Informierte Entscheidung als patientenrelevanter Endpunkt

THEMEN DER ZEIT
PATIENTENRECHTE
patientenrelevanter Endpunkt
er Wunsch, Patientinnen und
Patienten in den medizinischen Entscheidungsprozess einzubeziehen, ist nicht neu. So hat das Bundesministerium für Gesundheit bereits vor mehr als 15 Jahren einen
Förderschwerpunkt „Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ ins Leben gerufen (patientals-partner.de/). Auch in den DiseaseManagement-Programmen war die
informierte Entscheidung der Betroffenen von Anfang an klar als Ziel definiert. In zahlreichen Leitlinien finden sich mittlerweile gleichlautende
Bekundungen. Nicht zuletzt stellt das
Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte
Medizin seine Jahrestagung 2016 unter das Motto „Gemeinsam informiert
entscheiden“ (ebm-kongress.de).
D
Ziel: informierte Entscheidung
Während dieser gemeinsame Entscheidungsprozess – Shared DecisionMaking (SDM) genannt – Gegenstand (inter)nationaler Fachtagungen
und gesundheitspolitischer Veranstaltungen ist, bleiben die praktischen Konsequenzen für die Patientenversorgung überschaubar. So zeigen beispielsweise Zehnjahrestrendanalysen im onkologischen Bereich
kaum Verbesserungen auf entsprechenden Indikatoren (1). Um dies zu
ändern, schlagen wir vor: SDM sollte
nicht primär als Vehikel verstanden
werden, um krankheitsbezogene patientenrelevante Endpunkte, wie et-
A 322
Seit dem Patientenrechtegesetz ist
klar: ohne informierte Entscheidung
keine medizinische Intervention.
Notwendig ist ein Paradigmenwechsel in der Nutzenbewertung des
Shared Decision-Making (SDM).
wa die Morbidität, zu verbessern,
wie dies beispielsweise Hauser et al.
in DÄ, Heft 40/2015 tun (2). Vielmehr sollte die informierte Entscheidung als das Ergebnis von SDM
als eigenständiger patientenrelevanter
Endpunkt betrachtet werden. Dass
dies möglich und vom Gesetzgeber
ausdrücklich gewünscht ist, soll dieser Beitrag zeigen.
Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln und medizinischen Methoden im deutschen Gesundheitssystem folgt der klassischen Einteilung patientenrelevanter Endpunkte
in Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogene Lebensqualität
(3). So fordert § 39 b SGB V für
Arzneimittel eine Beurteilung des
Patientennutzens „insbesondere“ anhand der Kriterien „Verbesserung
des Gesundheitszustandes, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung der Lebensdauer, Verringerung
der Nebenwirkungen sowie Verbesserung der Lebensqualität“.
Die Voraussetzung für ein SDM
ist, dass es mindestens zwei
(Be-)Handlungsalternativen (ein-
schließlich Verzicht auf eine Behandlung) gibt. Das Ziel einer SDMIntervention ist eine informierte Entscheidung, nicht jedoch die Verbesserung von krankheitsbezogenen patientenrelevanten Endpunkten. Wenn
beispielsweise eine SDM-Intervention keine oder geringe Auswirkungen
auf diese patientenrelevanten Endpunkte zeigt, gleichzeitig aber eine
informierte (oder „informiertere“)
Entscheidung ermöglicht, sollte sie
ebenfalls einen Nutzen zugeschrieben bekommen. Die informierte Entscheidung als Ergebnis eines SDM
sollte daher selbst als patientenrelevanter Endpunkt betrachtet werden.
Beispiel randomisierte Studie
Ein gutes Beispiel ist die randomisiert kontrollierte Studie von Steckelberg et al. an 1 577 Versicherten einer gesetzlichen Krankenkasse
(Gmünder Ersatzkasse) in Deutschland (4). Die Studienteilnehmer entsprachen der Zielgruppe für Darmkrebsscreening (50 bis 75 Jahre alt
und keine Darmkrebsdiagnose). Die
Interventionsgruppe erhielt eine Informationsbroschüre mit Angaben
zu natürlichen Häufigkeiten von
Darmkrebs sowie zu Nutzen und
möglichen Trugschlüssen aus einer
Screeninguntersuchung mit dem Okkultbluttest (Lead-time-bias, falschpositive Befunde). Zusätzlich wurden Nutzen und Nebenwirkungen
der Koloskopie und der SigmoidoDeutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 8 | 26. Februar 2016
Foto: Fotolia/Vasily Merkushev
Informierte Entscheidung als
THEMEN DER ZEIT
skopie in absoluten Zahlen sowie alternative Untersuchungen dargestellt. Inhalte und Zahlenangaben in
der Broschüre entsprachen der Guten Praxis Gesundheitsinformation
(5). Neben der Broschüre standen
der Interventionsgruppe interaktive
Anteile der Entscheidungshilfen im
Internet zur Verfügung. Die Kontrollgruppe erhielt die „Patienteninformation Darmkrebs Früherkennung“ des Gemeinsamen Bundesausschusses, die keine quantitativen
Angaben zu Nutzen und möglichen Nebenwirkungen der einzelnen
Screeningmethoden gegenüberstellt.
Der primäre Endpunkt war die informierte Entscheidung. Dieser Endpunkt bewertet sowohl das Wissen
über die jeweilige Intervention als
auch das Ausmaß, in dem die getroffene Entscheidung den jeweiligen
Präferenzen der Befragten entspricht. In der Interventionsgruppe
trafen 44 Prozent eine informierte
Entscheidung, in der Kontrollgruppe
12,8 Prozent. Dieser Unterschied
war statistisch signifikant. Auch andere Endpunkte wie Wissen und Einstellung zum Screening wurden signifikant verändert. Bezüglich der
Inanspruchnahme des Früherkennungsangebots (okkulter Bluttest
oder Koloskopie) nach sechs Monaten zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied. Zum Endpunkt
darmkrebsbedingte Mortalität wurden keine Daten berichtet. Ist diese SDM-Intervention nun trotzdem
nützlich? Wir meinen: ja!
Das SGB V steht diesem Vorschlag nicht entgegen: Die unter den
Begriffen Mortalität, Morbidität und
gesundheitsbezogene Lebensqualität
zusammenzufassenden, etablierten
patientenrelevanten Endpunkte sind
„insbesondere“, nicht aber ausschließlich zu berücksichtigen. Die
informierte Entscheidung würde so
zum Maßstab der Nutzenbewertung
von Interventionen, die SDM stützen
sollen – was läge näher?
Das hohe Gut der Gesundheit
steht nicht alleine im Fokus medizinischer Maßnahmen. Mitzudenken
ist immer das Selbstbestimmungsrecht des Patienten – verfassungsrechtlich garantiert in den Artikeln 1
und 2 des Grundgesetzes. Zum
Schutz des Selbstbestimmungsrech-
A 324
tes muss der Arzt vor jeder medizinischen Maßnahme vom Patienten eine informierte Einwilligung einholen. Grundlage der informierten Einwilligung soll die informierte Entscheidung des Patienten darüber
sein, ob er eine medizinische Maßnahme vornehmen möchte, eine andere vorzieht oder sie ganz ablehnt.
Diese Grundsätze hat der Gesetzgeber mit dem Patientenrechtegesetz
(PatRG) 2013 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) niedergelegt.
Paradigmenwechsel nötig
Unter „informierter Entscheidung“
wird im PatRG eine Entscheidung im
Rahmen einer medizinischen Behandlung verstanden, die vom Arzt
und vom Patienten durch den Austausch der notwendigen Informationen gemeinsam vorbereitet wurde. Im
Rahmen dieses Entscheidungsprozesses informiert also nicht allein der Behandelnde über medizinische Sachverhalte, sondern gleichermaßen der
Betroffene über seine Lebenswirklichkeit und Präferenzen. Mit medizinischen Informationen sind in diesem
Zusammenhang verständliche Informationen gemeint, die auf der Synthese des aktuellen medizinischen
Wissensstandes („evidenzbasierte Informationen“) bezüglich aller vorhandenen Alternativen beruhen.
Damit hat der Gesetzgeber seinen
Willen deutlich gemacht, in jedweder Behandlungssituation eine informierte Entscheidung zu erreichen.
Die Charakteristika von SDM (nach
6) und deren Umsetzung im Patientenrechtegesetz sind:
● Entscheidungsprozess mindestens zweier Personen: des Patienten
und des Arztes (ggf. zusätzlich anderer medizinischer Fachberufe, Angehöriger etc.), umgesetzt in: § 630 c
Abs. 1, § 630 e Abs. 2 Ziff. 2 BGB,
● aktive Beteiligung beider am
Prozess der Entscheidungsfindung,
in: § 630 c Abs. 1 BGB,
● gegenseitige Information im
Verlauf des Prozesses, in: § 630c
Abs. 1 und 2, § 630 e Abs. 2 BGB,
● Zustimmung zur Behandlungsentscheidung und Bereitschaft zur
aktiven Umsetzung § 630 c Abs. 1,
§ 630 e Abs. 2 Ziff. 2 BGB.
Wenn beim Thema SDM eine flächendeckende Veränderung in der
Versorgung erreicht werden soll, bedarf es eines echten Paradigmenwechsels. SDM darf nicht mehr ausschließlich als Prozessmerkmal einer
guten Arzt-Patienten-Beziehung betrachtet werden, das „nice to have“,
aber nicht unbedingt erforderlich ist.
Das Ergebnis von SDM, die informierte Entscheidung des Patienten,
muss selbst zum Ziel, zum patientenrelevanten Endpunkt medizinischer
Interventionen werden. Welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können (nationale Plattform für
Entscheidungshilfen, Verbesserung
der unabhängigen Patientenberatung,
Schulung von Professionellen, Implementierung von SDM in Leitlinien,
flächendeckende Implementierung
von SDM in Kliniken), haben beispielsweise die Niederlande beein▄
druckend gezeigt (7).
Dr. jur. Anne Rummer, Dr. rer. medic.
Fülöp Scheibler, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
LITERATUR
1. Ansmann L, Kowalski C, Pfaff H: Ten Years
of Patient Surveys in Accredited Breast
Centers in North Rhine-Westphalia. Geburtshilfe Frauenheilkd 2016; 76(1):
37–45.
2. Hauser K, Koerfer A, Kuhr K, Albus C, Herzig
S, Matthes J: Outcome-Relevant Effects of
Shared Decision Making. Dtsch Arztebl Int
2015; 112(40): 665–71.
3. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen: Allgemeine Methoden:
Version 4.2. Köln: IQWiG; 2015.
URL:/www.iqwig.de/download/IQWiG_Me
thoden_Version_4–2.pdf.
4. Steckelberg A, Hülfenhaus C, Haastert B,
Mühlhauser I: Effect of evidence based risk
information on „informed choice“ in colorectal cancer screening: randomised controlled trial. BMJ 2011; 342: d3193.
5. Arbeitsgruppe GPGI: Gute Praxis Gesundheitsinformation. Z EvidFortbildQualGesundhwesen (ZEFQ) 2016; (110–111):
85–92.
6. Charles C, Gafni A, Whelan T: Shared decision-making in the medical encounter:
what does it mean? (or it takes at least two
to tango). Soc Sci Med 1997; 44(5):
681–92.
7. van der Weijden T, van Veenendaal H, Drenthen T, Versluijs M, Stalmeier P, Koelewijnvan Loon M, et al: Shared decision making
in the Netherlands, is the time ripe for nationwide, structural implementation? Z Evid
Fortbild Qual Gesundhwes 2011; 105(4):
283–8.
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung der
Autoren wieder und nicht notwendigerweise die
des IQWiG.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 8 | 26. Februar 2016