Schulische Leistungsmessung Über den beschreibenden und sinnstiftenden Charakter der Ziffernnote Autor: Fabian Oestersötebier eMail: [email protected] Blog: https://wortsalatsite.wordpress.com/ Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung…………………………………………………………………………….3 2. Messbarkeit von Schülerleistungen………...………….……………………………..4 2.1 Gütekriterien……………………………………………………………………...4 2.2 Bezugsnormen…………………………………………………………………....5 2.3 Personwahrnehmung……………………………………………………………..6 2.4 Schichtspezifische Bewertungstendenzen…………………………………….…..7 3. Wie Zensuren Sinn stiften……………………………………………………………8 3.1 Erwartungen……………………………………………………………………...8 3.2 Zensuren als Eignungsprädikat……………………………………………….….10 3.3 Der sinnstiftende Charakter der Schulnote………………..…….…………….…13 4. Schluss…………………………………………………………………………...…...15 5. Literaturverzeichnis………………………………………………………………..…17 2 1. Einleitung Ein jeder schulpflichtige Mensch sieht sich im Laufe seines Lebens mit ihnen konfrontiert, erfährt ihre weisende Kraft, muss sich ihren Konsequenzen stellen und sein Handeln an ihnen orientieren. Es sind Zahlen mit eigentümlicher Macht, die uns Wege in die Zukunft bereiten und verbauen können. Die Rede ist von Schulnoten, wie sie tagtäglich an deutschen Schulen vergeben werden. In einer modernen Gesellschaft, in der die soziale Herkunft nicht länger den zukünftigen Status eines Menschen determinieren soll, wird es, dem Leistungsprinzip folgend, zur Herausforderung der Institution Schule, zwischen „Leistungsfähigen“ und „Leistungsschwachen“ zu unterscheiden und ihnen Positionen in der Sozialstruktur zuzuweisen. Noten sind dabei das zentrale Element schulischer Selektionsvorhaben. Die sich diesem Gegenstand widmende, vornehmlich erziehungswissenschaftliche Literatur, zeichnet sich vor allem durch eine ablehnende Haltung gegenüber der Schülerbewertung mittels Ziffernzensuren aus. Die Kritik richtet sich dabei zumeist auf den Informationsverlust und die Gefahr von Verfälschungen, die dieser Form der Leistungsbeschreibung zueigen seien. Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich zunächst kritisch hinterfragen, inwieweit die Schulnote Leistung zu repräsentieren vermag und welche spezifischen Probleme aus ihrem Gebrauch erwachsen. In einem zweiten, eher explorativen Teil werde ich versuchen, die Schulnote aus alternativen Blickwinkeln zu betrachten und den wirklichkeitsstiftenden Charakter dieser zahlenförmigen Darstellungsform zu erörtern. 3 2. Messbarkeit von Schülerleistungen 2.1 Gütekriterien In der einschlägigen Fachliteratur besteht, aufbauend auf dem Bestreben nach einer gerechten Verteilung von Lebenschancen, allgemeiner Konsens darüber, dass die Leistungsbeschreibung durch den Lehrer den Gütekriterien einer Messung genügen sollte. Im Einzelnen sind dies Objektiviät, Validität und Reliabilität. Die Reliabilität (Zuverlässigkeit) verdeutlicht sich anhand der Reproduzierbarkeit eines Messergebnisses zu einem späteren Zeitpunkt. In unserem Kontext bedeutet dies, dass ein Lehrer mittels seines „Messinstruments“, der Notenskala, bei einer bestimmten Leistung immer zu genau demselben Messerergebnis, derselben Zensur, gelangen muss. Als valide (gültig) gilt ein Messergebnis dann, wenn ihm eine Messung, die sich ausschließlich auf das zu messende Merkmal bezieht, zugrunde liegt. So dürfen etwa bei einer Mathematik-Prüfung nur jene Kompetenzen gemessen werden, die auch abgefragt werden. Leistungsfremde Aspekte, wie etwa der Kleidungsstil oder - in diesem Falle Sprachfertigkeiten des Prüflings, dürfen keinen Einfluss auf das Messerergebnis nehmen. Eine Schulnote würde im Kern dann den Kriterien der Objektivität genügen, wenn die Leistung, die ihr zugrunde liegt, unabhängig von der Person des Schülers / des Lehrers stets mit derselben Zensur bedacht wird (vgl. Krope 1976: 12). Hierbei ist wiederum zwischen drei, aufeinander aufbauenden Teilaspekten von Objektivität zu differenzieren. Das Ausmaß, in dem der Messvorgang reglementiert und standardisiert ist, bezeichnet die sogenannte „Durchführungsobjektivität“ (vgl. Ziegenspeck 1999: 134). Diese wäre in der Praxis in höchstmöglichem Maße erreicht, wenn sichergestellt ist, dass alle Schüler ihr Wissen unter gleichen Prüfungsbedingungen abrufen können. Insbesondere Aufgabenstellung, Bearbeitungszeit und gewährte Hilfeleistungen müssten ganz und gar vereinheitlicht sein. Die „Auswertungsobjektivität“ bezieht sich auf das „Ausmaß, in dem die beschreibende Erfassung der Prüfungsleistung bei der Korrektur reglementiert und vereinheitlicht ist“ (Ziegenspeck 1999: 134). Lehrer müssten, um eine maximale Auswertungsobjektivität zu erreichen, immer nach denselben Prinzipien zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden, Teillösungen stets einheitlich registrieren. Sofern, durch Orientierung an den genannten Kriterien, die objektive Fehlerhaftigkeit/Richtigkeit der Leistung registriert wurde, gilt es weiterhin einheitlichen Richtlinien bei der Notenzuordnung und damit der Beurteilung ihrer Qualität, Folge zu leisten („Interpretationsobjektivität“). Nur wenn verschiedene Lehrkräfte, bei einer bestimmten 4 Häufigkeit von Fehlern und Lösungen, nun auch zu einer einheitlichen Note kommen, kann man von einer gänzlich objektiven „Leistungsmessung“ sprechen. 2.2 Bezugsnormen In Deutschland wird für die Feststellung von Schülerleistungen eine Notenskala von 1-6 herangezogen. Dabei existieren für die einzelnen Notenstufen folgende Erläuterungen der Kultusministerkonferenz: 1 (sehr gut) „Die Note ‚sehr gut’ soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen in besonderem Maße entspricht. 2 (gut) „Die Note ‚gut’ soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen voll entspricht.“ 3 (befriedigend) „Die Note ‚befriedigend’ soll erteilt werden, wenn die Leistung im allgemeinen den Anforderungen entspricht.“ 4 (ausreichend) „Die Note ‚ausreichend’ soll erteilt werden, wenn die Leistung zwar Mängel aufweist, aber im ganzen den Anforderungen noch entspricht.“ 5 (mangelhaft) „Die Note ‚mangelhaft’ soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht, jedoch erkennen läßt, daß die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden könnten.“ 6 (ungenügend) „Die Note ‚ungenügend’ soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht und selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, daß die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden könnten.“ (Ingenkamp 1989: 16) Unweigerlich stellt sich nun die Frage, worauf der Begriff „Anforderung“ eigentlich verweist, zumal man genauere Erläuterungen durch die Kultusminister vermisst. Woran misst der Lehrer die Schülerleistung? 5 Wenn wir uns den Gegebenheiten in der Praxis zuwenden, müssen wir konstatieren, dass diesbezüglich faktisch keine einheitlichen Richtlinien existieren. Vielmehr liegt es im Ermessen des Lehrers, nach welcher Bezugsnorm er sich richtet. So kann man mit einer Schulnote etwa verdeutlichen, inwiefern die Leistungen des Schülers den Anforderungen des Curriculums entsprechen („objektive Relation“), wie die Leistung des Schülers im Verhältnis zu seinen Mitschülern zu beurteilen sind („intersubjektive Relation“), oder, unter Berücksichtigung vorangegangener Leistungen, inwieweit sich die Leistung des betreffenden Schülers verbessert oder verschlechtert hat („intrasubjektive Relation“) (vgl. Ziegenspeck 1999: 54). In welchem Maße, bzw. ob überhaupt diese Bezugsgrößen zum Vergleich herangezogen wurden, lässt sich anhand des Resultats, der Zensur, freilich nicht mehr oder nur schwer überprüfen. Weiterhin müssen wir uns damit auseinandersetzen, ob die „Messgröße“, die eigentliche Leistung, durch den Lehrer überhaupt in aller Exaktheit und damit valide, erfasst werden kann. Es ist davon auszugehen, dass sich der Lehrer bei der Benotung, in einem gewissen Maße immer an dem mittleren Leistungsniveau seiner Klasse orientiert (vgl. Ingenkamp 1989: 185ff.). Bei einseitiger Berücksichtigung dieser sozialen Bezugsnorm, wird sich die Verteilung der Noten in der Regel einer Normalverteilung annähern. Der Vergleich zwischen Noten von Schülern unterschiedlicher Klassen bzw. Lehrer hätte infolgedessen aber auch keinerlei Aussagekraft mehr über das jeweils tatsächliche Leistungsniveau, wenn wir dies als das Maß, in dem der Schüler die Inhalte des Lehrplans verinnerlicht und im Unterricht kommuniziert hat, verstehen. Aber auch die Lehrerpersönlichkeit nimmt, aufgrund des Mangels an klaren, einheitlichen Richtlinien bei der Notenzuordnung, eine gewichtige Rolle ein. So neigen einige Lehrer zu unangemessen strengen bzw. milden Urteilen („Milde- oder Strengefehler“), während Andere dem „Fehler der zentralen Tendenz“ unterliegen und Extremurteile auch bei herausragend guten bzw. schlechten Leistungen vermeiden. Es gibt andererseits aber auch Lehrer, die gerade die Tendenz zu extremen Noten aufweisen (Wagener 2003: 24). 6 2.3 Personwahrnehmung Die Personwahrnehmung des Lehrers unterliegt, gemäß sozialpsychologischen Erkenntnissen, spezifisch menschlichen Unzulänglichkeiten (vgl. Wagener 2003: 22). Anders als bei einem technischen Aufzeichnungsmedium, bettet der Mensch Wahrgenommenes in aller Regel unmittelbar in einen Sinnzusammenhang ein, wobei die Wahrnehmung selbst bereits eine gewisse Selektivität aufweist, welche von unterschiedlichen Faktoren abhängen kann. 1 Bei dem sogenannten „Halo-Effekt“ bzw. „Hof-Effekt“ überlagert ein globaler Allgemeineindruck, der auf hervorstechenden Eigenschaften der zu beurteilenden Person fußt, die Wahrnehmung der eigentlich zu berücksichtigenden Merkmale (vgl. Ziegenspeck 1999: 175, Wagener 2003: 22). Dies kann bei der Notengebung etwa dahingehend Einfluss nehmen, dass ein Schüler mit augenfällig unsauberer Schrift, bei einem Diktat, trotz gleicher Fehlerzahl, schlechter bewertet wird, als ein Schüler, dessen Schrift für den Lehrer besser lesbar ist. Andererseits können auch Merkmale wie z.B. Sorgfalt und Ordnung die Leistungsbenotung des Lehrers positiv beeinträchtigen. Die sogenannte „Projektion“, als ein der Psychoanalyse entstammender Begriff, kann ebenso zu Wahrnehmungsverfälschungen führen. Zu dem Projektionsfehler kommt es dann, wenn Lehrer eigene Wünsche, Persönlichkeitseigenschaften, Motive, oder Zielsetzungen auf die Person des Schülers übertragen, bzw. „projezieren“ und schließlich an ihr wahrzunehmen glauben (vgl. Ziegenspeck 1999. 179). Umgekehrt besteht eine Tendenz, dass Eigenschaften, die im Kontrast zu den eigenen stehen, in stärkerem Maße wahrgenommen werden. 2.4 Schichtspezifische Bewertungstendenzen Dieses Phänomen bezeichnet der sogenannte „Kontrastfehler“ (vgl. Ziegenspeck 1999. 179, Wagener 2003: 23). Hierbei ist festzuhalten, dass der Beruf des Lehrers eine akademische Laufbahn vorraussetzt, Lehrer üblicherweise aus der „Mittelschicht“ rekrutiert werden. Dieser gesellschaftliche Status drückt sich etwa in Wertorientierungen, aber auch, um einen wesentlichen Punkt zu nennen, in einem schichtspezifischen Sprachgebrauch aus. So unterschied der Soziolinguist Basil Bernstein zwischen dem „restringierten Sprachcode“ der Arbeiter-/Unterschicht und dem „elaborierten Sprachcode“ höherer Schichten. Ohne mich der These Bernsteins, dass die Unterschichtsprache gegenüber dem oberschichttypischen Sprachgebrauch „defizitär“ sei, anschließen zu wollen, weisen Darlegungen dieser Art darauf 1 Ein Problem, dessen man sich in wissenschaftlichen Beobachtungen durch die Berücksichtigung strenger methodischer Leitprinzipien zu erwehren versucht. 7 hin, dass insbesondere Kinder unterer Schichtzugehörigkeit in negativer Weise von dem erwähnten „Messfehler“ betroffen sein dürften. Autoren wie Hartmut Ditton (vgl. Ditton 2004: 258) und Elmar Lange (vgl. Lange 1986: 97) gehen entsprechend davon aus, dass ein elaborierter Spachgebrauch schulischen Erfolg begünstigt, und dieser manifestiert sich letztlich in Zensuren. Zudem scheinen Lehrererwartungen insbesondere das vielfach angeprangerte Problem der schichtspezifischen Selektion zu verschärfen.2 Rudolf Weiss legte in einer Untersuchung dar, dass Vorinformationen über die soziale Herkunft eines Schülers, die Notengebung durch den Lehrer beeinträchtigen (vgl. Ditton 2004: 258). Wurde Lehrern in subtiler Art und Weise mitgeteilt, dass der Schüler einem eher bildungsfernen Milieu entstamme, so wirkte sich allein dies negativ auf die Benotung der angeblich von jenem Schüler geschriebenen Klassenarbeit aus. Ohne dieses Lehrerverhalten als absichtsvoll darstellen zu wollen, kann man hieraus folgern, dass bereits die schulische Benotungspraxis einen gewissen Beitrag zur Stabilisierung des vorherrschenden Sozialgefüges auf der Makroebene leistet und soziale Mobilität tendenziell beschränkt. In diesem Zusammenhang sollte ebenso Erwähnung finden, dass soziale Selektivität auch bei den Übertrittsempfehlungen deutscher Grundschullehrer nachgewiesen werden konnte. Wie eine Untersuchung von Otmar Preuß ergab, fallen bei gleichen Zensuren, die Eignungsurteile für Kinder aus Arbeiterfamilien schlechter aus, als bei Kindern höherer sozialer Schichten (vgl Ditton 2004: 264). Diesen Darlegungen zum Trotz lautet die gemeinschaftliche Forderung der Kultusminister, dass „jedem Kind - ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offen stehen [muss], der seiner Bildungsfähigkeit entspricht.“ (KMK – Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2003: 4). Aus den Untersuchungen von Weiss und Preuß ist zu folgern, dass sich dieser Appell insbesondere an die Person des Lehrers richten muss. 3. Wie Zensuren Sinn stiften… 3.1 Erwartungen Die geschilderten Untersuchungen bezüglich des Einflusses von Sprache und Vorinformationen über Schichtzugörigkeit lassen einen, scheinbar eng mit der Notengebung verbundenen Aspekt, offensichtlich werden. Es handelt sich dabei um Erwartungen. Hierbei 2 Aktualität erfuhr das Thema insbesondere durch die Ergebnisse der Pisa-Studie, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Augenmerk dabei meist auf sog. „kulturellen Effekten“ liegt. Gegenstand der sich häufig auf Bourdieu berufenden Kritik ist hier etwa die unzureichende Befähigung deutscher Schulen, ein in Familien unterer Schichtzugehörigkeit bestehendes Defizit an „kulturellem Kapital“, welches sich in geringerer Leistungsfähigkeit der Schüler niederschlägt, zu kompensieren. 8 möchte ich im Wesentlichen zwischen drei Dimensionen der Beeinflussung durch Erwartungen unterscheiden: Auf der Anwendung leistungsfremder Kriterien beruhende Erwartungen, die im Zusammenhang mit der Lehrerpersönlichkeit und/oder spezifisch menschlichen Unzulänglichkeiten stehen und die Notengebung beeinträchtigen Erwartungen, die sich aus den früheren Zensuren eines Schülers konstruieren und das Ausmaß möglicher Abweichungen von einmal erteilten Zensuren bei zukünftigen Bewertungen einschränken Erwartungen, die auf frühere Leistungen, Zensuren und/oder Verhaltensweisen des Schülers, sowie auf spezifische Orientierungen des Lehrers zurückzuführen sind und das Verhalten des Lehrers gegenüber dem Schüler dahingehend bestimmen, dass das zukünftige Leistungsvermögen des Schülers beeinflusst und gleichzeitig der Horizont möglicher Benotungen durch den Lehrer, verengt wird. Der erste Punkt veranschaulicht sich etwa an dem erwähnten Phänomen der von schichtspezifischen Gesichtspunkten geleiteten Benotung. Es lässt darauf schließen, dass in Abhängigkeit von dem sozialen Status der Herkunftsfamilie, Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Schülers konstruiert werden, die die Sensibilität des Lehrers für tatsächlich erbrachte Leistungen herabsetzen. Bei Punkt zwei sind wir auf einer Ebene angelangt, bei der die Zensur selbst konstituierenden Charakter annimmt. Ein Lehrer wird sich bei späteren Benotungen, auch aus ökonomischen Gründen, stets auf früher erteilte Zensuren zurückbesinnen. Ein realer Leistungszuwachs bzw. Leistungsabfall des Schülers wird so jedoch durch die Erwartungen des Lehrers an sein Leistungsniveau, bei der Notengebung relativiert. Die Neigung, an einem einmal gefällten Urteil auch zu späteren Zeitpunkten festzuhalten, bezeichnet die sogenannte „Perseverationstendenz“. Diese schlägt sich insbesondere bei unmittelbar aufeinander folgenden Beurteilungen der Leistungen eines Schülers nieder und äußert sich konkret darin, dass spätere Zensuren nicht oder nur kaum von einer einmal erteilten Zensur abweichen (vgl. Ziegenspeck 1999: 177). Ähnliches offenbart sich bei dem sogenannten „Reihungseffekt“, der sich häufig in der Benotung von Klassenarbeiten bzw. Klausuren niederschlägt (vgl. Wagener 2003: 24). Hier wirken sich die Zensuren der zuerst benoteten Arbeiten, auf die Beurteilung der darauffolgenden aus. Ein Unterschied besteht hier jedoch darin, dass im Beurteilungsprozess eine fremde Leistung, den Maßstab für die Bewertung anderer Arbeiten 9 bildet, also entsprechende Erwartungen an das Leistungsniveau weckt. Wenn ein Lehrer bei der Begutachtung von Aufsätzen etwa gleich zu Beginn eine sprachlich herausragende, wohlstrukturierte Arbeit vor sich hat, wird er sich beim Lesen des zweiten, weniger guten Aufsatzes unweigerlich daran erinnern und womöglich zu einem unangemessen strengen Urteil kommen. Das eigentliche Problem liegt in diesem Fall demnach eher in einer übermäßigen Orientierung an der sozialen Bezugsnorm. Der dritte Punkt drückt den nicht zu unterschätzenden Einfluss der Leistungsrückmeldungen auf das Selbstbild des Schülers aus. Ein Lehrer wird nach ersten Urteilen oder auch Vorinformationen über die bisherigen Zensuren eines Schülers, eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich zukünftiger Leistungen entwickeln. Nun besteht die Neigung, diese Erwartungen auf mitunter subtile Art und Weise, dem betreffenden Schüler zu kommunizieren. Dies kann sich etwa darin äußern, dass die Schülerleistungen im Unterrichtsgeschehen verstärkt positiv bzw. negativ kommentiert werden. Der Schüler wird wiederum sein Anspruchsniveau an die Erwartungen des Lehrers angleichen, was sich mittelfristig auf sein „reales“ Leistungsvermögen auswirkt. Dann zeigt der sogenannte „Pygmalion-Effekt“ seine Wirkung (Wagener 2003: 22). 3.2 Zensuren als Eignungsprädikat Zensuren können, wie wir geklärt, haben zum Prädiktor künftiger Beurteilungen, aber auch Bezugspunkt gewichtigerer Entscheidungen werden. Sie ebnen erst den Weg für eine Vielzahl an Auslesepraktiken. Dies verdeutlicht sich in besonderem Maße an den Übertrittsschwellen des Schulsystems. So gelten in erster Linie Zensuren als kommunikativer Bezugspunkt, wenn gegen Ende der Grundschulzeit, Aussagen über die Eignung eines Schülers für eine bestimmte Schulform getroffen werden. Der Lehrer wird sein Urteil in der Regel als leistungsgerecht empfinden und vertreten, während Außenstehende die Güte der Leistungsmessung, in Ermangelung an Nachweisen, nicht ernsthaft in Frage stellen können. Schulnoten gewinnen in diesem Sinne einen gewissen Faktizitätscharakter. Dies wird dadurch bekräftigt, dass in mittlerweile der Hälfte aller Bundesländer das Lehrerurteil bindend ist. Dieser Stellenwert der Zensuren wird in Bayern gar in entsprechenden Verordnungen verfestigt. So bestimmt sich die weitere Schullaufbahn landesweit über das Erreichen bestimmter Notendurchschnitte (Schulberatung Bayern: 3). Diese werden durch das arithmetische Mittel der Zensuren des Deutsch-, Mathematik- und „Heimat- und Sachunterrichts“ gebildet. Um die uneingeschränkte Berechtigung für den Zugang zum 10 Gymnasium zu erhalten, ist dabei ein Notendurchschnitt von 2,33 erforderlich, für die Realschule ein Schnitt von 2,66. Bei negativen Abweichungen von diesen Werten, besteht bis zu einem Notendurchschnitt von 2,66 für das Gymnasium, bzw. 3,00 für die Realschule, die Möglichkeit, bei erfolgreichem Absolvieren eines dreitägigen „Probeunterrichts“ in den Fächern Deutsch und Mathematik doch noch die jeweilige Eignung zu erhalten. Der sogenannte „Probeunterricht“, der eher die Charakteristika einer Aufnahmeprüfung aufweist, veranlasst wiederum zur Produktion neuer Zahlen und gilt dann als erfolgreich abgeschlossen, wenn der Schüler in dem einen Fach mindestens die Note „3“ und in dem anderen mindestens eine „4“ erhält. Zensuren, die ihrerseits schon aufgrund der geschilderten Messprobleme, nur in einem eher losen Zusammenhang zu den einzelnen Fachkompetenzen stehen, werden in dem beschriebenen Sachverhalt zum Ansatzpunkt weiterer Berechnungen, deren Ergebnisse zukunftsweisende Bedeutung haben. Diese beruht auf den Konsequenzen, die unmittelbar aus ihnen folgen. Es ist nicht länger die angreifbare Schulempfehlung durch den Lehrer, sondern eine einzige, auf kühler Berechnung basierende Zahl, der man nicht länger Befangenheit unterstellen kann, die diesen Platz einnimmt. Zweifellos befreit diese Rechenpraktik den Lehrer von schwierigen Entscheidungen und entlastet ihn damit in seiner Verantwortung, gleichwohl geht jedoch die Frage unter, ob man durch Bildung solcher „Notendurchschnitte“ wirklich umfassende Auskünfte über das allgemeine Leistungspotential eines Schülers gewinnen und damit eine leistungsgerechte Selektion erreichen kann. Zum einen muss betont werden, dass bei der Berechnung lediglich die Zensuren von drei bestimmten Fächern Berücksichtigung finden, was daraufhindeutet, dass der Selektion ein gewisser Konsens über hochzuhaltende Werte zugrunde liegt. Wenn ein Schüler etwa über eine künstlerische Begabung verfügt und gute Zensuren in dem entsprechenden Bereich aufweist, wirkt sich dies in keiner Weise positiv auf den Wert aus, der seine weitere Schullaufbahn bestimmt. Auch positive und negative Entwicklungen von Leistungen werden durch einen Notendurchschnitt nicht erfasst. Zudem muss man sich die Frage stellen, ob die Bildung des arithmetischen Mittels bei Schulnoten mathematisch überhaupt zulässig ist. In den bisherigen Ausführungen wurde bereits dargelegt, dass Schulnoten keineswegs als objektive Messergebnisse anzusehen sind, was dann gegeben wäre, wenn eine bestimmte Leistung immer gleich benotet werden würde. Auch die Abstände zwischen den Zensurengraden können von Lehrer zu Lehrer, je nach Beurteilungstendenz, variieren (vgl. Ziegenspeck 1999: 120). Man kommt somit zu dem Schluss, dass Schulnoten höchstens eine Rangordnung vermitteln können, die Notenskala sich 11 somit auf einem Ordinal-Skalenniveau befindet, womit die Bildung eines solchen Durchschnittswerts eigentlich nicht zulässig ist (vgl. Ziegenspeck 1999: 121). Die sog. „Durchschnittsnote“ ist so gesehen ein Wert, der produziert wird und sich nicht etwa aus den Daten ableitet. Dennoch setzt man sich in der Praxis hierüber häufig hinweg, so etwa auch zum Zwecke der Verteilung von Studienplätzen unter der Berücksichtigung verfügbarer Kapazitäten, wie es bei der „Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen“ (ZVS) geschieht. In dem Begriff der „Eignung“ spiegelt sich eine Doppeldeutigkeit, die Zensuren zukommt, wider. Zum einen sollen sie Schülern, Eltern, Lehrern und außerschulischen Interessensgruppen, etwa Unternehmen, in ihrer Rückmeldefunktion Aufschluss über das erreichte Leistungsniveau und Lernfortschritte geben, zum anderen wird ihnen eine gewisse prognostische Funktion beigemessen. So leitet der Schüler aus den Zensuren z.B. Einschätzungen bezüglich seiner Lernstrategien und Fächerwahl ab. Der Lehrer wird in Folge seiner Notenvergabe zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern differenzieren und sich etwa um entsprechende Förderung bemühen. Gleichzeitig dient ihm die scheinbar objektive „Leistungsfeststellung“ zur Abschätzung des Unterrichterfolgs. Eltern bieten sie durch ihre Zahlenform, eindeutige (wenn auch fragwürdige) Möglichkeiten des Vergleichs zwischen aktuellen und früheren Leistungen ihres Zöglings. Sie leisten ihnen Orientierungshilfen für ihre Erziehung. Die Wirtschaft zieht, auf Grundlage von Zensuren und Zeugnissen, Rückschlüsse auf die Qualifikation eines Bewerbers für einen bestimmten Posten. Dies birgt natürlich zugleich eine Erwartungshaltung gegenüber dem Maß, in dem ein Schüler/Student mit bestimmten Zensuren, die ihm zukünftig aufgetragenen Aufgaben in einem Betrieb erledigen kann. Doch wir können uns zur Veranschaulichung auch weiter unserem Beispiel zuwenden: So hält die (Durchschnitts-)Note an der Übertrittschwelle nach dem vierten Schuljahr auch als ein Indikator für den zu erwartenden Erfolg in einer Schulform her. Die bayerischen Schulen orientieren sich bei dieser Eignungsprognose an einer sachlichen bzw. kriteriumsorientierten Bezugsnorm. So suggeriert die Festlegung von „Durchschnittsnoten“, die zum Besuch einer bestimmten weiterführenden Schule berechtigen, die Existenz verbindlicher Kompetenzstandards und setzt voraus, dass ein Notenwert Auskünfte über den Grad der Entsprechung der Schülerleistung erlaubt. Ein gewisser Pragmatismus liegt dagegen der Verwendung der Abiturdurchschnittsnote bei der Vergabe von Studienplätzen zugrunde. Die Bildungsexpansion hatte zur Folge, dass immer mehr Jugendliche, die Schule mit dem Abitur verließen und damit den formalen 12 Erfordernissen zur Aufnahme eines Hochschulstudiums gerecht wurden. Dies hat den Nebeneffekt, dass es in bestimmten Fächern, an vielen Hochschulen zu Kapazitätsengpässen kommt, was schließlich eine Selektion unter den Studienbewerbern notwendig macht. Auf Grundlage der Anzahl der Bewerber für ein Studienfach und den vorhandenen Aufnahmekapazitäten, ermittelt man, jedes Semester neu, eine Zulassungsgrenze. Diese gibt eine bestimmte Anzahl an Wartesemestern, sowie einen Abiturnotendurchschnitt vor, der für die Immatrikulation mindestens benötigt wird. Sofern beispielsweise hundert Studienplätze frei sind, erhalten die hundert Abiturienten mit dem besten Notendurchschnitt Zugang zum Studium, wenn man die Zahl der Wartesemester aus Gründen der Veranschaulichung jetzt einmal außen vor lässt. Wie zu erkennen ist, definiert sich in diesem Fall, anders als bei dem Schulübertritt in Bayern, das Zulassungskriterium über die Notendurchschnitte der Bewerber selbst. Man kann daher sagen, dass die Auswahl nach einer sozialen Bezugsnorm geschieht. 3.3 Der sinnstiftende Charakter der Schulnote Wenn es denn wirklich darum ginge, die Leistungsfähigsten herauszufiltern, würde eine Auslese nach diesem Prinzip nur Sinn machen, wenn der Vergleich unter den Bewerbern auch schon in der Schule bestanden hätte und die soziale Bezugsnorm alleiniger Maßstab aller Benotungen gewesen wäre oder aber die schulischen Beurteilungen, unter der Bedingung vollkommen vereinheitlichter Leistungsanforderungen, ausschließlich an einer sachlichen bzw. kriteriumsorientierten Bezugsnorm orientiert gewesen wären. Zudem müsste die Schulleistungsmessung den Gütekriterien entsprechen, was sich, wie wir nun wissen, nicht bestätigt. Im bayerischen Übertrittsverfahren geht man insofern weiter, als das man den Anspruch erhebt, mittels Bildung eines Notendurchschnitts, die „Eignung“ eines Schülers für eine bestimmte Schulform festzustellen. Noten können jedoch, sofern sie nicht auf vollkommen objektiver, reliabler und valider Messung basieren, sowie ausschließlich unter Anlegung einer sachlichen Bezugsnorm zustande gekommen sind, nicht das Leistungsniveau, geschweige denn das Leistungspotential eines Schülers, repräsentieren. Sie orientieren sich ausschließlich an den abgerufenen Leistungen in Unterricht, Klassenarbeiten und Klausuren in einer begrenzten Auswahl an Schulfächern, die Personen aus der Mittelschicht, mehr oder weniger nach den unpräzisen Vorgaben der jeweiligen Kultusministerien und Bezirksregierungen lehren. Sie lassen sich daher nur unter Tolerierung spezifischer, in ihrem Ausmaß nicht abschätzbarer Verzerrungen, sowie eines 13 oftmals nicht wahrgenommenen Informationsverlusts bilden. Der Anspruch der „Eignungsfeststellung“ durch Ziffernzensuren kann demnach in Wirklichkeit nicht eingelöst werden. Um die Leistungsdifferenzierung durch Schulnoten zu rechtfertigen, muss in der schulischen Kommunikation jedoch vor allem der Repräsentationscharakter der Schulnoten Betonung finden. Ziffernzensuren erweisen sich für die Organisation Schule, bezüglich ihrer Selektionsaufgabe, als funktional. Im Gegensatz zu den, von vielen Kritikern geforderten, sprachlichen Beurteilungsformen, ermöglichen sie erst die Anwendung mathematischer Verfahren, wie etwa die Bildung eines Durchschnitts, was hierbei eine erhebliche Effizienzsteigerung bedeutet. Sie schaffen erst die eindeutigen Vergleichsmöglichkeiten, die Institutionen wie die ZVS zur Verteilung von Studienbewerbern auf verfügbare Kapazitäten benötigen und stellen Wirklichkeitsgrundlagen, etwa für Entscheidungen über die weitere Schullaufbahn eines Kindes dar. Nicht nur Institutionen, sondern auch den Schülern offenbaren sich die unmittelbaren Vergleichsmöglichkeiten, die die Ziffernzensur bietet. Durch Vergleich seiner eigenen Noten kann der Schüler Rückschlüsse auf die Beurteilung seiner Leistungsentwicklung ziehen, während ihm der Vergleich seiner Zensuren mit den Noten seiner Mitschüler, Auskunft über sein relatives Leistungsniveau im Klassenverbund liefert. Die an Zahlen orientierte Kommunikation über Leistung irritiert desweiteren auch das Bewusstseinssystem des Schülers. Man kann es als Sozialisationseffekt der Schule ansehen, dass der Schüler erlernt, aus einer zahlenförmigen Darstellung, Rückschlüsse auf die Beurteilung seiner Leistungen zu ziehen. Er stellt Handlungsmotive und Arbeitsverhalten auf die periodische Vergabe von Zensuren ein. So wird ein Schüler bei Kenntnis des Termins der Zeugniskonferenz, möglicherweise besonderes Engagement in den Wochen zuvor an den Tag legen, um gezielt Einfluss auf seine Zensur zu nehmen, beispielsweise um statt einer „5“, eine „4“ zu erhalten und damit versetzt zu werden. Man könnte sich in diesem Zusammenhang auch dazu veranlasst sehen, von dem Einwirken des sogenannten „heimlichen Lehrplanes“ zu sprechen. Abgesehen von ihrer erzieherischen Funktion, der positiven und negativen Sanktionierung der Lernbereitschaft, kann die Notenvergabe demnach auch bewirken, dass Schüler bestimmte Strategien entwickeln, damit die Note für sie, ohne großen Lernaufwand, günstig ausfällt. Sie erlernen derartige Zahlenkonstrukte insofern zu durchblicken, als dass sie ihrer „Indikatoren“ gewahr werden und sich gezielt auf die Manipulation dieser konzentrieren können. Die tiefe Verankerung der Schulnotenskala im Bewusstsein der Allgemeinheit verdeutlicht sich außerhalb des schulischen Kontexts auch daran, dass es für gewöhnlich keinerlei Erläuterungen bedarf, wenn man sie als Beurteilungsmaßstab heranzieht. So findet sie 14 beispielsweise auch häufig in standardisierten Fragebögen der Markt- und Sozialforschung Verwendung. Auch in der Forschung über die schulische Reproduktion sozialer Ungleichheit, orientiert man sich an Noten, die Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft zugeteilt werden, und kommt, wie wir dargelegt haben, zu dem Ergebnis, dass die Person des Lehrers entscheidenden Anteil an der Selektion nach leistungsfremden Kriterien hat. Würden Beurteilungen, wie es von vielen Autoren gefordert wird, in rein textlicher Form abgefasst werden, wären Vergleiche wie sie in derartigen Arbeiten vollzogen werden, nicht ohne weiteres möglich. Es wäre jedoch entsprechend davon auszugehen, dass das Problem der Chancenungleichheit weiterhin Bestand hat. 4. Schluss In der vorhandenen Literatur zur schulischen Beurteilungspraxis sind Schulnoten überwiegend Gegenstand von Kritik, die sich in erster Linie auf ihr mangelhaftes Repräsentationsvermögen bezieht. Der derzeitige Forschungsstand belegt, dass die schulische „Leistungsmessung“ den Gütekriterien der Objektivität, Validität und Reliabilität nicht genügt. Die Notenvergabe scheint mehr oder weniger durch menschliche Unzulänglichkeiten in der Leistungserfassung geprägt, was die Vergleichbarkeit der Zensuren stark herabsetzt. Dennoch wird der Schulnote gegenwärtig ein gewisser Faktizitätscharakter beigemessen, der sich darin äußert, dass gar immer mehr gewichtige Konsequenzen/Entscheidungen aus ihnen abgeleitet werden. Zeugnisse und Zensuren haben dabei prägenden Einfluss auf die Lebenschancen des Einzelnen. Dass sich diese als Selektionsinstrument auf breiter Basis durchgesetzt haben, mag nicht zuletzt ihrer Praktikabilität geschuldet sein. Alternative Beurteilungsformen, wie sie viele Kritiker fordern, vermögen nicht in gleicher Form Komplexität zu reduzieren, d.h. Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen und die notwendigen Selektionsentscheidungen zu vereinfachen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Anstengungen momentan eher auf eine Verbesserung des vorherrschenden Prinzips, im Sinne einer leistungsgerechteren Notenvergabe, abzielen. Das Bestreben nach mehr Bildungsgerechtigkeit äußert sich aktuell etwa in der flächendeckenden Einführung des sogennanten „Zentralabiturs“, zu dessen Kernelementen die Vereinheitlichung der Prüfungsinhalte, sowie der Bewertungspraxis zählen. 15 Doch gerade bei der so bedeutsamen „Abiturdurchschnittsnote“ ist nach wie vor unklar, was man überhaupt mit ihr misst. Einerseits ist aus genannten Gründen allein schon die Bildung eines Notendurchschnitts eine fragwürdige Angelegenheit. Andererseits finden hierbei auch nur Zensuren eines bestimmten Zeitraumes, die zudem noch unterschiedliche Gewichtung erfahren, Berücksichtigung. Es erscheint insofern angemessen von einem „Konstrukt“ zu sprechen, dass erst durch die Berechnungen selbst erzeugt wird. Wer sich einmal mit der Berechnung eines solchen „Durchschnitts“ befasst hat, wird schnell merken, dass es sich dabei um ein höchst kompliziertes und undurchsichtiges Unterfangen handelt. Einem informierten Schüler, der aus diesen Rechenformeln, Handlungskonsequenzen ableitet, kann man getrost bereits gewisse kalkulative Lesefähigkeiten attestieren. Er wird seine Anstrengungen auf Kurse und Prüfungen konzentrieren, die bei der Berechnung seiner Durchschnittsnote in besonderem Maße relevant sind; um noch einmal zu illustrieren, welchen Einfluss Schulnoten auf die Handlungsdispositionen ihrer Adressaten haben können. Einer leistungsgerechten Benotung ist, zugespitzt formuliert, insbesondere der Lehrer, in seiner Menschlichkeit hinderlich. Hier ist insbesondere die „mündliche Note“ hervorzuheben, bei der die Gefahr des Einwirkens menschlicher Unzulänglichkeiten am größten ist. Konsequenterweise müsste man den Prozess des Auswertens und Interpretierens einer Unterrichtsleistung von der Person des Lehrers lösen, um zu einer sachbezogenen, „repräsentativen“ Beurteilung gelangen zu können. Dies wäre etwa dann gegeben, wenn man die Aufgabe des Beobachtens, die beim Lehrer allzu oft mit der Interpretation einherzugehen scheint, an ein technisches Aufzeichnungsmedium abtritt, welches zugleich in mechanischkalter Präzision die Anzahl korrekter und inkorrekter Aussagen misst und eine Notenzuordnung mittels einheitlicher Algorithmen trifft. Es wäre jedoch zu erwarten, dass das Schweigen der Kritiker auch hier nicht lange andauern würde. 16 Literatur Ditton, Hartmut 2004: Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, Rolf / Lauterbach, Wolfgang (Hrsg.), Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden, VS Verlag. Ingenkamp, Karlheinz 1989: Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Weinheim/Basel, Beltz Verlag. KMK – Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2003: Übergang von der Grundschule in die Schulen des Sekundarbereichs I. Informationsunterlage. Bonn. Krope, Peter 1976: Zensur, Ausbildung und Gesellschaft. Bochum, Berg-Verlag. Lange, Elmar 1986: Soziologie des Erziehungswesens. Stuttgart, B. G. Teubner. Schulberatung Bayern 2009: Das „neue“ Übertrittsverfahren in Bayern. http://www.schulberatung.bayern.de/imperia/md/content/schulberatung/pdf/uebertritts verfahren_2009.pdf (28.10.2009) Wagener, Matthea 2003: Ziffernzensuren oder verbale Beurteilung. Weinheim/Basel. Beltz Verlag Ziegenspeck, Jörg W. 1999: Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule. Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt. 17
© Copyright 2025 ExpyDoc