LE LUNDI NOIR Text Martin Beglinger Illustrationen Joe McLaren Im Mai 1992 wollte der Bundesrat die Schweiz in die EG führen. Warum? Anatomie eines historischen Fehlentscheides 95 Le lundi noir FL AV IO C OT TI JEA N- PAS CA L DELA MURA Z OT TO STICH A RNOLD KOLLER Innenminister und Bundespräsident 1991 Wirtschaftsminister Finanzminister Justizminister 96 Le lundi noir K ASPAR VIL L IG E R RENÉ FELBER Verteidigungsminister Aussenminister und Bundespräsident 1992 D er Tag, den Arnold Koller heute «le lundi noir» nennt, beginnt prächtig. Es ist der 18. Mai 1992, ein Frühsommertag in Bern, 23 Grad, keine Wolke am Himmel. Weil Wirtschaftsminister Delamuraz am Vormittag an eine OECDTagung nach Paris fliegen muss, tritt die Landesregierung unüblich früh zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammen: morgens um sieben. Bereits um acht Uhr ist das Treffen beendet, und was sich in diesen knapp sechzig Minuten im Bundesratszimmer zugetragen hat, versetzt die politischen Gemüter auch eine Generation später in Wallung. A DO L F O G I Verkehrsminister 97 Le lundi noir «Ein Überfall» sei es gewesen (Kaspar Villiger, 2015); eine «staatspolitische Fata Morgana» (Otto Stich, 2011); ein «Jahrhundertfehler» (FDP-Nationalrat Ernst Mühlemann, 2004); der Politologe Dieter Freiburghaus spricht 2013 gar von «Systemversagen, wenn die Eliten das Volk vergessen». Nur wenige der damals Beteiligten beteuern wie Adolf Ogi noch heute: «Dieser Entscheid war wichtig und richtig. Und vor allem war er ehrlich!» An jenem frühen Morgen beschloss der Bundesrat, ein Gesuch um den Beitritt der Schweiz zur EG einzureichen. Genauer: ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Die Bundesräte René Felber, Jean-Pascal Delamuraz, Flavio Cotti und Adolf Ogi waren für das Gesuch; Arnold Koller, Otto Stich und Kaspar Villiger sprachen sich dagegen aus. Europa!», ruft Verkehrsminister Ogi noch am selben Abend 600 Gästen in Biel freudig zu, «der Bundesrat hat Flagge gezeigt!» Einer der Zuhörer in Biel lobt nach Ogis Erinnerung: «Ihr habt es gut gemacht!» Es ist der Ringier-Journalist Frank A. Meyer. Ursprünglich wollte die Regierung die Öffentlichkeit erst zwei Tage später über ihren brisanten Beschluss informieren, doch das Geheimnis bleibt gerade einmal vier Stunden lang eines. Durch eine (nie geklärte) Indiskretion enthüllt Radio DRS den Entscheid bereits am Montagmittag. Und noch penibler: Auch die Haltung jedes einzelnen Bundesrates wird publik. So weiss innert Kürze das ganze Land um die tiefe Spaltung seiner Regierung, die diesen fundamentalen Entscheid mit knappstmöglicher Mehrheit gefällt hat. Der Graben führt den Sprachgrenzen entlang und mitten durch jede Bundesratspartei. Von den Vertretern von FDP, CVP und SP ist je einer für den Beitritt und einer dagegen; der siebte, Adolf Ogi, steht quer zu seiner SVP. Als die Bundesräte Felber und Delamuraz am 20. Mai ihre Gründe für das Beitrittsgesuch offiziell vor den Medien darlegen, sitzt auch Arnold Koller neben den beiden und bekennt zum Schluss frank und frei, warum er den Entscheid der Mehrheit für falsch hält. Selten ist die Landesregierung weiter von einer Kollegialbehörde entfernt als bei diesem epochalen Entscheid im Mai 1992. Derweil ringen die perplexen bürgerlichen Parteipräsidenten um ihre Fassung. CVP-Obmann Carlo Schmid, nach eigenem Bekunden «vom Naturell her ein Isolationist», verkneift sich gröbere Innerrhoder Kraftausdrücke und sagt am Fernsehen, nun sei der Bundesrat «komplett überstellig» geworden. FDP-Präsident Franz Steinegger will in seiner ersten Wut gleich zurücktreten, so «verschaukelt» fühlt er sich vom Bundesrat. Den Journalisten erklärt er: «Nun wird es schwierig für den EWR»; im vertrauten Kreis sagt er: «Diese Regierung müsste man entlassen!» Zwei Parteiexponenten strahlen hingegen an diesem Tag. Der eine ist SP-Präsident Bodenmann, der die Regierung lobt, weil sie tut, was er will (einmal abgesehen von Otto Stich). Der andere ist Christoph Blocher, aufstrebender Zürcher SVP-Nationalrat und «Die Reise geht nach Europa! Der Bundesrat hat Flagge gezeigt!» A DOLF OGI am 18. Mai 1992 «Bitter enttäuscht» schleicht Justizminister Koller nach der Sitzung zurück in sein Büro, wo er «eine riesige Leere» in sich verspürt, wie er später schreibt; Finanzminister Stich beschliesst, eine besonders schöne Pfeife zu kaufen, wie immer nach grossem politischem Ärger; EMD-Chef Villiger wiederum sagt zu seinem freisinnigen Parteifreund, Wirtschaftsminister Delamuraz, beim Verlassen des Sitzungszimmers: «Jean-Pascal, c’est une faute historique!» Vollkommen anders die Stimmungslage auf der Gegenseite. Die Bundesräte Felber, Delamuraz, Cotti und Ogi sind überzeugt, soeben ein historsches Zeichen gesetzt zu haben. «Die Reise geht nach 98 Le lundi noir Innert Stunden weiss das ganze Land, wie gespalten seine Regierung ist. Selten ist der Bundesrat weiter von einer Kollegialbehörde entfernt. «Diese Regierung müsste man entlassen», sagt Franz Steinegger. Präsident der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz», aber noch längst nicht die dominante politische Figur der kommenden Jahre. Vor den Kameras «bedauert» er das Gesuch, hinterher genehmigt er sich zur Feier des Tages «eine besonders gute Flasche Rotwein» im Garten seines Mitkämpfers Otto Fischer, um auf den Entscheid des Bundesrates anzustossen. Denn dieser hat ihm soeben das beste Argument gegen den EWR serviert. Die miserable Einfädlung und innenpolitische Abstützung dieses historischen Entscheides wird rasch offensichtlich. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen? War es tatsächlich ein Überfall aus dem Nichts heraus? Ein politischer Hüftschuss aus der Laune des Augenblicks? Die Antwort beruht auf Gesprächen mit einem guten Dutzend direkt Beteiligter, darunter vier damaligen Bundesräten, die teilweise ihre Tagebücher konsultierten, die sonst im Safe lagern. In manchem ist man sich uneinig wie eh und je; Arnold Koller und Adolf Ogi haben zum Beispiel beschlossen, dieses Thema bei ihren Treffen zu beschweigen – «dem Frieden zuliebe» (Koller). Doch unbestritten ist zumindest der Startpunkt: Januar 1989. Noch ist Europa geteilt, noch ahnt niemand etwas vom baldigen Kollaps des Ostblocks, doch die Sowjetunion fibriert bereits unter Gorbatschows Glasnost. Am 17. Januar 1989 kündigt Jacques Delors, der machtbewusste EGKommissions-Präsident, seinen grossen Plan an, die zwölf EG-Staaten mit den sieben Efta-Staaten zu einem grossen europäischen Wirtschaftsraum zu verschmelzen. Der französische Sozialist und ehemalige Finanzminister von Mitterrand träumt von einem Binnenmarkt für 380 Millionen Menschen, in dem die vier grossen Freiheiten gelten sollen: für Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Die Schweizer Innenpolitik ist zu jener Zeit zwar mehr mit der Initiative zur Armeeabschaffung, der offenen Drogenszene am Zürcher Platzspitz und später mit der Fichenaffäre beschäftigt als mit Europa, doch was im Bundeshaus sehr genau registriert wird: dass Delors von «Mitbestimmung» für die EftaStaaten sprach. Doch ein Jahr später ist davon keine Rede mehr, weder bei Delors noch bei irgendeinem anderen Machtträger in Europa. Dennoch steigt der Bundesrat in die EWRVerhandlungen ein. Sie beginnen am 1. Juli 1990 und enden am 22. Oktober 1991 – in der berüchtigten langen Nacht von Luxemburg. Es werden mühsamste Monate des Ringens und Feilschens, von Fischfangquoten bis zur fundamentalen Frage der Entscheidungsmechanismen. Doch die Probleme der Schweiz beginnen schon damit, dass Delamuraz ausgerechnet seinen wichtigsten Mann, den Schweizer EWR-Chefunterhändler Franz Blankart, nicht ausstehen kann. Der sanguinische Garagistensohn aus Lausanne und der schillernde Basler Diplomat mit Affinität 99 Le lundi noir für Latein und die eidgenössische Kavallerie, das funktioniert von Beginn an nicht. Trotz gleichem – freisinnigem – Parteibuch. So harzt es schwer bei der Abstimmung zwischen Regierung und Chefunterhändler. Dass die beiden federführenden Romands im Bundesrat die EWR-Verhandlungssprache Englisch nicht verstehen und der eine, Delamuraz, auch auf Französisch selten ein Dossier liest, macht die Sache nicht leichter. Blankart meint in einem späteren Vortrag spitz: «Die Schweiz kann in Friedenzeiten ihre internationalen Interessen nur auf Englisch verteidigen. Aus dieser Tatsache ist bei künftigen Bundesratswahlen die Konsequenz zu ziehen. Unsere Verhandlungspartner haben diesen unseren Schwachpunkt erkannt und natürlich ausgenützt.» Sobald sein Chef unter «ministers only» an einem Arbeitsessen verhandelt habe, «mussten wir uns anderntags beim schwedischen Aussenhandelsminister erkundigen, was an diesem Essen tatsächlich gegangen ist». Mitbestimmung bleibt jedenfalls immer ausser Reichweite. Mehr als eine «gestaltende Mitwirkung» beim Erlass von EWRFolgerecht ist nicht herauszuholen. Noch vor Beginn der EWR-Verhandlungen fällt die Mauer in Berlin, und mit dem 9. November 1989 stürzen auch viele alte politische Gewissheiten in sich zusammen. 1990 wird zum Jahr der deutschen Wiedervereinigung, 1991 implodiert die Supermacht Sowjetunion, als bestünde sie aus Karten, und beides löst in Westeuropa ein Grundgefühl des «Alles ist möglich» aus, was eine Generation später kaum noch nachvollziehbar ist. So gut wie jede europäische Regierung – auch die schweizerische – will die «historische Chance» (Cotti) nutzen. Denn wer zu spät kommt, so Gorbatschows Zitat zur Zeit, den bestraft das Leben. Österreich hat bereits im Juli 1989 ein EGBeitritts-Gesuch eingereicht, Schweden folgt im Juli 1991 und schliesslich Finnland im Februar 1992. Das schwächt die Efta, die faktisch zu einem Quartett der Zwerge schrumpft, wenn nur noch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz darin verbleiben. Aber auch das Interesse der EG an einem EWR schwindet rapide. Umso höher drückt die EG nun den politischen Preis für die Efta-Länder. Im März 1991 zitiert der gut informierte Brüsseler NZZ-Korrespon- Am 20. Mai 1992 gibt der Bundesrat im Berner Hotel Bellevue offiziell bekannt, dass er über den EG-Beitritt der Schweiz verhandeln will. dent aus einem vertraulichen Papier der Verhandlungsdelegation Botschafter Bruno Spinner, wonach der EWR «der schlechteste aller Integrationsfälle» sei. Und noch vernichtender: «Für wirtschaftliche Vorteile müsste ein politischer Preis bezahlt werden, der an Wucher grenzt.» Blankart wittert gezielte Sabotage dahinter – nicht ohne Grund. Denn Delamuraz möchte seinen Chefunterhändler mittlerweile am liebsten entlassen. Nur wagt er es nicht, weil er einen Eklat befürchtet, der auf ihn selber zurückfallen könnte. Gleichzeitig gewinnt ein anderer Spitzenbeamter immer mehr Einfluss: Jakob Kellenberger, 100 Le lundi noir Bild: Keystone Spinners Chef im Integrationsbüro und späterer IKRK-Präsident. Im Unterschied zu Blankart findet der Karrierediplomat Kellenberger – ein Schwerarbeiter, dem selbst die kleinste Extravaganz widerstrebt – einen guten Draht zu Felber und Delamuraz, aber auch zu Adolf Ogi. «Köbi» nennen sie ihn. Mit seinem markanten Bart gäbe der Ausserrhoder zwar einen perfekten Bühnen-Tell, doch Kellenberger zählt unter den Spitzenbeamten zu den frühesten und vehementesten Beitrittsbefürwortern, zusammen mit seinem Stellvertreter Spinner und dem Brüsseler Botschafter Benedikt von Tscharner. «Unsere Verwaltung», meint ein damals Beteiligter heute, «hatte einen grösseren Einfluss auf die Aussenpolitik als in jedem anderen europäischen Land.» In den EWR-Verhandlungen ist Kellenberger Blankarts Stellvertreter, auch dies eine schwierige Konstellation, obschon grundsätzlich nichts Neues, denn es ist die Fortsetzung einer jahrezehntelangen Rivalität zwischen dem EDA und dem Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) über die Definitionsmacht in der Aussenpolitik. Bisher lag sie beim Bawi, denn Aussenpolitik war vorab Aussenwirtschaftspolitik, also die Sicherung eines möglichst freien internationalen Handels. 101 Le lundi noir Fritz Leutwiler, der frühere Nationalbankpräsident, fordert im Herbst 1991 den Abbruch der EWRVerhandlungen und den EG-Beitritt. der schon bald das Parteipräsidium von der europafreundlichen Eva Segmüller übernehmen wird, fragt in der Herbstsession 1991: «Lässt sich das Volk in dieser Frage überhaupt leiten? Wir glauben nein. Das Volk wird den EWR ablehnen und auch in den nächsten sieben bis neun Jahren keinem EG-Beitritt zustimmen.» Derweil beginnen sich die tonangebenden Freisinnigen im Ständerat zu positionieren. Der Genfer Gilles Petitpierre, der Baselbieter René Rhinow und der Ausserrhoder Otto Schoch (die ihren Freund Köbi Kellenberger in die FDP holten) plädieren im Laufe des Jahres 1991 allesamt für ein Beitrittsgesuch. Erst recht tut dies der Genfer Peter Tschopp im Nationalrat, während Parteipräsident Franz Steinegger, der seine Partei zusammenhalten muss, höchstens für eine unverbindliche «Option EG» zu haben ist. Die Spaltung des Freisinns durch die Europafrage nimmt hier ihren Anfang. Im September 1991 schiebt sich eine weitere Galionsfigur im Umfeld der FDP in Stellung: Fritz Leutwiler, der noch immer sehr einflussreiche frühere Nationalbankpräsident und nunmehr Co-Präsident der ABB. Leutwiler verlangt nichts Geringeres als den Abbruch der EWR-Verhandlungen. Die Lage in Mittelund Osteuropa habe sich so dramatisch verändert, dass man über neue Formen der europäischen Integration nachdenken müsse, sagt er an einer Tagung des «Vororts», des massgebenden Wirtschaftsverbandes der Schweiz. Dies sei «auch deshalb geboten, weil wegen fehlender Europawilligkeit der Mehrheit der Schweizer vorerst nicht mit positiven Volksentscheiden über einen EWR-Vertrag oder einen EG-Beitritt Kellenberger gilt zwar als sehr loyaler Beamter, und doch weiss jeder im Integrationsbüro, dass ihm Blankarts legendäre Formel – «Beitrittsfähig sein, um nicht beitreten zu müssen» – tief zuwider ist. Stattdessen sorgt er wohl entscheidend dafür, dass der EG-Beitritt in den Integrationsberichten des Bundesrates innerhalb von knapp vier Jahren von ganz unten nach ganz oben rückt. Noch 1988 war er kein Thema, 1990 wird er zur «Option», im Mai 1991 bereits zur «primären Option» und im Oktober 1991 definitiv zum «strategischen Ziel». Während die Alles-ist-möglich-Euphorie im im Ausland anhält und der EWR im Inland immer mehr zerredet wird, verspüren die Schweizer EGBefürworter im Frühling 1991 markanten Aufwind. Als erste Bundesratspartei legt sich die SP im März auf den EG-Beitritt fest und akzeptiert den EWR nur als Zwischenstufe auf dem Weg nach Brüssel. Im Mai folgt die CVP. Auf Antrag ihres Programmchefs, des Freiburger Ständerates Anton Cottier, fordern die Delegierten nach der EWR-Abstimmung ebenfalls den EG-Beitritt. Das Traktandum wird diskussionslos abgenickt (weil die Kritiker gar nicht erst angereist sind). Flavio Cotti sieht das friedlich vereinigte Nachkriegseuropa als «grosses C-Projekt», angeschoben von den christlichdemokratisches Galionsfiguren Monnet, Adenauer, Schuman und De Gasperi, weitergeführt von C-Grössen wie Helmut Kohl, den Cotti regelmässig während dessen privater Besuche in der Schweiz trifft und überaus schätzt. Die andere Seite des weiten C-Spektrums markiert Carlo Schmid. Der Innerrhoder Ständerat, 102 Le lundi noir gerechnet werden könnte». Diese Einsicht hindert Leutwiler nicht daran, acht Wochen später öffentlich den EG-Beitritt zu verlangen, damit die Schweiz gleichzeitig mit Schweden, Finnland und Österreich über die Modalitäten der Aufnahme verhandeln könne. Die künftige EG werde «lockerer, weniger zentralistisch, mehr föderalistisch sein». In der Wirtschaft ist Leutwiler durchaus nicht allein mit dieser Haltung. Auch Pierre Borgeaud, Chef des Industriekonzerns Sulzer und Präsident des «Vororts», glaubt nicht an den EWR als Dauerlösung, sondern tendiert ebenfalls Richtung EG. Noch viel heftiger tun dies die drei Wirtschaftsprofessoren Silvio Borner, Aymo Brunetti und Thomas Straubhaar in ihrem Bestseller Schweiz AG. Vom Sonderfall zum Sanierungsfall. Sie sehen das Land – in dem sich 1991 eine heftige Rezession anbahnt –, bereits untergehen, wenn es nicht sofort der EU beitrete und seine kartellisierte Binnenwirtschaft via Brüssel aufgebrochen und wieder fit getrimmt werde. Den EWR hält dieses illustre Trio für eine «Hängepartie». Die breite Absetzbewegung gegenüber dem Europäischen Wirtschaftsraum erfasst in dieser Zeit selbst den Bundesrat. Der einzige, der immer stramm zum EWR steht, ist Arnold Koller. Flavio Cotti hingegen, ein Grossmeister der politischen Taktiererei, sagt zwar öffentlich nie klar, dass er den EWR nicht will. Aber jeder, der ihn gut kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass Cotti in die EU will – und nur in die EU. Vor tausend Gästen aus ganz Europa sagt er im September 1991 in Sils Maria, der EWR verliere «zusehends an Attraktivität», was «prompt zu Krach im Bundesrat führt» (Koller). Cotti redet es zum «grotesken Theater» klein, das «eben auch zur menschlichen Erfahrung gehört». Nur: Flavio Cotti ist nicht der einzige Kritiker. Vier Wochen vor ihm markierte bereits Kaspar Villiger im August 1991 in der NZZ deutliche Distanz: «Der EWR-Vertrag zwingt uns zur Übernahme fremden Rechts, gibt uns bei der Fortentwicklung dieses Rechts keine Mitbestimmung. Darum ist es schwierig, überzeugende Argumente zu finden gegen jene, die sagen, eine Teilnahme am EWR führe zu einer faktischen Satellisierung der Schweiz. Der EWR kommt deshalb in den Augen vieler Bürger als «Ich bin nun aber nicht der Meinung, der Schweiz bleibe im Grunde angesichts der historischen Umstände nichts anderes übrig, als der EG beizutreten. Der sogenannte Alleingang ist möglich.» KAS PA R V ILLIGER im August 1991 Dauerlösung kaum in Frage. Vertretbar ist er indessen als Zwischenschritt zum EG-Beitritt.» Auf den Punkt kommt er freilich mit folgender Bemerkung: «Ich bin nun aber nicht der Meinung, der Schweiz bleibe im Grunde angesichts der historischen Umstände nichts anderes übrig, als der EG beizutreten. Der sogenannte Alleingang ist möglich.» Genau diesen Alleingang hält der mächtige «Vorort» für unmöglich, weil er um den freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt fürchtet. Immer unmöglicher wird die Situation auch für Franz Blankart als Diener von sieben Herren. Später sagt er deutsch und undiplomatisch deutlich: «Ein Bundesrat war gegen den EWR und gegen den EU-Beitritt, zwei Bundesräte für den EWR und gegen den EU-Beitritt, zwei Bundesräte für den EWR und für den EU-Beitritt und einer gegen den EWR und für den EU-Beitritt. Da konnte man nur verzweifeln.» In dieser vertrackten Lage mit sehr widersprüchlichen innenpolitischen Signalen trifft sich die Regierung am 18. Oktober 1991 zu einer Retraite in Gerzensee, dem Studienzentrum der Schweizerischen Nationalbank. Sprecher Achille Casanova lässt hinterher verlauten, man habe über eine Regierungsreform diskutiert, doch das weit wich- 103 Le lundi noir Ja zum EWR, das vorher keineswegs gesichert war», erinnert sich Arnold Koller. Doch Gerzensee ist sehr viel mehr als dies. Der Beschluss wird zum politischen Präjudiz für die bundesrätliche Europapolitik. Ohne den Grundsatzentscheid von Gerzensee ist auch der 18. Mai 1992 nicht denkbar, denn er ist die Voraussetzung dafür. Seit Gerzensee ist das Ziel gesetzt, und Christoph Blocher wird es der Regierung in den nächsten zwanzig Jahren bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben. Vorerst schweigt der Bundesrat über seinen historischen Beschluss, denn am Tag nach Gerzensee sind die eidgenössischen Wahlen 1991. Es wird kein Freudentag für die bürgerlichen Bundesratsparteien. FDP und CVP verlieren, Sieger sind just die aufstrebenden Beitrittsgegner: Autopartei und Grüne. Die SVP, damals noch mit einem starken Berner Flügel, kann ihre Sitze halten. Zwei Tage später, am 21. Oktober 1991, folgt der EWR-Showdown. Felber und Delamuraz treffen bereits am Mittag in Luxemburg ein. Sie werden in einem Hotel einquartiert, weil die Diplomaten der neunzehn EG- und Efta-Länder noch immer um Fischfangquoten und Durchfahrtsrechte für Camions dealen. Im Hotel beginnt derweil das Warten. Es vergeht Stunde um Stunde, die beiden Bundesräte werden immer mürrischer. Bald ist die erste Flasche Wein geöffnet, Felber raucht Kette, es folgen die nächste und die übernächste Flasche, als durchsickert, dass die Efta ein letztes Mal nachgeben muss, damit alle EG-Mitglieder den EWR akzeptieren. Als sie nach sechs oder sieben Stunden Warten das Nachtessen bestellen, werden die beiden Bundesräte schliesslich in die Verhandlungen gerufen, um alles gutzuheissen. Dort treffen sie auf die bestens gelaunten Efta-Kollegen aus Österreich und Schweden, die sich freilich weit mehr auf ihren baldigen EG-Beitritt freuen als über den soeben verabschiedeten EWR. Es ist drei Uhr morgens, als man die beiden Bundesräte aus dem Konferenzraum kommen und vor die ebenso müden Journalisten treten sieht. So gut wie niemand weiss, was sie nun verkünden werden, vor allem nicht der Chefunterhändler, der auch im Presseraum warten muss. Gemeinsam mit den Korrespondenten erfährt Franz Blankart nun, Die lange Nacht von Luxemburg endet in einer Mischung aus Müdigkeit, Frust und Alkohol. tigere Traktandum der Sitzung verschweigt er: die Europapolitik. Man steht unmittelbar vor Abschluss der Verhandlungen zwischen EG und Efta, und jetzt muss der Bundesrat Farbe bekennen: ja oder nein zum EWR. Die Sitzung, geleitet von Bundespräsident Cotti, wird eine Diskussion, die durch und durch von Taktik bestimmt ist. Der eifrigste EWR-Befürworter Koller befürchtet, die Beitrittsbefürworter Delamuraz, Felber und Cotti könnten sich im letzten Moment quer zum EWR legen – falls ihnen im Gegenzug nicht garantiert wird, dass man den Beitritt wenigstens zum «strategischen Ziel» erklärt. So gelangt man zum Kompromiss: «EWR ja, aber nur mit dem Beitrittsziel EG». Formell abgestimmt wird nicht in dieser informellen Sitzung, doch die Mehrheiten sind klar: 5 zu 2. Drei Bundesräte – Delamuraz, Felber und Ogi – sagen aus Überzeugung Ja; zwei – Koller und Villiger – aus der Hoffnung heraus, mit dem Ja zur EG den EWR zu retten; Cotti bleibt skeptisch, weil er den EWR nicht will, und Stich ist konsequent gegen EWR und EG. Villiger, der noch ein paar Wochen zuvor den Alleingang als «möglich» bezeichnet hat, schluckt nun den Beitritt als strategisches Ziel, wohl auch im stillen Kalkül, das Volk werde ihn an der Urne ohnehin versenken. Koller hingegen ist kein grundsätzlicher EG-Kritiker und hat deshalb auch keine prinzipiellen Einwände gegen den Beitritt – aber eben nur als «strategisches» Fernziel. «Das erfreuliche Hauptresultat von Gerzensee war für mich das 104 Le lundi noir dass der Bundesrat den EWR-Vertrag akzeptiert. Das war zu erwarten. Doch weil die Regierung dessen «institutionelle Mängel» – sprich: die fehlenden Mitbestimmungsrechte – als derart gross erachtet, erklärt Aussenminister Felber den EG-Beitritt im Namen des Bundesrates «per sofort» zum «strategischen Ziel». Das war nicht zu erwarten. Es sei, urteilt ein damals Beteiligter, «wie ein Befreiungsschlag für die beiden Bundesräte gewesen. Die Bekanntgabe des strategischen Ziels war nicht geplant, sondern ein Zufallsentscheid aus der Situation heraus. Es war die Folge einer Mischung aus Müdigkeit, Frust und Alkohol.» Für den ebenfalls anwesenden Jakob Kellenberger endet die lange Nacht von Luxemburg mit einer stillen Genugtuung, während für Chefunterhändler Blankart der Moment gekommen ist, um über seine sofortige Demission nachzudenken. Denn er bleibt überzeugt, dass dieser EWR der «massgeschneiderte Vertrag» für die Schweiz ist – bei allen Bedingtheiten. «Aus einer Mischung aus Übermüdung und Loyalität habe ich dann von der Demission abgesehen», sagt Blankart 1998 in einem Vortrag in Basel, der zu einer harten Abrechnung wird: «Ohne mich als Chefunterhändler vorher zu informieren oder gar zu konsultieren, wurde um 3.00 Uhr morgens (!) im Ausland (Luxemburg) und erst noch im Gebäude der EG-Kommission (!) dem verdutzten Schweizervolk mitgeteilt, inskünftig sei der EU-Beitritt das Ziel der schweizerischen Europapolitik. Man muss wirklich von allen guten Geistern verlassen sein, solch einen politischen Fehler zu begehen. Von da an wusste ich, dass der EWR verloren war.» Nicht nur das Schweizer Volk ist verdutzt, auch die daheimgebliebenen Bundesräte sind es, denn abgesprochen war diese nächtliche Bekanntgabe nicht, wie Arnold Koller und Kaspar Villiger rückblickend sagen. Doch kann sich auch keiner mit gutem Grund beschweren, weil sie dieses Ziel eben erst gemeinsam gebilligt haben. Am 7. Februar 1992 wird in aller Feierlichkeit und mit grosser Euphorie der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Die EG wird zur EU umbenannt und offiziell zu einer «neuen Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas» erklärt. Die zwölf Mitgliedsländer beschliessen eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik, eine enge Kooperation im Justizbereich – und die Einführung einer gemeinsamen Währung. In der gleichen Woche wird Jakob Kellenberger vom Bundesrat zum neuen Staatssekretär und somit zur Nummer zwei hinter René Felber befördert. Während Blankarts interne Stellung schwer lädiert ist, wächst Kellenbergers Einfluss weiter. Später bekennt der gewiss nicht zur Selbstinszenierung neigende Appenzeller: «Zuerst als Chef des Integrationsbüros EDA/EVD, ab Februar 1992 als Staatssekretär für Auswärtiges war ich eine der treibenden Kräfte zugunsten einer Festlegung des EU-Beitritts-Ziels und der raschen Einreichung der Gesuche.» Seine Haltung ist schon damals offen und klar: Ende Januar 1992 nennt er das Beitrittsgesuch in einem Referat in Zürich einen Akt des «weitsichtigen Patriotismus». Gerade Maastricht zeige, dass «Selbstbestimmung der eigenen Zukunft vermehrt Mitbestimmung in der EU erfordert». Fünf Tage vor dem 18. Mai plädiert er in einem weiteren Vortrag dafür, «die Bande zur EG rasch enger zu knüpfen». Das sehen nicht nur der neue Staatssekretär und die Mehrheit des Bundesrates so, sondern auch eine Mehrheit des Ständerates. Am 10. März 1992 unterstützt die «chambre de réflexion» das Postulat der Zürcher Ständerätin Monika Weber (ldu.), wonach der Bundesrat «unverzüglich» ein EG-Beitritts-Gesuch einreichen solle. Ausgerechnet Bundesrat Felber will das Postulat zwar nicht annehmen, weil es die Handlungsfreiheit der Regierung zu sehr einschränke, doch der Ständerat drückt es trotzdem mit 22 gegen 15 Stimmen durch. Ein starkes Signal. Nach dieser Debatte wird es Franz Steinegger mulmig. Am 16. März 1992 deponiert der FDPPräsident in der NZZ eine scharfe Warnung vor der «jetzigen Hetzjagd Richtung EG»: «Man kann gescheit über Beitrittstermine reden, man kann beim Aufbau Europas mitwirken wollen, man kann verzweifeln ob der Provinzialität der Schweiz – an der Volksabstimmung über den EWR führt nichts vorbei.» Und das Argument, nach einem Nein zum EWR habe man mit dem Beitrittsgesuch wenigstens einen Fuss in der Türe, kontert der Urner mit dem Bild: «Wer hofft, man könne den zweiten Schritt tun, wenn der erste 105 Le lundi noir Das Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Faksimile. Das Original lagert in einer Brüsseler Schublade. 106 Le lundi noir gescheitert ist, glaubt an die Besteigbarkeit der Berge von oben.» Steinegger sitzt zwar regelmässig in Delamuraz’ Büro, nicht selten morgens um halb sieben und auch im Winter meist bei offenem Fenster, weil der Departementschef viel Frischluft und Wasser braucht, um den Wein vom Vorabend zu neutralisieren. Doch sein Einfluss auf Delamuraz’ Europapolitik: null. Der Einfluss auf seine EG-Tenöre im Parlament: nahe bei null. Das Gleiche bei der CVP: Das Verhältnis des EG-Superskeptikers Carlo Schmid zu Flavio Cotti ist eher ein Nichtverhältnis. Umso mehr ärgern sich die beitrittskritischen Parteipräsidenten und Bundesräte über den Einfluss «publizistischer Zirkel» (Steinegger) auf die Regierung. Otto Stich spricht von der «Inszenierung des ‹achten› Bundesrates» und meint damit besagten Frank A. Meyer, den so meinungswie auflagenstarken Kolumnisten, der die publizistische Macht des gesamten Ringier-Konzerns hinter sich weiss. Meyer, der nur Spott für den EWR übrig hat («ein Mittelweg, der auf den Miststock führt»), beschwört den Bundesrat in jenen Frühlingswochen 1992 nicht weniger als fünfmal im «Sonntags-Blick» und in der «Schweizer Illustrierten», «demnächst vollzählig vor die Medien zu treten, um das Volk von der Notwendigkeit eines unverzüglichen EG-Beitritts zu überzeugen. Das wäre endlich der Abschied von der lendenlahmen Aussenpolitik von gestern.» Es sei «geradezu Amtspflicht des Bundesrates», diese «historische Chance» wahrzunehmen und «die Schweiz für ein grosses Ziel zu begeistern: Europa.» Der letzte von Meyers fünf leidenschaftlichen Beitrittsappellen erscheint am 11. Mai, neun Tage bevor der Bundesrat das Beitrittsgesuch offiziell verkünden wird – im Berner Hotel Bellevue, dem damaligen Bürositz des Ringier-Publizisten. Meyer weiss sehr genau, an wen er seine suggestiven Worte ganz besonders richtet: an seinen Duzfreund Dölf. Den anderen Duzfreund Flavio braucht er kaum mehr zu überzeugen, die Meinungen der beiden Romands werden von Meyers Freund Jacques Pilet mit heiligem Eifer gefestigt, und bei den drei Beitrittsgegnern ist ohnehin nichts zu machen. «Im Vorfeld dieser Sitzung habe ich mit vielen Leuten gesprochen, auch mit Frank A. Meyer. Doch überredet hat er mich nicht», sagt Adolf Ogi heute. Tatsächlich war er im Herzen schon immer ein grosser Internationalist, für den die EG kein bürokratisches Monster war, sondern ein Friedensprojekt, das konkrete Gesichter hatte wie jene von François Mitterrand oder Helmut Kohl, die Ogi als «meine aufrichtigen Freunde und als Freunde der Schweiz» empfand. Ein anderer, bei dem er Rat suchte, war offenbar Fritz Leutwiler, wie Ernst Mühlemann 2009 zu Protokoll gab. Der Thurgauer FDP-Nationalrat war selber dabei, als Leutwiler Ogi bei einem Mittagessen zum Beitrittsgesuch ermutigte, während Mühlemann ihm dringend davon abriet. («Das war die grösste pädagogische Niederlage meines Lebens.») Ein weiteres Gespräch im Vorfeld des 18. Mai findet mit Christoph Blocher statt. Er empfiehlt Ogi zwar nicht gerade die Einreichung, doch er tut wohlweislich auch «nichts, um ihn davon abzuhalten» – aus höchst machiavellistischen Motiven, wie «die gute Flasche Rotwein» bezeugt, die er hernach mit Otto Fischer leert. Blochers Instinkt stimmt, wie sich bald zeigen sollte. Im Grunde schon in Gerzensee, spätestens aber am 18. Mai 1992 bauen ihn die euphorisierten EG-Befürworter unfreiwillig zur dominanten Figur «Der achte Bundesrat», wie der verärgerte Otto Stich ihn nennt, trommelt medial das Beitrittsgesuch herbei. Und er hat Erfolg damit. Vorläufig. 107 Le lundi noir in der Europapolitik auf. Und verhelfen seiner SVP zum Aufstieg als weitaus stärkste Bundesratspartei, die ihren Wähleranteil zwischen 1991 und 2011 von 11,1 auf 26,6 Prozent mehr als verdoppelt. Parallel dazu beginnt der Niedergang von FDP und CVP. Viele Beobachter sind sich bis heute einig, dass der EWR ohne vorheriges Beitrittsgesuch weit bessere Chancen gehabt hätte. Denn am 6. Dezember 1992, dem «dimanche noir» (Delamuraz), auf den sich Kollers «lundi noir» bezieht, fehlten nur 24 000 Stimmen zum Volksmehr. Einer glaubt hingegen mit guten Gründen, dass «der EWR auch ohne dieses Gesuch abgelehnt worden wäre»: Blocher. Zum einen wäre das ebenfalls nötige Ständemehr weit schwieriger zu schaffen gewesen. Zweitens bestand der offizielle Link zwischen EG und EWR schon vorher, nämlich seit Gerzensee. Und drittens hätte eine reine EWRAbstimmung ohne Aussicht auf den Beitritt zu einer unheiligen Allianz zwischen SVP, SP, Grünen und Gewerkschaften geführt, die diesen «Kolonialvertrag EWR» (Blocher) als alleinige Lösung nicht wollten. In der Erinnerung von Kaspar Villiger bleibt der 18. Mai «ein Überfall». Doch wenn, dann ist er seit Monaten angekündigt. Denn Felbers Ansinnen erfolgt keineswegs aus dem heiteren Himmel an jenem Montagmorgen. Vielmehr ist es bereits der vierte Anlauf des Bundespräsidenten, in der Regierung eine Mehrheit für die sofortige Einreichung des Gesuchs zu finden. Der erste vergebliche Versuch fand in der Bundesratsitzung vom 19. Februar 1992 statt, und am 6. Mai 1992 notiert der Stabsmitarbeiter eines Bundesrates nach dem Debriefing dick in seinem schwarzen Tagebuch: «EG-Beitritts-Gesuch zum 3. Mal verschoben!» René Felber weiss, dass der 18. Mai seine womöglich letzte Chance ist, etwas Historisches in diesem Amt zu bewirken. Denn es ist die letzte Bundesratssitzung, bevor er fünf Tage später für eine schwere Operation ins Berner Inselspital eingeliefert wird. Der üble Befund, den er Mitte April erhielt: Blasenkrebs. Der Ausgang der Operation ist ungewiss. (Felber wird bis im September fehlen und im März 1993 aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten.) Es ist viel über letzte Absprachen vor dieser Montagssitzung spekuliert worden, letztmals von «Ogi und Cotti mussten sich kurzfristig anders entschieden haben. Ich war zu leichtgläubig.» A RNOLD KOLLER Arnold Koller, der 2014 in seinen Memoiren schreibt, er habe ein 5 zu 2 oder mindestens 4 zu 3 gegen das Gesuch erwartet: «Ogi und Cotti mussten sich kurzfristig anders entschieden haben.» Im Rückblick sagt er: «Ich war zu leichtgläubig.» Absprachen sind kaum zu beweisen. Aber es ist auch kaum zu glauben, dass es keine gab. Sie sind die Regel in diesem Regierungsgremium, erstaunlich ist nur, wer sich jeweils mit wem vor den Sitzungen bespricht. Der Bestvernetzte von allen ist Adolf Ogi. Normalerweise tauscht er sich am Vorabend mit den beiden Freisinnigen Villiger und Delamuraz über die anstehenden Geschäfte aus, und am Morgen vor der Sitzung trifft er auch noch CVP-Innenminister Flavio Cotti, der sich wiederum nie vorher mit Parteikollege Koller abspricht. So gut wie alle Befragten nehmen an, dass die beiden federführenden Romands – die ohnehin gleicher Meinung sind – sich zuvor absprachen. Und Adolf Ogi attestiert, dass er «am Vorabend kurz mit 108 Le lundi noir Unermüdlich, doch fast allein mit seinem Enthusiasmus für den EWR: Chefunterhändler Franz Blankart. Bild: Keystone Felber und Delamuraz telefoniert» habe. Heute sagt Ogi: «Bei René Felber habe ich gespürt, wie wichtig ihm dieser Entscheid war, den er noch vor seiner Operation durchbringen wollte. Das hat mich bewegt, ich bin ein emotionaler Mensch. Wir wussten ja nicht, ob er ins Amt zurückkommt.» Nicht eingeweiht sind Koller, Villiger und Stich, auch wenn man zumindest in Villigers Umfeld bereits am 14. Mai weiss, dass in den nächsten Tagen entschieden wird und es knapp werden dürfte. «Offen bar hat Ogi das Lager gewechselt», notiert ein Bundesratsberater. Finanzminister Stich ist am Sonntagabend vor dem «schwarzen Montag» noch bestens gelaunt, weil er in der Volksabstimmung den Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen durchgebracht hat – faktisch gegen seine eigene SP, aber mit 55 Prozent des Stimmvolkes, das ihm, dem nüchternen Rechner und behäbigsten aller Bundesräte, gefolgt ist bei dieser ersten aussenpolitischen Öffnung seit dem scherbelnden Nein zum Uno-Beitritt im Jahr 1986. Die Beitrittswilligen im Bundesrat nehmen das Resultat noch so gerne als Indiz für eine neue Offenheit auch gegenüber der EG. Eine fatale Fehlinterpretation. Stich schreibt in seinen Memoiren, es sei «ein simpler Versuch gewesen, meinen aussenpolitischen Erfolg umzulenken». Im Übrigen habe es von dieser «staatspolitischen Fata-Morgana»-Sitzung weder ein Protokoll noch eine vorherige Traktandenliste gegeben. Letz- 109 Le lundi noir terem widersprechen mehrere seiner Kollegen. Es gibt durchaus eine Traktandenliste, nämlich erstens die Verabschiedung der EWR-Botschaft und zweitens die Verabschiedung des dritten Integrationsberichts, worin es um den Beitritt geht. Doch wer in dieser Sitzung wirklich was gesagt hat oder auch nicht, das darf die Öffentlichkeit nach dem Willen der Bundesbürokratie erst in einem halben Jahrhundert erfahren. Bis dann bleiben die Akten im Bundesarchiv weggesperrt. Das Beitrittsgesuch ist im Original ganze vier Zeilen lang und beginnt mit der Formulierung: «Le gouvernement suisse a l’honneur de demander, par la présente, l’adhésion de la Confédération suisse à la Communauté économique européenne...» Und nun folgt jene Präzisierung, die er, sagt Adolf Ogi heute, «als damaliger Vizepräsident dem Kollegen Felber am Schluss der Sitzung diktiert» habe: «...c’est-à-dire l’ouverture de négociations à ce sujet.» Also nur Beitrittsverhandlungen. Für Koller, Villiger und Stich ist das eine Nebensache, für Ogi jedoch «eine Voraussetzung» für seine Zustimmung, wie er heute sagt: «So formuliert, war der Antrag überhaupt kein Risiko: Bundesrat und Parlament hätten über das Verhandlungsresultat befinden und das Volk abschliessend urteilen können. Wir wollten ehrlich sein und nicht erst nach der EWR-Abstimmung offen sagen, wohin für uns die Reise gehen könnte. Ohne dieses Gesuch wären wir blockiert gewesen.» Ogi als Hauptverantwortlichen für den «lundi noir» zu brandmarken, wäre billig. Er war einer von sieben, und sein so oft kritisiertes Bild vom EWR als «Trainingslager» für den EG-Beitritt brachte nur populär auf den Punkt, was auch die Mehrheit der Regierung, des Ständerates und diverse Wirtschaftsführer wollten. Sie alle müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass «ein erstaunlicher Euro-Enthusiasmus ihren Realitätssinn getrübt hat» und «bewährte Regeln des schweizerischen politischen Systems missachtet wurden» (Dieter Freiburghaus). «Der Entscheid war zwar ihr verfassungsmässiges Recht, aber er war völlig losgelöst von der innenpolitischen Realität. Die Parteien hat dieser elitäre Bundesrat damals nicht sehr ernst genommen», sagt Franz Steinegger heute. Carlo Schmid meint, «gewisse Bundesräte» hätten die Fraktionen wie «Vasallen» betrachtet. Immerhin hat das Parlament den Bundesrat nach dieser Erfahrung per Gesetz zu besserer Konsultation verpflichtet. Ein «lundi noir» wäre nach Arnold Koller «heute nicht mehr möglich». Trotz mehrheitlicher medialer Zustimmung von Blick bis NZZ (wenigstens in ihrem ersten Kommentar) weist der Bundesrat seinen Botschafter in Brüssel an, das Gesuch möglichst über die Hintertüre einzureichen, ohne Pomp und Pressefotografen. So liegt das Gesuch seit nunmehr 23 Jahren in einem Archiv in Brüssel. Es ist, nach bundesrätlicher Sprachregelung, «gegenstandslos». G Martin Beglinger ist Redaktor von NZZ Geschichte und Autor einer Biografie über Otto Stich («Der rote Eidgenosse», Werd-Verlag 1996). [email protected] Weiterführende Literatur Flavio Cotti im Gespräch mit Erich Gysling: Stunde der Wahrheit für die Schweiz. Universitätsverlag Freiburg 1993. Dieter Freiburghaus: Die schweizerische Europapolitik nach dem EWR-Trauma. In: D. Freiburghaus/G. Kreis (Hrsg.): Der EWR – verpasste oder bestehende Chance? Verlag NZZ Libro 2013. Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU. Verlag NZZ Libro 2014. Arnold Koller: Aus der Werkstatt eines Bundesrates. Stämpfli-Verlag 2014. Daniel Margot: L’acteur européen Jean-Pascal Delamuraz. Verlag Peter Lang 2009. Ernst Mühlemann: Augenschein. Huber-Verlag 2004. Philippe Nell: Suisse-Communauté Européenne, Economica Paris 2012. Markus Somm: Christoph Blocher – Der konservative Revolutionär. Stämpfli-Verlag 2009. Otto Stich: Ich blieb einfach einfach. Verlag Johannes Petri 2011. 110
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