziehungserfahrungen psychische Strukturen angelegt werden,
die erst in der Pubertät mit einer bestimmten Anordnung von Buchstaben, nämlich dem Begriff Anorexie, belegt (beschrieben) werden. Die
folgende Skizze beschäftigt sich mit diesen frühen Strukturen.
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www.stern.de/lifestyle/leute
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Thinspiration, kurz Thinspo ist eine Wortschöpfung aus dem englischen ›Thin‹ und ›Inspiration‹. Es handelt sich bei Thinspos um Fotos oder
Videoclips, die absichtlich dünne bis extrem dünne Frauen oder auch nur Körperteile von ihnen zeigen. Sie sollen die Botschaft verbreiten, hervorstehende Knochen sähen reizvoll aus, und treu der Losung: »Dünner geht immer« zum Abmagern anregen und beim Durchhalten der
empfohlenen Extremdiäten helfen. (vgl. Ettl, Th. (2010): Dünn – dünner – Lollipopgirl. Körper im Internet. Giessen, psychosozial, Heft IV, Nr. 122, 6378)
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www.t-online.de/lifestyle/Gesundheit
1
der Sieg vielleicht darin, dass es hier nichts mehr zu rauben gibt? Oder sind die Knochen nur der traurige Überrest, an
welchen sie sich wie die verhungernden Thinspos klammert, aus der Not einen Lifestyle machend?
Spurensuche
„Unter der Fotographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben“, sagt Siegfried Kracauer und Peter Wollen meint, Fotographien würden die Fragmente der Vergangenheit wie „Fliegen im Bern4
stein“ bewahren. Auf den Plakaten sehen wir den letzten Beutezug, den des Photographen. Er könnte aber bereits in
der Kindheit begonnen haben. Begeben wir uns also auf Spurensuche.
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Isabelle Caro hat eine Autobiographie geschrieben - La petite fille qui ne voulait pas grossir (2009) -, die sie als
Témoignage, als Zeugenaussage bezeichnet. Zeuge sein heißt: weder Opfer, noch Täter zu sein, sondern einem Geschehen beigewohnt zu haben. Sie steht also bei dem Verbrechen an ihrem Körper neben sich. Témoignage - auf dem
Cover zwar winzig gedruckt - verweist auf etwas Zentrales der anorektischen Erkrankung: Es muss eine Spaltung zwischen Erlebtem und Beobachtetem erfolgt sein.
Diese Zeugenaussage lohnt es sich anzuschauen und in Relation zu klinischen Erfahrungen mit anderen an Ano6
rexie Erkrankten zu setzen. Die Vorbehalte, die sich gegen eine Autobiographie empfehlen , sind dabei zu berücksichtigen, zumal wir es bei Essstörungen mit einer Erkrankung zu tun haben, die sich u.a. durch Idealisierung und dem
Zwang zur Perfektion auszeichnet und mithin als Spielart des gesamtgesellschaftlichen Zwangs zur Idealität zu verstehen ist. Aber die Mitteilungen unserer Patienten sind auch allemal autobiographisch, enthalten Züge der Beschönigung und sind durchsetzt von Lebenslügen.
Da es sich bei Isabelle Caros Autobiographie um eine chronologische Darstellung ihres Lebens handelt, folge ich
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gerne den Vorgaben der Autorin und beginne mit der Vorgeschichte ihrer Eltern und ihren eigenen frühen Jahren. Die
Autorin, im folgenden IC, berichtet, in der Großelterngeneration mütterlicherseits, einer armen bretonischen Familie,
habe es ein totes Mädchen gegeben, die zweite Tochter des Ehepaars. Dieses Mädchen verstarb mit 18 Monaten an
Diphtherie. Die Großeltern hätten sehr getrauert, wobei die Großmutter nicht wusste, bereits mit einem weiteren
Mädchen, der Mutter ICs, schwanger zu sein. Später gebar die Großmutter noch den ersehnten Sohn Louis, der mit 4
Jahren an Polio erkrankte, ein Schock für die Familie. Seine Erkrankung habe die ganze mütterliche Fürsorge und deren Gebete erfordert. Die beiden Schwestern, Jacotte, die Ältere und Magdeleine, die Mutter ICs, fühlten sich darüber
im Stich gelassen. Jacotte erkrankte unheilbar an Melancholie und warf sich als Erwachsene unter einen Lastwagen.
Magdeleine wiederum empfand ein unbestimmbares Gefühl von Unglück im Sinne Zolas. Auch sie wird sich später
suizidieren.
Als Louis erkrankte, wurde Magdeleine, inzwischen 7 Jahre alt, zu einer Tante gegeben, die sie wie ihre eigene
Tochter aufnahm. Obwohl sie sich dort wohl fühlte, fürchtete sie ständig unangenehme (Todes-)Nachrichten von zuhause. Nach einem Jahr kehrte sie in die Familie zurück. Da Louis Pflege benötigte, die im dörflichen Zuhause nicht zu
erbringen war, zog die Familie in die Stadt und Magdeleine besuchte dort eine Schule, auf der sie sich als Proletariermädchen nicht angenommen fühlte. Zudem irritierten sie der Lärm und das Fremde der betonierten Umgebung. In der
Familie hätte es nur Unglück, Tränen, nur Mühsal, Religion und Pflicht, kein Lachen gegeben. Ihre Mutter habe sich
schrecklich einsam gefühlt und keinen Halt an ihrer depressiven Schwester gefunden, so IC. Mit 12 erkrankte Magdeleine an Rheumatismus, was sie für längere Zeit von Schulbesuch abhielt, hätte sich aber über die Krankheit zu einem
sehr hübschen jungen Mädchen entwickelt, die die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich zog. Mit 20 lernt sie auf einem
Feuerwehrball ihren späteren Ehemann Joseph kennen, dessen Schmeicheleien ihr gefallen hätten. Nichts Rechtes
gelernt, habe er nach der Eheschließung wenig erfolgreich ein kleines Geschäft eröffnet. Als er mit der Kreditkarte
seiner Frau krumme Geschäfte machte, geriet das Paar in Misskredit, verließ die Bretagne und zog nach Lyon. Dort
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begann ihre Mutter für einen Popsänger zu schwärmen und malte für ihn poulbots – sie hatte die beaux-arts besucht
– und schickte ihm die gelungensten zusammen mit Bewunderungsbriefen. Sie verliebte sich schließlich wie eine über
beide Ohren verliebte Jugendliche in ihr Idol, ihre ganzen Wünsche in die imaginäre Beziehung zum Popbarden proji9
zierend, so IC. Als der „größte Artist der Welt, der definitiv ultimative Sänger“ in Bordeaux ein Konzert gab, hätte ihre
Mutter nichts mehr in Lyon gehalten und lag ihrem Mann in den Ohren, dorthin zu fahren. Bei seinem Auftritt sah sie
sich am Ziel: Ihr singender Gott habe nur für sie gesungen und sie dabei angesehen. Auch ihr Ehemann witterte eine
Chance, seine Erfahrungen mit der Installation von Hi-Fi - Geräten für Homestudios und Konzerte an den Mann, sprich,
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Zit. n. Stiegler B. (2006): Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt; Suhrkamp
„Das kleine Mädchen, das nicht dick werden wollte“
Freud war dem Autobiographischen gegenüber skeptisch, weil er meint, eine aufrichtige Lebensbeichte erfordere soviel Indiskretion über Familie,
Freunde und Gegner, meist noch lebend, dass sie sich glatt ausschließe. „Was alle Autobiographien wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit“ (Freud,
S. 1960: Briefe 1873-1939. Hg. v. Ernst Freud und Lucie Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer.
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Ich interpretiere im Folgenden allerdings einen Text, der von Personen und deren Interaktion handelt, die real so nie existiert haben müssen.
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Zeichnungen von Kindern, genannt nach Francisque Poulbot (1879-1946), der mit Zeichnungen von Pariser Straßenkindern brillierte.
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le plus grand artiste du monde, le chanteur ultimate, définitif
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den Schlagerbarden bringen zu können. Mit dem Auftrag, Joseph solle sich um die Tontechnik, Magdeleine um die
Dekoration des Hauses kümmern, erreichte das Paar, im Haus des Sängers zu logieren. ICs Mutter zerfloss: Sie mit
ihrem Star unter einem Dach!
Zu dieser Zeit gebar die Geliebte des Schlagerbarden ihm ein Kind. Er heiratete sie. 5 Monate später kam IC zur
Welt. Weil zwei Babys den Schlagerbarden in seiner Kreativität gestört hätten, zog die Familie aus und baute sich in
der Nähe eine Hütte. Als IC zur Welt kam, sei ihre Mutter in ungläubigem Erstaunen angesichts ihrer Kreation gefallen.
Es sei wie Weihnachten gewesen, nur Ochs und Esel hätten gefehlt, so IC in dem ihr eigenen Sarkasmus. Sie sei für ihre
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Mutter das schönste Baby der Welt gewesen, „was furchtbar banal ist“ , so IC, und ihre Mutter sei überglücklich
gewesen, sie im Arm zu halten. Ihr Schicksal sollte das einer Prinzessin sein. Und ihr Vater? Der habe aus Dankbarkeit
in der Kathedrale eine Kerze angezündet. Gestillt wurde sie zwei Jahre. Die Kinderkrippe besuchte sie nicht, weil sie
noch zu klein gewesen sei. IC meint, sich in den ersten Jahren sehr glücklich gefühlt zu haben und erinnert ihre Mutter
als eine Frau mit großen, arabisch schwarz gefärbten Rehaugen, die sie an sich presste und mit Küssen verschlang.
Interpretation Frühphase
Warum beginnt diese Autobiographie mit der Großelterngeneration? IC erklärt, sie beginne ihren diesen Bericht
mit der Geschichte ihrer Familie, weil sie untrennbar mit der ihrigen vermischt und unerlässlich für ihr Verständnis sei.
Damit kann man sich sofort einverstanden erklären. Wie sehr die Ereignisse in der Großelterngeneration ihr Leben
tatsächlich bestimmt haben, werde ich später detailliert ausführen. Dazu müssen wir sie aber erst besser kennenlernen.
Was haben wir bisher aus der Frühgeschichte erfahren? ICs Mutter hatte offenbar sehr präzise Vorstellung über
ihr Baby. Wenn wir erfahren, sie habe vor der Geburt ihres Kindes gern Poulbots gemalt, die sie ihrem geliebten Popstar schickte, zeigt das, wie sie sich ihr zukünftiges Kind imaginierte, dass sie konkrete Vorstellungen über seinen Körper gehabt haben muss und sich eine solches Kind von ihm wünschte.
Was ich hier skizziere, wird in der Fachliteratur als „wishful image", als "imaginären Körper", als „körperloser
Körper“ oder als „Bild vom Kind“ bezeichnet. Dieses Bild der Eltern von ihrem Kind nenne ich „Kindimago" als Pendant
zur Elternimago, die ein Kind sich von seinen Eltern macht. Diese Kindimago ist zunächst rein virtuell, denn es geht um
ein Bild, das die Eltern schon lange vor der Geburt erstellt haben, ihre Vorausphantasien. Es geht dabei um ein Archiv
an bewussten und unbewussten Phantasien, Vorstellungen und Wünschen, wie ihr Kind aussehen, welches Geschlecht, welche Zukunft es haben soll. Hinzutreten Erfahrungen aus der eigenen Kindheit, den eigenen Eltern, Geschwistern etc. Die Kindimago beinhaltet das Körperselbst der Mutter, ihre Haltung zur Weiblichkeit, wie sie sie von
ihren Eltern übernommen hat und wie sie den gesellschaftlichen Konventionen, Einstellungen und Sitten gemäß ist.
Die Bedeutung des virtuellen Kindes im Erleben seiner Eltern entsteht aus Zuschreibungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Phantasien über ihre Beziehung zu ihm. In der Kindimago ist immer auch der kulturelle und historische
Kontext verdichtet, in dem die Eltern leben. Sie spiegelt die gesellschaftlichen Machtstrukturen und Werturteile wider,
die die zeitgenössischen Ideologien über Kinder und Kindererziehung mit einschließen. In ihr sprechen niemals nur die
Eltern, sondern der „transpersonale Andere“, vertreten durch die Medien und die Werbung. Das Kind wächst in bereitgestellte Signifikanten hinein. D.h., das Kind kommt schon vor seiner Geburt über die mütterliche Innenwelt mit
der Gesellschaft in Kontakt. Die Mutter ist Sozialisationsagentur, vermittelt über ihre Kindimago. Spätestens auf dem
Wickeltisch tritt das Baby in eine Wechselbeziehung zur Gesellschaft.
Kurzum: Die Kindimago ist die Vorgeschichte des Kindes in den Eltern. Fachlich gesehen ist die Kindimago das,
was die Eltern auf ihr Kind übertragen, wenn es auf der Welt ist. Das Kind ist dann im Status der Gegenübertragung. Es
reagiert auf das, was die Eltern ihm anbieten. In der Kindimago steckt der Wunsch der Eltern, den das Kind erfüllen
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soll. Die Kindimago beinhaltet den frustrierten Narzissmus der Eltern. Es bestünde ein Zwang, so Freud, dem Kind
alle Vollkommenheiten zuzusprechen. Es solle ‚Seine Majestät das Baby’ sein, solle die Wunschträume der Eltern er12
füllen, an Stelle des Vaters Held werden oder zur Entschädigung der Mutter einen Prinzen heiraten. Die Kindimago
ist also ein Wunsch und als Wunsch gibt sie dem Kind eine Zukunft. Flaubert hat dieses Motiv in einer Erzählung aus13
gebreitet .
Für das Neugeborene ist die Kindimago absolut notwenig. Sie ist das einzige, worin das Kind zunächst lebt, sie ist
wie eine Eierschale, eine Wiege - ein externer sozialer Uterus. Sie sichert das Überleben des Babys. Über die Kindimago bekommt das Baby einen Platz/Ort in der Familie zugewiesen. Die Kindimago sichert. Darum geraten Kinder
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qui est affreusement banal
11
Das Konzept des Narzissmus ist etwas in Verruf geraten, weil der Narzissmus sehr unangenehme pathologische Seiten zeigen kann. Zunächst aber
geht es um die jedem Menschen eigene Selbstliebe, um das Selbstwertgefühl, um den Stolz, den er auf sich empfindet. Solange das
Selbstwertgefühl realistisch bleibt, bleibt der Narzismus unauffällig. Aber er kann ins Unrealistische entgleisen und dann pathologisch werden.
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Freud, S. (1914c): Zur Einführung des Narzissmus. G.W. X, 158
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Flaubert, G.: La Legende de Saint Julien l’ Hospitalier. Dort wird einer Mutter bei Geburt ihres Sohnes eingeflüstert, er werde ein Heiliger. Seinem
Vater flüsterte man, sein Sohn werde zum Mörder seiner Eltern. Soviel sei hier verraten: Er wird beides.
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vergewaltigter Frauen, die wegen allem Schrecklichen keine Vorstellungen über ihr zukünftiges Kind bilden können, in
eine schwierige Situation: sie finden oft keinen Ort zu leben.
Die Kindimago ist aber noch in andere Hinsicht wirkmächtig. Sie hat performative Kraft. Das Baby hat nur einen
anatomischen Körper. Es lebt am Anfang noch ganz auf Rechnung der Mutter, d.h. in einem von der Mutter erstellten
Körperentwurf, dem „imaginären Körper“, einem geliehenen Körper, bei IC die Poulbots. Die Kindimago der Eltern ist
also ein „Leit'-Bild, für manche ihr ganzes Leben lang. Nach all dem kann man sagen, IC bekam eine Kindimago zur
Verfügung gestellt, in der sie anfänglich vermutlich gut leben konnte.
Als IC auf der Welt kam, war sie das schönste Baby der Welt, ein Vergnügen für seine Mama, sie im Arm zu halten. Der Kindkörper war also von der Mutter narzisstisch hoch besetzt. Ihre Mutter, die malen gelernt hatte, war sehr
stolz auf ihre Schöpfung. Angesichts ihrer Kreation sei sie in ungläubige Verwunderung gefallen und hatte präzise
Vorstellung, was aus diesem Kind werden, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte: Sie wünschte ihrer Tochter das
Schicksal einer Prinzessin. Wer aber sind die Eltern einer Prinzessin? Ein königliches Paar. Freud sagt: Die rührende, im
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Grunde so kindliche Elternliebe sei nichts anderes als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern.
Aber ihre Mutter, die seit ihrer Kindheit ein unbestimmbares Gefühl von Unglück empfand, muss auch Dunkles
geahnt haben, denn die Poulbots, die sie malte, waren Stereotypen von elenden und erbärmlichen Kindern, die Ge15
sichter mit Sommersprossen übersäht . Straßenkinder aber haben immer den Nimbus von ausgesetzten Kindern.
Haben wir es bei IC also mit einer Prinzessin zu tun, die von armen Eltern ausgesetzt wurde, also mit einem Mythos
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von der Geburt des Helden , oder mit einer Prinzessin, die als Prinzessin auf die Welt kam und später ausgesetzt
wurde, die schlechtere Version? Es muss das letztere sein, denn von ihrer Mutter erzählt IC, das diese zur Zeit ihrer
Geburt glücklich war, vom goldenen Zeitalter, vom Paradies sprach und dauernd die Lieder ihres Schlagerbarden
hörte, sozusagen das Wiegenlied ICs. Sie begann ihr Leben also wie eine Prinzessin. Halten wir nur noch fest, dass IC in
dieser Frühphase gut gegessen hat, so wie der Hunger es verlangt hätte.
Dies ist ein Phänomen, das wir bei Essgestörten häufig finden, aber nicht überrascht. Darum halte ich prophylaktische Maßnahmen bezüglich des Essens schon im Kindergarten, um den Kindern das Essen beizubringen, für überflüssig, weil auf einer Fehleinschätzung der Erkrankung beruhend. Aus zwei Gründen. Erstens bekommt das Essen
später eine ganz andere Funktion und zweitens geht es bei Essstörungen letztlich um eine Verdauungsstörung, wie ich
unten ausführen werde. Diesbezügliche Prophylaxe in der Kindheit schützt hiervor nicht. Sie kann und muss vielmehr
an den sich früh zeigenden Beziehungsproblemen ansetzen – eben avant la lettre!
Die alles entscheidende Frage für die weitere Entwicklung ist jedoch: Darf sich ein Kind aus der Kindimago seiner
Eltern befreien oder nicht? Wir werden sehen.
Lost paradise
Das Leben im Ferienhaus des Schlagerbarden fand einer Unachtsamkeit Josephs wegen ein jähes Ende. Joseph
war schwimmen gegangen und hat sein Auto, in dem er teure elektrische Klaviere des Barden transportierte, unverschlossen am Strand zurückgelassen. Prompt wurden die Geräte gestohlen, worauf der Barde die Freundschaft mit
unschönen Worten beendete. Es gab also erneut eine Zäsur oder einen Riss im Leben der Familie, wiederum verursacht durch Joseph. Er war schon einmal Anlass, dass das Elternpaar wegen seiner Kreditkartengeschäfte zum Umzug
und zur Lebensänderung gezwungen war.
Die Familie zog in die Nähe von Paris. Die Fahrt dorthin sei trübselig gewesen, so IC. In einem Tunnel bei Lyon fing
das Auto Feuer und nur ihr Stoffhase, den die Diebe als einziges im Auto liegen ließen, wurde im letzten Moment
gerettet. Es habe Stunden gedauert, bis sie sich beruhigt habe. Fazit: Die Mutter hatte ihren Geliebten verloren, die
Tochter um ein Haar ihr Übergangsobjekt. Noch lange hätten die Flammen von Lyon ihr Alpträume bereitet, so IC.
An die Zeit mit dem Popstar kann sich IC kaum erinnern bis auf manchmal, wenn er abends gekommen sei, wenn
Joseph unterwegs war. Und sie erinnert die wohl letzte Begegnung ihrer Mutter mit ihm, bei der sich ihre Mutter an
ihn geduckt habe, mit Tränen in den Augen. Tränen des Glücks oder des Schmerzes? Sie weiß es nicht. Aber ihre Leidenschaft für ihn und seine Musik, die das Wiegenlied ihrer Kindheit gewesen sei, blieb ihr erhalten. Ihre Mutter habe
diese Zeit immer wieder als das goldene Zeitalter beschrieben.
Inzwischen befinden wir uns im 4. Lebensjahr ICs. Ihr Leben hat sich geändert, was sie so beschreibt: Eine Zeit der
Düsternis, des Schmerzes, der Einsamkeit und des Eingesperrtseins. Ihre Eltern hätten sich aufgeführt, als wären sie
wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden. Ihr Vater sei viel unterwegs und nur am WOE oder gar nur
alle 14 Tage zuhause gewesen. Ihre Mutter sei in eine bodenlose Depression versunken, habe das Haus nicht mehr
verlassen wollen, ihre Zeit mit Weinen verbracht, sich kaum noch geschminkt und ihre Kleidung vernachlässigt. Da sie
nichts hätte wegschmeißen können, sei die Wohnung verwahrlost. Ohne Unterlass habe sie ihrer Tochter erklärt, sie
sei der einzige Grund zu leben, sie sei alles, was ihr geblieben wäre. IC meint, sie selbst sei ganz untergegangen in der
14
Freud, S. (1914c): ibid.
des stérétypes d’enfants misérieux et pitoyables, aux visages parsemés de taches de rousseur
16
Vgl. Rank, O. (1909): Der Mythos von der Geburt des Helden. Semiramis, Moses, Ödipus u. a. schreibt man mythischen Geburtsgeschichten zu.
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Traurigkeit und dem Leid ihrer Mutter. Sie konnte nicht verstehen, warum sich ihr Leben so brutal geändert hatte,
traute sich aber nicht, ihre Mutter zu fragen, ob sie etwas Böses getan habe und ihre Mutter deshalb weine. Sie fürchtete, mit solchen Fragen ihrer Mutter nur zusätzlich Kummer zu bereiten. Aber sie hatte auch niemand, den sie hätte
fragen können, denn sie verließ das Haus fast nicht, weil ihre Mutter im TV gehört habe, frische Luft begünstige das
Wachstum der Kinder und das letzte, was ihre Mutter wünschte, sei gewesen, dass ihre Tochter wachse. Sie sollte
kleines Mädchen bleiben wie zu jener Zeit, als sie selbst eine glückliche junge Frau war. Demzufolge waren auch alle
Uhren aus der Wohnung beseitigt. Mütter würden zwar immer das Wachsen ihrer Kinder beklagen, seien aber letztlich
bereit, die Frucht ihres Leibes loszulassen. Nicht so ihre Mutter.
IC wagte nicht ihrem Vater zu sagen, ihre Mutter weine dauernd und lasse sie nicht im Freien spielen. Sie tröstete
sich damit, ihre Mutter würde schon ihre Gründe haben, obwohl sie es als schrecklich empfand, so eingesperrt leben
zu müssen. Mit Ach und Krach wäre es ihr erlaubt gewesen, sich mal 20 bis 30 Meter vom Haus zu entfernen und auch
nur dann, wenn sie sich das Gesicht mit einem Schal verhülle. IC glaubte auch jetzt, dies sei normal, weil ihr jeder
Kontakt mit anderen Kindern als Referenz fehlte. Mehr noch: Ging sie mit ihrer Mutter ausnahmsweise in den Supermarkt, schauten die Leute sie irritiert an, weil sie im Gesicht wie bandagiert war. Allmählich verfestigte sich bei ihr der
Eindruck, nicht normal zu sein und vermutete darin den Grund, weshalb ihre Mutter sie auch nicht zu Schule schickte,
sondern, selbst Lehrerin, sie zuhause unterrichtete. Da irrt sich IC möglicherweise, denn es war ihre Mutter, die sich in
der Schule als Proletariermädchen nicht angenommen fühlte. Die Schule, so ihre Mutter, sei nicht spaßig und sie sei
sicher zufrieden, zuhause bei ihrer Maman zu sein. „Oui, Maman“. Hätte sie zu einer Frau, die leidet, und die sie liebe,
etwas anderes sagen können, fragt IC. Sie könne ihr nicht das bisschen Glück, das ihr bleibt, auch noch nehmen. Sie
liebe Maman sehr, und wünsche nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter ihr verlorenes Lächeln wiederfinde.
Die depressive Mutter
Hier beschreibt ein Kind seinen Alltag mit seiner depressiven Mutter. Bezeichnend für solche Kinder ist die quä17
lende Frage, ob sie böse waren und deshalb Ursache der mütterlichen Depression sind. IC artikuliert ihre Fragen
diesbezüglich. Bezeichnend auch, dass sich die Kinder nicht zu fragen trauen, weil sie fürchten, der Mutter noch mehr
Anlass zum Weinen zu geben. IC wird ferner über die von ihrer Mutter wiederholte Beteuerung ihrer Bedeutung, einziger Lebensgrund ihrer Mutter zu sein, in die Depression hineingezogen und darin verwickelt.
Das Besondere und nicht für die spätere Erkrankung spezifische ist hier die Furcht der Mutter vor frischer Luft,
die sie zu einer privatistisch-isolierten Sonderpraxis veranlasste. Dieses seltsame Motiv ist Ausdruck der mütterlichen
Depression. Sie will die Zeit anhalten, sie still stellen, um einen Verlust zu vermeiden und eine Erinnerung nicht
verblassen zu lassen. Nicht die „frische Luft“ ist schuld, sondern Maman möchte sich die Erinnerung an den Schlagerbarden lebendig halten. Sie würde verblassen, würde IC größer. Die Zeit anhalten heißt konservieren. Das ist der
Grund, weshalb die Mutter aus der Wohnung ein Mausoleum machen muss und das Kind nicht wachsen darf. Zuhause
ersticke man, so IC. Ihre Mutter habe sämtliche Risse im Haus zugeschmiert, damit keine Frischluft eindringe, als sei
Frischluft ein Dämon. Stickige Luft vertreibe alle anderen Gerüche. Ihre Mutter bewahre alles auf und jedes Erinnerungsstück brächte sie zum Weinen. Es geht der Depressiven darum, sich ein verlorenes Objekt zu erhalten.
Und doch spielt auch die „frische Luft“ eine Rolle. Wir wissen, ICs Mutter „verlor“ wegen ihres Bruders und dessen Erkrankung die Zuwendung ihrer Mutter. Der aber litt vermutlich poliomyelitisbedingt an Atemnot. Als Magdeleine 7 Jahre alt war und zur Tante geschickt wurde, fürchtete sie, Todesnachrichten von zuhause zu erhalten.
Wünschte sie ihrem Bruder den Erstickungstod, um wieder zu den Eltern zurückkehren zu können und geliebt zu werden? IC könnte in diesem Zusammenhang Repräsentant des Bruders sein. Ihr wurde von ihrer Mutter die frische Luft
verweigert, sie hat sie quasi erstickt. Dann gälte ihre damalige Aggression ihrem Bruder gegenüber jetzt stellvertretend IC, eine nicht unbegründete Annahme, immerhin wurde IC später zum Todesfall, als sie anorexiebedingt an
Lungenentzündung starb.
Wenn IC sagt, sie liebe Maman sehr und wünsche sich sehnlichst, ihre Mutter fände ihr verlorenes Lächeln wieder, so macht sie auf etwas Wichtiges aufmerksam: Sie hadert nicht mit ihrer Mutter, sondern mit der Depression
ihrer Mutter, unter der sie leidet - ein entscheidender Unterschied. Wir werden es bei ihr mit einer Erkrankung an der
Erkrankung ihrer Mutter zu tun bekommen.
Die beschämte Mutter
Wir sehen immer wieder, wie IC alles Eigene zurückstellt, um ihre Mutter zu schonen, darüber aber allmählich ein
pathologisches Selbstbild entwickelt. Wenn sie glaubt, nicht normal zu sein und deshalb verantwortlich für die Depression ihrer Mutter, so ist das auch von ihrer Mutter suggeriert, denn das Geheimnis, warum ihre Mutter sie einsperrte, lüftet eine von ihr stereotyp geäußerte Bemerkung: «In Cannes hast Du mich beschämt, weil Du am Abend
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geweint und geschrien hast, weil Du nicht schlafen gehen wolltest» . ICs damaliger Protest ist der Grund, weshalb
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Vgl. hierzu: Ettl, Th. (2015): Michael Degen, Oskar Werner, die depressive Mutter und der erweiterte Suizid. www. ettl-thomas.de
À Cannes tu me faisais honte à pleurer et crier le soir, parce que tu ne voulais pas aller te coucher.
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ihre Mutter sie versteckt und nicht nach draußen gehen lässt. So war IC, wie sie immer ahnte, schuld, weil sie unbequem und lästig war und damit ihre Mutter beschämte. ‚Cannes’ steht für die Zeit mit dem Schlagerbarden, und wir
dürfen vermuten, ihre Mutter habe sich vor ihrem Idol, dem sie sich gerne als ideal und begehrenswert präsentieren
wollte, für ihre Tochter geschämt, und/oder weil ein nicht ins Bett wollendes Kind ein ersehntes tête-à-tête mit ihm
gestört hat. Wieder hätte Magdeleine wegen eines Kindes das Nachsehen gehabt und einen Verzicht hinnehmen müssen. Lilly Lindner, ICs Leidensgenossin, schreibt, sie habe schon im Kindergarten gelernt, glücklich sein sei wichtiger als
Schmerzen empfinden, denn Eltern wollten glückliche, lachende Kinder mit Grübchen in den Wangen und leuchtenden Augen, mit langen, vom Wind zerzausten Haaren und einem süßes Puppengesicht. Ihre Eltern hätten ein per19
fektes, funktionierendes Kind gebraucht. „Ich darf auf keinen Fall ein Fehler sein.“ Essgestörte berichten häufig, als
Kinder mit Sorgen, Schmerzen und Fehlern ihren Eltern lästig gewesen zu sein, weil sie deren Befriedigungen im Wege
standen.
Das Beschämen der Mutter, zumeist in der Öffentlichkeit, ist ein Thema, das in der Kindheit von Patienten mit
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Essstörungen eine große Rolle spielt und auch bei ProAna seine Spuren hinterlässt. Es wundert, die Mädchen dort
bedenkenlos schamlos ihre Krankheit in der Öffentlichkeit des Internets mit Bildern ausstellen zu sehen, Bilder, die
allenfalls in medizinische Lehrbücher gehören. Die Bedenkenlosigkeit könnte weibliche Zeigelust dokumentieren,
wahrscheinlicher jedoch ist, die Kranken agieren eine Reminiszenz aus ihrer Kindheit, in der es um das Beschämen der
Mutter ging. Man muss sich nur vergegenwärtigen, was in einer Mutter vor sich gehen muss, sähe sie ihr Kind nur als
Haut und Knochen im Internet. ProAna empfiehlt deshalb vorsorglich jegliche Spur zu löschen, um »their parent’s
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scrunity« zu vermeiden. Eine Mutter mit narzisstischen Problemen wäre jedoch angesichts dessen, was sie im Internet zu sehen bekäme, weniger besorgt als zutiefst beschämt. Sie sähe ihre Mutterehre beschädigt. Die Mutter öffentlich blamieren, genau dies aber wollten die Kranken als Kinder, wenn sie sich laut schreiend jähzornig auf die Straße
warfen, provokant in die Hose machten oder die Mutter beim Vater verpetzten. Die Botschaft an das Publikum: Schaut
her, was ich für eine böse Mama habe. Manche Mütter reagierten mit hochrotem Kopf, andere kehrten das Spießrutenlaufen um und blamierten ihrerseits ihre Kinder, indem sie diese in aller Öffentlichkeit nackt auszogen und z.B.
sauber machten, allen Umstehenden signalisierend: Schaut her, was meine Tochter für ein Ferkel ist, nicht mal auf
sich aufpassen kann sie. Auf diesem Hintergrund sind die Kindheitssymptome der Kranken zu lesen: Wutanfälle,
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Koprophilie, Enuresis diurna, Hauterkrankungen, Ekzeme . Man kann sie als Reaktion (Gegenübertragung) auf den
mütterlichen Narzissmus verstehen.
Die Wachstumsphobie
Bei unvermeidlichen Verwandtenbesuchen zu Weihnachten rief die Großmutter erstaunt aus, IC sei ja so gewachsen, worauf ihre Mutter zischte: „Mais non, mais non.“ Für solche Besuche wurde IC von ihrer Mutter mit detaillierten
Lügen präpariert. So sollte sie sich den Namen einer imaginären Klassenlehrerin und imaginärer Klassenkameraden
einprägen, um der Großmutter Schulbesuch vorzutäuschen. Zuhause schlief ihre Mutter auch dann im Zimmer ihrer
Tochter, wenn ihr Ehemann zuhause war. Damit es ihrer Tochter nicht zu kalt werde, durfte sie sich selbst bei 30° im
Schatten nicht im Badezimmer waschen, weil es dort zog. Nein, gewaschen wurde sie in einer Plastikbadewanne für
Babys, die in der Mitte des Wohnzimmers stand. Haare galt es mit Mineralwasser zu waschen, weil Leitungswasser zu
kalkhaltig war und die Augen verderben könnte. Auf die Toilette durfte IC auch nicht, sondern musste einen Babytopf
benutzen. Noch als sie längst 7 war, fürchtete ihre Mutter, ihre Tochter könnte ins Bett machen.
Dies alles könnten Zeichen ängstlicher Overprotection sein. Nach allem, was wir inzwischen erfahren haben,
dürfte es indes eher so gewesen sein, dass ihre Mutter sich ein bettnässendes Kleinkind gewünscht hat. Oder aber
Magdeleine litt mit 7 Jahren, von ihrer Mutter getrennt, selbst unter diesem Symptom.
IC langweilte sich, obwohl sie viele Spielsachen hatte, vorwiegend Puppen zum Anziehen oder zum Baden. Aber
keine Barbiepuppen! Die hielt Maman für vulgär – Barbies waren erwachsene Frauen! IC bekam Puppen, wie sie selbst
für ihre Mutter eine sein sollte. Aber vom Schlagerbarden bekam sie eine Barbie, was sie toll fand. Mangels Spielkameraden beschäftigte sie sich mit ihren Puppen, die sie wie in einem Klassenzimmer anordnete oder so, als würde sie
mit ihnen eine Zugfahrt machen. Sie spielte mit ihnen, was sie selbst nicht hatte. Aber sie schlug ihre Puppen auch – in
Anwesenheit ihrer Mutter, um dieser zu zeigen, wie man mit bösen Mädchen umgeht, wie sie erklärt. Sie hätte gerne
gehabt, ihre Mutter würde ihr mit Peitsche oder Gürtel eine Tracht Prügel verabreichen, weil sie dann vielleicht aufhöre zu weinen und traurig zu sein.
19
Lindner, L. (2011): Splitterfasernackt. München, Droemer Verlag
ProAna ist für das hermeneutische Verständnis der anorektischen Logik von besonderem Wert, weil dort die Erkrankung idealisiert und damit wie
direkt unters Mikroskop gelegt erscheint.
21
Ein Nachprüfen ihrer Eltern
22
vgl. Ettl, Th. (2001/2013): Das bulimische Syndrom. Tübingen; edition discord (2001); Giessen; Psychosozial-Verlag (2013)
20
6
Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil: Wurde IC tatsächlich mal wegen eines Widerwortes geohrfeigt, wurde
sie von ihrer Mutter „deux secondes“ später heftig umarmt und mit Küssen erstickt. D.h. ihre Mutter entlastete sich
auf Kosten ihrer Tochter, indem sie sie mit ihren eigenen Schuldgefühlen wegen ihrer Wut erstickte, die sie unbewusst
ihrer eigenen Mutter gegenüber empfand. Im Ersticken mit Küssen bleibt die Aggression gleichwohl erkennbar.
Die masochistischen Wünsche zeigen, welche Schuldgefühle dieses überbehütete Mädchen gequält haben müssen, es aber noch Wege findet, ihre Aggression spielend zu äußern und nach außen zu wenden. IC ahnte offenbar,
worunter ihre Mutter litt: An gegen das eigene Selbst gewendeter Aggression, Grundlage aller Depression. Vermutlich
galt diese Aggression Magdeleines eigener Mutter, die sie wegen des nach drei Mädchen ersehnten Sohnes im Stich
gelassen hatte.
IC weinte nie vor ihrer Mutter. Sie weinte nachts, nachdem ihre Mutter eingeschlafen war. Oder, wenn es ihr
schlecht ging, wenn Schmerz und Angst unerträglich wurden, tröpfelte sie Wasser in die Augen ihrer Puppen und ließ
23
sie an ihrer statt weinen, um ihre Mutter „sanft“ auf ihr Unglücklichsein aufmerksam zu machen. Die aber hätte ihr
24
25
Tun mit leerem Auge betrachtet: „Nichts zu machen, sie blieb unbeeindruckt“ , so IC resigniert.
Die Bildung des Gewissens
Als Magdeleine einen kranken Verwandten in der Bretagne besuchen musste und IC, um die fünf Jahre alt, mit ihrem Vater allein ließ, gab sie ihr Verhaltensmassregeln. Sie legte ihren Zeigefinger unter das Kinn ihrer Tochter, damit
diese ihr in die Augen sehen musste, was ihren Worten besonderen Nachdruck verlieh: «Vor allem verlässt du das
Haus nicht, hörst du, selbst wenn dein Vater es dir vorschlägt. Du weigerst dich. Du musst es mir versprechen, es
schwören. Gehorchst du mir, bringe ich dir viele Spielsachen mit. Solltest du aber zuwiderhandeln, werde ich das er26
fahren und du bekommst nichts.» - «Ja Maman, ich verspreche es heilig.» Sie widerspreche ihrer Mutter nie, so IC,
sie wolle eine gutes kleines Mädchen sein, ihrer Mutter Vergnügen bereiten, damit sie sie sehr liebt.
Als ihre Mutter weg war, wollte ihr Vater sie prompt zum Brot holen ins Dorf mitnehmen. Durchs Fenster sah IC
die Äste der Bäume im Wind wehen und sehnte sich danach, ohne den wie ein Maulkorb wirkenden Schal im Gesicht
den Regen und den Wind auf ihrem Gesicht zu spüren und in vollen Zügen frische Luft einzuatmen. Dieses Bedürfnis,
den Körper zu spüren, nach Freiheit und frischer Luft, dieses Kribbeln in den Beinen, das sie zur Tür dränge, sei verwirrend. Aber, als sei ihre Mutter in ihrem Kopf anwesend, hört sie deren rhythmisierte, wie ein Refrain unablässig
hämmernde entrüstete Stimme: Du darfst nicht ausgehen, tust Du es, werde ich es wissen. IC gerät in einen echten
Gewissenskonflikt: Sie möchte ungehorsam sein, kann es aber nicht. Der Kraft, die sie Sekunden zuvor zur Tür drängte,
trat eine andere entgegen. Schreck und Schuldgefühl hätten ihre Füße wie gelähmt am Boden festgenagelt, so IC.
Die Mutter dominiert ihre Tochter mit ihrer Depression, indem sie bei ihrer Tochter die Angst induziert, sie in die
Depression zu stürzen. IC wagte nicht, das Angebot ihres Vaters anzunehmen, weil sie fürchtete, wäre sie ihrer Maman ungehorsam, sie unzufrieden zu machen und darüber zum Weinen zu bringen. „Ich höre mich antworten: «Nein,
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ich bleibe lieber zu Hause»“ . Das ist aber nicht der einzige Grund. Ebenso wichtig ist, sie traut ihrem Vater nicht – mit
Recht. Dieser Mann wagt es nicht, im offenen Gespräch mit seiner Frau zu fordern, sie solle ihrem Kind das Loslösen
ermöglichen und darum wartet er, bis seine Frau außer Haus ist und verführt dann seine Tochter zum Ungehorsam.
Am selben Tag schlug ihr Vater ihr auch noch vor, im Garten zu spielen, es sei nicht kalt und die Sonne scheine. Welche Verführung! Aber keine Chance. Ihre Mutter würde ein Zuwiderhandeln an ihrem Verhalten bemerken, weil sie
ihren Ungehorsam nicht überzeugend vertreten könne. Käme es dann zu Streitigkeiten mit der Mutter, wäre der Vater
längst wieder für Wochen auf Geschäftsreise, und sie müsste den Kampf alleine ausfechten. Das kann IC nicht riskieren und deshalb beginnt sie jetzt, ihre kindgerechten Bedürfnisse nach Kontakt mit anderen Kindern, nach Spielen im
Freien, kurz: in die Welt hinaus zu gehen, ganz der Mutter zuliebe zu opfern. Es beginnt die für die spätere Anorexie so
typische Verleugnung des eigenen Selbst mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Emotionen (z.B. Weinen). Hier, in
statu nascendi ist noch zu erkennen: Der Grund der Verleugnung ist die Angst vor Mutters Depression, die Angst, sie
zu enttäuschen. Später, wenn IC an Anorexie erkranken wir, wird sie wie alle an Anorexie Erkrankten aus der Selbstverleugnung eine Tugend machen: ich benötige nichts, ich bin ganz unabhängig.
Die Mutter, präziser: deren Depression ist zur inneren Stimme, d.h. zum inneren Objekt geworden, das das Kind
nun als Überich von dort aus magisch omnipotent kontrolliert. Als ihre Mutter tief in der Nacht zurückkehrte, brachte
sie viele Geschenken mit – das ist die gute Mutter -, die ‚Depression’ jedoch nahm sie ins Verhör: Du bist nach draußen gegangen, nicht wahr? Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Obwohl IC bei den 4 Evangelisten ihre Unschuld be-
23
en douceur
Rien à faire, elle ne percute pas
25
Die Mutter mit leerem Auge ist die tote Mutter, von der André Greens Buch Die tote Mutter (2004) handelt (Giessen; Psychosozial-Verlag)
26
Surtout tu ne sort pas, hein? Même si Papa te le propose, tu refuses. Tu dois me le promettre, me le jurer. Si tu m’obéis bien, je te rapporterai
plein de cadeaux. Mais si tu sort, je le saurai et tu n’aurais rien. Tu as bien compris ; tu ne sors pas» ! - «Oui Maman, promis juré.»
27
Je m’entends répondre: «Non, je préfère rester à la maison»
24
7
teuert, glaubt ihr die ‚Depression’ nicht. Über Tage plagte sie IC damit, sie solle endlich gestehen, nach draußen gegangen zu sein, um die Angelegenheit zu beenden.
Die Szene zeigt eindrücklich, in welchen Konflikt das Kind mit der Depression seiner Mutter resp. seinem Überich
gerät und wie unerbittlich die Depression das Kind auf Ungehorsam festnageln wollte. Natürlich war IC nicht unschuldig. Sie wünschte ins Freie zu gehen, ihren Körper in Wind und Regen zu spüren und sicher auch mit dem Papa unterwegs zu sein. Faktisch war sie gehorsam, aber der Verdacht, sie hätte nicht gehorcht, war stärker. Diese gebieterische
28
innere Stimme aus dem Überich wird später IC wie alle Essgestörten tyrannisieren. Man kann sich davon einen Eindruck bei ProAna verschaffen. Dort ist es Ana, die wie eine strenge, restriktive Instanz auftritt, die keinen Mann zulässt, denn Männer sind Feinde wie der verführerische Hunger: „»Seit wann denkst du darüber nach, mit dem Feind
essen zu gehen?«“, faucht Ana. Essen gehen gilt als schwere Regelverletzung, bedeutet, dem Feind zu unterliegen und
damit Ana zu erzürnen. „»Das wird eine Katastrophe!«, schnauzt Ana“ und droht Lilly zu vernichten : Sie malt ein Bild,
auf dem nichts zu sehen ist, hält es Lilly vor die Nase und sagt: Guck mal, das bist du“. Wer dem Überich nicht ge29
horcht, wird zum Nichts, eben ausgelöscht.
Als ihr Vater ohne sie loszog, fühlte IC eine Mischung aus Erleichterung und Niedergeschlagenheit. Sie hat der
Mutter gehorcht, damit ihr Gewissen befriedet und darf mit der Liebe ihrer Mutter rechnen. Das erleichtert, aber nur
unter der Bedingung, sie gibt ihre Wünsche auf. Und das macht niedergeschlagen. Maman ist zum Kerkermeister ge30
worden, mit dem IC kollaboriert: „Es ist keiner mehr gefangen als der, der mit seinem Kerkermeister kollaboriert.“
Die Depression der Mutter treibt das Kind in einen spannungsgeladenen Konflikt mit seinem Gewissen, eine Spannung, die ab der Pubertät wegen der entstandenen Schuldgefühle oft nur mit einer Selbstverletzung mit Rasierklingen
zu lösen ist. Rasierklingen werden zum „Notausgang“, wie die Patienten sagen.
Der enttäuschende Vater
Faktisch haben wir es mit zwei Gescheiterten zutun: Mit einem gelähmten Kind und einem Vater, der schließlich
ohne seine Tochter das Haus verlässt. Offenbar war ICs Vater zu schwach und zu oft abwesend, um dem Übergriff
seiner Frau auf Leib und Seele seiner Tochter Einhalt zu gebieten. Kam der Vater am WOE nach Hause, wollte er seine
Ruhe haben und beschimpfte seine Frau, wenn sie die Kleine nicht ruhig halten konnte. Entsprach das Essen nicht
seinem Geschmack, konnte er am Tisch alles hinschmeißen, egal ob Dinge zu Boden fielen und zerbrachen. Gäbe es
Streit, werfe der Vater hinter sich die Türe zu und verschwinde, sie bliebe alleine mit der depressiven Mutter. Dabei
hätte seine Tochter, die gerne in die Schule gegangen wäre, Freundinnen und Freunde gehabt hätte und nicht länger
so tun wollte, als wären ihre Puppen mit dem Hanf auf dem Kopf wirkliche Schulkameraden, sämtliche Spielsachen
gegen eine Viertelstunde an der frischen Luft ohne verschleierten Kopf und gegen ein Spiel mit Gleichaltrigen eingetauscht. Doch, so cholerisch und wenig gefühlvoll ihr Vater auch gewesen sei, hätte er am Montag seine Sachen gepackt, um abzureisen, blieb IC wegen seiner Abwesenheit unglücklich zurück. Auch Lilly aus Splitterfasernackt, deren
Vater ihr gegenüber gleichgültig war, empfand so: „Aber egal - ich würde ihm trotzdem jedes Jahr einen Geburtstags31
kuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.“ Wäre ihr Vater öfter zuhause, hätte er
vielleicht ihre Mutter daran gehindert, sie einzusperren, so IC. Er mache sich die Situation offenbar nicht klar; warum
32
tue er nichts: „Warum verteidigt er mich nicht?“
Setzte sie sich zum Schmusen auf Vaters Knie, forderte er sie auf, herunterzusteigen. Sie sei zu schwer und tue
ihm weh. Er hätte einen Krampf. Ihr kindliches Begehren verursachte dem Vater einen Krampf heißt: Er konnte das
kleine Weib nicht anerkennen, wie sein großes vermutlich auch nicht. Die Prinzessin ist verstoßen. Im TV sah sie einen
„vrai papa“, der sich anders verhalten hätte. Warum liebt mich meiner nicht, fragt sich IC. Warum glaube ich, er denkt
an mich, wenn er mit seinen Souvenirs und Puppen aus der Region, die er bereist, ankommt, dann aber wieder nicht,
wenn er mich anmeckert, wenn ich seine Aufmerksamkeit suche? Früher, als sie noch klein war, sei er viel freundlicher
gewesen. Sie könne ihm nicht sagen, sie liebe ihn. Zu groß wäre ihre Sorge, Maman fühle sich verlassen und könnte
eifersüchtig werden. Oft genug fordere sie ihre Mutter auf, sich zwischen Vater und ihr zu entscheiden: »Kannst du
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besser mit Papa oder mit Maman? Ich bin sicher, du ziehst Papa vor.» Später wirft ihr ihre Mutter vor: Du liebt den
Papa mehr als mich, und stürzt sie darüber in einen massiven Loyalitätskonflikt.
Was meint sie damit, sie liebe ihren Vater? Vermutlich möchte sie sich mit ihrem Vater identifizieren, also seine
Eigenschaften übernehmen, so sein wie er. Zu dieser Zeit vertritt der Vater für sie noch die Freiheit, die Unabhängigkeit, die Außenwelt, nach der IC sich sehnt. Dann hätten wir es mit einer identifizierenden Liebe zu tun. Die unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeit der ‚Liebenden’ spielt bei dieser Form der Liebe keine Rolle.
28
Vgl. Ettl, Th (2006): Essstörungen. Der Kampf zwischen Ichideal und Überich. In: Jongbloed-Schurig, U. (Hrsg): Ich esse deine Suppe nicht.
Psychoanalyse gestörten Essverhaltens. Frankfurt, Brandes & Apsel, 2006, 38-89
29
Vgl. Lindner, L, (2011): a.a.O.
30
Il n’y a pas plus prisonnier que celui qui collabore avec son geôlier …
31
vgl. Ettl,Th. ( 2001/2013) : a.a.O.
32
Pourquoi ne me défend-il pas?
33
Tu es mieux avec Papa ou avec Maman? Je suis sûr que tu préfères Papa.
8
Vaterlose Zeiten
IC sollte Violine spielen lernen, weil man damit am Besten früh beginne. Maman versprach, sie käme dann später
ins Fernsehen. Das ist ein Auftrag an die Tochter, der dem mütterlichen Narzissmus entspringt. IC wird ihn später
erfüllen. Sie kommt tatsächlich ins Fernsehen, aber nicht mit der Geige, sondern mit ihrer Anorexie. Zunächst aber
bekam sie nur eine Minivioline, eine für Vierjährige.
Da ihr Vater selten zuhause war, hatte ihre Mutter nur sie zum Reden. IC hatte das Gefühl, ihr Ohr müsse ein
Schwamm sein. Maman erzähle alles von früher und von heute durcheinander. Und sie beklagte sich bei ihr über ihren
Mann, der Grund ihres Weinens sei. Er führe ein schönes Leben in Luxushotels und ließe sie zuhause alleine in ihrer
kalten Bude, ließ sie schwere Dinge schleppen etc. Die Mutter kotzt ihre ganze Unzufriedenheit in das Ohr ihrer Tochter. Die Männer seien böse, mit Ausnahme des Schlagerbarden – versteht sich. Der sei zwar auch egoistisch, aber er
hätte wenigstens eine Entschuldigung: Er sei ein Künstler, ein sehr großer Künstler. Bevor sie auf die Welt gekommen
sei, so ihre Mutter, hätten Joseph und sie in seinem Haus gelebt und das sei das Paradies gewesen. Unbewusst könnte
die Mutter aber damit auch ihr Zuhause bei den eigenen Eltern gemeint haben, das vielleicht für sie solange ein Paradies war, bis der Bruder zu Welt kam und beide Mädchen, vom Thron der elterlichen Zuwendung gestürzt, in eine
Depression verfielen.
Ihre Mutter habe sie auch mit ihren Ängsten angesteckt. Jedes unbekannte Geräusch habe sie erschreckt. Abends
musste sie in ihr Zimmer gehen und zweimal abschließen. Erst dann wagte sich ihre Mutter nach draußen, um nachzusehen, ob jemand herumlungere. IC, gehorsam und verängstigt, verkroch sich in ihrem Zimmer, das Schlimmste befürchtend. Das abendliche Ritual erinnert an die Zeit, als Magdeleine bei ihrer Tante untergebracht war und Katastrophen fürchtete. Wer draußen ‚herumlungern’ könnte ist der Bruder, der plötzlich vor der Tür stand und das ganze
Leben in Gefahr brachte.
Das konnte IC natürlich nicht wissen und fragt, warum die Welt draußen so gefährlich sei für ein kleines Mädchen? Die Antwort blieb aus, sodass die zweite These ICs nur sein konnte: Ich bin ein Monster, das man besser eingeschlossen hält. Für uns ist das ein Hinweis, dem Kind fehlte allmählich jede Referenz, nicht nur was seinen Körper,
sondern auch seine Seele anbetraf. Jede mögliche Korrektur ihres inzwischen pathologischen Selbstbildes etwa durch
die peergroup fehlte. Nur der Fernsehapparat kommt IC zu Hilfe, für sie das Fenster zum wahren, wirklichen Leben,
wie sie sagt. Ihm verdanke sie das Gefühl, es gebe noch eine andere Welt als die, in der sie eingesperrt war.
Krankheit als Befreiungs- und Loslösungsversuch
Eines Tages kommt IC eine Idee. In einem Buch las sie von einer kranken Katze, die zu einer Blinddarmentfernung
ins Krankenhaus musste. Dort lernte sie andere Katzen kennen, die zu Freunden wurden. Das war’s! So wollte sie es
auch machen. Leider war sie bei bester körperlicher Gesundheit. Als ihre Mutter ihr ausnahmsweise einen Ausflug in
den Garten erlaubte, ließ sie sich dort in den Zierteich fallen. Wie eine Rakete sei ihre Mutter herangezischt und zog
sie ins Haus. Dort weigerte sich IC zu essen und täuschte Unwohlsein vor. Am ersten Tag hätte sie Hunger gehabt, am
zweiten wurde ihr übel und sie erbrach, am dritten sei das Hungergefühl verschwunden. Ihre Mutter maß Fieber, das
nicht vorhanden war, fürchtete aber allmählich eine Appendizitis bei ihrer Tochter, was der nur recht war und demzufolge dazu schwieg. Der Arzt wurde gerufen, konnte nichts feststellen, verabreichte Medikamente gegen das Erbrechen und bat darum, ihn zu rufen, falls der Zustand sich nicht ändere. In den Tagen darauf quälte IC der Hunger und
sie nippte ein wenig am Kartoffelbrei. Schließlich veranlasste der Arzt die Einweisung ins Krankenhaus. Ihre Mutter
fand es furchtbar, sie jedoch dachte: Jetzt weiß Maman wenigstens, warum sie weint. In eine Decke gehüllt, die Schals
um den Kopf gewickelt, brachte ihre Mutter sie ins Krankenhaus, wo sie alles in Bewegung setzte, um mit ihrer Tochter aufgenommen zu werden. Am nächsten Tag jedoch entführte sie Maman wieder aus dem Krankenhaus. Die ganze
Aktion war vergebens. Ihre Mutter würde sie nie alleine lassen, sie wird nie Spielkameraden finden, resigniert IC. Sie
fühlte sich wie eine Gefangene, die man nach einem gescheiterten Fluchtversuch ins Gefängnis zurückführt. Ihre Mut34
ter aber spiele „die perfekte Mutter“ , sodass niemand an ihr zweifle.
Wir halten fest, die kleine Patientin erfindet eine Krankheit, um dem Eingesperrtsein zu entkommen, um sich
endlich von ihrer Mutter lösen zu können, um Kontakte zu finden. Das wäre ein großer Krankheitsgewinn. Es kommt
noch mehr hinzu. IC entdeckt, ihrer Mutter geht es besser, wenn sie (scheinbar) krank ist, Mutters Depression verschwindet, wenn es ihr schlecht geht. Sie hätte weniger geweint und sich um sie gekümmert. Das hat sie sich immer
gewünscht. Auch dies ist ein entscheidender Krankheitsgewinn. Schließlich kaufte ihre Mutter ihr Babynahrung, was
ihr gefiel, weil sie sich an frühere, glückliche Tage erinnert sah. Kurzum: IC regrediert ihrer Mutter zuliebe und erfüllt
ihr damit den Wunsch nach einem Kleinkind. Hier sind jetzt schon wesentliche Momente der späteren Erkrankung
vorgezeichnet. Krank sein bringt vierfachen Gewinn. Das erklärt, warum die spätere Anorexie so therapieresistent ist
und ein großes Todesrisiko beinhaltet.
IC erwog, aus dem Fenster zu fliehen, irgendwohin wegzulaufen. Aber sie kannte die Umgebung nicht, auch keine
Leute und dann gab es noch die Angst vor Père Lustucru, eine Gestalt vergleichbar unserem Nachtkrabb, mit der man
34
la mère parfaite
9
Kindern Angst macht. Père Lustucru sperrt herumstreunende Kinder in einen Sack, auf dass man sie nie wieder sieht,
weder lebendig noch tot. So unterließ sie es zu fliehen, bis sie es eines Tages nicht mehr aushielt, ein paar Sachen
zusammenraffte und zum Fenster eilte. Just in diesem Moment sah sie ihre Mutter vorzeitig zurückkehren. Wieder
nichts. Auch dieser Versuch war vereitelt. Allmählich baute sich in ihrem Körper eine derartige Anspannung auf, dass
sie sich wie eine zum Platzen bereite Bombe fühlte. In lebhaftester Unruhe sei sie im Haus herumgetobt, treppauf,
treppab, um die Spannung loszuwerden und hätte sich dabei wie ein Hamster im Laufrad gefühlt. Das sind Momente
der Anspannung, die erwachsene Essgestörte häufig empfinden. Bulimiker bekommen in solchen Momenten einen
Fressanfall, Anorektiker hingegen machen das, was ICs Mutter jetzt tut: Sie predigt unablässig: „Beherrsche Deinen
35
Körper!“ . Zum Beweis, dass ihr Predigen Erfolg zeigte, erzählte ihre Mutter der Großmutter voller Stolz, IC habe sich
mit 7 Jahren zur Fastenzeit entschlossen. Diese Bemerkung war auch ein Affront gegen Joseph, der zuviel esse, zu viel
trinke, einen dicken Bauch habe und nur nach Hause käme, um seine Füße unter den Tisch zu stellen.
Die Kindimago als Hindernis
War die Kindimago für das Kind in der Frühphase lebenswichtig, so wird sie zum Problem, wenn die Eltern ihr reales Kind mit einem zarten, beginnenden Selbst nicht sehen, wenn ihm nicht genügend Spielraum für eine eigenständige Entwicklung eingeräumt wird und das Kind sich nicht aus der Kindimago befreien darf. Können Eltern dieses
Selbst nicht anerkennen, dann kann es zur lebenslänglichen Störung im Selbstwertgefühl kommen. Es hängt sehr von
der Flexibilität der Kindimago ab, wie weit sich ein heranwachsendes Kind vom elterlichen Entwurf entfernen darf. Bei
den hier zur Debatte stehenden Eltern von Essgestörten scheint das Kind die Kindimago zwanghaft erfüllen zu müssen,
wie erneut die Geschichte ICs zeigt. Gerade Eltern mit Problem-Einstellungen würden im Allgemeinen weniger das
Kind, wie es wirklich ist, lieben oder hassen, so Richter, als vielmehr ein illusionär verzerrtes Bild des Kindes, das sie
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selbst unter Einfluss mehr oder weniger starker Projektionen unbewusst geschaffen haben.
Wenn IC schreibt, Mütter würden zwar immer das Wachsen ihrer Kinder beklagen, seien aber letztlich bereit, die
Frucht ihres Leibes loszulassen, so war das bei ihrer Mutter nicht der Fall. Anlass ihrer Überlegung war der letzte Kinderarztbesuch, bei dem dieser feststellte, sie sei gewachsen und ginge nach ihrem Vater, worauf ihre Mutter nur mit
einer Grimasse reagiert habe. Maman würde sie oft am Türrahmen messen, und da jeder Zentimeter für sie eine Katastrophe zu sein schien, winkelte IC die Beine an, hoffend, ihrer Mutter das Unvermeidliche ersparen zu können. Im
abendlichen Gebet habe Maman Maria angefleht, ihre Tochter nicht wachsen zu lassen: „Ich bitte Sie, heilige Jung37
frau, machen Sie, dass meine Tochter klein bleibt“. Warum ihrer Mutter das so wichtig war, wusste sie nicht und
traute sich auch nicht, sie zu fragen. Als sie 6 Jahre alt war, kaufte ihre Mutter Kleidung für Vierjährige. Selbst die
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Schuhe waren zu klein, aber lange dachte IC, beim Schuhe tragen Schmerzen zu haben sei normal. Magdeleine stand
unter dem Druck eigener ungelöster Probleme, und musste ihrer Tochter eine Rolle vorschreiben, die ihrer eigenen
Konfliktentlastung dient. Unter dem Diktat einer verzerrten Kindimago kann sich Magdeleine nicht anregen lassen
durch das Sosein ihrer Tochter, vielmehr wird diese der Vorgabe der Mutter eingepasst. Die Kleidung ist hier exemplarisch. Das Befangensein in der Kindimago wegen der eigenen Pathologie macht blind gegenüber den Bedürfnissen des
Kindes. Das Einpassen in die Vorgaben der Mutter gelang, bis IC 4 war. Mit 6 gelang das nicht mehr.
Spannung entsteht, weil IC die Loslösung sucht, die von ihrer Mutter vereitelt wurde, weil sie ihren Körper nicht
losließ und sie nicht aus der Funktion als Selbstobjekt entließ. Das Kind bleibt eingesperrt im mütterlichen Phantasma
und sollte für immer Vierjährige bleiben.
Es zeigt sich jetzt ein Wesenzug der Kindheit von an Anorexie und Bulimie Erkrankten: Der Körper des Kindes
bleibt im Besitz der Mutter. Die Kranken sind sozusagen Leibeigene der Mutter. Leibeigenschaft heißt, die Mutter
verfügt nach ihrem Gutdünken über den Körper ihres Kindes, manipuliert Hunger, Ausscheidung, Hygiene- und Schlafbedürfnis etc. Die Auskünfte der Patienten sind eindeutig: „... der Körper ist nicht mein Körper, in meinem Körper
herrscht die Mutter. ... In diesem Körper bin ich nur drin, aber er ist nicht meiner, und deshalb kann ich ihn auch schädigen“, oder: "Warum soll ich denn essen? Wenn meine Mutter ißt, spüre ich es". Bei IC zeigt sich die Leibeigenschaft
darin, wie sie von ihrer Mutter gekleidet wird, wie sie Körpergröße und das Verrichten der Körperbedürfnisse vorschreibt – alles längst nicht mehr altersgemäß, sondern einzig reguliert nach Magdeleines inneren Vorgaben. Und im
Fall IC zeigt sich, wie die Mutter das Denken des Kindes suggestiv manipuliert, wenn sie ihm nahelegt, sie wünsche
sicher nicht in die Schule zu gehen oder der Großmutter Schulbesuch vortäuschen soll.
Der in der Kindimago niedergelegte Wunsch der Eltern ist die treibende Kraft der Funktionalisierung. Die Kindimago setzt und bestimmt deren Merkmale und Inhalte und setzt sich dominant gegen die Bedürfnisse des Kindes
35
Maîtrise ton corps!
Richter, H.E. (1963): Eltern, Kind und Neurose. Hamburg, Rowohlt (1969)
37
Je vous en prie, Sainte Vierge, faites que ma fille reste petite.
38
Das erinnert an den Film Der Antichrist, in welchem eine Mutter ihrem kleinen Sohn ohne es zu bemerken stets den linken Schuh an den rechten
Fuß anzog, sodass der Junge einer beginnenden Fehlbildung wegen an unsicherem Standvermögen litt, was ihn zum Straucheln und zum tödlichen
Sturz aus dem Fenster brachte. Der Film räumt allerdings der Beobachtung der Urszene, dem Sex der Eltern, eine größere Bedeutung ein.
36
10
durch. Das Kind muss in diese Imago gezwängt, entsprechend dieser Imago manipuliert werden, bis es dieser entspricht. Erst dann ist es für die Eltern fungibel für die Reparation ihres beschädigten Selbstwertgefühls. Wie Magdeleine die Poulbots malte, ließ schon nichts Gutes ahnen: stérétypes d’enfants misérieux et pitoyables, Kinder ohne
Persönliches, Individuelles, nur manipulierbare Puppen. Die Fixierung der Mutter verhindert, dass ihre Tochter sich
aus dem anatomischen Körper einen eigenen, einen persönlichen Körper, genauer eine Körper-Leib-Einheit machen
39
kann, in der es leben und ein psychische Selbst entwickeln kann.
Damit die Körperkonstruktion gelingt, bedarf das Kind des Glanzes im Auge der Mutter, des Verliebtseins in ihr
Kind. Fehlt diese wärmende Verliebtheit, hat das Kind nichts, woraus es einen Körper machen könnte. Es fehlt ihm die
Energie zum Körpermachen, zur Paarbildung von Körper und Leib. Es resigniert, hat keine Möglichkeit, sich selbst
wichtig zu fühlen und bleibt lebenslänglich darauf angewiesen, von anderen seine Bedeutung bestätigt zu bekommen.
IC hat früh diesen Glanz im Auge ihrer Mutter erfahren. Der Glanz erlosch, als sie älter als 4 wurde.
Zur Bildung der Körper-Leib-Einheit benötigt das Kind überdies die Hilfe der Mutter, die ihren Körper zur Verfügung stellen muss. D.h., das Kind muss mit dem Körper seiner Mutter spielen, ihn anfassen, an ihm zupfen, ihn beschmieren dürfen etc. Mütter von Esskranken haben ihren Körper hierzu nicht gebrauchen lassen. Es fehlte ihnen an
der dafür erforderlichen Zärtlichkeit und Zuwendung. Geschmust hätten ihre Mütter nie mit ihnen, so unisono die
Patienten.
Julie, das Pflegekind
Als die Mutter über die Sommerferien ein Pflegekind, ein vierjähriges Mädchen namens Julie aufnimmt, gerät IC,
bald 8, in ihre erste fundamentale Krise, denn dieses Mädchen darf alles, was IC nicht durfte: Ins Freie gehen, im Garten spielen, die Mutter in den Supermarkt begleiten und all dies ohne Schal um den Kopf. Ihre Mutter sei nur für Julie
da und auch ihr Vater begegne ihr mit einer Freundlichkeit, die sie selbst nie erfahren hätte. Warum darf die, was ich
nicht darf?, schwirrte es ihr durch den Kopf. Warum ist Maman so zufrieden über deren Anwesenheit? Heißt das, sie
liebt mich nicht mehr, oder hat sie mich gar nie geliebt? Warum muss ich mein Gesicht verbergen? Was habe ich
verbrochen? Bin ich ein Monster? Eines schien ihr klar: Sie ist zu groß geworden, um ihrer Mutter noch zu gefallen.
Obwohl erst 8 Jahre alt, fand sie sich zu alt, zu groß, zu dick, zu hässlich, zu dumm. Kurzum: Unwürdig, geliebt zu werden. Und je größer sie werde, desto unwürdiger werde sie, so ihre Sorge. Ihre Mutter jedoch hätte sich daran ergötzt,
Julie und sie identisch zu kleiden, worüber IC das Gefühl bekam, ein tölpelhafter Riese an der Seite einer graziösen Elfe
zu sein.
Narzisstische Deprivation
Jetzt wird eine Interpretation fällig, die sich schon seit geraumer Weile aufdrängt. Wie schon angedeutet: Ein
Mädchen von ca 4 Jahren hat für Magdeleine die Bedeutung/Funktion eines Selbstobjekts. Es vertritt einen Aspekt
Magdeleines.
Wie kommt es dazu? Als ICs Mutter 4 Jahre alt war, kam der von ihren Eltern ersehnte Sohn zur Welt, der deren
Stolz d.h. deren narzisstische Besetzung bekam, die ihrer Mutter und deren Schwester dadurch verloren ging. Die
beiden Mädchen waren vom Thron gestürzt. Als dann der Bruder auch noch schwer erkrankte, bekam er zudem die
gesamte alltagspraktische Zuwendung und Pflege der Eltern und deren Gebete. Jacotte und Magdeleine wurde ein
Ortswechsel und damit viel Fremdes zugemutet. Das muss für beide eine fundamentale Erschütterung ihres Selbstwertgefühls gewesen sein, dass sich beide als Erwachsene suizidierten. Vielleicht fühlte sich Magdeleine damals in der
Zeit vor Louis’ Geburt als putzige Kleine, als graziöse Elfe oder Prinzessin, zumal sie ein replacement-child war, denn
vor ihr war eine Schwester an Diphtherie verstorben, weshalb sie möglicherweise von ihren Eltern mehr als üblich
behütet und gepäppelt wurde. Nach der Geburt des Bruders jedoch könnte sie sich wie ein tölpelhafter Riese oder
Monster im Vergleich zu dem Baby gefühlt haben.
Um den Verlust der elterlichen Zuwendung mit 4 Jahren zu kompensieren, könnte Magdeleine lebenslänglich
darauf angewiesen gewesen sein, von anderen die verlorene Anerkennung zu bekommen. Die Geschichte mit dem
Schlagerbarden dürfte ein solcher Versuch gewesen sein, in der sich dann die Frühgeschichte wiederholte und die
40
kindliche Depression, wahrscheinlich eine anaklitische Depression getriggert wurde. In ihrer Tochter fand Magdeleine dann ein Objekt dieses Alters, das sie an ihrer statt ersatzweise für sich bewundern konnte, was sie selbst damals
als Vierjährige noch nicht konnte. D.h., Magdeleine brauchte IC als 4-jährige Prinzessin, um sich in ihr spiegeln und sich
so selbst narzisstisch besetzen zu können. IC wird nicht als Nicht-Ich von ihrer Mutter wahrgenommen, sondern als
Aspekt ihres Selbst. Anders gesagt: Ihr Kind ist kein von ihr getrenntes Objekt, sondern die Fortsetzung ihres Selbst.
39
Die philosophische Anthropologie hat die Unterscheidung von Körper und Leib herausgearbeitet. Der Leib verleiht dem Körper das Subjektive,
Individuelle. Man kann sich das Verhältnis von Körper und Leib so vorstellen wie das Verhältnis von kollektiver- und Privatsprache: Wir verstehen
unter dem Begriff Mutter alle, was gemeint ist, aber ein jeder hat seine persönliche Mutter im Sinn. 0der: Der Leib verhält sich zum Körper wie das
Adjektiv zum Substantiv. Der Leib ist der Repräsentant des Trieb- Gefühlslebens, der Körper der Repräsentanten des Narzissmus. Der Körper ist
kontrollierbar, der Leib bedingt.
40
Eine kindliche Form der Depression, die nach dem Verlust einer Bezugsperson auftreten kann
11
Bei einem Zoo-Besuch zeigt Magdeleine Julie die Tiere, während IC im Auto bei geschlossenen Scheiben bleiben
soll – eine grobe Aktion der Mutter gegen ihre Tochter. IC wird zur gefallenen Prinzessin. Die vierjährige Julie repräsentiert das Kind, das Magdeleine bis zur Geburt des Bruders war, sie bedeutet ihr alles, die achtjährige IC ist ein
Nichts – wie vermutlich Magdeleine nach Ankunft von Louis. Julie passte in das Bild vom mütterlichen Selbstobjekt
und für sie musste sich Magdeleine nicht schämen, denn es gab keine gemeinsame Vorgeschichte.
Die grobe Maßnahme der Mutter lässt es jetzt wahrscheinlich erscheinen, dass sich früher die Ablehnung ICs in
Übervorsicht (overprotection) maskiert hat, als Kompensation der mütterlichen Aggression gegen ihr eigenes Kind.
Was bedeutet das für IC? Sie ist tatsächlich in Gefahr, wenn sie sich verändert und wächst, die narzisstische Besetzung, also den Glanz im Auge ihrer Mutter zu verlieren, was einem Auslöschen gleichkommt. Julie macht drastisch
sichtbar, welche Funktion IC für ihre Mutter hat, aus der sie jetzt kurzfristig entlassen ist. Mit anderen Worten: IC
droht ein massiver Entzug an Anerkennung, eine massive narzisstische Deprivation. Aber genauso muss es ihrer Mutter ergangen sein, als sie älter wurde. Offenbar kam nach der Geburt ihres Bruders nichts mehr. Ab dann droht auch IC
der Besetzungsentzug, den ihre Mutter als Kind erfuhr. D.h., diese Mutter wiederholt mit ihrer Tochter all das, was sie
selbst erlebt hat. IC bleibt Selbstobjekt der Mutter und wird entsprechend instrumentalisiert. Deshalb darf sie nicht
wachsen. Da sie das aber tut, braucht ihre Mutter ein Ersatzkind, z.B. Julie. Die Mutter ist ganz auf die Vierjährige
fixiert. Das heißt, ICs Körper hat seine Funktion für die Mutter verloren, ist also nicht länger instrumentierbar für deren Spiegelbedürfnisse. In Julie kann sie sich jetzt spiegeln; Julie ist jetzt die vierjährige Magdeleine. Für IC heißt das:
Ab jetzt übernimmt sie das depressive Selbst ihrer Mutter, das diese entwickelt hat, nachdem sie vom Bruder entthront wurde. Jetzt ist IC die verstoßene, die ausgesetzte Prinzessin, das erbärmliche Stiefkind, ein Poulbot. Die dunkle
Ahnung Magdeleines bei Geburt ihrer Tochter erfüllt sich.
Die Krankengeschichten essgestörter Patienten zeigen immer wieder die pathologische Wirkung von Ereignisses
in der Großelterngeneration, die transgenerationell an die Enkelgeneration weitergegeben werden und diese krank
macht, ohne das diese wüsste, warum. Meist handelt es sich dabei um Katastrophen: ein despotischer Großelternteil,
ein Suizid, ein Verbrechen etc. Die vielen unbeantworteten Fragen ICs an ihre Mutter bezeugen, sie kann nicht verstehen und sucht die Schuld bei sich. Erhellt man den Patienten diese Zusammenhänge, können sich die Vorwürfe ihres
Überichs mildern und damit die Symptomatik, eine Wirkung, die nicht verwunderlich ist, da die Anorexie als „Erkrankung im Kopf“ gilt und das Wissen um diese Zusammenhänge im Kopf erfolgt. Die Patienten verstehen diese Zusammenhänge auch schnell, denn die meisten sind klug, weil sie frühzeitig mit ungelösten Fragen beschäftigt waren und in
ihrer Not wie IC viel Phantasie entwickeln mussten: „Ich entweiche noch anders, durch die einzige Tür, die nicht verriegelt ist, durch die, die meine Imagination in meinem Kopf öffnet. Ich träume, durch fremde Länder zu fahren und
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die Bekanntschaft einer Menge Leute zu machen. Ein einfaches Foto in einem Magazin recht mir, um zu starten.“ .
Die Not forciert das Reifen ihrer intellektuellen Fähigkeiten auf Kosten der emotionalen Reifung. Diese Intelligenz
muss eine Therapie nutzen, bevor man sich der emotionalen Bedrängnis zuwendet, hat doch die kompensatorische
Erziehung gelehrt, es mache keinen Sinn, am Mangel anzusetzen, sondern einzig an den vorhandenen Fähigkeiten.
Joseph, offenbar spürend, woran seine Tochter zu erkranken drohte, schlug ihr vor, während die Mutter mit Julie
im Zoo ist, Autofahren zu lernen. Zumindest unbewusst hatte er erfasst, dass es seiner Tochter weitgehend an
‚Auto’nomie fehlte. Während sie auf seinen Knien saß, bediente er die Pedale, sie das Lenkrad. Er bestimmte wie
schnell, sie wohin es gehen sollte. IC öffnete die Scheibe und spürte eine sanfte Briese wie das Streicheln eines Engels
auf ihrem Gesicht. Sie hielt den Kopf zum Fenster hinaus, damit der Wind mit ihren Haaren spielen konnte – ein
Glücksgefühl, das sie seit langem nicht mehr empfunden habe, so IC. Das Glücksgefühl fand ein jähes Ende, als ihre
Mutter wegen der Ungeheuerlichkeit laut schimpfend, fast brüllend zurückkehrte und den Autonomieversuch beendete. Ihr Vater sagte nichts, womit wieder alle Versuche der Loslösung von der Mutter und des Überlaufens in die
Welt des Vaters vereitelt waren.
Einen Vorteil hatte Julie: IC wurde nachts nicht mehr in die Decke eingewickelt und sie durfte auf die Toilette anstatt auf den Baby-Nachttopf gehen. Sagen wir: Sie war aus der Funktion Vierjährige sein zu müssen (vorübergehend)
entlassen.
Im darauffolgenden Sommer dasselbe Spiel mit einem anderen vierjährigen Mädchen. IC war nun 9 Jahre und
begann sich Sorgen um die ihr bevorstehende Pubertät zu machen, Sorgen wegen der unvermeidbaren körperlichen
Veränderungen, die sie noch weiter vom Kindstatus entfernen würden. Sie hatte davon im TV gesehen.
Magdeleine kümmerte sich nicht darum, was ihre Tochter im TV sah. IC präferierte Horrorfilme, mochte Phantome, die durch Mauern von einer Welt in die andere gehen konnten, ohne von ihrem Körper und seinen Kontingenzen daran gehindert zu werden. Wäre sie ein Phantom, könne sie Leute treffen, selbst Tote. Beim mirror-checking
entdeckt sie ihr alter ego, eine Gleichaltrige, die sie Rébecca nennt und die alles macht, was sie nicht darf. Die Unter41
je m’évade autrement, par la seule porte qui n’est pas verrouillée, celle que mon imagination ouvre dans ma tête. Je rêve que je parcours des
pays étrangers et que je fais la connaissance de tout un tas de personnes. Une simple photo dans un magazine me suffit pour décoller
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werfung unter ihrer Mutters Willen erscheint ihr inzwischen derart selbstverständlich, dass sie sich nicht dagegen
auflehnt. Was als Rebellion hätte interpretiert werden können, diente nur dazu, Mutters Zorn zu erregen, damit sie
endlich aufhöre zu weinen, so IC. Ihre Mutter jedoch reagierte nicht wie beabsichtigt, sondern erwiderte: «Wie kannst
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du wollen, dass ich mit einem schlecht erzogenen Mädchen ausgehe?» Vermutlich konnte IC ihren Zorn und ihren
Neid auf die Pflegekinder nicht immer im Zaum halten, was ihr diesen Vorwurf der Mutter einbrachte. Die Pflegekinder waren vermutlich auch Repräsentanten des an Poliomyelitis erkrankten Bruders sein, mit denen Magdeleine
das wiederholte, was sie bei ihrer Mutter und dem Bruder gesehen hatte. IC wäre auch dann wieder die kleine Magdeleine, die neidvoll zusehen musste, wie die Großmutter den Bruder anbetete.
IC, die die zutreffende These hat, hinter der Depression ihrer Mutter stünde ihre Aggression, unterschätzt die
narzisstische Störung, die die Depression auch kennzeichnet. Ihre Mutter fürchtet die öffentliche Beschämung durch
ihre Tochter, weil sie eine ideale Mutter, la mère parfaite mit einer gelungenen Tochter sein möchte. Diese Störung
reicht weit in die Kindheit der Mutter zurück, in jene Zeit, als ihr Bruder geboren wurde und sie sich von ihrer Mutter
vernachlässigt fühlte und zur Tante gegeben wurde. Damals muss – wie oben ausgeführt - ihr Selbstwertgefühl beschädigt worden sein. Diese alte Kränkung wurde vom Schlagerbarden, der eine andere liebte, getriggert. Möglicherweise hat sie damals als kleines Mädchen gegen diese Behandlung rebelliert und wurde von ihrer Mutter als „schlecht
erzogen“ beschimpft, ein Vorwurf, den sie nun auf ihre eigene Tochter projiziert, dabei nicht bemerkend, dass der
Vorwurf, ein Kind sei schlecht erzogen, immer auf die Eltern zurückfällt, schließlich haben sie das Kind erzogen.
Der Wunschvater
Eines Tages gelang es dem Vater, die dem Schlagerbarden gestohlenen Geräte wiederzufinden, sodass es zu einer
Wiederannäherung kam. Ihre Mutter weigerte sich zwar, ihn wiederzusehen, was sie aber nicht daran gehindert hätte,
mit emotionsfeuchter Stimme von ihm zu sprechen und für seine Platten zu schwärmen. Der Schlagerbarde war ohnehin immer präsent: Ihre Mutter hielt im Garten Hühner einer speziellen japanischen Art, die auch der Barde in seinem Garten züchtete. IC sollte wohl auch so eine Art gezüchtetes japanisches Huhn sein, zumindest dürfte sie sich
später, als sie als Erwachsene in Japan einen Auftritt hatte, so gefühlt haben.
Es ergab sich dann, dass IC in einem Clip des Schlagerbarden den Violinpart übernehmen durfte, zur großen
Freude ihrer Eltern, die sich flugs einbildeten, Eltern einer Virtuosin, gar eines zukünftigen Yehdi Menuhin zu sein, ein
Beispiel für die narzisstisch aufgeblähte Kindimago ihrer Eltern. Ihre Mutter, so hieß es, habe sie zum Auftritt als lebende Puppe ausstaffiert. IC genoss das ganze Spektakel des Filmaufnehmens um sie herum, war begeistert, fühlte
sich von den Blicken der Umstehenden getragen und witterte Freiheit. Sie absolvierte ihren Part, worauf ihr Vater
stolz verkündete: „«Das ist meine Tochter, Sie haben gesehen, wie begabt sie ist! Sie wird es weit bringen, das ist
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sicher.»“ Die Hoffnung auf Freiheit wurde also gleich wieder zunichte gemacht, indem sich ihre Eltern mit großen
Hoffnungen für sich selbst an ihren Erfolg dranhängten.
Die Blicke, die ihre Mutter dem Schlagerbarden zugeworfen hätte, hätten ihr gezeigt, Mamans Gefühle für ihn
hatten nichts an Intensität eingebüßt. In diesem Moment war sich IC sicher: Der Barde ist ihr eigentlicher Vater. Von
nun an nannte sie ihren Ernährer Joseph nur noch bei seinem Nachnamen, wie ihre Mutter das seit langem tat.
44
Wir wohnen hier der Konstruktion eines ‚Familienromans’ bei. IC, jetzt um die 10, sucht nach besseren Eltern,
um ihr Selbstwertgefühl aufzupäppeln. Überdies konstruiert sie eine Josephsgeschichte. Sie stammt vom göttlichen
Barden ab, von dem ihre Mutter schwanger wurde und ihr Vater, der Joseph, hat bei alldem nichts beigetragen und
nichts zu melden. Von der Hütte, dem Ochs und dem Esel hat IC schon früher berichtet. Sie selbst muss sich dann aber
als Jesulein gefühlt haben. Real wird Joseph schon ihr leiblicher Vater sein, aber im Erleben ihrer Mutter – und das ist
entscheidend - ist dieses Kind vom angehimmelten Schlagerbarden. D.h., kommt IC nun auf die Idee, der Barde sei ihr
Vater, dann artikuliert sie damit den Wunsch ihrer Mutter und macht ihn sich zu Eigen.
IC hat sich in der Ablehnung ihres Vaters mit ihrer Mutter identifiziert. Beide schließen den Vater aus. Diesem,
selbst durch Bewunderungssucht verblendet in seiner Kindimago, gelang es nicht, seine Tochter aus der Vereinnahme
45
durch ihre Mutter herauszulösen. Väter und andere Männer spielen auch bei ProAna, soweit ich feststellen konnte,
keine Rolle, allenfalls als teuflische Verführer zum Essen. Aber täuschen wir uns nicht: Sich in der Öffentlichkeit (des
Internets) so darzustellen, wie die Thinspos es tun, hat immer zwei Seiten: 1. geht es um die Beschämung der Mutter
und 2. benötigt die Beschämung Zuschauer, vor denen die Mutter angeklagt wird. Die Zuschauer sind die Väter, nach
deren Blick sich die Thinspos sehnen, um ihn als Komplizen zu gewinnen, um Anerkennung, Bestätigung ihrer Weiblichkeit und Ruhe vor der Mutter/Ana zu finden. Diese hat regelmäßig ihre Tochter zur eigenen Entlastung bereits im
Kindesalter auf die Rolle der Freundin verpflichtet und damit überfordert. Auf die Kind-Freundin konnte sie Sorgen
und Frust z.B. über den Ehemann abladen. IC berichtete, ihr Ohr hätte wie ein Schwamm sein müssen. Hierbei kam es
42
Comment vieux-tu que je sorte avec une petite fille aussi mal élevée?
C’est ma fille, vous avez vu comme elle est douée! Elle ira loin, ça, c’est sûr
44
Mit ‚Familienroman’ ist eine Phantasiekonstruktion gemeint, die sich Pubertierende erstellen, wenn sie feststellen, dass ihre Eltern nicht so ideal
sind, wie sie bisher dachten, was Folgen für ihr Selbstwertgefühl hat. Um diese Kränkung wettzumachen, phantasieren sie sich eine Abstammung
von idealisierbaren Personen aus dem öffentlichen Leben. Früher waren das Könige und Königinnen, heute zunehmend Internetstars.
45
Zu den Vätern essgestörter Patienten vgl. Ettl, Th. (2001/2013): a.a.O.
43
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zum Ausschluss des Vaters und anderer Dritter aus der Mutter-Kind-Dyade: ein quasi monotheistischer Anspruch der
Mutter, den wir bei ›Freundin‹ Ana wiederfinden.
Die Tochter des Schlagerbarden, etwa im Alter von IC, erzählte ihr bei den Begegnungen aus ihrem Leben, vom
Collège, ihren Kameraden und den Klamotten, die ihr Vater bezahlt. Damit endeten die Gespräche aber schon, weil IC
nichts dazu beitragen konnte. Sie kam sich stupide und uninteressant vor. Obwohl sie beide wie Schwestern gewesen
seien, spürte sie, in einer anderen Welt zu leben und kam sich wie ein Alien vor. Ihre Mutter bewahrte derweil Zigarettenstummel des Schlagerbarden auf, als seien sie eine Heiligenreliquie.
Die Tür zum Paradies schloss sich für IC brutal, als die junge Freundin des Schlagerbarden, die im Clip Piano gespielt hatte, sich weigerte, fortan mit ihr zusammen zu spielen. Ihr Vater jedoch bestand weiterhin hartnäckig darauf,
seine Tochter sei eine Virtuosin. Sich selbst sah er in der Rolle des Impresario, glaubte über seine Tochter zur bedeutenden Persönlichkeit aufzusteigen und mit vollen Armen Ruhm zu ernten. Dabei hatte er nicht einmal seine Hausaufgaben als Vater gemacht. Berauscht vom erhofften Empfang zukünftiger Ehren und der übertriebenen Wichtigkeit der
eigenen Person meldete er sie als Schülerin mit siebenjähriger Erfahrung am Konservatorium in Fontainebleau an.
Beim Vorspiel indes großes Entsetzen unter den Professoren. Man schickte IC in die Klasse der Anfänger, für ihre Eltern eine unerträgliche Desillusionierung. Nichts mit „C’est ma fille, vous avez vu comme elle est douée! Elle ira loin,
ça, c’est sûr.“ Prompt meldeten sie ihre Tochter ab. IC war Opfer der durch Selbstsucht verzerrten Realitätsprüfung
ihres Vaters, seiner unaufgelösten Kindimago geworden. Verblendet verfiel er der Überschätzung seiner Tochter, um
die eigene Ehre zu retten.
Eine Anorexie à la lettre
Als anlässlich einer Angina der Arzt ICs Körpergröße ermittelte und anmerkte, für 39 Kilo Gewicht sei sie mit 151
cm nicht sehr groß, fragte IC ihre Mutter, ob sie zu dick sei. Diese empfahl ihr, wie Tänzerinnen nur grüne Bohnen zu
essen. Ab diesem Moment habe sie auf ihr Gewicht geachtet, so IC. Sie beginnt Techniken des Hungerns anzuwenden
und nimmt ab. Inzwischen 12, gaukelt sie ihrer Mutter vor, noch an den Weihnachtsmann zu glauben und wünscht
sich eine Waage. Als sie diese bekommt, wiegt sie sich und ist glücklich: nur 37 Kilo. Fortan bestieg sie mehrmals täglich die Waage. Im Supermarkt klaute sie eine Flasche Konjac und mixt sich einen Appetitzügler. In einem Wutanfall
zerschmettert ihre Mutter die Waage, was IC jedoch nur anstachelt, noch mehr abzunehmen. Kein Gramm mehr will
46
sie zunehmen. Mit anderen Worten: Ab jetzt beginnt die Anorexie à la lettre.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Mutter wieder ein Mädchen von 4 Jahren über die Sommerferien in Pflege, womit
sie erneut signalisierte, auf welches Wunschalter diese Frau fixiert war. Unbewusst scheint Magdeleine im Sommer
mit diesen Pflegkindern ihre Erinnerung an die Zeit mit dem Schlagerbarden in der südfranzösischen Atmosphäre zu
wiederholen. Mit IC, jetzt zu alt dazu, ging das nicht mehr.
Ihre Kilos verlöre sie nicht aus ästhetischen Gründen, betont IC. Sie habe sich nie schön gefunden, mit Ausnahme
ihres Alter Egos Rébecca, jetzt klar erkennbar als ICs Ichideal. Sähe sie ihren nackten Körper im Spiegel, schäme sie
sich und will die Zeichen der pubertätsbedingten Metamorphose ihres Körpers verleugnen. ICs Ziel ist jetzt, die Kontrolle über ihre Existenz selbst zu übernehmen, diese ihrer Mutter, die sie mit ehrgeiziger Sorgfalt seit ihrer Geburt
ausgeübt hat, zu entziehen. Mit Hungern will sie der erstickenden Vereinnahme durch ihre Mutter entkommen. Sie
will jetzt ihre Ernährung kontrollieren, um ihren Körper nach eigenem Gutdünken zu gestalten, ihn zu ihrer eigenen
Schöpfung zu machen, und nicht die ihrer Mutter. Die Zeichen stehen jetzt auf Enteignung der Mutter. IC will sich aus
der Funktionalisierung lösen. Den Körper über Hungern mager halten, auf den Leib zu verzichten, im leiblosen Körper
leben, also der pathologische Weg, scheint die einzige Möglichkeit, selbst die Kontrolle in die Hand zu nehmen. Die
Waage steht symbolisch dafür, dass Hungern und Magerkeit das einzige mutterfreie Territorium ist, das IC bleibt. Lilly
Lindner, die als Kind vergewaltigt wurde, hat es in ein eindrückliches Bild gefasst: „Auf der Waage kann man nicht
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vergewaltigt werden“.
Indes so einfach lässt sich die Mutter nicht enteignen. Dass sie die Waage, die sie ihrer Tochter geschenkt hatte,
wieder zerschmettert zeigt, sie ist auf den ‚Weihnachtsmann’ hereingefallen und hat nicht bemerkt, wie die Waage zu
ICs Verbündete im Kampf gegen sie geworden ist. Das kann Magdeleine nicht zulassen. Was wird IC tun?
Es ist etwas zu befürchten. Wie ein Blick in die ProAna-sites zeigt, gehört es zu den Besonderheiten der anorektischen Logik, dass viele Erkrankte das eroberte mutterfreie Terrain letztlich auch wieder an die Mutter abtreten. Dazu
muss man wissen, dass ›Freundin‹ Ana, so nennt sie sich, mit ihrem Auftreten an die Mütter Esskranker erinnert. Ana
wird als Göttin der Hungerreligion bezeichnet. Die dort zu hörende besitzergreifende Bemerkung: »Ich habe dich ge48
schaffen, dieses dünne, perfekte, seine Ziele erreichende Kind. Du gehörst mir«, legt diesen Eindruck nahe. Wir
hören später etwas Ähnliches von ICs Mutter.
46
Gemäß der Buchstabenfolge: A-n-o-r-e-x-i-e
Lindner, L. (2011): a.a.O.
48
ibid.
47
14
Man kann sich dieses Phänomen mit dem Wiederholungszwang erklären: Magersüchtige kennen es nicht anders.
Ein weiteres Motiv ist, die Magersüchtige möchte von ihrer Mutter nach wie vor geliebt werden. Und so auch IC. Sie
möchte von der Maman jenseits der Depression geliebt werden und überdies nicht zu schwer für ihren Papa sein,
damit dieser keinen ‚Krampf’ bekommt. Und darum ist IC gezwungen, trotz Enteignung der Mutter, ihr ihren alten
Wunsch zu erfüllen: Kind bleiben. Für uns heißt das, das Hungern beinhaltet eine Regression: IC will sich weder den
pubertären und später auch nicht den adoleszenten oder erwachsenen Körper aneignen, sondern will einen präpubertären, einen prämenstruellen Körper haben. Aber einen Kindkörper zu haben ist nicht nur ICs Ziel, sondern Ziel aller
Magersüchtigen, weil sie Angst davor haben, Frau zu sein. Es lohnt sich immer, diesem Moment in der Behandlung
nachzugehen und zu erforschen, ob es nicht wie bei IC einen entsprechenden Auftrag der Mutter gibt, z.B. aus Konkurrenzgründen – wehe, du liebst den Papa mehr als mich -, sei es, weil die Mutter eine erblühende Tochter fürchtet, sei
es, weil die Tochter die Konkurrenz mit ihrer Mutter scheut.
Jetzt, in der Pubertät wird folgenreich eine Weiche gestellt. Hungern wird zum neuen Lebensinhalt. IC hat die für
sie wichtigen Motive für die Weichenstellung genannt. Lilly Lindner vermag in ihrem Buch dazu einen übergeordneten
Gesichtspunkt darzustellen. Sie kennzeichnet den Hunger und die beginnende Essstörung als ein Abwehrsymptom und
damit als Abwehrerkrankung. Sie schreibt, sie habe ein „Geheimrezept“ um nicht „durchzudrehen“: „Ich schaffe mir
ein neues Problem, das groß und schrecklich genug ist, um an erste Stelle zu stehen, und beschäftige mich in jeder
freien Minute, in der andere schlimme Dinge meine Seele plagen könnten, nur damit: Nichtessen. Essen. Erbrechen.
49
Verhungern. Das macht unglaublich viel Spaß“. Der Hunger wird zum „neuen Problem“ auserkoren, um mit ihm
ältere unangenehme Erinnerungen zu verdrängen. Das „neue Problem“ hat einen großen Vorteil: Der Hunger ist das
einzige „Objekt“, von dem Lilly das Gefühl haben kann, es unter Kontrolle zu haben. Den Hunger kann sie bezwingen,
von ihrem Vergewaltiger wurde sie bezwungen. Deshalb ist das Hungern so zentral und so therapieresistent. Damit
hat der „Hunger“ als Mittel der Kontrolle aber eine Vorgeschichte, ist als „neues Problem“ nur ein altes in neuem
Gewand. D.h., das Hungern ist keine neue, sondern eine Folgeerkrankung und nicht zu verstehen ohne seine Vorgeschichte. Der Hunger ist eine Abwehr gegen alle unverdaulichen Erlebnisse mit Personen und dem eigenen Körper.
Hungern ist ein Versuch der Traumabewältigung und mithin ein Versuch der Selbstheilung. Mit ihm gilt es ein anderes/
früheres Problem in Schach zu halten. Bei Lindner war das Trauma die Vergewaltigung und der ignorante Umgang
ihrer Eltern damit, bei IC war das Trauma die Depression ihrer Mutter.
Beide Bücher, sowohl das von Caro wie das von Lindner räumen gründlich sowohl mit dem alltagsklinischen Mythos auf, Magersucht sei eine Erkrankung an falscher Ernährung, als auch mit dem, Magersucht sei eine Erkrankung,
die erst in der Pubertät beginne. Sie zeigen, ihr Beginn und ihre ätiologischen Wurzeln liegen in der Kindheit, also
avant la lettre.
Sieg und Triumph,
Nicht nur die Körper-Leib-Konstruktion, auch die auf das Körperselbst aufbauende narzisstische Entwicklung, das
Selbstwertgefühl des Kindes wurden durch die Fixierung an die elterliche Kindimago beschädigt. Die Kranken konnten
als Kinder keine Omnipotenz imaginieren und ausprobieren, unerlässlich jedoch dafür, auf sie später verzichten zu
können. Der Narzissmus ICs erfuhr außer in der Frühphase keine genügende Zufuhr mehr und sie konnte demzufolge –
wie bereits erörtert - nicht erleben, auf andere Personen Einfluss nehmen zu dürfen oder zu haben. Dies ist einer der
Gründe, weshalb später die omnipotente Einflussnahme auf den Hunger für die Anorektikerin so immens bedeutsam
wird. Hungerkontrolle soll das früh beschädigte Selbstwertgefühl reparieren. Und darum geht es bei ProAna auch nur
vordergründig um Magerkeit. Vornehmlich geht es um den verbissen zu führenden Kampf gegen den Hunger. Magerkeit als Ergebnis dieses Kampfes wird zum Siegeszeichen stilisiert. Thinspos und Anstecker mit der Aufschrift »Think
thin« promovieren zum Hungerbezwingungssymbol. ProAna ist für Magersüchtige so attraktiv, weil die Websites dazu
50
›inspirieren‹ , wie der ‚Hunger’ zu bezwingen sei und man sich den Sieg sichern kann. ProAna verspricht mehr als
einen dünnen, scheinbar sexy Körper, sie verspricht codiert Triumph und Macht, d.h. narzisstische Befriedigung. Da
die aber jeder für sein Selbstwertgefühl benötigt, geht es bei ProAna nicht um’s Erzeugen falscher Bedürfnisse, sondern um den Missbrauch von seelischen Alltagsbedürfnissen, um eine verquere Hungerideologie durchzusetzen. Diese
Verheißung von narzisstischem Gewinn ist das absolut Verlockendste und macht so therapieresistent.
Der Hungerteufel
Wer aber ist der Hunger? ProAnas Kredo lautet: Der Hunger ist für jede Magersüchtige der Teufel, weil er zum Essen verführt. In welche Not Magersüchtige mit dem Hunger kommen, zeigt folgende Stelle: „Und dann sage ich das,
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Lindner, L. (2011): a.a.O.
‚Inspirieren’ ist ein zynischer Euphemismus. Tatsächlich handelt es sich um stereotype Zwangsmassnahmen, die einzuhalten sind, will man
dazugehören.
50
15
was ich niemals sagen durfte, das, was ich meinem Körper niemals zugestehen konnte. Das, was ich mir ausdrücklich
verboten habe, und das, was mich so grausam in meine leeren Zwischenräume verbannt hat. […] Aber ich sage es
doch: »Ich habe solchen Hunger«. Die Tränen, die mir dabei in die Augen schießen, sind salzig, sie brennen schlimmer
als alle zuvor. Etwas zerbricht in mir, etwas zersplittert; ich spüre die nackten Scherben in jede Faser meiner Haut
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stechen - scharfkantig und wütend.“ Hunger haben ist so gefährlich, weil er zur Befriedigung des strikt abgewehrten
Wunsches verführt, ‚Made im Speck’ zu sein, das Feindbild aller Magersüchtigen. Dieses Feindbild sieht sie im Spiegel.
Der Spiegel ist für die Magersüchtige jedoch keine Reflektionsfläche, sondern Leinwand und auf diese projiziert sie
ihren Wunsch. Sie sieht nicht ihren Körper, sondern ihren abgewehrten Wunschkörper und ist angesichts ihres Wunsches entsetzt. Insofern muss man die Körperbildstörung präzise bestimmen und nicht einfach von gestörtem Körperbild sprechen, denn die Magersüchtige sieht sich realistisch, aber sie nimmt anachronistisch wahr. Sie sieht die Adipöse von früher. Hieraus ergäbe sich für eine Therapie viel Gesprächsstoff.
Für die Anorexie ist der Hunger, allgemeiner gesagt: die Gier der verführerische Teufel. Ihn gilt es zu bezwingen.
Hungern heißt: Maîtriser le corps. Die Anorektikerin hat eine Phobie vor dem Hunger(teufel). Ißt sie nicht, hat sie den
Teufel bezwungen. Das ist der Triumph der Anorexie. Ihren abgemagerten Körper nimmt sie als Trophäe für ihren Sieg
über den Hungerteufel. Sieg und Triumph befriedigen ihr asketisches Ichideal. IC hat mit beginnender Pubertät, sie
war 11, in der es allmählich zur notwenigen Umstrukturierung des Ichideals kommen sollte, da die Eltern hierfür sich
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nicht mehr eignen, Thérèse de Lisieux zur bevorzugten Heiligen, also ihrem Ichideal, gewählt. Dass IC sich mit ihr gut
identifizieren konnte, ist verstehbar, sagte die Heilige doch von sich, sie wolle sich selbst vergessen, um anderen eine
Freude zu machen; von da an sei sie glücklich gewesen. Sich selbst vergessen musste IC auch, damit ihre Mutter nicht
weinte.
Das Ich will sein Ideal bewundern, aber – das Ich will auch von seinem Ideal bewundert werden, eine Gesetzmässigkeit, die sich in jeder Seele finden lässt. Ich erinnere an Magdeleine, die ihren Schlagerbarden bewunderte,
aber überglücklich war, als er von der Bühne aus nur sie sah. Ob das wirklich so war – natürlich nicht – spielt keine
Rolle. Entscheidend ist, Magdeleine hat es sich eingebildet und so erlebt. In dieser Beziehung ist Psychoanalyse eine
nomothetische Wissenschaft. Wem das nicht behagt, der nehme einfach die schöne Fehlleistung eines jungen Mannes, der zu seiner Angebeteten (seinem Ideal) im Rausch der Verzückung sagt: „Ich bin dein Idol“ (wohlgemerkt nicht:
„Du bist mein Idol“). Und bei IC war das nicht anders. Ich hatte schon länger den Eindruck, IC wollte ein Jesulein sein.
Thérèse de Lisieux hat ihr ganzes Leben dem vom ihr bewunderten Jesus geopfert. Voilà! IC hat sich den verlorenen
Glanz im Auge ihrer Mutter jetzt über Thérèse (Mutters Nachfolgerin im Ichideal) zurückgeholt.
ICs absolutes Gegenideal war ihre Tante Jacotte, die viel zu groß war und zuviel aß. Sie ist ICs „l’horreur absolue“
und schwörte sich aufzupassen, damit ihr eine solche Schande niemals widerfahre. Ihre Mutter verehrte übrigens die
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Mystikerin Marthe Robin , die sich über Jahrzehnte nur mit einer geweihten Hostie ernährte.
Hungert die Magersüchtige, steht sie außerdem im Einklang mit ihrem Gewissen, mehr noch: sie wird von ihrem
Gewissen geliebt. Das macht stark. In der Askese erfährt sie die ganze (homoerotische) „Liebe“ Anas, ihres Gewissens;
ihr Ich befindet sich im Einklang mit dem Ichideal/Überich-System. Der Teufel ist besiegt: „Das ist ein Anfang, dann
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kann ich mich wieder in Richtung vierzig (Kilo, T.E.) bewegen. Dann wird alles gut“ , sagt Lindner. Sie hat ein gutes
55
Gewissen. Dann sind die Tage mit Ana „die stärksten und mächtigsten Tage“ , d.h. die Magersüchtige wird „beflügelt“, also hypomanisch. Dafür opfert sie bereitwillig ihre Gesundheit.
Wenn IC betont, ihre Kilos verlöre sie nicht aus ästhetischen Gründen, so stimmt das nur für ihr damaliges Alter.
Fraglos möchte sie wie alle Magersüchtigen sexuell attraktiv sein, aber nicht in dem Sinne, was wir heute mit sexueller
Attraktivität der Schlankheit verstehen. Sie will nicht auf Männer wirken, weil sie körperliche Enteignung fürchtet. Die
Magersüchtige will ihrem Ichideal gefallen und versucht das über ihre Knochenerotik. So wollen alle Thinspos Ana
gefallen. Die Bildergalerien sind eine einzige Werbung um Ana, um deren Anerkennung und Liebe. So wie die Schlankheit auch ist die Magerkeit nur eine weitere Blüte auf dem Baum der beiden derzeit vorherrschenden gesellschaftlichen Tendenzen nach Idealität und Perfektion.
Gibt man hingegen dem »Ich habe solchen Hunger« nach, begeht man ProAna zufolge eine schwere Regelverletzung. „Ana starrt mich an, aus rabenschwarzen Augen. Tag für Tag hat sie mir die Regel Nummer eins erklärt:
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Wir haben keinen Hunger! Hörst du? Niemals! Wir haben keinen Hunger!“ Das ist der magische Versuch, den Teufel
Hunger zu bezwingen und damit jeder Verführung vorzubeugen. Der Hunger soll keine Chance bekommen. Ebenso
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magisch sollen Sexualität, Gier, Hoffnung, „das große Sehnen“ verleugnet werden, denn Ana fordert Askese.
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Vgl. Lindner, L, 2011): a.a.O.
Thérèse de Lisieux (1873-1897) verstand ihren Lebensweg als einen Weg der Hingabe an Gott und die Mitmenschen. Ihr eigenes Leben war die
unauffällige, von der Welt kaum bemerkte Existenz einer in Klausur lebenden Ordensfrau.
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Marthe Robin (1902-1981) mit 28 Jahren aufgrund verschiedener Erkrankungen nichts mehr schlucken und außer der Kommunion keine Nahrung
mehr zu sich nehmen.
54
Lindner, L. a.a.O.
55
ibid.
56
ibid.
57
ibid.
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16
Verletzt die Magersüchtige die Regel, muss sie befürchten, „dass die Stimmen in meinem Kopf anfangen, mich zu
58
beschimpfen, und Ana sich mit mörderischem Blick auf mich stürzt“ . Es gibt also erhebliche Konflikte mit dem Gewissen und dem Ichideal und man muss fürchten, deren Liebe zu verlieren und fallen gelassen zu werden. Die Patienten
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fühlen sich schuldig und schwach, werden depressiv. Lilly muss verzweifelt betteln: »Ana, Ana, verlass mich nicht«.“
Das erinnert alles an das Ausgehverbot, das ICs Mutter über sie verhängte. Der Überichtreue wegen fühlen sich Magersüchtige oft morgens eher stark und bei guter Laune, abends hingegen depressiv, wenn sie tagsüber etwas gegessen haben, zumal Essen nicht nur Liebesverlust bedeutet, sondern auch eine Niederlage im Kampf gegen den Teufel
und die ist eine Katastrophe für das Selbstwertgefühl, weil sie eine Schande wäre. Das Ich schämt sich dann vor seinem Ideal, im Fall IC wäre sie wie Tante Jacotte geworden, die vor der heiligen Thérèse nicht bestehen kann. So beginnen Depressionen. IC hat außerdem einen Verlust solcher Liebe schon lange vor ihrer Pubertät hinnehmen müssen
- immer dann, wenn ihre Mutter Pflegekinder hatte. Wie sehr sie sich verlassen fühlte und ihr Körper-Selbstwertgefühl
dabei absank, hat sie beschrieben. Dem Hunger widerstehen hieß einst «Non, je préfère rester à la maison». Damals
hat sie dem verführerischen Angebot ihres Vaters – jetzt der Teufel - zum Ungehorsam gegen die Mutter widerstanden. All dies geschah bereits avant la lettre. Ab jetzt dient Hungern der Stabilisierung des Selbstwertgefühls, und
ihn zu bezwingen übernimmt im Seelenleben ICs eine zentrale Rolle. Hungern wird fortan für sie zum stärksten Lebensmotiv.
Mit anderen Worten: Die Hungerideologie beinhaltet die partikulare Moral der Anorektikerin. Hungert man, befindet man sich auf der moralisch guten Seite. Man ist Asket, absolut unabhängig, ganz ohne Gier, ohne Aggression
und damit besser als die anderen. Aus diesem Status wird viel Stolz, also narzisstischer Gewinn bezogen. „Wir können
nicht ausdrücken, was uns wirklich bewegt, wir können nicht erklären, woher die große Sehnsucht kommt. Und unsere
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Seelen in unseren Körpern halten können wir auch nicht – aber hungern, das können wir!“
Studiert man ProAna, kann man sich von den sozial-distinktiven Motiven überzeugen. Man will sich strikt von allen unterscheiden, die essen, also gierig und aggressiv sind und damit die Verlierer im Kampf mit dem Teufel. Sie trifft
die volle Verachtung, die bisweilen fanatische Züge abnehmen kann. Ich kann aber nur Asket und einzigartig sein,
wenn um mich herum gegessen wird. Darin liegt das Geheimnis, warum Anorektiker so gern für andere kochen und
warum unter den Kranken heftige Eifersucht und Rivalität herrscht. »Sieh anderen beim Essen zu und fühl dich überlegen! Sind sie nicht alle schrecklich fett? Keiner von ihnen hat soviel Kontrolle über seinen Körper wie du! Du bist
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besser als alle anderen.« Das Ichideal wird unrealistisch hochgepuscht und den Magersüchtigen das Gefühl vermittelt, zu den Auserwählten, zum Exklusivclub Pro Ana zu gehören. Anonyme Chatrooms anerkennen und loben selbstmörderisches Essverhalten: »Bleib stark, höre nicht auf die anderen. Die sind doch nur neidisch auf Deine Stärke, Deinen Willen, Deine Schlankheit«. Tatsächlich jedoch wird nur aus der Not eine Tugend gemacht.
Vor dem Hintergrund dieser anorektischen Logik verliert der Satz: ‚Hunger macht stark’ oder ‚Essen macht
schwach’ sein Rätselhaftes. Beide Befindlichkeiten alternieren je nach dem Füllungsstand des Magens. Essen ist für
das Seelenleben lebensgefährlich, sagt die anorektische Logik. Der sogenannte ‚gesunde Menschenverstand’ sagt:
Hungern ist lebensgefährlich.
Eigentlich möchte IC Lust haben zu essen, um nicht ständig müde zu sein. Aber seit Monaten spüre sie eine Gegenkraft, die die Lust verhindere. Gleichzeitig jedoch und widersprüchlich, wie IC auffällt, übt sie Kontrolle aus, um
ihrer Mutter zu gefallen, ihr zu zeigen, sie unterwerfe sich deren Aufforderung zum Verzicht: kein Draußen, keine
Kontakte zu Gleichaltrigen, kein Vater. Denn, so IC, alles was sie täte, gälte ihrer Mutter, damit diese sie weiterhin
liebe, trotz jener Kräfte, die in ihrer Anatomie wirksam seien. Sie fürchtet wegen der unausweichlich beginnenden
62
Pubertät die Liebe der Mutter nun endgültig zu verlieren. „Ich kann weder mit ihr noch ohne sie leben“ Mit ihr kann
sie nicht leben wegen der Depression, ohne sie nicht, weil sie sich dann einsam fühlen müsste. »Ana, Ana, verlass mich
nicht.« Später wird IC in eine ähnliche Falle geraten: Wird sie gesund, verliert sie ihren auf ihrer Krankheit beruhenden
Ruhm
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Ihre Tante Jacotte, Schwester der Mutter und Krankenschwester , macht ihre Mutter darauf aufmerksam, IC sei
an einer Anorexie erkrankt und fügt hinzu, in der Pubertät sei das nicht selten. Ihre Mutter antwortet kategorisch, IC
sei noch nicht in der Pubertät, zieht dann aber irritiert ein Lexikon zu Rate, um festzustellen, ihre Tochter habe keine
Anorexie, weil sie nicht den Appetit verloren habe, sondern sich weigere zu essen. Dieses Phänomen findet man häufig in den Lebensgeschichten von Magersüchtigen: Die Eltern sind die Letzten, die die Magersucht bemerken wollen
und sich hartnäckig gegen die unangenehme Tatsache sperren. Bei ihnen darf man nicht ‚zu Hilfe’ rufen, sondern muss
58
ibid.
ibid.
60
ibid.
61
freewebs.com
62
Je ne peu vivre ni avec elle ni sans elle
63
Ich scheue mich nicht, diese Berufswahl als unbewussten Versuch zu interpretieren, den an Polio erkrankten Bruder zu betreuen, sei es, um die
Aggression gegen ihn wiedergutzumachen, sei es, um die Liebe der Eltern zurückzugewinnen.
59
17
‚Feuer’ brüllen, damit sie zum Fenster eilen. Die Großmutter brüllt ‚Feuer’ und irritiert gewaltig die mütterliche Logik.
Sie erzählt von einem anorektischen Mädchen, das gesund wurde, als seine Mutter starb. Das saß! Magdeleine entrüs64
tet zu IC: „«Du willst meinen Tod, gell, das ist es, was Du willst! » Die Thematik spitzt sich zu. Magdeleine gerät in
Bedrängnis. Jetzt hat sie nicht mehr nur das öffentliche Beschämen durch ihre Tochter, sondern auch noch den Muttermord zu fürchten.
Auch das ist wesentlicher Bestandteil der Psychodynamik der Essstörungen. Oft fragen die Mütter ihre Töchter,
65
wenn diese sich so mager präsentieren oder aggressiv essen, in anklagendem Ton: „Warum tust Du mir das an?“ Die
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Mutter öffentlich zu beschämen ist Rufmord, mithin gleichbedeutend mit Muttermord .
An einer Stelle berichtet IC, sie geniere sich angesichts des gierigen Essens ihrer Mutter, vor ihrer Mutter zu es67
sen, als wäre das ein obszöner Akt . Eine ungewöhnliche Formulierung! Für den Begriff obszön gibt es Synonyme wie
unschicklich, frech, verdorben, aber auch schmutzig, schlüpfrig, schamlos. Man kann sagen, etwas Obszönes ruft in
der Regel Entrüstung hervor. Man könnte also vermuten, IC zeige mit dem Essen ihre Wollust, ihre Gier oder ihren
Kontrollverlust und fürchtet Mutters Missbilligung, weil diese Kontrolle gepredigt hat. Bisweilen dient das Obszöne
aber auch der Beleidigung von Personen, die höhergestellt sind oder als solche erlebt werden. Wenn IC sich vor ihrer
Mutter zu essen geniert, weil das ein obszöner Akt sei, hat das etwas mit ihrer Mutter zu tun, die sie streckenweise zur
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allmächtigen und bewunderten Gottheit erhebt. Nimmt IC die Entrüstung ihrer Mutter vorweg, wenn sie in deren
Anwesenheit essen würde? Fürchtet sie, ihr Essen könnte ihre Mutter als Beleidigung auffassen? Das Obszöne am
Essen könnte also etwas mit Rufmord, also Muttermord zu tun haben.
Wie das? Man darf davon ausgehen, Nahrungsmittel sind im Unbewussten Stellvertreter für Personen, namentlich der Mutter. Bei einem Kindergarten- oder Schulausflug packen die Kinder nach dem Abschied von den Müttern
erstmal ersatzweise Butterbrote und Süßigkeiten aus, um die Trennung zu kompensieren. Bei einer Totenmahlzeit
wird der Verstorbene verspeist und die Christen legen sich eine Hostie als den Leib Christi auf die Zunge. Wenn IC sich
also Nahrung in den Mund schiebt, könnte sie unbewusst ihre Mutter zwischen die Zähne nehmen. Da auch ‚tierisch’
ein Synonym für obszön ist, könnte man sagen, sie frisst ihre Mutter. Manchmal sind es unscheinbare Bemerkungen,
die, plötzlich bedeutsam, zu Hilfe kommen. So schreibt Stefanie Rosenkranz im Stern, IC wirke, „als fletsche sie die
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Zähne, wenn sie den Mund aufmacht“. Stellen wir uns also vor: IC sitzt ihrer Mutter gegenüber und fletscht die
Zähne vor dem Angriff.
Vergegenwärtigt man sich dabei, dass der Verdauungsvorgang bei den Zähnen beginnt, so muss die Mutter zusehen, wie sie der Verdauung zugeführt wird. Und an dessen Ende bleibt nichts Göttliches übrig. Kein Wunder, dass sich
IC geniert.
Die Verdauungsstörung
Um die Logik einer Essstörung zu verstehen, ist es ratsam, sich klarzumachen, dass es sich bei dieser Erkrankung
genau besehen um eine Verdauungsstörung handelt. Die Patienten wissen über das Essen und auch dessen Zubereitung oft bestens Bescheid und kochen lustvoll für andere opulente Mahlzeiten, ohne selbst einen Bissen davon zu
kosten. So auch IC, die gerne für andere eine Dorade mit Fenchelgemüse zubereitet. Ebenso lustvoll nehmen sie dann
an deren Essgier Anteil, während ihr ganzer Stolz der eigenen Enthaltsamkeit gilt.
Es ist insbesondere die Bulimie, die sichtbar vorführt, dass es um eine Verdauungsstörung geht. Sie bricht den
Verdauungsvorgang durch Erbrechen ab, was sie von der Anorexie unterscheidet, die einen Verdauungsvorgang erst
gar nicht zulässt. Aber hören wir IC: Der Bissen im Mund sei nicht ihr Problem, sagt sie. Aber das Herunterschlucken!
Ihre Gurgel ziehe sich zusammen, sie habe ein Kloßgefühl im Hals und nachdem sie runtergeschluckt hätte, bräuchte
sie so etwas wie einen Flaschenreiniger. Manchmal habe sie auch das Gefühl, als müsse sie zerbrochenes Glas herunterschlucken oder fühle sich aufgeblasen, als sei ihr Bauch unermesslich gebläht. Demzufolge vermeide sie einen
zweiten Bissen. Deutlicher kann man es kaum sagen: Die Angst vor dem Verdauen verhindert den zweiten Bissen, d.h.
die Nahrungsaufnahme. Das Verdauen und die sie begleitenden Körperphantasien nehmen das ganze Seelenleben der
Kranken in Anspruch. Sie sind meist phobischer Natur, können bei länger anhaltender Krankheit hypochondrisch werden und kreisen darum, was das Essen (die verschlungene Mutter) im Körper anrichtet und wie es (sie) wieder hinausbefördert werden kann. Darum habe ich die Essstörungen als Phobie bzw. Paranoia verstanden, denn deren typische
Abwehrmechanismen: Vermeidung und Verschiebung werden jetzt auffällig.
Da der Verdauungsvorgang die Entwertung der Mutter bedeutet, macht er Schuldgefühle. Er wird als obszön
empfunden und erzeugt das Gefühl, sich beschmutzt zu haben, worüber alle Bulimikerinnen klagen. Es folgen schwere
Selbstvorwürfe und Verurteilung durch das Gewissen (Überich), Vorgänge, die die Merkmale der Depression zeigen.
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Tu veux ma mort, hein, c’est ce que tu veux!
Vgl. Ettl, Th. (2001/2013): a.a.O.
66
ibid.
67
Cela me gêne de manger devant elle, comme si c’était un acte obscène.
68
La divinité toute-puissante et adorée
69
www.stern.de/lifestyle/leute
65
18
Danach kommt die Angst vor der Rache der Mutter, die mit Einsamkeit und Verlassenwerden drohen könnte. Diese
Angst bewirkt, dass das entwertete Objekt Mutter entweder mental oder real durch Essen wieder ins Körperinnere
aufgenommen wird, um sich nicht einsam fühlen zu müssen, was die Wiederholung der Fressanfälle erklären könnte.
Es wird auch verständlich, warum der Hunger zum Teufel wird, denn er ist der Verführer zum Verdauen und damit zur Entwertung durch fäkalisieren. Es ist bezeichnend, dass manche Patienten das Entwerten abmildern möchten,
indem sie entweder vom Haltbarkeitsdatum her abgelaufene, also schon entwerte Nahrung verzehren oder z.B. aus
dem Mülleimer Essbares zusammensuchen. Das mildert die Schuld wegen der Zerstörung. IC, die als Erwachsene
manchmal nachts durch Paris streifte, liebäugelte in solchen Momenten mit Clochards (den Entwerteten), denen sie
sich nahe fühlte (man ist, was man isst) und stöberte in den Mülleimern nach Essbarem, kaute darauf herum und
spuckte es wieder aus. Das sind depressive Vorgänge. Das verlorene oder entwertete Objekt wird häufig von der
Straße aufgelesen, um den Verlust rückgängig zu machen.
Versteht man eine Essstörung als Verdauungsstörung, verdeutlichen sich Unterschiede zwischen den einzelnen
Formen der Erkrankung. Dass es bei Essstörungen nicht um die Nahrung geht, sondern um ihre Bedeutung als Mutterersatz, hat Auswirkungen auf das Esssymptom. Immer wieder erzählen Bulimikerinnen, ihre Mütter hätten schnell
gekränkt reagiert, hätten ein beleidigtes, eiskaltes, und unerbittliches Gesicht aufgesetzt und mit Beziehungsabbruch
gedroht oder ihn vollzogen, indem sie tagelang nicht mit ihren Töchtern sprachen, hätten sie als Töchter nicht den
Vorstellungen ihrer Mütter entsprochen. Die Kränkbarkeit lässt auf ein instabiles Selbstwertgefühl schließen, also eine
narzisstische Bedürftigkeit bei der Mutter, die das Kind zuallererst durch Wohlverhalten zu befriedigen hat. Andernfalls ist die Mutterehre in Gefahr. Eine gekränkte Mutter jedoch macht weniger Schuldgefühle, sondern macht wütend. D.h., der Einspruch des Überichs ist gering, die Wut kann sich entladen. Die Bulimikerin gestattet sich gieriges,
wütendes Essen, denn sie sagt sich: „… die hab’ ich gefressen“, wenn die Mutter sie geärgert oder kalt hat abfahren
lassen. Darum habe ich ihre Fressanfälle immer als Wut- und Jähzornsanfälle verstanden, bei denen sie aus Wut unbewusst ihre Mutter frisst. Anders als die Anorexie hungert die Bulimikerin nicht. Ihr ganzes Auftreten zeigt wegen
ihres Protestes gegen die Mutter und die geringe Beteiligung des Überichs eine viel größere Triebfreundlichkeit als das
der Anorektikerin, die Asketikerin sein will. Erst wenn die Nahrung sich im Verdauungskanal befindet, muss die Bulimikerin diesen Vorgang rückgängig machen, weil Verdauen entwerten und zerstören bedeutet und sie heftige Schuldgefühle bekommt. Sie will das Verdauen/Zerstören auch ungeschehen machen aus Angst vor der Rache der angegriffene Mutter, die auch Schutz und Versorgung bietet, mit der oben beschrieben Angst vor Einsamkeit und Verlassenwerden. Die Phantasien der Bulimikerin, was das Essen in ihrem Innern anrichten könnte, sind diesbezüglich recht
eindeutig. Es sind dieselben, die auch IC beschreibt, wenn sie gegessen hat. Bulimie und Anorexie unterscheiden sich
hier nicht.
Die Kränkbarkeit der Mutter ist aber kein schichtspezifisches Merkmal, weshalb alle Versuche, die Bulimie
schichtspezifisch zu verorten, fehlschlagen. Und so verhält es sich auch mit der Anorexie. Die Mutter einer an Anorexie
Erkrankten ist häufig depressiv – auch keine schichtspezifische Erkrankung. Aber eine Depressive provoziert beim
Gegenüber, hier dem Kind, eine andere Reaktion/Gegenübertragung als eine Kränkbare. Nicht Wut herrscht vor, sondern schwere Schuldgefühle und Verzicht auf alles Eigene. Bei Kindern kommt die Angst vor Einsamkeit dazu, weil ihre
Mütter für sie emotional nicht erreichbar sind. Und deshalb tendiert das Gegenüber dazu, den Depressiven zu schonen. IC hat das immer wieder beschrieben und auch, wie dominant die Depression werden kann.
Man kann also sagen, bei der Bulimikerin erfolgt der Einspruch des Überichsystems erst, wenn sie gegessen hat,
also ‚hinter dem Mund’, weshalb sie sich dann den Finger in den Hals steckt. Bei der Magersüchtigen erfolgt der Einspruch bereits ‚vor dem Mund’ und erlaubt dem Essen erst gar keinen Zutritt zum Verdauungsvorgang. D.h. die Mutter
wird nicht angerührt, sie wird vor der Entwertung geschont. Es kommt zu einer strikten Kontrolle der Nahrung, die
dann konsequent das Thema Hunger ins Spiel bringt. Der Hunger wird zum inneren Objekt, dem die ganze Aufmerksamkeit gilt. Bei der Anorexie geht es nur noch darum, diesen verführerischen und deshalb als gefährlich und böse
erlebten Hunger zu kontrollieren und zu bezwingen. Die Kranke will endlich selbst Macht haben. Die angesichts der
dominanten mütterlichen Depression empfundene Ohnmacht soll sich in der Beziehung zum Hunger ins Gegenteil
wenden. Die Dominanzverhältnisse sollen sich ändern. Darum das Entsetzen der Anorektikerin bei der kleinsten Gewichtszunahme – Machtverlust droht.
Mit anderen Worten: Von den narzisstischen Ansprüchen der Elternobjekte und späterer Interaktionspartner erdrückt, versuchen die Kranken ersatzweise über einen triumphalen Sieg über den Hunger, Repräsentant der einst
traumaverursachenden Personen, den eigenen beschädigten Selbstwert zu reparieren und ihr narzisstisches Gleichgewicht zu finden. Sieg und Triumph geben dem Selbst das Gefühl omnipotenter Kontrolle. Kontrollverlust hingegen
wird stets als Niederlage und Ausgeliefertsein empfunden. Darum werden Kontrolle, Unabhängigkeit und Triumph
zum einzigen Lebensinhalt – von ProAna zum Lifestyle stilisiert. Die Reduktion auf die Hungerkontrolle sensibilisiert für
alle damit verbundenen Themen und desensibilisiert für alle anderen Lebensbereiche. Ist alle Aufmerksamkeit vom
Kalorienzählen und Austüfteln von Sportplänen gebunden, wie Anas Credo fordert, sind Sorgen, Ängste, Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos.
19
Der Sport soll’s regeln
Magdeleine ordnet an, ihre Tochter solle Sport machen. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper - das sei
die Lösung. Ihr Vater jedoch drängt auf einen Klinikbesuch, weil man sie dort zwinge, zuzunehmen. Die schlimmste
Androhung für eine Anorexie, so IC.
IC darf zum Tanzunterricht und zum Kunsteislauf. Trotz ihrer 13 Jahre wird sie zum Debütantenkurs eingeteilt. Die
Kinder dort sind 7 bis 8, manche 10 Jahre alt. IC überragt sie um Kopfgröße, ihr Körper erscheint ihr im Vergleich zu
den anderen monströs, disproportioniert. Ihre Mutter verlangt nach wie vor, sie solle sich das Gesicht bandagieren,
dürfe den Schal aber auf der Eisfläche ablegen, obwohl es dort kälter war als draußen. Beide Sportarten zusammen
überfordern das magere Mädchen und man rät ihr, eine Sportart fallen zu lassen. Ihre Mutter entscheidet: IC bleibt
beim Eiskunstlauf, obwohl sie dort friert und ihr die Beine wehtun. Ihr Vater bringt ihr das Schwimmen bei. Dass dort
alle ihren mageren Körper sehen können, schmerzt sie, doch das Wasser und die Leichtigkeit, die es ihr vermittelt,
gefällt ihr. Ihre Mutter nimmt sie mit nach Giverny, um den Garten von Claude Monet zu besichtigen. Im Restaurant
bestellt Magdeleine einen Crêpe. Zwei sind zu teuer. IC meint, das täte sie immer so. Im Lokal müsse sie sich mit ihrer
Mutter immer einen Teller teilen, d.h., sie darf sich nicht über Mutters ‚Tellerrand’ hinaus bewegen.
Mittlerweile hat die Krankheit ihren Ort im Alltag gefunden. Für ihren Vater sei sie Gegenstand unerschöpflicher
Konversation, in der er sich als Opfer sieht. Ihre Mutter instrumentalisiere ihre Krankheit. Sie lamentiere über ihr Unglück als ergebene Mutter, die von einem kranken Kind heimgesucht werde. Einmal mehr, so IC, sei sie auf den zweiten Platz verwiesen.
Nun beginnt IC ihre Mutter zu füttern, denn diese sei zu mager, was ihr Angst mache. Sie koche für die Mutter
und ergötze sich daran, wie es ihr schmecke. Später schafft sie es, Hauptperson der Beschäftigung ihrer Eltern zu werden. Ihre Krankheit sei deren Kreuz, wegen ihr könne ihr Vater nicht mehr arbeiten. Sie gebe ihm ein praktisches Alibi,
und ihre Mutter könne unerschöpflich lamentieren. Solchem Lamentieren begegnet man in Büchern, die Mütter
manchmal über die Essstörung ihrer Töchter schreiben und sich dort als ‚ergebene Mutter, die von einem kranken
Kind heimgesucht wird’ präsentieren. Sie fallen unter das Kapitel: Mutter beschämt Tochter. IC sind solche Ausführungen zum Glück erspart geblieben.
Die Pubertierende
Beim Eiskunstlauf lernt sie andere Jugendliche kennen und entdeckt, sie weiß über die Sexualität nichts außer
dem, was sie bei den Pudeln der Mutter gesehen hat. Man reibe die Unterkörper aneinander. Zwei gleichaltrige Teenies gewinnt sie als Freundinnen. Die Mutter der einen arbeitet in einer Kosmetikfirma. IC klaut aus dem Porte70
monnaie der Mutter 100 Franc, um dort einen Großeinkauf zu machen und schminkt sich. Sie malt sich Rehaugen
und einen Puppenmund. Mama findet das vulgär. Sie sei viel zu jung für so etwas. Es ist wie damals, als ihr Vater sie
verführen wollte, das Haus zu verlassen, um mit ihm einkaufen zu gehen. „Non, je préfère rester à la maison“. D.h.,
der Kontakt zu anderen ist inzwischen gestört, weil sie sich ihre Wünsche verbietet muss und so keinen Anschluss
findet an die Wünsche anderer. Es kann zu keiner gemeinsamen Lust und damit auch zu keiner Befriedigung kommen.
Ihre Freundinnen sagen ihr, sie sei zu dünn, was sie als Kompliment versteht, weil es ihr eine Bestätigung ist, dem
verführerischen Essen widerstanden und sich unter Kontrolle zu haben. D.h. sie war ihrer Mutter gehorsam. Das sei
das einzige, was zähle. Aber sie spürt, es tut sich zwischen den anderen und ihr eine unsichtbare Wand auf und sie
kann nicht in Kontakt treten.
Es gehört zu den Merkmalen der anorektischen Logik, dass die Patienten kritische oder besorgte Bemerkungen zu
ihrem Körperzustand als Kompliment verstehen. Auf Pro Ana diskutieren die Mädchen über tolle Körper. Eine ‚Trauerfee' schwärmt von Kate Moss, dem Dauervorbild. Sie sähe so fertig und zerbrechlich aus, schreibt das Mädchen. Ein
Kompliment für die Anas. ‚Gesund’ aussehen ist Synonym für fett sein. IC erzählt, Ihre Mutter habe stets das Opfer, die
Privation und die Magerkeit vorgezogen. Deshalb: «Du bist zu mager» klingt in meinen Ohren wie «Du hast es ver71
standen der Versuchung zu widerstehen und dich zu kontrollieren.» Es zähle nur, was ihre Mutter meint. D.h., wenn
die Magersüchtige vor dem Spiegel bestürzt darauf hinweist, sie sähe so fett aus, so ist das reine Koketterie, auf die
alle reinfallen und wunschgemäß antworten: Nein, nein, Du bist viel zu dünn. Genau das will sie hören, sieht sie sich
darin bestätigt, ihre Abwehr funktioniert und ihr Gewissen/Mutter/Ana kann mit ihr zufrieden sein. Man ahnt, in welche Falle die neue Spiegeltherapie, die auf eine Veränderung des Körperbildes hinarbeitet, mit diesen Patienten gerät.
Der ganze Aufwand befriedigt die Patienten insgeheim, weil er eine Bestätigung ist, auf der sozial-distinktiven Seite
der Askese zu stehen. Je besorgter die Umwelt, desto größer die Gewissheit, gegen den Teufel gesiegt zu haben und
desto stärker das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Spiegeltherapie ist auch wieder nur ein Laborieren am
Symptom, die nicht berücksichtigt, dass ein jeder im Spiegel nicht nur die Realität sieht, sondern der Spiegel Projektionsfläche für alle Befürchtungen und alle Wünsche ist, die ein Subjekt hat und deshalb sich die Wahrnehmung des
Selbst im Spiegel je nach aktuellem Befinden richtet – und nach den Lichtverhältnissen. Wie einer Zeitungsmeldung
zu entnehmen ist, soll die Behandlung sehr anstrengend sein, für beide Seiten, aber offenbar vor allem für die Thera70
71
Zur Kleptomanie bei Essstörungen vgl. Ettl, Th. (2001/2013): a.a.O.
Tu es trop maigre» sonne à mes oreilles comme «Tu as su résister à l tentation et te contrôler.
20
72
peuten, denn die Kollegen würden dazu neigen, ihren Patienten zu sagen: „Reden wir lieber über Ihre Mutter.“ Aus
Sicht der Psychoanalyse wäre dies ein Kunstfehler, denn wir geben unseren Patienten niemals vor, worüber sie in der
Sitzung reden sollen. Einzig der Patient bestimmt das Thema der Stunde. Wohin das Thema dann läuft, muss man
sehen, vielleicht zu Mama, vielleicht aber auch ganz woanders hin. Ein pfiffiger Patient würde auf eine solche Vorgabe
übrigens sofort sagen. „Dann fangen Sie mal an!“
Von anderen Mädchen erfährt IC vom Erbrechen mit dem Finger im Hals. Und dann, mit knapp 14, gibt es un73
trügliche Zeichen, dass ihre Kindheit zu Ende ist. Sie entdeckt Blutspuren in ihrem Slip. Eine „schlechte Nachricht“ ,
die sie der Mutter vorenthält und sich lieber mit Toilettenpapier behilft. Drei Monate später lässt sich die Regel nicht
mehr verbergen. Tampons seien vulgär, so Maman. Um sie einzuführen, müsse man sein Genitale berühren und das
sei eine schmutzige Angelegenheit und deshalb auch verboten, es zu waschen. Nein, ganz schnell müsse man mit dem
Waschlappen darüberfahren und bloß nicht mit den Fingern berühren, so die Intimitätsregulation ihrer Mutter. Ihre
wachsenden Brüste presst IC mit einem Handtuch unter der Kleidung platt, Schamhaare rasiert sie ab. Sie wolle den
Bauch eines kleinen Mädchens haben, nett und sauber.
Die Familie steckt in finanziellen Schwierigkeiten, worüber sie sich sorgt und ihre Psoriasis breitet sich auf ihrem
Körper aus. Ihre Großmutter schickt Geld, damit sie ihren Violinunterricht, jetzt in Paris am Konservatorium Rachmaninov, fortführen kann. Sie verdient sich Geld, indem sie auf der Straße Geige spielt. Damit die Leute bloß nicht denken, sie bräuchte Geld für Alkohol oder Drogen, legt sie einen Zettel mit dem Hinweis in ihren Geigenkasten, das Geld
sei für ein Geschenk für ihre Mutter gedacht! Sie behält keinen Cent für sich. Sie wolle zeigen, nur legitime Bedürfnisse
zu haben. D.h., Bedürfnisse sind nur dann legitim, wenn sie der Mutter dienen. Erwachsene anorektische Patienten
äußern sofort die Angst, egoistisch zu sein, wenn sich ein Bedürfnis in ihnen meldet, das nicht der Befriedigung anderer dient.
Au revoir le violon
Nach dem Abitur (ihre Mutter schickte sie dazu in die letzte Klasse des Lyzeums) und einigen erfolgreichen Prüfungen auf der Violine entdeckt IC für sich die Schauspielerei. Dem Selbst entkommen und eine Rolle spielen, wie sie
74
es einst mit Rébecca machte, sei das Richtige für sie. „Auf Wiedersehen Violine, seid gegrüßt ihr Bretter“ Die Magie
der Worte und der Schauder beim Eintreten in eine Szene seien wie das Überqueren einer Grenze zwischen zwei Welten, lässt IC uns wissen. Mehr noch. Alles, was die Rolle verlange, fühle sie sich autorisiert, zu spielen. Selbst wenn sie
essen müsste, sähe sie sich wahrscheinlich in der fremden Rolle dazu in der Lage. Es sei eine große Entlastung für sie,
die eigene Haut zu verlassen und in die imaginäre Schöpfung, die ein Autor kreiert habe, hinüberzugleiten. Mit diesem
Plan trotze sie das erste Mal dem mütterlichen Rat.
Es überrascht nicht, dass IC jetzt die planches für sich entdeckt. Der Schauspieler Oskar Werner hatte auch eine
depressive Mutter. Eine Rolle spielen müssen gehört für Kinder depressiver Mütter schon früh zum Alltag. Hingegen
überrascht, mit welcher Nonchalance sie von „großer Entlastung“ spricht, wenn sie die eigene Haut verlässt, um in die
imaginäre Schöpfung eines anderen hinüberzugleiten. Es gehört zu den Illusionen Essgestörter, zu glauben, in für sie
neuen Konstellationen Neues zu erleben und sich darüber frei zu machen von den Vorgaben der Vergangenheit. Was
sie als Autonomiegewinn empfinden, ist oft nur Pseudoautonomie. Hat IC nicht zuhause schon dauernd die Kreation
einer anderen spielen müssen? Überblickt man ihr Leben, so hat IC nie in einem eigenen Körper (eigene Haut) gelebt,
die sie hätte verlassen können, sondern nur im imaginären Körper ihrer Mutter. Sie blieb immer die Schöpfung ihrer
Mutter. Der einzige allerdings nicht unerhebliche Unterschied zu damals ist, sie bestimmt jetzt selbst über die Übernahme fremder Rollen. Und natürlich: Als Rébecca ist sie nicht der Depression der Mutter verpflichtet und ausgeliefert. Sie kann ohne Schuldgefühle leben. Das ist die „große Entlastung“. Und wenn sie in deren oder andere Kreationen schlüpft, dann ist sie témoin für das, was der realen IC widerfährt. Für uns heißt das, ICs Alter Ego Rébecca hat
aus dem Spiegel auf Isabelle geschaut und aus dieser Spiegelposition zumindest Teile der Autobiographie geschrieben
und darum ist sie eine témoinage und darum gehört IC aus Rébeccas Position zu den „vrais malades“. D.h., IC ist beim
Schreiben in ihr Spiegelbild geflüchtet.
Hoch motiviert spielt sie Geige auf der Straße und sammelt viel Geld für ihr Vorhaben. Endlich, so IC, nehme sie
ihr Leben in die Hand. Eines Tages findet sie einen Karton mit Briefen ihrer Mutter an den Schlagerbarden. Beim Datumsvergleich verfestigt sich ihre Überzeugung, er müsse ihr Vater sein. Sie will die Tochter eines Mannes sein, der
ihre Mutter glücklich gemacht hat und berühmt ist, und nicht die eines lächerlichen Schreihalses, der seine Frau mit
Gerichtsvollziehern und dem Schleppen von 35 Kilo schweren Gasflaschen alleine lässt, nicht die eines Phantomvaters,
der sie der Macht ihrer Mutter überlässt. Könnte der Barde bis neun zählen, hätte er längst merken müssen, dass sie
seine Tochter sei, so IC. Die Idee hat sie schon länger. Es war ihr Familienroman der Pubertät. Jetzt aber ist ihr die Idee
72
Frankfurter Rundschau v. 13.10.2008
mauvaise nouvelle
74
Au revoir le violon, bonjour les planches!
73
21
zur Gewissheit geworden. Sie hat für ihren Plan, zum Theater zu gehen, das dafür passende Elternpaar gefunden: eine
malende Mutter und einen singenden Vater – und sie ist ein Kind der Liebe. Das tut gut. Der nun zum Vater erkorene
Mann verkörpert jetzt ICs Wunsch, den der leibliche Vater nicht erfüllte: Freiheit, Macht, Unabhängigkeit, Repräsentant der Außenwelt, des Andersseins als die Mutter und der aktiven sexuellen Potenz. Der Barde hat in IC den Vater
als Ideal abgelöst. Die Identifizierung mit ihm gelang partiell, denn sie durfte an seinem Beruf teilnehmen, in dem sie
in einem seiner Stücke den Violinpart übernehmen durfte. Bezeichnenderweise witterte sie damals Freiheit. Aber der
Identifizierungsversuch wurde schließlich wieder von einer Frau, der jungen Geliebten des Barden, vereitelt. Sie wollte
nicht mit IC zusammen auftreten.
Inzwischen habe die Anorexie sie ganz erfasst, ohne dass ihr das bewusst wäre. Sie empfinde mehr Freude daran
nicht zu essen, als zu essen. Sie liebe den Hunger, der in ihrem verengten Magen brumme. Er zeige, sie hält stand. Sie
wolle auch nie hören, sie sei guter Laune. Das bedeute, sie sei dick geworden. Was sie isst oder nicht isst, beherrscht
jetzt ihr ganzes Denken. Kontrolliere sie ihren Körper und sein Verlangen, sei sie nicht der Scham unterworfen, zumindest halte sie sich in erträglichen Grenzen.
Alpträume plagen sie. Sie stopft sich einen Big Mac samt einem Berg Pommes frites und einem großen Cola in
den Mund, um sich zu ersticken. Das sei köstlich und abscheulich zugleich. Oder sie träumt, ihr Bauch würde bis zum
Zerplatzen aufgepumpt, träumt, sie würde fett sein, schwelle überall an, selbst an den Augenlidern und den Zehen.
Dann erwacht sie erstickend vor Ekel auf den Lippen und am Herzrasen vor Angst. Schnell muss sie sich im Spiegel
anschauen, um sich zu versichern, es war nur ein böser Traum. Nein, sie hat dem Teufel Hunger Gott sei Dank nicht
nachgegeben.
Die Männer
Bei Bekannten würde ihr Vater nur über ihre Anorexie sprechen und sich dann über ihre Zukunft als Violin75
virtuosin auslassen. „Ich existiere nur durch meine Krankheit und meine Geige“ Schließlich beginnt sie ein Studium
an der Theaterschule in Paris und wohnt auch dort alleine. Sie: «Génial!» Aber nichts da, Maman zog gleich in die
Nähe. Dann – mit 19 - hatte sie ihr erstes sexuelles Erlebnis mit einem jungen Organisten, dem sie naiv begegnet sei
und seine Hintergedanken nicht erkannt habe. Sie wunderte sich nur: der Junge wollte auf der Strasse beim gemeinsamen Kauf von Präservativen nicht ihre Hand halten. Aber er gefiel ihr und sie mochte ihn. Der Sex ließ sich nicht
vollziehen, weil IC auf sein Bedrängen mit einem Vaginismus reagierte. Seine Fingerfertigkeit als Organist half wohl
auch nicht. Verzweifelt stöhnend sei er von ihr gerutscht. Eilig zog sie sich an und suchte das Weite, als sei ihr eine
Horde Dämonen auf den Versen. Die Dämonen waren die Mutter, die das Berühren des Genitales verboten hatte. Der
Junge war an der lustfeindlichen Hygieneerziehung von ICs Mutter und deren gestörter Weiblichkeit gescheitert. Aber
nicht nur: Er war auch daran gescheitert, dass IC die Identifikation mit dem Vater verweigert war, ihr fehlte sozusagen
der ‚Vater im Rücken’, den ein Mädchen ebenso braucht wie ein Junge, um aktiv das Leben und auch das Sexualleben
anzugehen.
Dieses erste Erlebnis war demzufolge ein Schock für IC und ihre Frage nur konsequent: Wieso ist Sex so wichtig?
Und wieder hatte sie das Gefühl, nicht so wie die anderen Mädchen ihres Alters zu sein.
Sie unternimmt eine Reise nach Avignon, wo sie ihre Lieblingsschauspielerin Isabelle Huppert an die 40-mal in
Medea bewundern konnte. Isabelle Huppert wird zum Ideal von Isabelle Caro. Sie liebe deren schmale Taille, deren
zarte Silhouette, die trotz ihrer 50 Jahre adoleszent wirke. Seit sie sie in der Rolle der Madame Bovary (1991) gesehen
habe, fühle sie sich ihr nahe. Madame Bovary sei ganz ihre Mutter. Ständig am Weinen, mit einem Ehemann, der,
wenig pfiffig, sie ignoriert, einem Liebhaber, den sie idealisiert, der sich nichts aus ihr macht und einem Kind, mit
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dem sie nichts zu tun hat: „Meine Mutter in Reinkultur!“ Am besten aber hätte ihr die Huppert in La Dentellière
gefallen, dort ihr Zusammenbruch und ihr Absturz in die Folie. Über Huppert schreibt sie ihre Abschlussarbeit am Theater.
In Avignon hätte sie begriffen, die Tochter von Medea zu sein, die sie zwar liebe, die sie aber aus Rache getötet
habe, als sie 4 war. Nicht schlecht! Wie Medea sei ihre Mutter von Männern verlassen worden: vom Schlagerbarden,
von ihrem Mann (und vielleicht früh schon vom Vater, worüber leider nichts bekannt ist). Sie reiste dann noch nach
Cannes, um Erinnerungen an den Schlagerbarden aufzufrischen, dann nach Nizza. Ihren Unterhalt finanziert sie mit
dem Geigenspiel vor Cafes. Zurück in Paris beschloss sie, sich einen Künstlernamen zu geben und wählte den Namen
‚Caro’, entliehen dem gleichnamigen Regisseur und Drehbuchautor des Films Die Stadt der verlorenen Kinder (1995).
Wir verstehen: die Stadt der Poulbots, der gefallenen Prinzessinnen. Für IC ist nun die imaginäre prominente Kleinfamilie komplett: Der Barde, Medea und sie.
Von einer Freundin lässt sie sich Sommersprossen ins Gesicht tätowieren – erfüllt also wieder Mamans Kindimago
von Poulbots mit Sommersprossen - , ist aber mit ihrem Aussehen nicht zufrieden und erwägt eine Schönheitsoperation, weil ihr Nase, Mund und Kinn nicht gefallen. So wie jetzt könne sie nicht weiterleben. Sie hofft, eine Opera75
Je n’existe que par ma maladie et mon violon
Ma mère tout craché
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Die Spitzenklöpplerin (1977)
76
22
tion könne sie von ihren psychischen Problemen und ihrer Essstörung heilen, eine Idee, die sich immer mehr in ihr
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festsetzt. „Mich operieren lassen oder sterben“ . Wir erinnern uns, dass IC schon, als sie im Clip die Violinpart spielte,
hoffte, das sei der Beginn eines neuen Lebens. Ihre Mutter stößt laute Schreie aus, nicht des jeder Operation innewohnenden Risikos wegen, sondern weil ihre Tochter ihre hochgeschätzte Schöpfung entstellen will. Beide Eltern sind
sich einig: Diese Flausen haben ihr eine Sekte in den Kopf gesetzt. IC kämpft mit ihrer Mutter, die sich in ihrer Not
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endlich eingesteht, ihre Tochter ist an einer Anorexie erkrankt – nach 7 Jahren, „es wurde Zeit“ , lakonisch IC. Die
Schönheitschirurgen verlangen die Konsultation von Psychologen. Einer diagnostizierte eine Dysmorphophobie und
warnte vor einer Operation, sie werde nicht zufrieden sein. Alle empfahlen eine Zeit des Nachdenkens. Sie aber war in
Not mit sich und erwägt den Suizid unter der Métro. Mourir anstatt opérer. Interessanterweise ist sie mit ihrem neuen
Vorhaben, der Operation, so beschäftigt, dass sie darüber normal isst, als hätten das Essen und der Kampf mit dem
Hunger an Bedeutung verloren. Ihre Mutter droht, sie nicht mehr sehen zu wollen, falls sie sich operieren ließe. Es ist
IC egal. In einer zweistündigen Op wird ihre Nase neu gestaltet und sie verlässt am nächsten Tag die Klinik voller Hämatome im Gesicht. Als die Nase von den Verbänden befreit war, entsprach sie keineswegs ihren Vorstellungen. Ihr
Gesicht wirkte nicht so kindlich, wie sie gehofft hatte, dennoch sei die neue Nase besser als die alte Version. Endlich
habe sie eine Nase, die das Recht habe zu atmen, zu existieren, zu entscheiden. Die Schönheitsoperation ist also ein
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Akt der Auflehnung gegen die Mutter und der Versuch, sich einen eigenen Körper zurechtschneidern zu lassen. Nun
hatte sie einen neuen Namen, eine neue Nase und erwartete ein neues Gesicht. Fehlte also nur noch das neue Leben.
Und dann kam Georges, Libanese, um die 45, Besitzer mehrerer Restaurants, und schmeichelte sie auf den
Champs-Élysées an. Er gefiel ihr. Endlich die Vaterfigur, die ihr so gefehlt habe. Er flüsterte ihr ins Ohr, er habe schon
die schönsten Frauen von Paris vorbeidefilieren sehen, aber noch keine wie sie. Wie nie zuvor bei einem Mann fühlte
sie sich zu ihm hingezogen und plauderte nach wenigen Minuten vertraut über ihr Leben. Sie gab ihm ihre Telefonnummer, er seine ihr nicht. Einen Monat lang meldete er sich nicht; dann rief er an und am nächsten Tag küsste er sie
auf den Mund. Und er wollte ihr ihre Kurse am Theater finanzieren. Er nahm sie mit zu sich nach Hause, aber, obwohl
sein Reden sie berührte, sei ihre Haut unter seinen Fingern, die sie auszogen, kalt geblieben. Er platzierte sie auf dem
Bett, den Rücken zu ihm gekehrt. Er erklärte, in seinem Land respektiere man Frauen und schlug ihr vor, das von hin81
ten zu tun, denn, so er großzügig: „«Die Vorderseite überlasse ich deinem kleinen Kumpel». Sie wusste nicht, was er
meinte, aber begann zu ahnen. Der Schmerz sei fürchterlich gewesen, sie hatte das Gefühl, ein Feuerstrahl durchfahre
ihr Inneres. Sie weinte still ins Kopfkissen, und auch als er Sexspielzeug unterm Bett hervorzog dachte sie, dies sei alles
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normal. Als er sie weinen sah, fragte er, was los sei? „Das ist das Glück, Georges, mein Schatz.“ Dem Schatz hingegen
scheint das Weibliche an der Frau nicht so wichtig gewesen zu sein, denn die Frau hat er großzügig einem anderen
überlassen. Wenn er homoerotisch veranlagt war, so hatte er sich mit seinem Vorschlag zwei Jungs oder ein Wesen
mit Doppelhintern ins Bett gelegt.
Bei jeder weiteren Begegnung unterwarf er sie derselben sexuellen Zeremonie. Sie aber, sich für anormal und frigide haltend, blieb stumm. Kein Gedanke, Georges könnte nicht normal sein. Sagen wir, sie machte sich leicht und ihm
es leicht, indem sie sich nicht beschwerte, damit Georges keinen Krampf bekomme, wie das früher auf Vaters Knie der
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Fall war, wenn sie mit ihm schmusen wollte. D.h., wieder war sie mit ihrem Begehren, diesmal vom erhofften Ersatzvater Georges, nicht anerkannt.
Man darf indes bezweifeln, ob IC so unerfahren war, wie sie behauptet. Sie hatte schon einen Mann im Bett!
Und sie hatte TV-Erfahrung. Wie auch immer: Sicher ist, hier wiederholt sich etwas aus der Beziehung zu ihrer Mutter.
Bei ihr unterlag IC auch dem Denkverbot, die Erziehungspraxis ihrer Mutter, das Einsperren, das Einhüllen, das Behindern ihres Wachstums könnte etwas mit den Problemen ihrer Mutter zu tun haben und nicht mit ihrer eigenen Anormalität, die nur Reaktion, oder fachlich ausgedrückt, die Gegenübertragung auf die mütterlichen Projektionen (Übertragung) war.
IC magerte ab und hatte keine Hinterbacken mehr. Georges erklärte, mit einem Skelett Liebe zu machen hätte er
keine Lust. Anstatt froh zu sein, dass ihrem Hintern weiteres Leid erspart blieb, hätte sie sich schuldig gefühlt, so IC.
Sie blieben Freunde. Später entschuldigte sich Georges bei ihr und hätte sich sehr freundlich ihr gegenüber gezeigt. ICs
Vater wird später behaupten, wegen dieses Mannes sei IC krank geworden. Er habe sie vergewaltigt. Frage: Hätte man
das als Vater seiner Tochter nicht anmerken müssen? Hat er offenbar nicht, weil es eine Schutzbehauptung war, um
von eigenen Fehlern abzulenken. Er musste seine Kindimago behaupten, schließlich wollte er Impresario sein. Kein
Gedanke an avant la lettre.
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Me faire opérer ou mourir
il serait temps
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Dies dürfte das zentrale Motiv vieler Schönheitsoperationen sein.
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Le devant, je vais le laisser à ton petit copain
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C’est le bonheur, Georges chéri.
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Mein Wortspiel mit dem Begriff ‚leicht’ ist beabsichtigt.
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Eine Freundin brachte IC auf die Idee, als Hostesse Geld zu verdienen. Sie fand einen Nachtclub, wurde als Sarah
ohne Verpflichtung zu sexuellen Diensten eingestellt. Ein Musiker aus dem Nachtclub, der ihr gefiel, schlug ihr einen
Besuch in einem Swingerclub vor. Nachdem sich beide ausgezogen hatten, gingen sie zum Buffet und plötzlich – nackt,
im Dunklen und mit Musik - verspürte sie Hunger und aß mit Appetit. Beim anschließenden Rundgang durchs Etablissement habe sie Sexualunterricht bekommen. Sie aber übte das ‚Nein’, spielte Sarah, blieb mit 20 Jungfrau und wollte
ihren Zustand auch nicht ändern. Mit dem Musiker hätte sie gerne geschlafen, aber entsprechende Versuche scheiterten erneut an ihrem Vaginismus. Mein Körper, so IC, scheint nicht für die Liebe gemacht. Da hat sie recht: er ist für
Mamans Bedürfnisse gemacht. Wir aber verstehen: IC ist fixiert an den Barden, denn nun hatte sie es wieder mit einem Musiker zu tun. Als Analytiker müsste man ihr jetzt sagen, mit dem ‚Papa’ oder Ersatzpapas geht das auch nicht.
Anorektikerinnen haben sowieso kein Liebesleben mit einem Mann, sondern mit ihrer Mutter. Werfen wir einen
Blick auf ProAna. Ana ist die eifersüchtige Freundin. Nicht für die Männer, für Ana soll sich die Magersüchtige sexy
machen: „Ana schnaubt verächtlich, denn in ihren Augen ist ein so glibbriges und fettes Vieh von 41 Kilo ganz bestimmt nicht perfekt und auch nicht annähernd sexy“. Ana bestimmt das Ideal, dem die Magersüchtige entsprechen
soll. Man kann hier von einer homoerotischen Beziehung zwischen dem Ich und seinem Ideal ausgehen, denn das
Ichideal ist weiblich, da es sich an der frühen Mutter bildet. Niemand habe sie je fester gehalten oder zärtlicher berührt als Ana, versichert uns Lilly. „Meine aufmerksame und selbstlose Freundin Ana ist natürlich sofort zur Stelle, um
mich zu unterstützen…»Lilly«, flüstert sie mir verführerisch ins Ohr. »Komm, lass uns wieder so wunderschön leicht
und frei sein wie damals mit 37 Kilo ... weißt du noch?« […] »Bis zum Ende ... «, raunt Ana und legt ihre Hand auf
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meine Taille.
IC kann immer dann essen, wenn sie Sarah ist. Sarah kann sich alles erlauben, sie war nie eingeschlossen, war zur
Schule gegangen, hat viele Freunde, ist hübsch, hat ihr Gesicht nie versteckt und ist immer fröhlich, also die Nachfolgerin der Rébecca der Kindheit. Der Nachtclub sei für sie die Schule des Lebens gewesen. Die Besucher erzählten aus
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ihrem Leben, von ihren zu dicken oder erkalteten Frauen. IC fühlte sich den Prostituierten nahe. All dies hätte aber
auch die Meinung ihre Mutter bestätigt, die Ehe sei der Ort aller Frustration und Lügen. Allmählich aber wurde Sarahs
Lebens erschöpfend und IC fürchtete, ihre Noten beim Schauspielunterricht könnten sich verschlechtern und Maman
von ihrem Doppelleben erfahren. Als sie als Sarah genug Geld verdient hatte, ließ sie sich die Lippen operieren.
Ihrer Magerkeit wegen wurde IC am Theater gekündigt und ein Nachbar alarmierte ihre Mutter wegen der Bläue,
die ihr Gesicht überzog. Nur noch 28 kg wiegend, kam sie in die Klinik und wurde künstlich ernährt. Nach vielem Hin
und Her und unter Androhung der Einweisung in die Psychiatrie willigte sie ein und erreichte 34 Kilos. Sie verlangte,
ihre Eltern sollten keinen Zutritt zum Krankenhaus bekommen, aber ihre Mutter habe bis zu 15 Mal am Tag mit unterdrückter Nummer versucht, sie zu erreichen. Sie sei ans Telefon gegangen, weil sie glaubte, es sei Georges (der sie
ihrem Vater zufolge angeblich vergewaltigt hat). Ihre Mutter konnte es nicht aushalten, sie nicht sehen zu dürfen und
köderte sie schließlich mit dem Angebot, Shopping zu machen, ICs Schwachstelle.
Ihre Mutter erzählte ihr von einem Buch von einer jungen Anorektikerin, die Dank einer Psychotherapeutin geheilt worden sei. Ihre Mutter beschaffte ihr einen Platz bei dieser Therapeutin, die IC aufnehmen wollte, ohne einen
Kontrakt über das Gewicht zu machen, weil sie solches für Unfug hielt. Zunächst aber war sie noch im Hospital, wo
man sie nur einmal pro Woche wog, was IC als schrecklich empfand. Sie fürchtete, ohne Kontrollmöglichkeit zu schnell
zu viel zuzunehmen und ließ sich von ihrer Mutter eine Waage bringen, die sie versteckte, aber täglich bestieg, um
sich zu vergewissern, kein Pummelchen geworden zu sein. Im Nachbarzimmer lag eine Bulimikerin, die auf der Suche
nach Essbarem alle Nachbarzimmer absuchte. Mit ihr tauschte sie ihre Mahlzeiten gegen Abführpillen. So magerte sie
auf 37 Kilo ab. Ihr Dilemma: Würde sie im Hospital essen, um möglichst schnell entlassen zu werden, würde man sie
für eine Bulimikerin halten, was sie auf keinen Fall sein wollte. Sie würde sich katalogisiert fühlen. Bulimiker gehören
aus Sicht der Magersüchtigen zu den Verlierern im Kampf um den Hunger.
me
M de Villedieu, Psychotherapeutin
Als ihre Eltern in schwere Geldnot gerieten, weil ihr Vater arbeitslos geworden war, gab sie ihrer Mutter verpackte Nahrung von ihrem Krankenhausessen mit nach Hause. Im Hospital sagte ein Arzt, Männer würden Frauen mit
wohlplazierten Rundungen bevorzugen. Sie solle sich mal ihre Mutter anschauen, die sei ein Kadaver, keine Frau. IC ist
empört. So ein Idiot! Das letzte, was sie wolle, sei den Männern zu gefallen. Sie wisse, die Mädchen ihres Alters
wünschten nichts anderes, sie aber wünsche ignoriert zu werden. Dem einzigen Menschen, dem sie gefallen und ähnlich sein wolle, sei ihre Mutter. Als die Ärzte sie verlegen wollten, warf sich ihre Mutter dazwischen und entführte ihre
Tochter in ein kostspieliges Hospiz. Das dazu erforderliche Geld hatte sie sich von der Familie geliehen. Aber als dort
zwei Psychologen sie täglich jeweils nur für 5 Minuten mit belanglosen Fragen beschäftigten, suchte sie schließlich die
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85
Linder, L. a.a.O.
Ähnliches hat L. Linder in Splitterfasernackt beschrieben.
24
me
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Psychotherapeutin, M de Villedieu , auf, bei der ihr ihre Mutter einen Platz besorgt hatte. Diese forderte zunächst,
keinen Kontakt zu ihren Eltern zu haben, damit sie nicht in der konfliktträchtigen Atmosphäre, die dort herrsche, baden ging. Sie benötige einen Ort für sich, einen Bereich, der nur ihr gehöre, dem ihre Mutter nicht ihre Duftmarke
aufsetzen könne. Zwischen den Sitzungen solle sie leben, d.h. ins Kino gehen, mit Freunden ausgehen, Museen besu87
chen, mit kleinen Mahlzeiten sich ernähren. „Endlich“, so IC, „jemand, der alles verstanden hat!“ Madame schlug ihr
auch vor, ihrem zwölfjährigen Sohn Violinunterricht zu erteilen und ihre Bibliothek zu benutzen. IC bekam das Gefühl,
Teil der Familie zu sein. Jede Sitzung dauerte eineinhalb Stunden und glich einer Konversation. Madame bereitete
auch mit ihr zusammen leichte und gesunde Mahlzeiten zu und wies sie daraufhin, das Auge esse mit, womit sie auf
ICs Kunstverständnis anspielte. So wie es IC zufolge auch bei an Anorexie Erkrankten sehr auf die Worte ankäme, denn
Worten komme magische Bedeutung zu. Stünde auf einer Flasche „boisson superénergétique“, ginge es um ein Teufelswerk, stünde jedoch „repas minceur“ darauf, könne man sie ohne Zögern schlucken. „Alles eine Frage des Voka88
bulars mit den Anorektikern!“ . Sie esse auch, wenn sie mit Freunden diskutiert, weil ihr Geist dann mit anderen Dingen beschäftigt wäre und sie nicht merke, was sie verschlinge. Auch im Dunklen essen sei so ein Trick, wie sie im Swingerclub herausgefunden hatte. Ihre Tricks werden immer gefinkelter.
me
Immer, wenn sie aus den Sitzungen bei M de Villedieu kam, fühlte sie sich wohl, ruhig und erholt. Nichts von
Schuldgefühlen und Scham, die sie im Hospital empfunden habe. Je wohler sie sich jedoch nach den Sitzungen fühlte,
me
desto mehr wurde die Therapeutin zur Gefahr für ihre Mutter. M de Villedieu war zur Rivalin, zur besseren Mutter
geworden. Einer Sekte gehöre sie an, die ihnen ihre Tochter stehlen wolle, flüsterte Magdeleine ihrem Mann ein und
behauptete, die Therapeutin würde sich nicht klar machen, dass IC krank sei, sehr krank. Ich kenne Dich, sagte sie zu
ihrer Tochter, und ich weiß das. Sie allein wisse, was gut für IC sei, nur sie liebe sie wirklich, weil es nichts Stärkeres
gäbe als die Liebe einer Mutter. Als das nicht so recht zog, argumentierte die Mutter, die Eltern hätten kein Geld
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mehr, die Behandlung zu bezahlen und schließlich drohte sie mit Suizid, „eines ihrer Lieblingsverfahren.“ Es blieb IC
me
keine Wahl: Entweder ein Leben mit Maman ohne M de Villedieu oder eines mit Madame ohne Maman. Sie knickte
me
ein, kündigte mit Ausreden die Behandlung und versank in tiefste Schuldgefühle M de Villedieu gegenüber, die ihr
me
so geholfen habe. Die eigentliche Kränkung für die Mutter schien jedoch gewesen zu sein, dass M de Villedieu sich
weigerte, ihr aus der Behandlung ihrer Tochter zu berichten und ihr überdies empfohlen hat, selbst einen Therapeuten aufzusuchen. La maman parfaite zum Psychotherapeuten – welche Zumutung!
IC beginnt, nachts durch Paris zu streifen, liebäugelt mit Clochards, denen sie sich nahe fühlt und stöbert in Mülleimern nach Essbarem, kaut darauf und spuckt wieder aus. Sie isst Entwertetes und fühlt sich dann als entwertet. Jetzt
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wird ihr offenbar ihre Einsamkeit bewusst: „Die Einsamkeit ist mein Tischgenossin, meine Komplizin“.
Ihre Mutter wird zur Stalkerin, die sich nicht von ihrem Selbstobjekt zu trennt vermag und steht des Nachts mit
dem Auto vor ICs Wohnung. Als ihre Groß-Tante stirbt, bekommt IC ihrer ständigen Müdigkeit wegen deren Rollstuhl.
Ihre Mutter schiebt sie und es kommt zu beschämendem Bemerkungen in der Öffentlichkeit, zumal IC sich als Kleinkind fühlt. Zum Semesterende führen die Studenten ein Theaterstück eines ihrer Professoren auf, in dem IC die Hauptrolle als Phantom spielt, weil ihre Magerkeit sie dafür prädisponiert. Alle gratulieren ihr nach dem Auftritt.
Es folgen weitere Krankenhausaufenthalte, bei denen ihre Mutter mit im Zimmer logiert und die Mahlzeiten, die
man ihrer Tochter serviert, isst. Die Ärzte rätseln, warum ihre Patientin nicht zunimmt. Man nehme sich aber auch
nicht die Zeit, hinter ihren Trick zu kommen. Man will sie künstlich ernähren und zwingt sie zu einer Nasensonde. Sie
fühlt sich schrecklich gequält, als die Sonde durch die Nase eingeführt wird. Die Aktion erinnert sie an Georges, der ihr
Gesicht an sein Genitale gedrückt habe. Einige Tage später erbricht sie die Sonde.
Es folgen zahllose Hospizaufenthalte, mal wegen ihrer Magerkeit, mal wegen höchst problematischer Blutwerte.
Man will sie zwangsernähren, den Besuch der Eltern ebenso verbieten wie Fernsehen, oder man nimmt ihr bei der
Aufnahme alle ihre persönlichen Gegenstände ab, selbst ihre Schuhe, sodass sie ständig mit Fluchtgedanken beschäftigt ist.
Wie therapieren?
Die zahlreichen erfolglosen Therapieversuche werfen Fragen auf. Klar ist, der inhärenten Logik der Essstörungen
ist nicht mit dem sogenannten ‚gesunden Menschenverstand’, der sich auf Moral und Vernunft beruft, beizukommen.
Die meisten der derzeitig angeboten Therapieformen, insbesondere die, die sich der behavioristischen Lehre verpflichtet fühlen, berufen sich aber auf den gesunden Menschenverstand und fordern oder erzwingen nach einem naiven
pädagogischen Reiz-Reaktionsschema: „Ich esse nicht – du musst aber essen“ vom Patienten Manipulation seines
Essverhaltens. Aufgrund ihres strengen Überichs – „Oui, Maman“ - machen die Patienten das mit, weil sie Einspruch
zu erheben fürchten. Das Problem dabei ist: Esstagebücher und ähnliche Auflagen fixieren die Patienten nur noch
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Im Buch sind alle Namen erfunden. Dass man aber ausgerechnet der Psychotherapeutin den Namen der Fünf-Franken- Dirne (Louise Villedieu)
gibt, von der Baudelaire erzählt, ist delikat.
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Enfin quelqu’un qui a tout compris!
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Tout est une question de vocabulaire avec les anorexiques!
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un de ses procédés favoris
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La solitude est mon convive, ma complice
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mehr und u.U. gewaltsam an das Thema Hunger, als sei das Symptom die Krankheit, ein pars pro toto-Denken. Die
Fixierung kann den Effekt der Überstimulation zeigen. Lilly Lindner hat solches Vorgehen wie „nackte Sexgewalt“
empfunden und I. C meint, man werde mit grässlichem Essen vollgestopft wie eine Mastgans, und kaum würde man
entlassen, nehme man alles wieder ab, jedenfalls sei das bei ihr so gewesen.
IC weist uns einen anderen Weg. Nicht Fixierung ans Essthema, sondern Ablenkung ist das Gebot. So erzählt sie,
sie esse, wenn sie mit Freunden diskutiere, weil ihr Geist dann mit anderen Dingen beschäftigt wäre und sie nicht
merke, was sie verschlinge. Oder: Als sie intensiv mit ihrer Schönheitsoperation beschäftigt war, hätte sie normal
gegessen. D.h., sie konnte vorübergehend die Fixierung an den Hunger lösen, und der Hunger verlor seine Bedeutung.
Lassen wir beiseite, dass es hier um eine Schönheitsoperation geht, von der die Attraktion ausging, sondern betrachten den Mechanismus – findet der Patient für sich etwas anderes für ihn Wichtiges -, so erhalten wir einen zentralen
Hinweis für die Therapie, denn nach wie vor gilt, wir Menschen verzichten nur auf etwas, wenn wir Ersatz dafür bekommen (Freud). In meinem behavioristisch orientierten Psychologiestudium habe ich gelernt: Desensibilisierung, also
den Hunger uninteressant machen ist das A und O bei solchen Themen. Aber mein Studium ist lange her.
Die Essmanipulationstherapien werfen aber ein noch ungleich gewichtigeres Thema auf. Bei allen das Essen erzwingenden Maßnahmen, die sich die Behavioristen einfallen lassen, sollte sie sich bewusst sein, was sie im Seelenleben der Patienten damit anrichten, d.h. welches Programm im Hintergrund abläuft. Als Therapeut macht man sich
zum Hungerteufel, der zur Auflehnung, zum Ungehorsam gegen das Überich verführt, also zum Agieren. Man kann an
der von Lindner beschriebenen klinischen Bedeutung von Ana und Mia ermessen, in welche Krise man Patienten mit
ihrem Selbstwertgefühl und ihrer moralischen Empfindsamkeit stürzt. Man zwingt sie in eine Niederlage im Kampf
gegen den Teufel Hunger, was für sie eine narzisstische Katastrophe bedeutet. Mehr Gewicht (oft nur ein paar
Gramm) hieße für sie, nichts Besonderes mehr, sondern unauffällig, zu sein und unbemerkt zu bleiben. D.h., neben
der Niederlage, der narzisstischen Beschädigung fühlen sich die Patienten ihrer Identität beraubt: Wenn ich die Anorexie nicht habe, was habe ich dann?
Eine Psychoanalyse würde einen Patienten niemals zum agierenden Aufbegehren gegen sein Überich veranlassen. Sie würde die damit verbundenen Beziehungskonflikte (das Überich ist ein Niederschlag der Objektbeziehungen,
wie wir bei IC schön verfolgen konnten) durcharbeiten, insbesondere die negativen Affekte. Das wäre die Wut auf die
Mutter, bei IC weil sie nicht loslässt und die Wut auf den Vater, der sich laut polternd aber feige aus dem Staub macht,
wenn es zuhause schwierig wird und seine Tochter im Stich lässt im Konflikt mit ihrer Mutter. Erst dann käme man an
die Wurzeln der Hilflosigkeit, Verzweiflung und Einsamkeit, die die Seele dieser Patienten seit ihrer Kindheit quälen.
Ich spreche mit meinen Patienten kaum bis nie über ihre Essprobleme, sondern delegiere dieses Thema an gute Ernährungsberater. Wenn die dann die Mythen über das Essen, die sich die Patienten im Laufe der Zeit zurechtgelegt
haben, korrigieren, kann ich mit ihnen über diese Mythen und ihre Bedeutung sprechen.
Zwingt oder verführt man diese Patienten, die in der Regel ein strenges Überich haben und dementsprechend
moralisch sind, zum Essen, erzeugt man bei ihnen überdies schwerste Schuldgefühle. IC z.B. wäre unbewusst zum
Ungehorsam gegen die Mutter gezwungen oder in die Arme des entwerteten aber verführerischen Vaters getrieben.
Ärztin oder Arzt bekämen in der Übertragung genau diese Rolle des Vaters zugewiesen, der gegen das Gehorsamsgebot der Mutter intrigiert und damit schwere Angst vor Liebesverlust der Mutter und Einsamkeit erzeugt. Spätestens
nach Ende der Behandlung würde die Patientin sagen: «Non, je préfère rester à la maison» und es kommt zum Rückfall. Die Klinikgeschichte ICs spricht hier Bände.
me
Einzig das Angebot von M de Villedieu zeigt ein ausreichend brauchbares Gegenmodell. ICs Mutter hat das geahnt und bekämpft. Die Kollegin hat vielleicht die Übertragungssituation nicht berücksichtigt, nicht berücksichtigt,
dass auch sie in die verführende Rolle des Teufels/Vaters kommt, wenn sie ihre Patientin von der Mutter lösen will.
Diesen Versuch haben die Patienten übrigens schon oft selbst gemacht, IC als Kind, als sie ihre Koffer packte und zum
Fenster hinaus wollte, zuletzt, als sie nach Marseille floh. Aber all diese Versuche haben den Charakter der Pseudoautonomie, weil in ihrer Kindheit eine vom Vater unterstützte Loslösung von der Mutter nicht möglich war. Ihr fehlte
auch hier der Vater im Rücken, der zu feige war, von seiner Frau die Loslösung offen zu fordern.
IC flüchtet zu einer Tante, der Schwester des Vaters, die das Gegenteil ihrer Mutter sei. Bei ihr kann sie essen
ohne zu erbrechen. Ihr erzählt sie ihr ganzes Leben, die Tante ihr im Gegenzug von der Familie und den Lügen. Als IC
ihre Tante umarmt, stellt sie fest, sie kaum heben zu können, worüber ihr einfällt, sich immer ein Kind gewünscht zu
haben. Eine Frau hätte sie sein wollen, die Leben schenken könne, wozu ihr ausgemergelter Körper aber wohl kaum in
der Lage wäre. Ihre Tante spricht viel mit ihr, lässt sie ihre Kleider tragen und macht Photos von ihr, auf denen sich IC
zum ersten Mal als zu mager erkennt. Sie saugt ihre Worte ein und ihre Tante wird darüber für sie zur idealen Frau. IC
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seufzt: „Hätte ich nur eine Mutter wie sie gehabt!“
Über Monate war sie kaum an der Universität und beschloss in den Ferien nach Avignon zu reisen, wo sie ihr Geld
mit öffentlicher Rezitation von Gedichten verdient. Nach wenigen Tagen ging es ihr so schlecht, dass sie ihre Mutter
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Den Teil fürs Ganze nehmend
Si seulement j’avais eu une mère comme elle!
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rief, die sofort kam und ihr eine Spanienreise vorschlug. Aber in Perpignan musste sie wieder in die Klinik, nur 25 Kilo
wiegend. Der Arzt sagte der Mutter, sie liege im Koma und man wisse nicht, ob man sie retten könne. Im Todeskampf
halluzinierte IC und schrie so laut, dass die Schwestern sich wunderten, wie ein solch geschundener Körper solch
schrille Töne von sich geben könne. Jenseits der Trennscheibe sah ihre Mutter mit tränenvollem Gesicht ihren Kampf.
Als sie ihr Ende kommen sah, bestellte sie einen Priester. Doch das Koma habe wie ein Elektroschock gewirkt und sie
glaubte unsterblich zu sein. Dann aß sie und kam auf 38 Kilo. Auf dem Rückweg von Spanien, in Lourdes, betet sie für
andere, die wirklich Kranken, die „vrais malades“, wie sie meint. Was meint IC eigentlich, was sie hat? Ihre eigene „vrai
malade“ sieht sie nicht; sie ist nur Zeugin Rébecca. Dann reiste sie mit Maman nach Deutschland, wo sie beide einige
Male früh morgens ohne zu bezahlen das Hotel verließen. Schließlich zog sie nach Marseille. Mit 24 lernte sie einen
sanften und geduldigen Mann kennen, der sie in die Vergnügen der körperlichen Liebe einweihte und verlor ihre
Jungfernschaft. Der Mann war verheiratet, was sie nicht störte. In seiner Zärtlichkeit fand sie eine Energiequelle –
einen „vrai Papa“ - die/der ihr im Kampf gegen ihre Krankheit geholfen habe.
Über ihren Blog fand IC Kontakt zum Fernsehen. TF1 interessierte sich für sie und wollte in einem Bericht zeigen,
wie schwer es sich mit der Krankheit lebt. Auch wollte man sie mit Anhängern der ProAna-Bewegung konfrontieren,
die die Krankheit als Lebensform feiert. Schließlich begegnete sie dem Starfotograf Oliviero Toscani, der die Mailänder
Plakate herstellte, die wiederum zu zahlreichen Kontakten mit der Presse führten.
Am 17.11. 2010, kurz nach einem Aufenthalt in Japan, stirbt IC. Dort war sie mit ausgemergeltem, alt wirkendem
fahlem Gesicht, in einen bunten Kimono gesteckt, zusammen mit blutjungen, bildhübschen zierlichen Japanerinnen
aufgetreten. Den nicht anders als gruselig zu bezeichnende Auftritt kann man in dem Dokumentarfilm „Seht mich
verschwinden“ von Kiki Allgeier, D/F/I 2014 verfolgen. Er erinnert an die 13-jährige IC im Debütantenkurs, bei dem sie
sich monströs, disproportioniert vorkam, weil sie, die anderen Kinder um Kopfgröße überragend, in Alter, Größe und
Bekleidung fehlplaziert war.
2 Monate später, also kurz nach ICs Tod, suizidierte sich ihre Mutter. In einem Dorf im Süden Frankreichs hat Joseph eine kleine Kapelle errichten lassen. Dort sind Mutter und Tochter beerdigt
Zusammenfassung
Wir haben gesehen, wie entscheidend es für die Entwicklung und die Identität eines Kindes ist, sich aus der
Kindimago der Eltern befreien zu dürfen. Wie viele Essgestörte auch konnte sich IC aus dem anatomischen Körper
jedoch nie eine gesunde Körper-Leib-Einheit bilden. Allenfalls hat sie rudimentäre Vorstellung von einem eigenen
Körper/Leib. Der Körper bleibt für sie ein Fremdkörper, weil er ihrer Mutter gehört. Sie diktierte, wie groß ihr Körper
sein, wie er zu pflegen und ob und wo sie ihn zeigen darf. IC fühlt den Körper nicht und fühlt sich nicht für ihn verantwortlich, weil er nicht ihr Körper ist. Das hat sie eindrücklich in der Begegnung mit Georges beschrieben. Kaum eine
essgestörte Patientin erinnert sich, sich an die Mutter angeschmiegt, mit ihrem Körper gespielt, ihn erkundet zu haben, um sich über den Körper der Mutter einen eigenen anzueignen. Von IC erfahren wir darüber auch nichts. Es lassen sich keine dafür erforderlichen frühen Spuren lustvoll homoerotischer Identifizierung mit ihrer Mutter erkennen.
Hingegen konnten wir mitverfolgen, dass und wie auf der gestörten Körperentwicklung ein pathologisches Bild vom
Selbst entstanden ist. Grund der gestörten Entwicklung des Selbst war, dass sich IC nicht davon befreien durfte, die
Funktion eines Selbstobjektes für ihre Mutter einzunehmen. Sie war aber auch Substitut für Mutters Bruder, vielleicht
auch für die Großmutter (als sie glaubte, für ihre Mutter kochen zu müssen), möglicherweise auch Substitut für Vater
Joseph, der häufig abwesend war und schließlich war sie war Erinnerungsobjekt an Mutters paradiesische Zeit mit
dem Schlagerbarden. Dieses Schicksal narzisstischer Funktionalisierung durch ein Elternobjekt teilt sie mit den meisten
Essgestörten. IC blieb für ihre Mutter noch im Tod Selbstobjekt, von dem sie sich nicht trennen konnte. Man könnte
auch sagen: Nicht einmal der Tod erlaubte es IC, sich der Funktionalisierung durch ihre Mutter zu entziehen. Musste
sie zu Lebzeiten mit ihrer Mutter Bett, Krankenzimmer und Teller teilen, so nun auch das Grab. Einmal Selbstobjekt,
immer Selbstobjekt. Wir haben es dabei aber nicht mit einer Symbiose zu tun, wie IC irrtümlich meint, sie spricht von
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„vergifteter Symbiose“ , weil von einer Symbiose beide Partner profitieren, während sich im vorliegenden Fall nur die
dominante Depression der Mutter befriedigt, das Kind sich opfert.
IC schreibt, ihre Geschichte sei ihr lange verrückt erschienen und sie nicht gewagt habe, darüber zu reden. Sie
habe sich geschämt zu offenbaren, was ihre Kindheit und Jugend gewesen war, und fürchtete, die Leser könnten die
eigentliche Heldin, ihre Mutter, falsch einschätzen. Aber wie heilen, so IC, wenn sie sich nicht von ihr löse, nicht in der
Lage sei, ihre Mutter wie eine gewöhnliche und eigenständige Person zu sehen, und nicht wie die allmächtige und
bewunderte Gottheit. Und dann ergeht an den Leser die Bitte, ihre Mutter nicht zu verurteilen: „Verdammt sie nicht,
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auch sie ist ein Opfer, dem niemand zu Hilfe kam.“ Das tun wir nicht, sondern versuchen, ICs Mutter aus ihrer eigenen Geschichte heraus zu verstehen und die Gottheit dadurch menschlicher zu machen und damit ihre Fehler zu relativieren. Man hätte indes auch gerne etwas mehr über den Hintergrund des Vaters gewusst. Aber es ist klar: die Bedeutung, die er in ICs Seelenleben eingenommen hat, spiegelt sich im Text wider. Er bleibt geschichtslos.
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symbiose vénéneuse
Ne la condamnez pas, c’est, elle aussi, une victime que personne n’a secourue.
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Noch einmal: Die Plakate
Aber einige kritische Anmerkungen müssen sein. Sie betreffen die eingangs erwähnten Plakate von Mailand und
deren Rechtfertigung, die wir nun, nachdem wir die Geschichte der IC kennen, in einigen Aspekten besser verstehen
können.
Da ist zunächst die Frage, ob es wirklich ihr Anliegen war, über die Krankheit aufzuklären? Hören wir den Photographen Toscani: „Es ist schrecklich, was derzeit passiert. Isabelle redet unablässig über sich selbst und ist zum Starlet
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der Magersucht geworden.“ IC erzählt: „Hunderte von Journalisten hinterlassen mir Nachrichten auf meiner mailbox.
Ich war in Mailand während der Modewoche, ich war in Madrid fürs Fernsehen und in ‚El Mundo’, ich war in den fran96
zösischen Nachrichten. Nächste Woche fliege ich nach New York, für CBS.“ Die ganze Welt sieht sie. Sie ist Starlet.
D.h. zunächst: Hurra, ich bin. Aber eigenem Bekunden nach will IC negatives Vorbild sein, will zeigen, wie man als
Leiche aussieht. Passt dieses Sendungsbewusstsein zu einem Starlet, das unablässig über sich selbst redet?
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Und was tut der Starfotograph? Er behauptet, wir lebten „in einer magersüchtigen Welt.“ Gut, er sieht offenbar
nur seine Plakate. Vielleicht sollte er mal zwei Schritte zurücktreten, damit er den Rest der Welt auch sehen kann.
Sicher, alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Welt den Körper in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Medial
vorgegebene Körperbilder geben eine Anleitung, wie der Körper zu handhaben und zu kontrollieren sei. Die Vorgaben
kommen der Sehnsucht nach Eindeutigkeit entgegen und geben Orientierung in einer Welt der Pluralisierung, der
Polykontextualität, im never-ending der Bewertungen, Interpretationen und Gültigkeiten. Aber der Körper ist damit
auch dem Zwang unterworfen, sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Trend, wie er sich im Schönheitskult und Hygienewahn artikuliert, konform zu verhalten. Ob man jedoch von einer „magersüchtigen Welt“ sprechen kann, würde ich
bezweifeln. Da scheinen übergeordnete Kategorien wie ein Zwang zur Idealität und Perfektion als ‚Zeitdiagnose’ besser zu greifen.
Fraglos dienen die Plakate und deren Folgen der einst Eingesperrten dazu, die Wunden der Kindheit zu schließen.
IC kann das Gefühl haben, von dieser Welt zu sein und von den Blicken der Betrachter getragen zu werden, wie sie das
bei ihrem Violin-Auftritt beim Clip erlebt hat und damals Freiheit witterte. Und dass die stets im Gesicht Verschleierte,
die ihr Wachstum verstecken musste, sich nun in voller Länge und ohne jegliches Verhüllende fotografieren lässt, ist
auch nachzuvollziehen.
Wir wissen aber auch, IC erfüllt damit den Auftrag ihrer Mutter, einen Auftritt im TV zu haben. Das tut sie nun,
zwar nicht als Menhuin, aber als Starlet. Da sie nun aber gerade das zeigt, was sie als Kind nicht zeigen durfte, könnten
die Plakate auch eine öffentliche Anklage und Beschämung ihrer Mutter sein, denn was muss in der angesichts einer
solchen öffentlichen Präsentation vor sich gegangen sein? Ob sie wieder befürchtet hat: „«Tu veux ma mort, hein,
c’est ce que tu veux!» Wir ahnen, warum Mütter ihre anorektischen Töchter anklagen: „Warum hast Du mir das angetan?“ Hat IC ihre Mutter möglicherweise mit den Plakaten in den Suizid getrieben? Dann hätte sie mit dem Skelett
einen Sieg über ihre Mutter errungen. Die Plakate wären somit veröffentlichtes Zeichen ihres Triumphes über ihre
Mutter.
Sie zeigen aber auch die andere Seite, die den Triumph als Schimäre, als beschönigendes Trugbild ausweist. In
Wirklichkeit sind die Skelette die Verlierer. Ihre Körper sind der eigentlichen Verwendung, Wohnstätte des Selbst zu
sein, enthoben und einer anderen Ordnung zugeführt worden. Bei IC dient der Körper als Selbstobjekt einer anderen
und in der Öffentlichkeit zur Abschreckung oder zu Werbezwecken. Wie ProAna zeigt, wird er zum Kunstgegenstand,
zum Schaustück, zum Exponat mit profanen Heiligkeit gemacht. Die Geschichte dahinter: Leid, Qual und Schmerz, die
einmal am Körper klebten, sind im Glanz der Scheinwerfer vergessen.
Auf den Plakaten sieht IC aus, als sei sie dem Gefängnis entflohen. Angstvoll schaut sie zurück, als fürchte sie,
wieder in die Kindimago ihrer Mutter eingesperrt zu werden, einem Käfig, dessen Gitterstäben sie nur entkommen
konnte, weil sie sich dünn machte. Flüchtend musste sie alles, restlos alles, zurücklassen. Aber ihr Blick zurück ist auch
der von Frau Lot, die, sich von Gomorrha nicht lösen könnend, zur Salzsäule erstarrt, während IC zum Skelett erstarrt,
weil sie sich vom Blick auf ihre Mutter nie lösen, nicht mit, aber auch nicht ohne Mutter leben konnte. Nun sitzt sie da,
mit langen Beinen, einsam, nackt, ausgemergelt, den Blicken ausgeliefert, aber in absolut professioneller Modelhaltung. Ihre Plakate zeigen die für diese Pathologie so zentrale Instrumentalisierung – jetzt durch die Medien.
All dies spricht noch nicht dagegen, diese Plakate könnten auch dazu dienen, vor der Magersucht zu warnen. Sehen wir also weiter. In ihrer Autobiographie erklärt IC, wie es zu den Nacktaufnahmen kam. Der Fotograf hätte sie
gebeten, den Slip auszuziehen, damit man die Psoriasis am unteren Rücken sehen könne. Und sie hat ihn ausgezogen.
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www.stern.de/lifestyle/leute
ibid.
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ibid.
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„Ich sagte mir immer wieder, ich opfere meine Schamhaftigkeit für einen guten Zweck.“ Man könnte dem Fotografen zugute halten, er habe die Psoriasis stellvertretend für all die sekundären Symptome zeigen wollen, die man
auf den Plakaten nicht sieht, aber heutzutage dem Betrachter bekannt sind: Haarausfall, gelbliche Haut, blutig geritzte
Unterarme, hämatomübersäte Oberschenkel, entzündetes Zahnfleisch, Schädigung des Magen-Darmtraktes,
Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Nierenversagen, Kältegefühl, Obstipation. Dass manche skelettierten Körper nur noch
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von der Fettsubstanz des Gehirns leben, wie das bei den Lollipopgirls der Fall sein dürfte, sieht man freilich erst,
wenn man davon weiß.
Zweifel sind trotzdem angebracht. Schauen wir, in welcher Show das Starlet auftritt. Die Psoriasis am Gesäß sieht
aus wie das zeitweise im Schönheitskult so beliebte sog. Arschgeweih und lenkt den Blick auf die einzigen zwei Rundungen, die dieser ausgemergelte Körper noch zu bieten hat: Zwei kleine runde Pobacken. Nur durch sie unterscheidet sich IC noch vom Lollipopgirl. Wir aber sehen uns an Georges erinnert, der seinen Gefallen an ihnen gehabt
haben dürfte.
In ihrer Autobiographie kommentiert IC die Plakate und weist daraufhin, der Betrachter könnte unsicher sein, ob
es sich um eine Frau handelt. Aber die beiden Hautsäckchen an der Brust würden das wohl sicher machen. Warum
sagt sie das? Ist sie sich ihrer selbst unsicher, ob male or female, ob Isabelle oder Jesus? Wem bisher noch nicht so
recht klar war, was es mit dem Unbewussten auf sich hat, der bekommt jetzt ein Paradebeispiel für seine Wirkweise.
S. Rosenkranz hat IC interviewt und darüber in stern. de/lifestyle berichtet. Sie eröffnet diesen Bericht mit dem Satz,
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der Körper werde von Caro nicht versteckt, sondern werde ausgestellt „wie der Leib Christi“ . Wie kommt sie auf
diesen Vergleich, der sich ikonographisch nicht ad hoc anbietet? Ich behaupte, sie hat mit ihrem Unbewussten auf das
Unbewusste ICs reagiert, denn da ist es wieder, das Jesulein! Das dürfte Frau Rosenkranz nicht bewusst gewesen sein,
muss es auch nicht. Ein Analytiker jedoch würde stutzig. Er würde sich fragen, wie er auf diesen Vergleich kommt, hat
er etwas mit der Patientin zu tun und dann zusammentragen, was er schon von ihr weiß oder in Zukunft diesbezüglich
auf Spurensuche gehen. Er würde hören: IC spricht von Hütte, Ochs und Esel und der Josephsehe ihrer Eltern, hören,
dass sie die Jesusverehrerin Thérèse zum Ideal genommen hat, und schließlich, dass sie sich ihrer Identität ob male or
female unsicher ist. Und dann würde er deuten, dass IC in ihrem Unbewussten Jesus sein möchte mit allen Implikationen, z.B. dieser: „Ich sehe mich als Botschafterin gegen die Anorexie … Was ich tue, mache ich für die Millionen von
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Mädchen, die leiden.“
IC fährt fort, die Person lagere ausgestreckt am Boden, ein leicht angewinkeltes Bein verhindere den Blick auf die
Scham. Und nun eine bemerkenswerte Betrachterlenkung: Als Ersatz, oder als Gegenleistung (en revanche) könne der
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Betrachter sehr gut die Knochen besichtigen. Er könne sie sogar zählen. D.h., er soll detailliert den Körper absuchen,
ihn sozusagen mit Blicken streicheln. Das große Zuwendungsbedürfnis der sich Präsentierenden ist auf Anhieb erkennbar. Schaut man Caro in die Augen, so erkennt man eine tiefe Verzweiflung, von ProAna als engelhafte, perfekte,
bittersüße, märchenhafte Melancholie verkauft.
Die Plakate erhalten einen Hinweis auf ICs libidinöse Ausrichtung. Die Libido scheint vom Genitale auf die Knochen verschoben, was Grund ihres Vaginismus sein könnte, Zeichen erhöhter Reizbarkeit, die die Mutter nicht erlaubte. Anstatt Genitallust Knochenlust. Es geht um Knochenerotik, die den Betrachter braucht. Sieht man sich bei
ProAna unter den Thinspos um, findet man diese Verschiebung als wesentlich bestätigt. Sie präsentieren ihre Knochen
mal stolz, mal schamhaft flirtiv oder machen sie zum Fetisch. Da wir Knochen vom Schädel bis zu den Fußspitzen zu
sehen bekommen, wäre der ganze Körper wie ein Schambein zu verstehen, ein Ganzkörperschambein entsprechend
dem Ganzkörperphallus. Damit wäre die sexuelle Ausrichtung zumindest der Thinspos angezeigt. Toscanis Bemerkung,
IC rede unablässig über sich selbst und sei zum „Starlet der Magersucht“ geworden, gewinnt darüber an Bedeutung.
Darüber drängt sich die Frage auf, ob die als abschreckendes Beispiel für Magersucht inszenierten Plakate wirklich abschrecken, oder ob hier unter der Maske eines ‚guten Zwecks’ exhibtionistisch-narzisstische Lust befriedigt
werden soll. Geht es also um Triebbefriedigung unter dem Vorwand der Aufklärung? Der Fotograf könnte in diesem
Fall seinen beruflichen Narzissmus als Werbefotograf befriedigen und ICs Rausch im Medienrummel spricht dafür,
dass sie Befriedigung findet und sie glorifiziert. Da drängt sich eine Parallele zum französischen Rokoko auf, dort zur
Romanfigur Eradice, die vom frommen Pater Dirrag, der, besessen von ihren hübschen Formen, auf Mittel und Wege
sinnt, sie zu besitzen. Lüstern erfand er das Märchen vom Strick des Heiligen Franziskus, einer angeblich kostbaren
Reliquie, die in Eradices Körper eingeführt werden müsse, um deren Unreinheit zu vertreiben und sie dadurch die
höchste Wonne des Geistes erfahren zu lassen. « Du mußt dein Hemd höher heben», befahl der fromme Mann seiner
lieblichen Büßerin. Eradice warf sich, mit einem Gebet au f den Lippen, ohne Zögern zu Boden. «Ja, so ist es gut. Und
nun falte die Hände und erhebe deine Seele zu Gott. …. Die Züchtigung, die ich dir verabreichen werde, soll dir helfen,
deinen Geist zu Gott zu erheben». Eradice war in allem ein vollendetes Opferlamm. Die Stimme des lieben Beicht98
Je me répète que c’est pour la bonne cause que je sacrifie ma pudeur
Ein Lollipopgirl will eine Figur haben wie ein Lutscher am Stiel - wie ein Lolli eben. Es wünscht sich einen streichholzdünnen Körper mit lediglich
einer einzigen Rundung - dem Kopf. Lollipopgirl ist der Superlativ von dünn. Danach käme noch der Exitus.
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www.stern.de/lifestyle/leute
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Zit. n. stern.de
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En revanche, ce qu’on voit très bien, ce sont les os
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kindes zitterte, als sie antwortete. «Ja, mein verehrungswürdiger Vater, ich habe meinen Geist zu Gott erhoben und
bitte euch, mit dem heiligen Werk zu beginnen.» «Gut», rief der unheilige Mann, «du sollst mit mir zufrieden sein,
meine Tochter» und dann verging er sich in vorgetäuschter heiliger Mission an ihr a tergo, während sie bettelte:
«Mein Vater, ja, ja, ... jagt doch den letzten Rest von Unreinheit aus meinem Körper! Oh . . . ich sehe die Engel... stoßt
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mehr! Ah, ... wie gut, wie gut! St. Franziskus, verlaß mich nicht, ich fühle deinen heiligen Strick.» Dazu fallen mir nur
die Gebrüder Goncourt ein, die in ihren Tagebüchern notieren, Religion sei ein Teil des weiblichen Geschlechtslebens.
Bleibt zu ergänzen: Wir Männer beten gern mit.
Selbst das widerspricht noch nicht der Behauptung, die Plakate sollten der Abschreckung dienen. Dass die Plakate
jedoch fatal dem entsprechen, was man bei ProAna zu sehen bekommt, das allerdings widerspricht der Behauptung.
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Und dort wird die Krankheit kurzerhand und webewirksam umdefiniert: »Anorexia is a lifestyle, not a disease« , eine
gefährliche Verführung zur Krankheitsverleugnung (Anosognosie) und ein Missbrauch des weiblichen Körpers als Projektionsfläche für kranke Lebensentwürfe.
IC hat in ihrer Autobiographie vom bitteren Körper- und Seelenleid erzählt. Auf den Plakaten zeigt sie die Notlage
am Körper. Dort zeigt sie nur den entleibten anatomischen Körper. Das genau tun die Thinspos auch, die sich übrigens
wie IC auf den Plakaten häufig seitlich vor den Spiegel stehend dem Betrachter anbieten. Bauch soll man ebenso wenig sehen wie Brüste, von IC lustfern als Hautsäckchen bezeichnet. Auch die Streckhaltung des Körpers hat wie bei den
Thinspos Methode: Man soll die Rippen zählen können. Überdies lassen sich die einzelnen Rückenwirbel vorführen
und die Schulterblätter sollen wirken, »als würden mir Flügel wachsen - endlich – nach langem Warten oder wie die
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gebrochenen Flügel eines gefallenen Engels« , so ein Thinspo. Ein anderes meint, die Schlüsselbeine sollten hervorstehen, um sich wie ein zierliches Wesen voll Glanz, rein zart und zerbrechlich aussehen zu lassen.
Hier wie dort entsteht der Eindruck, die lasziv hingestreckten ausgemergelte Körper seien zu den gekünstelten
Posen kräftemäßig längst nicht mehr fähig, sondern könnten sich wegen kachektischer Schwäche nicht mehr auf den
Beinen halten. Der Eindruck verstärkt sich, wenn die Körper so abgelichtet werden, als schwebten sie tatsächlich wie
geflügelte Wesen im Raum, was ganz dem Wunsch Esskranker entspricht: Keine Spuren hinterlassen, weder bei Personen, noch im Raum, noch im eigenen Bauch. »Ich möchte gehen können, ohne Geräusche zu machen, auf dem Wasser
laufen ohne einzutauchen, über Sand und Schnee ohne Abdrücke zu hinterlassen, durch die Welt schweben wie eine
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Feder«.
Wir erhalten von IC einen weitern Hinweis: die Frau auf den Plakaten scheint lebendig, aber man könne auch ahnen, wie sie zu Tode kommt. Ferner: Ihr Alter sei kaum abschätzen. Ihr Blick habe etwas von einem verlorenen Kind,
der Körper und die Haut wirkten wie die einer Gealterten. Sie lebt in einem Zwischenraum. Auch dies bestätigt ProAna, die exakt diesen Zustand als erstrebenswert anpreist. Würde ICs Körper nicht einen zarten Schatten werfen,
könnte man meinen, sie schwebe im Weltall.
Was sehen wir noch? Das Haar ist züchtig streng gescheitelt glatt am Kopf anliegend. Schmales, blasses Gesicht,
Kiefer- und Wangenknochen, die die Augen besonders groß aussehen lassen sowie eng am Kopf anliegende Ohren.
Das erinnert an die Symbole menschlichen Todes, die bis Mitte des 18. Jhds gültig waren: Totenkopf und Skelett, bis es
zur ikonographischen Neuorientierung kam und Skelett und Schädel durch Engel in langen Gewändern ersetzt wurden.
In ICs Buch sieht man Fotos, die den axial gedehnten Körper steil von oben gesehen ablichten. Der Blick des Betrachters wird aufdringlich verengt auf Körperdetails. Die Schlüsselbeine stehen wie Balken hervor. Man erkennt den
Anfang des Oberarmknochens und dessen Übergang zur Schulter. Wegen der Dürre der Arme wird der Ellenbogen zur
dicksten Stelle. Am Unterarm sind Eile und Speiche zu unterscheiden. Die Finger lassen die Gelenke erkennen. Die
Oberschenkel sind dünn wie die Arme und lassen das Knie deutlich als Knochen erkennen. Die Waden sind nur knapp
dicker als die Fußgelenke. All dies ist erklärtes Ziel der Thinspos, entspricht ihren Vorstellungen vom Idealkörper und
steht in Einklang mit ihren Körperphantasien: mit anmutigem Schritt durch die Welt staksen, ohne aneinander reibende Oberschenkel, mit langen dünnen Storchenbeinen - wie ein Lollipopgirl. So werden für an Anorexie Erkrankte
die Plakate zum „ästhetischen Vergnügen 1. Grades“ (Walter Benjamin) und versprechen kommende Freuden: den
absoluten Triumph über den Teufel Hunger.
Wie ProAna den skeletal look idealisiert, um die Differenz zwischen Wirklichkeit und Ideal werbewirksam ausbeuten zu können, so tun es auch die Plakate des Werbefotografen. Sie sind eine Aufforderung zu Anverwandlung, weil an
Anorexie Erkrankte im Spiegel zwar ihre Dürre sehen, sich aber trotzdem für ein „fettes Schwein“ halten, weil noch
nicht dünn genug. Wie alle Objekte der Werbung keine Obergrenze kennen, es immer noch besser, größer, schöner,
schneller, sauberer geht, so gaukeln die Plakate vor, auch Magerkeit kenne keine Grenze: Du kannst noch dünner sein
als Du es bist! Eine Kessa berichtet auf einer website: »I would stare at these models and tell myself over and over
again that they were beautiful and perfect, and that I could be just like them. Eventually, even very emaciated girls
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Marquis d’ Argens: Thérèse Philosophe. Ein Sittenbild aus dem 18. Jahrhundert
suchtmittel.de
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rainbow-thinspiration.chapso.de
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ibid.
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didn’t scare me«. Jeder Schritt in die Magerkeit eröffnet die Aussicht auf den nächsten Schritt und erzeugt damit
das Verlangen, diesen Schritt zu tun, weil für an Anorexie Erkrankte der skeletal appeal Identitätsmedium und Identifikationsoberfläche ist.
Kurzum: Wider alle Beteuerung sind die Plakate keine Abschreckung, kein No zur Anorexie, sondern Werbung für
ein Pro. IC wird zur Heldin der Pro-Ana-Foren oder – Anas ergebenes Lollipopgirl
Der Kritik wegen wurden die Plakate nach wenigen Tagen wieder entfernt.
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Frankfurt im Februar 2016
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Ich würde diese Models bestaunen und mir immer und immer wieder sagen, dass sie schön und perfekt wären, und dass ich genau wie sie sein
könnte. Vielleicht würden selbst sehr abgemagerte Mädchen mich nicht erschrecken. (observer.com).
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