Abstracts des Workshops SDM

Workshop: Shared Decision-Making (SDM): Fortschritte in der Umsetzung eines von
allen gewünschten Modells?
Titel der Einzelbeiträge:
Theorie / Forschung
Philipp Storz-Pfennig: Praxisvariationen und „Entscheidungsqualität“: Welche Rolle spielt die generelle Erkenntnis zu Nutzen und Schaden von Interventionen beim SDM?
Norbert Donner-Banzhoff: Wenn man lange durchhält, ist Kriechen eine sehr effektive Form der
Fortbewegung
Martin Härter: Forschungsentwicklung zur patientenzentrierten Medizin und zu SDM im internationalen Kontext: Wo stehen wir?
Corinna Schaefer: Handlungsleitende Empfehlung und individuelle Entscheidung: ein Widerspruch?
Ausgewählte Beispiele zur Implementierung
Ingrid Mühlhauser: Shared Decision Making ohne Entscheidungshilfen: des Kaisers neue Kleider
Jürgen Kasper, Katrin Liethmann, Friedmann Geiger: Von SDM-Inseln zur Vollimplementierung
Tanja Krones: Ethische Entscheidungsfindungsmodelle in der Praxis: SDM und Decision Aids als
zentraler Bestandteil in der Leitlinie Frühgeborene
Dennis Fechtelpeter: Option Grids – eine Option für die Praxis?
Wolfgang Blank: Sind die SDM-Konzepte in der allgemeinmedizinischen Versorgung angekommen?
Entscheidungshilfen und Regelversorgung
Ekkehard von Pritzbuer: Sind Entscheidungshilfen „Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“?
Klaus Koch: Entscheidungshilfen des IQWiG zu Früherkennungsmaßnahmen
Anne Rummer, Fülöp Scheibler: Welchen Nutzen hat SDM für Patienten, welche Endpunkte sind
patientenrelevant?
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Abstracts:
Praxisvariationen und „Entscheidungsqualität“: Welche Rolle spielt die generelle Erkenntnis zu Nutzen und Schaden von Interventionen beim SDM?
Philipp Storz-Pfennig
GKV-Spitzenverband, Berlin
Die Bertelsmann-Stiftung und die OECD haben sich, auch unter Beteiligung des Autors,
jüngst erneut der Frage angenommen ob und in welchem Ausmaß das jahrzehntealte immer
wieder festgestellte Phänomen eigentlich kaum erklärlicher kleinräumiger „Praxisvariationen“
sich auch hier und heute findet. Das wenig überraschende Ergebnis: Es sind findet sich,
deutlich ausgeprägt, insbesondere auch auf den bekannten Problemfeldern häufiger „mengenanfälliger“ Operationen wie u. a. Arthroskopien, koronaren Revaskularisationen, Hysterektomien. Dass solche Ergebnisse immer wieder als provozierend erscheinen, sich aber
dennoch seit Jahrzehnten hier kaum etwas geändert hat, erscheint doch sehr bemerkenswert. Es ist an der Zeit, ein Handlungskonzept zu entwerfen, mit dem die Unentschlossenheit
und Inkonsequenz bisheriger Thematisierungen überwunden werden könnte. Auf Grund der
Erfahrung mit der Thematik im wissenschaftlichen und politischen Raum wird ein solches
Konzept vorgestellt. Es geht davon aus, dass sozialgeographische und angebotstrukturelle
Aspekte, Fragen der individuellen Präferenzen und „medizinischen Meinungen“ und auf einer
belastbaren Nutzenerkenntnis basierende Zugänge erst einmal deutlich unterschieden werden müssen. Gilt die Feststellung kritischer Variationen einzelnen Methoden oder Interventionen, so sind Besserungsversuche zu Fragen der professionellen, medizinischen Indikationsstellung (z. B. Leitlinien, Zweitmeinungen, Peer Review) und der Präferenzen von Patientinnen und Patienten (z. B. „decision aids“) und deren Zusammenwirken („shared decision
making“) dann kritisch wenn diese die bereits bestehende Erkenntnis nicht angemessen wiedergeben – oder wenn wesentliche Leerstellen der Nutzenerkenntnis mit deren Hilfe überbrückt werden sollen. Letztlich verweisen Ergebnisse der Praxisvariationen dann auf das zugrunde liegende Problem, dass nicht nur „Innovationen“ sondern auch lang praktizierte Verfahren häufig – trotz ihrer enormen Bedeutung in der Versorgung – kaum angemessen in Bezug auf ihren Nutzen bewertet wurden und werden. In dem Maße, wie dies trotz erheblicher
Barrieren dennoch gelingen kann, wird auch der „Spielraum“ für den Einfluss anderer als an
Nutzen und Bedarf orientierter Praxis und so schließlich auch darauf basierender Praxisvariationen begrenzt. In dem Maße wie dies nicht gelingt, sind auch immer wiederholte Erkenntnisse zu „unerklärlichen“ Variationen letztlich ohne Bedeutung.
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Wenn man lange durchhält, ist Kriechen eine sehr effektive Form der Fortbewegung
Norbert Donner-Banzhoff
Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Philipps Universität
Marburg
Shared Decision-making (SDM) verlangt von den im Gesundheitswesen Tätigen eine erheblich Umstellung von Einstellung und Verhalten. Dasselbe gilt für Patienten. Diese Umstellungen sind in den Zeiträumen, die von den typischen Implementierungsstudien erfasst werden,
nur ansatzweise und von Wenigen zu schaffen. Dass diese Studien oft „negativ“ ausgehen,
muss deshalb noch längst nicht bedeuten, dass eine Entwicklung zu stärkerer Patienteneinbeziehung nicht stattfindet oder gar nicht möglich sei.
Vielmehr gehe ich davon aus, dass Patienten bzw. Bürger immer informierter sind und immer
häufiger eigene Vorstellungen von ihrer Behandlung formulieren. Bei Ihnen wächst der
Wunsch, aktiven Einfluss auf die Behandlung zu nehmen. Allerdings reagieren medizinische
Versorgungssettings in unterschiedlichem Maße auf diese Entwicklungen. Manche Bereiche
erscheinen eher geeignet als andere, eine ergebnisoffene Beratung zu leisten (z.B. hausärztliche Versorgung vs. akute stationäre Versorgung).
Verständliche Aufbereitungen der Ergebnisse klinischer Studien, Entscheidungshilfen mit hoher Qualität und die Vermittlung von kommunikativen Fertigkeiten in der Ausbildung (nicht
nur der ärztlichen) sind notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen für eine von SDM
geprägte Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Bedroht wird diese Entwicklung weniger vom „alten“ Paternalismus, der sowieso langsam schwindet, sondern vielmehr von wirtschaftlichen (Fehl-) Anreizen, Interessenskonflikten von Leistungsanbietern (Organisationen)
und (vermeintlichen) technischen Imperativen. Eine hier ansetzende politische Strategie ist
deshalb mindestens genauso wichtig die Entwicklung und Evaluation von Instrumenten der
Patientenberatung.
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Handlungsleitende Empfehlung vs. individuelle Entscheidung – ein Widerspruch?
Corinna Schaefer
Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ)
Hintergrund: Die Leitliniendefinition (lt. AWMF-Regelwerk, aber auch Institute of Medicine, GI-N Standards) integriert die Idee des SDM, indem sie besagt: „Leitlinien sind als „Handlungs- und Entscheidungskorridore“ zu verstehen, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Die Anwendbarkeit einer Leitlinie oder einzelner Leitlinienempfehlungen muss in der individuellen Situation geprüft werden nach dem Prinzip der
Indikationsstellung, Beratung, Präferenzermittlung und partizipativen Entscheidungsfindung.“
Also – alles gut? Mitnichten. Eine Untersuchung von Alexander Nast von 2012 hat gezeigt,
dass Ärzte in Deutschland das Wording von LL-Empfehlungen nicht verstehen - vor allem
den Unterschied zwischen „soll“ und „sollte“ nicht - und eine Empfehlung eher als eine prinzipielle Aufforderung zum Handeln verstehen. Eine andere Untersuchung der Uni Düsseldorf
(Albers) hat gezeigt, dass die LL-Empfehlung von 2011, Männer ab 40 über PSA aufzuklären, zu einem sprunghaften Anstieg an PSA-Tests in dieser Altersgruppe geführt hat. Das
sind Hinweise darauf, dass Ärzte den „Geist“ der LL-Empfehlungen, wie ihn die AWMF versteht, in der Mehrzahl möglicherweise nicht internalisiert haben.
Welche Strategien unternehmen LL-Gruppen also, um SDM und LL-Empfehlung besser in
Einklang zu bringen?
1. Systematische Recherche qualitativer Studien zu Patientenpräferenzen (u.A. Gyatt,
Grimshaw zur Frage Warfarin oder nicht – wie viele „major bleedings“ akzeptieren Patienten für die Verhinderung eines Schlaganfalls? – Versuch, allgemeingültige cut-offs zu
definieren und direkt in die Empfehlung einfließen zu lassen) – ist aus meiner Sicht jetzt
nicht gerade der Königswegs für die individuelle Entscheidung…
2. Verändertes Wording der Empfehlungen: Ärzte sollen eine Intervention nicht DURCHFÜHREN, sondern ANBIETEN (impliziert das Gespräch über die Optionen, so hoffen die
LL-Gruppen)
3. Generische Kapitel zum Thema SDM, Arzt-Patienten-Gespräch etc. (Beispiel: u.a. NVL
Depression, S3-LL Ovarialkarzinom, Brustkrebs, Prävention von Hautkrebs)
4. Entwicklung LL-basierter Entscheidungstools (u.a. MAGIC und DECIDE der GRADE-Arbeitsgruppe), internetbasierte Portale, die Leitlinieninhalte vermitteln und gleichzeitig Entscheidungshilfen anbieten, als zusätzliches Angebot unabhängig von der Leitlinie aber
auf deren Datengrundlage;
5. Die Integration von Entscheidungshilfen in die Leitlinie (in Empfehlungen und Algorithmus; NEU und international bislang einmalig: Empfehlungen der NVL KHK zum Kapitel
Revaskularisation: Vor Entscheidung SOLLEN Ärzte ihre Patienten mit Entscheidungshilfe beraten, Entscheidungshilfen zum Gebrauch in der ärztlichen Konsultation wurden
als Teil der NVL entwickelt und von der Leitliniengruppe konsentiert).
Keiner dieser Ansätze ist bislang im Hinblick auf SDM-Unterstützung evaluiert worden.
Also: alles gut? Nicht wirklich. Versuche sind erfreulich, aber die Konsequenz von LL-Empfehlungen und deren „Instrumentalisierung“ für die Versorgung und Folgen für SDM (bzw.
dessen Verhinderung) muss weitergedacht werden:
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1. Juristische Relevanz: Starke LL- Empfehlungen werden zunehmend bei Schadensersatzprozessen herangezogen. Wer sich absichern will, handelt lieber gemäß der Empfehlung
(Beispiel: Urteil OLG Hamm, Urteil vom 12. August 2013, AZ 3 U 57/13: „Ein Frauenarzt
haftet auf Schadensersatz, wenn er einer Patientin, bei der in späteren Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde, nicht bereits bei der im Jahre 2008 durchgeführten Krebsvorsorgeuntersuchung zu einem Mammographiescreening geraten hat.“ In der Urteilsbegründung wird die damals gültige S3-LL herangezogen)
2. Ökonomische Relevanz: Aus evidenzbasierten, starken Empfehlungen der S3-Leitlinien
und NVL werden Qualitätsindikatoren abgeleitet. Im Zusammenhang mit der Diskussion um P4P, aber auch um öffentliche Qualitätsdarstellung ergeben sich daraus deutliche Anreize für Ärzte, entsprechend der Empfehlung zu handeln und die individuelle Entscheidung entsprechend zu bahnen.
Empfehlung von Glyn Elwyn bei seiner Keynote auf dem G-I-N Kongress 2012: „Stop doing
Guidelines. Do Option Grids.“ – ist das die Lösung??
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Shared Decision Making ohne Entscheidungshilfen: des Kaisers neue Kleider
Ingrid Mühlhauser,
MIN Fakultät, Gesundheit, Universität Hamburg
Die Entwicklung von brauchbaren Informationsmaterialien ist aufwendig. Evidenz-basierte
Patienteninformationen (EBPI) und Entscheidungshilfen (EH) stehen bisher nur für einzelne
ausgewählte medizinische Entscheidungen zur Verfügung. Zumeist wurden sie nur exemplarisch im Rahmen von klinischen Studien eingesetzt.
Der Informationsprozess des Patienten ist oft zeitaufwendig. Die Inhalte von EH sind komplex und nicht immer selbsterklärend. Es bedarf einer Begleitung des Informationsprozesses.
Angehörige der Gesundheitsfachberufe könnten wichtige Teile dieses Coachings übernehmen und das Entscheidungsgespräch zwischen Patient und Arzt vorbereiten. Entsprechende
Strukturen fehlen.
Vorschläge für eine nachhaltige Implementierung von SDM:
1) EbM muss Grundlage der Ausbildung von Ärzten und Gesundheitsfachberufen werden.
2) Leitlinien müssen die Informationen zur Erstellung von EBPI und EH bereitstellen.
3) EBPI und EH müssen für alle relevanten Entscheidungen entwickelt und kontinuierlich aktualisiert, verfügbar gemacht werden. Sollten sich die Fachgesellschaften weiterhin nicht dafür zuständig sehen, wäre ein unabhängiges Institut hierfür zu gründen.
4) Die Informations- und Entscheidungsprozesse müssen strukturiert werden. Gesundheitsfachberufe sollten in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden.
5) Die sog. Aufklärungsgespräche vor medizinischen Eingriffen müssen grundsätzlich überdacht und von SDM abgelöst bzw. ergänzt werden.
6) SDM muss als Qualitätskriterium dokumentiert und abgefragt werden.
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Von SDM Inseln zur Vollimplementierung,
Jürgen Kasper*, Katrin Liethmann**, Friedmann Geiger***
*Health Sciences University of Tromsø; **Gesundheitswissenschaften
Universität Hamburg; ***MSH Medical School Hamburg
Obwohl die Gesundheitswissenschaften in den Jahren nach 2002 massives SDM-doping erhielten, haben sich die Machtverhältnisse im Gesundheitsmiteinander nicht deutlich verschoben. Das Informationsmonopol liegt weiter zumeist bei den Ärzten. Die Rollen sind klar verteilt. Die intensive Forschung der letzten 12 Jahre hat aber zur Entwicklung von Technologien geführt und das Verständnis des Kommunikationsmodells auf Seiten der Gestalter im
Gesundheitswesen vertieft. Zu beobachten sind SDM Inseln, dort wo forschungsbasiert bestimmte Maßnahmen implementiert wurden, Entscheidungshilfen, Trainings für Profis oder
solche für Patienten. In Kategorien des Frameworks zur Evaluation komplexer Interventionen
kamen die meisten Interventionen über die Wirksamkeitsprüfung bisher nicht hinaus.
Der Diskussionsbeitrag soll mit zwei Beispielen belegen, dass und wie Implementierung von
SDM im Sinne einer flächendeckenden Umsetzung gelingen kann.
1. Beauftragt von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und der Techniker Krankenkasse wurde ein Online SDM Training für ärztliche Berater der Entscheidung über Früherkennung und Vorsorge von Darmkrebs entwickelt. Didaktisch orientiert sich das Training am erfolgreich evaluierte Analogtraining, doktormitSDM, das in das Format eines
1,5stündigen online Curriculums übersetzt wurde. Neue Graphikformate zur Darstellung
von Nutzen und Schaden wurden entwickelt und sowie 7 kurze Video Lern-Parkours. Alle
Komponenten der Fortbildung durchliefen mehrere Review- und Pilotierungsphasen bevor die Maßnahme der Zielgruppe von 12000 Ärzten zugänglich gemacht wurde. Nach
erfolgreicher Prüfung erhalten die Ärzte ein Zertifikat und CME Fortbildungspunkte sowie
zumindest in der Modellphase ein Zusatzhonorar für entsprechende Beratungsleistungen. Kontrollierte Evaluationsstudien sind initiiert oder stehen unmittelbar bevor.
2. In Tromsø (Nordnorwegen) werden vom lokalen Leistungsträger, Helse Nord, zwei korrespondierende Projekte gefördert, die zur Realisierung der inzwischen konzeptionell priorisierten Implementierung von SDM beitragen. Das eine Projekt („mine Behandlingsvalg“) legt mit einem Set aus vier Entscheidungshilfen den Grundstein für eine Entscheidungshilfen-Bibliothek (ähnlich OHRI) am Uniklinikum und für das ganze Land. Das andere Projekt (DA factory) wird finanziert, um die vier Entscheidungshilfen angemessen zu
evaluieren und unterdessen eine (generische) Methodologie zur Bereitstellung einer großen Zahl weiterer Entscheidungshilfen zu entwickeln. SDM wird in Norwegen nun unter
Beteiligung klinische und SDM- Experten in den sogenannten „pakkeforløper“ (StandardPatient-Behandlungsverläufen) konzeptionell verankert.
Beide Projekte zeigen, dass SDM inzwischen eine Lösung zur Vollimplementierung sein
kann und dass SDM als evidenzbasierte Intervention voll anschlussfähig ist.
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SDM und Decision Aids als zentraler Bestandteil in der Leitlinie Frühgeborene.
Tanja Krones
Universitätsspital Zürich/Universität Zürich
1999 wurde zum ersten Mal, damals noch allein durch die Gesellschaft für Neonatologie und
Pädiatrische Intensivmedizin, die Leitlinie Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit veröffentlicht. Diese Leitlinie wurde zuletzt 2014 als AWMF S2k Leitlinie in einem Interdisziplinären Prozess komplett überarbeitet und als gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, Akademie für Ethik in der Medizin, Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin unter Mitwirkung des Deutschen Hebammenverbandes und des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“ veröffentlicht. Auch wenn jede medizinische Leitlinie Werthaltungen enthält, sind diese bei Entscheidungsprozessen in der so genannten „Grauzone“ der Behandlung von sehr früh geborenen
Kindern besonders zentral. Betrachtet man den Umgang mit Evidenz und die Art der Entscheidungsprozesse von der ersten bis zur heutigen Fassung ist der Shift von einem paternalistischen Modell des Arztes das Garanten für das Kind hin zum Konzept des „Shared decision making“ ganz offensichtlich. Der Vortrag schildert den Shift der Konzepte und fragt
nach den Ursachen, die nach Auffassung der Vortragenden nicht zuletzt daran liegen, dass
mehreren Fachverbände und Patientenvertreter die Leitlinie gemeinsam verfasst haben.
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Option Grids – eine Option für die Praxis?
Dennis Fechtelpeter
Option Grids sind kurze Entscheidungshilfen. Sie stellen die wichtigsten Informationen zu
den Vor- und Nachteilen von Therapieoptionen auf einer DIN-A4-Seite in tabellarischer Form
zusammenfassend dar. Sie sollen im Rahmen von Konsultationen eine gemeinsame Entscheidungsfindung initiieren. Sie werden als pragmatische, praxistauglichere Alternative zu
ausführlichen Entscheidungshilfen beschrieben. Die Entwickler hoffen, mit diesem Format
die Hürden für SDM sowohl für Kliniker als auch Patienten herabzusetzen. Im Rahmen von
Modellprojekten wurden Option Grids in einzelnen Krankenhäusern in Großbritannien implementiert. Im Rahmen des Impulsreferats stelle ich diese Form der Entscheidungshilfe vor
und fasse bisherige Evaluationsergebnisse zusammen.
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Sind Entscheidungshilfen „Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“?
Ekkehard v. Pritzbuer*, Diedrich Bühler**
*Kassenärztliche Bundesvereinigung; **GKV Spitzenverband
Abstract
Wesentlicher Bestandteil von Vorgehensweisen zur partizipativen Entscheidungsfindung
(SDM) können die eingesetzten Entscheidungshilfen (decision aids) sein. Für solche laienverständlichen Umsetzungen des verfügbaren medizinischen Wissens, welche eine individuelle
Entscheidung eines Patienten ermöglichen sollen, existieren sowohl bild- als auch textbasierte
Beispiele, die bereits über eine CE-Zulassung als Medizinprodukt verfügen.
Für Hersteller von Medizinprodukten besteht seit 2012 im Fünften Sozialgesetzbuch durch den
§ 137e die Möglichkeit, eine Erprobung ihres Produktes beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu beantragen, wenn die damit zusammenhängende Leistung noch nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung ist und damit als neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode anzusehen ist.
Bereits die grundsätzliche Frage was denn eigentlich eine Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode sei, weist ganz unterschiedliche Facetten auf.
Einerseits geht es in Anlehnung an die gängige Sozialgerichtsbarkeit um die Umsetzung eines
eigenständigen theoretisch-wissenschaftlichen, das eine Abgrenzung von anderen, also auch
„nicht neuen“ Vorgehensweisen führt, andererseits ist z. B. in der Verfahrensordnung des GBA als maßgebliches Kriterium die Frage der Abbildung im einheitlichen Bewertungsmaßstab
(EBM) genannt. Dieser Vergütungsaspekt ist sogar derart hervorgehoben, dass entsprechende Zweifel durch eine Anfrage beim Bewertungsausschuss vor Beginn eines Beratungsverfahrens geklärt werden sollen.
Um die mit dem Titel gestellte Frage zu beantworten bedarf es also der Auseinandersetzung
mit der Frage der „Methode“ und der „Neuartigkeit“ derselben ebenso wie mit der Frage, ob
der methodischen Neuartigkeit ggf. auch eine vergütungsbezogene Würdigung bereits zuteil
wurde.
Der Frage bezüglich der Methode und der Neuartigkeit kann man sich mittels der Anwendung
der Evidenz basierten Medizin (EbM) nähern. Hiermit lassen sich nach dem SGB z. B. Kriterien
wie Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit prüfen. Die Vergütung wird im EBM geregelt.
Lässt sich das Konzept der SDM über eine Verdichtung zu einem Produkt in der Versorgung
verankern? Sind also die verschiedenen Entscheidungshilfen als Medizinprodukte über das
Verfahren einer solchen Erprobung in die Versorgung zu bringen? Welche Chancen und Risiken sind mit einer Bewertung durch den G-BA verbunden? Wie spielen das ärztliche Engagement und die instrumentellen Eigenschaften von decision aids zusammen? Lässt sich die
Richtigkeit einer so getroffenen Entscheidung messen?
In einem dialogischen Austausch soll versucht werden, die Anwendung von Entscheidungshilfen in einer am Konzept der SDM ausgerichteten Patient–Arzt–Interaktion im Spannungsfeld
von Notwendigkeit / Zweckmäßigkeit und würdigender Vergütung zu beleuchten.
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Welchen Nutzen hat SDM für Patienten, welche Endpunkte sind patientenrelevant?
Anne Rummer, Fülöp Scheibler
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
Zentrales Kriterium bei der Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist
der patientenrelevante Nutzen. Ein Nutzen medizinischer Maßnahmen bezeichnet begründete positive Effekte einer medizinischen Intervention auf patientenrelevante Endpunkte.
Aussagekräftig sind in erster Linie Ergebnisse zu Endpunkten, die zuverlässig und direkt
konkrete Änderungen des Gesundheitszustandes abbilden. Vorrangig zu berücksichtigende
Zielgrößen sind Mortalität, Morbidität und Lebensqualität, so hat es der Gesetzgeber z.B. in §
35 Abs. 1b SGB V formuliert.
Passen diese Endpunkte, wenn es um die Bewertung von Entscheidungshilfen als Instrument von SDM gehen soll? Effekte auf Mortalität und Morbidität scheinen auf den ersten
Blick weniger relevant; eine Fokussierung auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität liegt
näher. Die ist messbar, sofern geeignete und evaluierte Instrumente vorliegen.
Dem Cochrane-Review „Decision aids for people facing health treatment or screening decisions“ (Stacey et al. 2014) wurden folgende Endpunkte zugrunde gelegt:
Primäre Endpunkte:
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in Anlehnung an die Kriterien der International Patient Decision Aid Standards (IPDAS):
o attributes of the choice made: knowledge, accurate risk perceptions, chosen option congruent with the patient’s values;
o attributes of the decision making process: Does the patient decision aid help patients to: recognize that a decision needs to be made; know the options and their
features; understand that values affect the decision; be clear about the option features that matter most; discuss values with their practitioner; and become involved
in preferred ways;
weitere:
o decisional conflict, patient-practitioner communication, participation in decision
making, proportion undecided, satisfaction
Sekundäre Endpunkte:
•
•
behaviour:
o choice (actual choice implemented; if not reported, the preferred option was used
as a surrogate measure);
o adherence to chosen option;
health outcomes:
o health status and quality of life (generic and conditionspecific);
o anxiety, depression, emotional distress, regret, confidence
Auf Basis der vorgestellten Ergebnisse soll die Frage nach der Art des Nutzens von Entscheidungshilfen für den Patienten und patientenrelevante Endpunkte in dem Workshop diskutiert werden.
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Zusammenfassung der Ergebnisse des Workshops
Was bisher erreicht wurde:
Ärzteschulungen (z. B. KV-Bayern): bisher 440 Ärzte; Ziel 12000.
Entscheidungshilfen (z. B. ARRIBA, IQWiG, HH, …) …ggf. 5 Mio Frauen erreichbar
Informed-SDM (ISDM) als Bestandteil von LL (z. B. Frühgeborene, Revaskularisation, Depression)
Welche Themen sind auf der Agenda:
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Aufarbeiten der Information; ISDM darf kein Alibi (Ersatz) für vollständiges Aufarbeiten
der Evidenz und Gewinnung notwendiger Erkenntnisse sein (vollständig, evidenzbasiert,
aktuell, allgemein verständlich)
Übersetzung und Neuentwicklung von Entscheidungshilfen (Nationale Gesundheitsplattform mit Entscheidungshilfen, s. Nationaler Krebsplan)
„Kontrolliertes Zuwarten“: Patienten und Ärzte ändern ihre Haltung und Kommunikationsweisen ohnehin mit der Zeit.
ISDM in die Ausbildung integrieren
ISDM als Qualitätsindikator / Zertifizierungsgrundlage
ISDM als patientenrelevanten Endpunkt aufnehmen (sowohl in der EBM, als auch im
SGB V)
Mindestmaß an informierter Entscheidung (=informierte Einwilligung) juristisch durchsetzen
Entscheidungssituationen sind oft zu komplex, als dass sie mit einfachen Entscheidungshilfen gelöst werden könnten
 medizinische Assistenzberufe (nurses, assistants) in die Informations-/Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen
Neue Formate von Entscheidungshilfen testen (z. B. Option Grids, die im Rahmen von
Konsultationen eingesetzt werden können und ausführliche Entscheidungshilfen ergänzen)
Implementierung von Leitlinien befördern (Entwicklung von Decision Aids und Option
Grids aus Leitlinien = Leitlinien  Patientenleitlinien  Decision Aids  Option Grids)
Forschung zur Wirksamkeit und Implementierung (Praxis-Transfer) der Decision Aids
Was ebenfalls getan werden könnte:
Vorbereitung des DNEbM-Kongresses 2016 in Köln. Z.B.: praktische Präsentation von verfügbaren Entscheidungshilfen, Schulungsprogrammen, etc.
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