Nr. 2 | 28. Februar 2016 NZZ am Sonntag Lewinsky Zum 70. legt er einen neuen Roman vor 12 Der Fremde Albert Camus’ Klassiker wird umerzählt 10 Die Schweizer Wie sie Politik zur Komödie machen 18 Terrorjahre Ein Buch bringt Bundesbern in Bewegung 21 Bücher am Sonntag Wir regen uns auf über obligatorische Kindersitzli, obwohl wir unsere Kinder nie ohne Kindersitz im Auto fahren lassen. Aus «‹D Finger ab de Röschti!› ist der erste Bürgerwunsch» von Monika Bütler Jetzt Probe lesen für nur 25 Fr. Artikel verpasst? 10× «NZZ am S onntag» zum halben Pr eis SMS mit Keyword: NZZ4, Namen und Adresse an Nr. 880 (20 Rp./SMS) Online unter nzz.ch/sonntag4 Inhalt Weggehen und sich der Welt annähern Nr. 2 | 28. Februar 2016 NZZ am Sonntag Lewinsky Zum 70. legt er einen neuen Roman vor 12 DerFremde Die Schweizer Albert Camus’ Wiesie Politik Klassiker wird zur Komödie umerzählt machen 10 18 Terrorjahre Ein Buch bringt Bundesbern in Bewegung 21 Bücher am Sonntag Charles Lewinsky (Seite 12). Illustration von André Carrilho Ein Glas Wein trinken. Aufstehen. Weglaufen. Und Punkt: sich kein einziges Mal mehr nach der Welt umdrehen. Es können die Vorlagen eines Abstimmungssonntags sein, die solchen Eskapismus stimulieren; es können die Zumutungen eines jeden Tages sein, das Schreien der Kinder, das Schweigen der Menschen, die die Sehnsucht nach dem Ausbruch wecken. Was aber, wenn es nichts ist, das einen in die Leere treibt? In Peter Stamms neuem Roman (S. 4) steht einer auf und geht – und keiner weiss, warum. Der Drang nach Freiheit, nimmt man an, führt den Helden «weit über das Land», dem Wesentlichen entkommt er aber weder in Wäldern noch auf Bergen: Die Liebe bindet den Entflohenen ans Daheim zurück. Die Flucht ist eine vermeintliche: Das gilt auch für den Rückzug ins Schöngeistige, den wir diesen Monat mit einer ganzen Reihe von Büchern aus dem Kunstbereich anzutreten scheinen. Wir widmen uns den Dadaisten – und lernen subversive Protestformen gegen das Datensammeln kennen (S. 16); wir spazieren durch lyrische Klangräume – und stossen auf landschaftliche Industrialisierungsverheerungen (S. 8); wir horchen in die helvetische Volksmusik – und gehen den Schalmeienklängen erfundener Traditionen nach (S. 26); wir schauen auf den erfolgreichsten aller Schweizer Filme – und landen wieder mitten im Abstimmungssonntag (S. 18). Ein Glas Wein trinken. Lesen. Abtauchen. Und sich der Welt zuwenden. Wir wünschen anregende Lektüre. Claudia Mäder Belletristik 4 Peter Stamm: Weit über das Land Von Charles Linsmayer 6 Norbert Gstrein: In der freien Welt Von Jürg Scheuzger Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen Von Manfred Papst 7 Thea Dorn: Die Unglückseligen Von Stefana Sabin 8 Marion Poschmann: Geliehene Landschaften Von Dorothea von Törne 9 Walter Serner: Der rote Strich Von Martin Zingg Franco Item (Hrsg.): Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg Von Gerhard Mack 10 Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung Von Susanne Schanda 11 Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze Von Claudia Mäder Kurzkritiken Belletristik 11 G. K. Chesterton: Vier verehrungswürdige Verbrecher Von Gundula Ludwig Rebecca C. Schnyder: Alles ist besser in der Nacht Von Manfred Papst Emmy Hennings: Gefängnis. Das graue Haus. Das Haus im Schatten Von Manfred Papst Isabel Bogdan: Der Pfau Von Claudia Mäder Interview 12 «Schreiben ist wie Bergsteigen» Charles Lewinsky im Gespräch mit Manfred Papst Rolf Lyssys «Schweizermacher» (mit Beatrice Kessler und Emil Steinberger) ist heute so aktuell wie eh (S. 18). Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Woody Allen Kurzkritiken Sachbuch 15 Elisabeth Raabe: Eine Arche ist eine Arche ist eine Arche Von Kathrin Meier-Rust Caitlin Doughty: Fragen Sie Ihren Bestatter Von Simone Karpf Jolanda Spirig: Sticken und Beten Von Kathrin Meier-Rust Marc Augé: Lob des Fahrrads Von Claudia Mäder Sachbuch 16 Martin Mittelmeier: Dada Arp Museum: Genese Dada Kunsthaus Zürich: Dadaglobe Reconstructed Von Ina Boesch 18 Georg Kohler, Felix Ghezzi (Hrsg.): «Die Schweizermacher» – Und was die Schweiz ausmacht Von Simon Spiegel 19 Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild Von Manfred Koch Ronald D. Gerste: Wie das Wetter Geschichte macht Von Florian Oegerli 20 Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Von Claudia Kühner Gary A. Haugen, Victor Boutros: Gewalt – die Fessel der Armen Von Michael Holmes 21 Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre. Das geheime Abkommen mit der PLO Von Kathrin Alder 22 Gerald Stourzh: Die moderne Isonomie Von Carlo Moos D. Rosenberg, A. Grafton: Die Zeit in Karten Von Kathrin Meier-Rust 23 Nir Baram: Im Land der Verzweiflung Von Klara Obermüller 24 Wilfried F. Schoeller: Franz Marc Maria Marc: «Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen» Von Anja Hirsch 25 Birgit Dankert: Michael Ende Von Sieglinde Geisel Victor Chu: Vaterliebe Von Walter Hollstein 26 D. Ringli, J. Rühl: Die Neue Volksmusik Von Corinne Holtz Das amerikanische Buch John Donvan, Caren Zucker: In a Different Key: The Story of Autism Von Andreas Mink Agenda 27 B. Marshall, P. Townshend, R. Daltrey: The Who Von Manfred Papst Bestseller Februar 2016 Belletristik und Sachbuch Agenda März 2016 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman In «Weit über das Land» erzählt Peter Stamm die bewegende Geschichte von zwei Liebenden, die sich sich räumlich voneinander entfernen und sich dabei doch nur immer näher kommen Ausbruchaus demGefängnis desAlltags Peter Stamm: Weit über das Land. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 223 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Charles Linsmayer Wer, von Peter Stamms letztem Roman «Nacht ist der Tag» herkommend, «Weit über das Land» aufschlägt, gerät von der spektakulärsten Dramatik in die nüchternste Alltäglichkeit. Dort erwacht die Moderatorin Gillian mit einem bis zur Unkenntlichkeit zerschlagenen Gesicht im zertrümmerten Auto neben ihrem toten Mann, hier kommen Thomas und Astrid mit ihren Kindern von einem Ferienaufenthalt nach Hause, trinken, als die Kinder im Bett sind, vor dem Haus noch ein Glas Wein. Nichts deutet auf etwas Ungewöhnliches in der Beziehung zwischen dem seriösen, ausgeglichenen Handelsreisenden und der fürsorglichen, tüchtigen Hausfrau und Mutter hin, als Thomas, während Astrid hineingeht und nach einem Kind schaut, das Gartentor öffnet und wie ein Traumwandler der Strasse entlang fortgeht, um nicht mehr zurückzukehren. Himmlische Verbundenheit Es gibt immer wieder Aufbrüche und unvermittelte Abschiede in Peter Stamms Werken – die Powerfrau Sonja macht sich 2009 in «Sieben Jahre» plötzlich auf und davon, Andreas in «An einem Tag wie diesem» reist 2006 unvermittelt aus Paris ab –, aber auf eine derart überraschende, scheinbar vollkommen unbegründete Art und Weise hat sich bei Stamm noch nie eine Figur von ihren Angehörigen entfernt. «Die Leere der Nacht schien ihn vorwärts zu ziehen», ist zunächst die einzige Erklärung für dieses Weggehen, das sofort die Züge einer um 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 Tarnung und das Verwischen aller Spuren bemühten Flucht durch Wälder und unbewohnte Gegenden in Richtung Süden annimmt, und es dauert lange, bis man beim Lesen eine Ahnung davon bekommt, was diesen Thomas tatsächlich zu seiner Odyssee durch die alpine Schweiz und schliesslich durch ganz Europa antreibt. «Freiheit war mir immer wichtiger gewesen als Glück», hiess es schon 1998 in «Agnes», und neben dem «Hochgefühl des Unterwegsseins» und der «Freude einer Zukunft, die nicht vorgegeben war», ist es wohl ein solch unbändiger Freiheitsdrang, der Thomas zu seiner Flucht treibt. Selbst die einsame Berghütte, in der er den ersten Winter verbringen will, kommt ihm bei aller Knappheit der Ressourcen «nicht wie ein Gefängnis vor», «im Gegenteil, er fühlte sich frei wie nie zuvor». Aber obwohl er, da und dort als Gelegenheitsarbeiter tätig, sogar Zerstreuungen wie Musik oder Lektüre als «Ablenkung vom Wesentlichen» von sich wegweist, geht ihm etwas die ganze Zeit, ja die ganzen Jahre und Jahrzehnte doch nicht aus dem Kopf: die Liebe zu Astrid, seiner verlassenen Frau, der er sich, ohne ihr je wieder ein Lebenszeichen zu gönnen, nahe fühlt wie eh und je. Prostituierte interessieren ihn nicht, und wenn er sich mit einer anderen Frau einlässt, schämt er sich anschliessend «für seine Untreue», denn wie viele andere Frauen in Stamms Büchern – etwa die rundliche Lehrerin Lydia in der Erzählung «Siebenschläfer oder die hässliche Iwona» in «Sieben Jahre» – übt auch diese stille, durch keinerlei Besonderheiten auffallende ehemalige Buchhändlerin auf ihren ungetreuen Gatten einen ebenso unerklärlichen wie unwiderstehlichen Zauber aus. Obwohl sie rein gar nichts mehr von- einander wissen, erzeugt der Gedanke an Astrid in ihm bis zuletzt «ein Gefühl von Geborgenheit», und es kommt ihm vor, «als seien er und sie zwei Himmelskörper, die, durch die Gravitation verbunden, einander umkreisten, ohne sich jemals näher zu kommen». Stamm lässt uns nicht einfach diesem Thomas «weit über das Land» folgen, er ermöglicht es uns, in ebenso vielen Erzählsequenzen auch nachzufühlen, wie Astrid mit dem Versetztwerden umgeht und wie sich ihr Verhältnis zum abwesenden Thomas entwickelt. Nach anfänglicher Konsternation bekommt in ihr die Vernunft die Oberhand. Zunächst denkt sie, Thomas komme bald zurück, sie meldet ihn beim Arbeitgeber als krank, vertröstet die Kinder. Später nimmt sie Kontakt zum Polizisten Patrick auf, der sie auf eine für seine Stellung ungewöhnlich persönliche Weise umsorgt, und als die Kreditkarte Thomas’ Aufenthaltsort verrät, verfolgt sie ihn bis in die Innerschweiz, sieht dann aber ein, dass er «als Erwachsener das Recht hat, unterzutauchen». Selbst als er AYSE YAVAS Peter Stamm (hier in Winterthur, 19.02.2016) lässt seinen Helden durch Wälder hindurch ins freie Leben fliehen. nach dem Sturz von einem Felsen, an dem ein Stück Kleidung hängenblieb, für tot erklärt und pro forma beerdigt wird, glaubt sie als einzige nicht an seinen Tod. Im Unterschied zum romantisch verliebten Thomas lautet ihre Losung: «Man liebt, worum man sich bemüht, und man bemüht sich um das, was man liebt.» Eine nüchterne Haltung, aus der heraus sie jedoch Thomas mindestens so treu bleibt wie er ihr. Nachts teilt sie erotische Wachträume mit ihm, und während Patrick findet, Thomas habe sich «wie ein Schwein benommen», schafft sie es nicht, auf ihn wütend zu sein. Sie trägt weiter seinen Ring, fühlt sich durch sein Wegbleiben aus der alltäglichen Welt herausgehoben und weiss in stummer, leidender Treue: «Erst durch seine Rückkehr würde die Zeit wieder zu laufen beginnen.» Während Thomas, vom «glücklichen Gefühl der Allgegenwärtigkeit» getrieben, seine Freiheit auslebt, bleibt Astrid allerdings nichts anderes übrig, als die ganze Schwere des Verlassenwerdens passiv hinzunehmen. Was sich beson- ders im Umgang mit den beiden Kindern zeigt. Wer je selbst erlebte, wie ein Kind, das von Vater oder Mutter verlassen wurde, sich als Ersatz einen Hund wünschte und dem vermissten Elternteil eine gemalte ferne Insel als Aufenthaltsort zuordnete, wird Peter Stamms feinfühlige Charakterisierung dieser verlassenen Mutter nicht ohne innere Bewegung hinnehmen können. Rührendes Finale Stamm hat sich für seine Geschichte bis zu einem gewissen Punkt von Nathaniel Hawthornes Erzählung «Wakefield» (1835) inspirieren lassen. Da geht es um einen Londoner, der ohne ersichtlichen Grund seine Ehefrau verlässt, sich aber eine Strasse weiter drüben einmietet und die Frau zwanzig Jahre lang von ferne beobachtet, um am Ende «gleichmütig, als wäre er nur einen Tag fort gewesen», wieder zur Türe herein zu treten und bis zum Tod «ein liebender Gatte» zu sein. Anders als Wakefield gerät Stamms so ganz anderer Thomas aber nicht in Gefahr, durch sein Ausbrechen aus dem System der Menschenwelt zum «Ausgestossenen des Universums» zu werden, denn er bleibt wie mit unsichtbaren Fäden an Astrid gefesselt. «Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns», lautet das von Markus Werner entlehnte Motto des Buches, und die scheinbar gelöste und sich doch immer stärker verfestigende Verbindung zwischen den zwei sich räumlich voneinander entfernenden Menschen ist es denn auch, die in ihrer ab- und zunehmenden Spannung und im Hin und Her zwischen den zwei Erlebnisebenen das Faszinosum dieses Romans ausmacht. Obwohl es grösstenteils aus exakten Landschaftsbeschreibungen besteht, schlägt einen das stille Buch damit so sehr in seinen Bann, dass man es nicht mehr aus der Hand legen kann und atemlos auf das Finale hinfiebert – auf einen Ausgang hin, der hier, um künftige Leser nicht um ihr Vergnügen zu bringen, verschwiegen werden soll, der aber, dies sei immerhin eingestanden, selbst einen abgebrühten, seit vierzig Jahren tätigen Kritiker noch zu Tränen zu rühren vermochte. ● 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der Österreicher Norbert Gstrein legt sein bisher ambitioniertestes Buch vor EintoterAutorundvieleFragenzurWelt Norbert Gstrein: In der freien Welt. Hanser, München 2016. 496 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 19.90. Von Jürg Scheuzger Der österreichische Autor Hugo erfährt, dass sein Freund John in San Francisco brutal ermordet worden ist. Von dieser Gewalttat ausgehend, hat der österreichische Autor Norbert Gstrein seinen Roman «In der freien Welt» konstruiert, in dem er vom Leben eines jüdischen Mannes in den USA erzählt, in dem es um den Konflikt zwischen Israel und Palästina geht, um das Nachwirken der Shoah, um Fragen der Kunst. Einen Roman, der irritieren soll, der (zu) viele Fragen aufwirft und keine beantworten kann, der einen im besten Sinne unbefriedigt zurücklässt. Schon 1999 hat sich Norbert Gstrein in dem Roman «Die englischen Jahre» mit den Folgen der Shoah beschäftigt. In «Eine Ahnung vom Anfang» (2013) geht es um christlich begründeten Rechtsradikalismus und um die Gewaltbereitschaft eines jungen Mannes. Der Autor ist Vertreter einer «littérature engagée» im 21. Jahrhundert, ohne dass er je der Schwarz-WeissMalerei verfällt. Dies gilt auch für den neuesten Roman «In der freien Welt». Menschliche Widersprüche Gstreins Ich-Erzähler Hugo, in dessen Leben biografische Parallelen zu seinem Autor zu finden sind, ist, wie es der literarischen Tradition entspricht, ein Mann ohne Eigenschaften. Er fliegt in der Welt herum, ist von Schreibhemmungen geplagt, finanziell abgesichert dank eines Romans über eine politische Plagiats-Affäre, den er unter einem Pseudonym geschrieben hat. In Stanford hat er vor Jahrzehnten John kennengelernt, und Johns Lebensgeschichte ist der Kern des Ro- mans, erzählt in einem raffinierten Hin und Her zwischen Zeiten und Orten. John ist ein Jude, dessen Mutter vor den Deutschen hat fliehen können, er ist aufgewachsen in der Bronx, als Jugendlicher Mitglied einer antisemitischen Gang, im Libanon-Krieg von 1982 Soldat in der israelischen Armee, er ist Alkoholiker und dann ein beinahe sektiererisches Mitglied der Anonymen Alkoholiker, er ist ein hemmungsloser Womanizer – mit einer Grösse von 1,95 Meter und langen schwarzen Locken –, er ist Dichter, Erzähler und Maler, der den Spät-Expressionismus auf die Spitze treibt. Gstrein hat mit diesem Helden viel gewagt: John ist mehr als ein Mensch mit seinem Widerspruch, er ist ein Mensch, den es geradezu zerreisst, er ist als literarisches Konstrukt die personifizierte Ablehnung der politischen Korrektheit und als Identifikationsfigur ungeeignet. «Er war kein schlechter Mensch», sagt sein Zwillingsbruder, und Hugo überlegt sich: «John war kein schlechter Mensch gewesen, aber er war auch keiner, über den man das so mir nichts, dir nichts sagen konnte. […] Es war nicht falsch, aber es war in seiner Gönnerhaftigkeit auch nicht richtig, und irgendwo dazwischen war die Geschichte zu erzählen.» Weshalb ist John ermordet worden? – Im Sommer 2013 ist er zu einem literarischen Kolloquium nach Gmunden eingeladen worden, zusammen mit einem palästinensischen Autor, Marwan. Die Begegnung der beiden scheint zu gelingen, und ein ahnungslos wohlmeinender Mensch kommt auf die Idee, die beiden Autoren sollten je eine Geschichte schreiben, und das sollte ein schönes Büchlein ergeben. Marwan sendet Hugo seinen Text einen Monat nach der Ermordung Johns, und dies ist ein Bericht, wie die Tat geschehen ist – oder hätte geschehen sein können. War es also ein politischer Mord – und nicht doch ein Drogendelikt, wie man hätte vermuten können? Zudem widmet Marwan die Erzählung Sirhan Sirhan, dem Mörder Robert Kennedys! Mehrmals reist Hugo ins Westjordanland, um Marwan zu treffen. Erfolglos. Gstrein widmet sich dem Elend zwischen Israel und Palästina, und sein anschaulicher Text ist eine bedrückende Lektüre. Der Autor erspart sich und uns Betroffenheitsliteratur: Die Menschen im Westjordanland erscheinen dem Ich-Erzähler zwiespältig, er identifiziert sich mit niemandem. In Israel hat Hugo Freunde, und in Tel Aviv fühlt er sich manchmal beinahe wohl. Einer der Freunde, ein Schriftsteller, wird zum Sprachrohr einer bitteren Kritik an der israelischen Politik. Der hoffnungslos scheinende Konflikt entzieht sich wohl der fiktionalen Literatur, die entsprechenden Passagen gehören nicht zu den besten des Romans. American Novel als Vorbild Was hier als relativ übersichtlicher Plot wiedergegeben wird, macht nur einen Teil des Buches aus. Gstrein will sehr viel, «In einem freien Land» ist sein bisher ambitioniertestes Werk. Zu erwähnen wären die Diskussionen über die Kunst, über den Vorrang von Inhalt oder Form; auffallend ist die Kritik an San Francisco, namentlich daran, wie die Stadt sich wegen der Nähe zum Silicon Valley verändert hat. Natürlich fehlen Ausfälligkeiten gegen Österreich und die Österreicher nicht. Auch enthält der Roman viele Anspielungen auf Werke und Autoren der Weltliteratur. John sagt einmal zu Hugo: «If you write about me, you have to write an American novel, a great American novel! Promise…» So kann man Gstreins Roman verstehen: als Versuch eines deutschsprachigen Autors, einen «grossen amerikanischen Roman» zu schreiben, wie Philip Roth, wie John Updike, wie so viele andere. Hugo hat es John versprochen. ● Erzählungen Eine erste Gesamtausgabe macht Prosatexte der Lyrikerin Christine Lavant zugänglich Realistisch bis zur Unerträglichkeit Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von K. Amann und B. Strasser. Wallstein, Göttingen 2015. 800 S., Fr. 49.90, E-Book Fr. 33.90. Von Manfred Papst Christine Lavant wusste, wovon sie sprach, wenn sie über Krankheit und Elend, Bigotterie und Gewalt in der österreichischen Provinz in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb. Geboren wurde sie 1915 als Christine Thonhauser in St.Stefan im Lavanttal; ihren Namen borgte sie beim Fluss, der durch ihren Heimatort fliesst. Sie war das neunte Kind eines Bergmanns und zeit ihres Lebens krank an Leib und Seele. Mehrfach versuchte sie, sich umzubringen. Verheiratet war sie mit einem mit6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 tellosen Landschaftsmaler. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie über Jahrzehnte in Heimarbeit als Strickerin. Literarische Anerkennung fand sie vor allem mit ihren Gedichtbänden «Die Bettlerschale» (1956), «Spindel im Mond» (1959) und «Der Pfauenschrei» (1962), die in ihrer höchst eigenwilligen Sprache einem christlich imprägnierten Existenzialismus zuzurechnen sind. Neben ihrer Lyrik hat Christine Lavant zu Lebzeiten zwölf Erzählungen von höchst unterschiedlichem Inhalt und Umfang publiziert, die hier als zweiter einer auf vier Bände angelegten Werkausgabe in mustergültiger Edition vorliegen. Symbolisch aufgeladene Texte stehen neben solchen, die in ihrem kruden Realismus von fast unerträglicher Intensität sind. Das gilt vor allem für die autobiografisch grundierten Texte «Das Kind» (1948) und «Das Krüglein» (1949), wobei letzterer mit seinen 170 Seiten Umfang und seinem reichen Arsenal an Figuren eigentlich eher ein Roman ist. Erzählt die Autorin in «Das Kind» von sich selbst während eines achtwöchigen Krankenhausaufenthalts, der das neunjährige, an Skrofulose leidende Mädchen mit knapper Not vor dem Erblinden rettet, so berichtet sie in «Das Krüglein» von der gesamten Familie und der näheren Verwandtschaft. Was sich da an Gewalt, Hass und Borniertheit ereignet, ist ganz und gar furchtbar; doch die Autorin bannt die Schrecknisse, indem sie sie schildert, und setzt auf die befreiende Kraft der Liebe und der Phantasie. Einen weiteren Höhepunkt ihres Erzählens bildet die vermutlich 1946 entstandene Geschichte «Der Knabe», die erst 1969 in der Sammlung «Nell» erscheinen konnte. ● Roman Die bekannte Krimiautorin Thea Dorn hat einen spannenden Wissenschaftsroman verfasst, der Phantasie mit Historie verbindet und der Unsterblichkeit nachspürt WenneineMolekularforscherin dieGoethezeitentdeckt Thea Dorn: Die Unglückseligen. Knaus, München 2016. 550 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 23.90. Es beginnt wie ein Wissenschaftsroman: Johanna, eine renommierte deutsche Molekularbiologin, reist in die USA, wo sie fern «deutscher Bedenklichkeiten» ihre gentechnischen Untersuchungen weiterführen will. «Es war ihr Lebensprojekt, sämtlichen Zellen im menschlichen Organismus Regenerationskräfte zu verleihen, die weit über das natürliche Mass hinausgingen, damit zugleich die Zellalterung abzuschaffen und also den Weg zur Unsterblichkeit zu ebnen.» Aber schon bald nach ihrer Ankunft gerät ihre Forschung aus den Fugen und sie selbst in den Bann eines merkwürdigen Mannes: halb weltfremder Spinner und halb weiser Einsiedler, verfügt dieser über eine erstaunliche Regenerationskraft, so dass Wunden innerhalb von Tagen heilen und ganze Glieder nachwachsen. Die Wissenschafterin ist erstaunt, ungläubig, dann neugierig – und lässt eine Genanalyse durchführen, die sie erst recht ins Staunen bringt. «Der Kerl, der ihr seit Tagen weismachen wollte, er sei über zweihundert», muss Johanna feststellen, «war nach allen Gesetzen der modernsten Wissenschaft gerade einmal Anfang dreissig.» Der Teufel erzählt Und so geht der Wissenschaftsroman ins Phantastische über. Denn dieser über Zweihundertjährige ist Johann Wilhelm Ritter, der berühmte Physiker der Goethezeit, der für seine galvanischen Versuche berüchtigt wurde. Tatsächlich ist Ritter mit gerade einmal zweiunddreissig gestorben, nachdem er auch am eigenen Körper galvanische Experimente durchgeführt hatte. Im Roman gelingt Ritter das Sterben nicht, weil seine Verletzungen immer wieder heilen. Er wird zum Abenteurer, der über geographische und chronologische Grenzen hinweg wandert; zum Verfluchten, der an seinem Leben und an seiner Langlebigkeit verzweifelt; zum Getriebenen, der nie zur Ruhe kommt – bis er Johanna trifft. Gemeinsam wollen sie das Geheimnis seiner Langlebigkeit und also der Unsterblichkeit knacken. Zwar streiten Johanna und Ritter unentwegt über Gott und seine Schöpfung, über Naturwissenschaft und Forschung, und ihre Auseinandersetzungen spiegeln grundsätzliche Positionen der Wissenschaft wider. «Anstatt den Weltatem zu fühlen», wirft Ritter der Molekularbiologin vor, «seht ihr Teile bloss und meint gar noch, ihr gewönnet etwas, wenn’s immer kleinere J!URGEN LÖSEL / VISUM Von Stefana Sabin In der Zellforschung, die Thea Dorns Protagonistin betreibt, gehören Zebrafische zu den beliebtesten Forschungsobjekten. Hier: Aquarien des Max-Planck-Instituts. und kleinere Teile werden, die ihr sichtbar macht». Ganz im Sinne seiner Epoche will Ritter Naturwissenschaft als Wissen von der Natur verstehen, während Johanna dieses Wissen benutzen will, um die Natur zu verändern. «Da frage ich mich», erwidert sie ihm, «wer von uns beiden der Hochmutigere ist: Ich, die ich lediglich den Menschen von Krankheit, Alter und Tod befreien will? Oder Sie, der Sie gleich die ganze Schöpfung erlösen wollen?» So erhält der Wissenschaftsroman eine ethisch-philosophische Grundierung, die das Phantastische auf die Gegenwart zurückführt, bevor er ins Gruselige wechselt. Denn nachdem es Johanna mit den Mitteln der Molekularbiologie nicht gelungen ist, hinter die genetische Mutation, der sie Ritters Langlebigkeit zuschreibt, zu kommen, versucht sie es mit Galvanismus, dann mit Teufelsanbetung. Zwar bleibt die erlösende Erkenntnis aus, aber Erlösung finden die beiden Unglückseligen schliesslich doch – allerdings nicht in einem gemeinsamen Glück, sondern im gemeinsamen Tod. Man kann in diesem unglücklichen Ende einen moralischen Unterton erkennen. Sonst bleibt der Roman auf angenehme Art unpathetisch – nicht zuletzt dank der Erzählerfigur, die die Figuren und ihr Handeln begleitet und beobachtet: Dieser Erzähler ist der Teufel selbst! Am Anfang des Romans stellt er sich dem Leser vor; immer wieder unterbricht er dann das Geschehen, um die emotionalen und gedanklichen Verrenkungen der beiden Hauptfiguren zu kommentieren; am Ende des Romans wendet er sich wieder an den Leser und bekundet seine Enttäuschung: «Und einsehn muss ich ohne Schimpf, dass ich Frau Doktor überschätzt. Im Anfang stolze Forscherin – im End’ doch eben bloss ein Weib.» Mit epischer Sicherheit Den Teufel als Erzähler einzusetzen, ist ein geschickter narrativer Trick, der der Schriftstellerin Thea Dorn eine unpathetische Sympathie für die Figuren und zugleich Distanz zum Geschehen erlaubt. Dorn, die 1970 in Offenbach am Main geboren wurde und ihren Künstlernamen in Anspielung auf den Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno gewählt hat, hat mehrere Krimis, für die sie Preise bekommen hat, und Theaterstücke geschrieben, dazu Film- und Fernsehdrehbücher sowie Essays verfasst, und sie ist auch als Fernsehmoderatorin bekannt. In diesem Roman baut sie aus historischem und philosophischem Material eine einfache Handlung auf, die sie mit epischer Sicherheit durch unerwartete Wendungen auf das Ende hin führt. Aber es ist weniger die Handlung an sich als die Mischung aus historisierender und modernistischer Erzählung, aus komischen und tragischen Episoden und der den Figuren jeweils nachempfundene Sprache, die den Reiz des Romans ausmachen. ● Global Times Der packende Roman von Toni Stadler zur weltweiten Mobilität von Menschen, Ideen, Kulturen, Religionen und Gewalt. buch.ch | thalia.ch | exlibris.ch | tonistadler.com 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Gedichte Die deutsche Autorin Marion Poschmann zeigt sich in ihrem vierten Lyrikband als sanfte Melancholikerin und sensible Malerin mit Worten DurchKlangräumeinGedankenpärke Marion Poschmann: Geliehene Landschaften. Suhrkamp, Berlin 2016. 118 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Die Kohleindustrie in Nordrhein-Westfalen (hier: Garzweiler) inspiriert Marion Poschmann zu kritischen Gedichten. Lehrgedichte und Elegien verspricht der Untertitel des Buches. Auf traditionelle Metren und Klangmittel wie Reime, Alliterationen und Assonanzen greift Poschmann in beiden zurück. Sie entwirft Gedichte als Klangräume. Was die Inhalte der «Lehrgedichte» betrifft, so sind sie gänzlich undidaktisch. Philosophierend widmen sie sich den Zusammenhängen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, der Vergänglichkeit – oder der «Natur des Menschen». Anhand der Ästhetik von Dingen führt Poschmann den Leser in den Kaliningrader Bernsteinpark und stellt eine Landschaft aus, in der sich historische Szenerien eines ideologisch manipulierten Lebens abspielen. Grotesk wirken die Blumenrabatten als Sprache der politischen Macht: «Petunienlenin», «Stalin als Stiefmütterchen». Abbilder der Natur finden sich hier kaum, eher ein Gedankenpark aus karnevalesken und militanten Zerrbildern menschlicher Gemeinschaft. Ähnlich explizit politisch wird Marion Poschmann auch im letzten, titelgebenden Kapitel: «Geliehene Landschaften». Trakl’sches Schwarz breitet sich in «Jülich-Grevenbroich-Erkelenz» aus, einem Gedicht, das die Vernichtung von Landschaft durch Kohleindustrie und Kraft- www.fischerverlage.de Peter Stamm über den einen Moment, der unser Leben in Frage stellt Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt. 224 Seiten, gebunden, sFr. 26,90 (UVP) 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 werksanlagen in Nordrhein-Westfalen, unweit von Essen, dem Geburtsort der Autorin, thematisiert. «Mondlandschaft verschlug uns die Sprache», berichtet die Wanderin durch die zerstörte Landschaft. Die Macht der Industrie scheint allgegenwärtig, und die Zukunftsentwürfe der Landschaftsplaner wirken ins Gigantomanische gesteigert. Das Gedicht beschreibt einen Moment der Gegenwart, von dem aus die Dichterin erdgeschichtliche Vergangenheit und Zukunft assoziiert: «die kommenden Seen (die grössten Europas)». Dieses Gedicht gehört zu den seltenen Glücksfällen der Poesie, in denen ein Weltmoment, ein Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, authentisch erlebt und erfahren durch ein Ich, gültig gestaltet ist. Poschmanns Verse beschreiben weniger die wirklichen Dinge als vielmehr, wie die Dinge wirklich sind. Was die Dichterin wahrnimmt, ist ihr nicht selten Anlass zu verhaltener Melancholie. Die Tradition der Elegie entwickelt sie auf phantasievolle Weise weiter: dialogisch und in pointierten Sentenzen – nicht belehrend, sondern im Gestus der Frage – und nicht ohne Witz. Dass sie in einem Park ein Paar entdeckt, das sich Gedichte aus dem Handy vorliest, lässt hoffen. ● Foto: Gaby Gerster Die Romanautorin und Lyrikerin Marion Poschmann (*1969) ist die Malerin unter den Dichterinnen der mittleren Generation. Aber sie ist auch eine Komponistin und Gartenarchitektin. Sorgfältig komponiert hat sie ihren vierten Gedichtband, der über mehrere Kontinente führt: zu natürlichen und künstlichen Landschaften, durch Gärten und Pärke, Gebirge, Wälder und Gewässer in Osteuropa, China, Japan und den USA. Selten führt ihr Weg zu «durchgearbeiteter Landschaft» (Volker Braun), vielmehr zu «geliehenen Landschaften» – ein Begriff aus der ostasiatischen Gartenkunst, der ausserhalb der Areale liegende Elemente in die Gestaltung einbezieht. «Geliehen» aber scheint die Natur in diesen Gedichten noch in einem anderen Sinne zu sein: auf Zeit geborgt von einem universalen Ganzen, um für menschlichen Aufenthalt genutzt zu werden: zur Entspannung, zum Vergnügen, für politische Zwecke, zur Schändung durch Industrie. In neun Kapiteln, zyklisch strukturiert, rückt die Dichterin jeweils andere Wechselwirkungen von Mensch und Landschaft in den Fokus lyrischer Wahrnehmung. Als wollte sie ein Gegengewicht zu flüchtigen Erscheinungen des Sichtbaren wie Nebel, Dunst und Glanz herstellen, widmetsiesichimKapitel«Bernsteinpark von Kaliningrad» der substanziellen Beschaffenheit von Dingen hinter dem Augenschein. Die einzelnen Teile des Zyklus tragen Überschriften, die die Varietäten samländischer Bernsteinfunde bezeichnen: eine Serie von Farbnuancen und materiellen Konsistenzen, die die Illusion vom Gedicht als einem handfesten Gegenstand erzeugt. Hier kann man sogar «Gedichte waschen» («Plattentektonik») und «Gedichte entfusseln» («Seismographie»). DANIEL SCHOENEN / IMAGEBROKER / KEYSTONE Von Dorothea von Törne Erzählungen Walter Serner (1889–1942) hat mit seinen «erotischen Kriminalgeschichten» kurze, knappe und freche Texte geschrieben, die bis heute überzeugen ImMilieuvonMackieMesser Walter Serner: Der rote Strich. Hrsg. von Andreas Puff-Trojan. Manesse, Zürich 2015. 448 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 23.90. Von Martin Zingg Unter den Schriftstellern der frühen 1920er Jahre ist Walter Serner zweifellos eine der seltsamsten Erscheinungen. 1889 in Karlsbad geboren, unter dem Namen Walter Eduard Seligmann, besucht er dort die Schulen, studiert Jura in Wien und promoviert zwischen ausgedehnten Reisen zum Dr. iur., mit einem kühnen Plagiat, wie man inzwischen weiss. Als Jurist hat Serner indes keine Minute lang gearbeitet, aber er hat, auch das ist eine der vielen Anekdoten um seine Person, seinen Doktortitel genutzt, um dem nicht minder abenteuerlichen Dichter Franz Jung ein Attest auszustellen, das dem Fahnenflüchtigen 1914 die Desertion ermöglichte. Statt seine juristischen Kenntnisse in eine Kanzlei zu tragen, wendet sich Serner schon früh der Literatur zu, er schreibt für Franz Pfemferts «Aktion» und gibt sich dem Vergnügen hin, «in Europa spazierenzufahren». Während des Ersten Weltkriegs muss er sein unstetes Reiseleben vorübergehend einschränken, Anfang 1915 meldet er sich in Zürich an. Er lebt hier als «Refraktär» und schliesst sich zeitweise den Dadaisten an. Er wird einer ihrer interessantesten Protagonisten und verfasst ein Manifest, von dem sich Tristan Tzara – oft bis zur wörtlichen Übernahme – inspirieren lässt, «Letzte Lockerung». Das Manifest, das Serner später erweitert zum «Handbuch für Hochstapler und solche, die es werden wollen», garantiert noch immer eine atemberaubende Lektüre. hinter allem vorsätzlichen Charme aufscheint, teilen sie mit dem Autor, der den halbseidenen Akteuren seine unverhohlene Sympathie schenkt. Schlepper, und gemeinsam exerzieren sie, zwar eine Etage tiefer, die gleichen krummen Geschäftspraktiken und Schiebereien, mit denen die High Society während des Krieges zu Geld und Ansehen gekommen ist. Die kleinen Gauner setzen mit List und angestrengter Coolness alles daran, das vielversprechende Rezept der «Grossen» zu übernehmen. Die Erfolge sind dabei zwar stets um ein paar Nummern kleiner, die Risiken entsprechend grösser – die Tricks aber sind gut abgeguckt. Mit Raffinesse legen sich Serners Figuren gegenseitig herein, sie bluffen, sie geben sich mal elegant, dann gleich wieder brutal. Ihre Illusionslosigkeit, die Scharfsichtige Zensoren Als Walter Serners Werk 1933 endgültig verboten wurde, verwiesen die Zensoren darauf, die Geschichten wirkten «mit einer raffinierten Kühle und Sachlichkeit, die schliesslich ironisch und damit aufreizend wirkt». Das hatten sie gut erkannt. In seinem klugen Nachwort betont Xaver Bayer denn auch, dass sich die Lektüre der Serner’schen Texte nicht abnütze: Dieser wunderbare Autor ist auf seltsame Weise aktuell geblieben. ● Davos Das Beste für Leib und Seele Unter der High Society Nach Kriegsende schreibt Walter Serner, oft unterwegs in den grossen europäischen Städten und unablässig von Geldsorgen geplagt, einen Roman («Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte»), ein Theaterstück, das nach der Uraufführung sofort abgesetzt wird, dazu Essays. Und er schreibt vor allem «erotische Kriminalgeschichten». Die Bände tragen überraschende Titel: «Zum blauen Affen. 33 hanebüchene Geschichten», «Der elfte Finger», «Die tückische Strasse» oder «Der Pfiff um die Ecke». 99 Kriminalgeschichten sind es zusammengenommen, und eine gelungene Auswahl daraus präsentiert Andreas Puff-Trojan nun in einer ansprechenden Ausgabe bei Manesse: «Der rote Strich». Die meist kurzen Geschichten haben alle nur einen Schauplatz: das Ganovenund Hochstaplermilieu, die Demi-Monde der vielen kleinen Mackie Messer, der Zuhälter und Liebesdienerinnen von Lissabon bis Rom, von Nizza über Paris bis Berlin. Auf diesem Parkett tummeln sich scharenweise und mit viel Energie Kokotten, Gigolos, Falschspieler und Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1917 nach Davos kam, um sich nach einem Zusammenbruch ärztlich behandeln zu lassen, entdeckte er für sich die Schweizer Alpen als Sujet. Von seinen berühmten Darstellungen des Berliner Grossstadtlebens behielt er die Aufgeregtheit der Linie und die glühenden Farbkontraste bei. Angesichts der Monumentalität der Berge erhielt der expressive Ausdruck aber auch eine Ruhe und Unnahbarkeit, die den Menschen als Fremdling in dieser Welt auswiesen. Das Tinzenhorn glüht auf dem Gemälde «Tinzenhorn – Zügenschlucht bei Monstein» giftgrün in einem fahlen Licht, die vorgelagerten Hänge brennen in violetten Rottönen, die Kirche fügt sich in die splittrigen Felsformationen ein. Während sich in diesen Landschaften Kirchners keiner so recht zu Hause fühlen mag, sucht die Publikation, die Franco Item über Davos herausgegeben hat, den Lesern die faszinierenden Seiten des Luftkurortes näher zu bringen. Landschaft, Heilkunde, Kultur und Sport werden von namhaften Autoren äusserst lesbar vorgestellt. Gerhard Mack Franco Item (Hrsg.): Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg. NZZ Libro, Zürich 2015. 336 S., Fr. 63.–. 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud erzählt die Geschichte von Albert Camus’ genialem Roman «Der Fremde» neu. Nun spricht der militante Bruder des damaligen Mordopfers GegenKolonialismus undreligiösenFanatismus für sich und seine Mutter. Zugleich fesselt ihn am Roman des Franzosen die «perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht». Das Schicksal von Meursault bei Camus wiederholt sich bei Daoud in der Figur des Haroun. Wie jener weniger für den Mord verurteilt wurde als für die Gefühllosigkeit bei der Beerdigung seiner Mutter, sieht sich auch Haroun mit einer absurden Situation konfrontiert: «Ich hatte getötet, und das verursachte mir einen heftigen Schwindel. Aber im Grunde fand niemand etwas daran auszusetzen. Nur der Tatzeitpunkt schien ein gewisses Problem darzustellen.» Was Haroun vorgeworfen wird, ist, dass er nicht zusammen mit den Aufständischen für die Befreiung Algeriens gekämpft hat, wo er Hunderte Franzosen hätte töten sollen, sondern dass er erst nach dem Waffenstillstand einen Franzosen umgebracht hat, noch dazu «aus den falschen Gründen». Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Aus dem Französischen von Claus Josten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 208 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 18.–. Von Susanne Schanda Es ist ein Paradox vieler algerischer Intellektueller: dass die Sprache der einstigen Kolonisatoren für sie zur Sprache der Befreiung wurde. Der 1970 geborene Journalist und Schriftsteller Kamel Daoud geht noch einen Schritt weiter. In seinem ersten Roman arbeitet er sich – auf Französisch – an einem Denkmal der französischen Literatur ab: am Roman «Der Fremde» des in Algerien aufgewachsenen Albert Camus. Der Untertitel der deutschen Übersetzung greift allerdings zu kurz: «Meursault, contre-enquête» ist weit mehr als eine Gegendarstellung. Es ist eine teils wütende, teils faszinierte Ermittlung und Auseinandersetzung mit dem «Fremden» und zugleich eine scharfe Abrechnung mit der algerischen Geschichte und dem religiösen Fanatismus der Gegenwart. Autor mit Fatwa belegt 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 RUE DES ARCHIVES / SZ PHOTO Den Namenlosen benennen Kamel Daoud hat seinen Roman eng am Vorbild konstruiert, vom ersten Satz bis zum Schluss, wo aus der Stimme seines Protagonisten immer deutlicher die Stimme des «Fremden» zu vernehmen ist. Der Erzähler ist der Bruder des von Meursault ermordeten Arabers aus Camus’ Roman. Siebzig Jahre nach dem Mord steht er Nacht für Nacht in einer Bar in Oran und erzählt einem jungen Mann bei einem Glas Wein seine Geschichte. Er erzählt sie neu, von hinten nach vorn, von rechts nach links, wie das Arabische geschrieben wird, doch in französischer Sprache. Das Bauprinzip von Dauods Romans wird programmatisch als eines der Dekolonisation formuliert: «Stein um Stein von den ehemaligen Häusern der Kolonialherren nehmen, um mein eigenes Haus daraus zu bauen, meine eigene Sprache zu formen.» Der Roman gibt dem namenlosen Araber aus dem «Fremden» einen Namen, Moussa, und eine Familie, eine Identität. Der Erzähler Haroun ist erst sieben, als sein Bruder an jenem Tag das Haus verlässt, um am Hafen Arbeit als Lastenträger zu suchen. Von dessen beiläufiger Ermordung am Strand von Algier erfahren Haroun und seine Mutter aus der Zeitung, die ausführlich über den Mörder und dessen Prozess berichtet und den Ermordeten mit zwei Initialen abtut. Diese Missachtung kommt einer zweiten Ermordung gleich. Der Araber aus «Der Fremde», gespielt von Mohamed Ralem in der Verfilmung von Luchino Visconti (1967) . Zum Wendepunkt in Harouns Leben wird das Jahr 1962. Zwanzig Jahre nach Moussas Tod, in den ersten Tagen der algerischen Unabhängigkeit, erschiesst Haroun einen Franzosen. Dieser Mord geschieht auf ähnlich beiläufige, zufällige Weise wie derjenige bei Camus. In den Augen des Erzählers «kein Mord, sondern eine Restitution». Erst danach erfährt er überhaupt von der Existenz des Romans «Der Fremde», und zwar durch eine junge schöne Forscherin namens Meriem, die sich auf die Suche nach der Familie des namenlosen Arabers aus Camus’ Roman gemacht hat und die Haroun das Herz bricht. Danach wird auch er immer mehr zu einem Fremden in seiner eigenen Gesellschaft. Er reklamiert die Philosophie des Absurden von Camus für seinen ermordeten Bruder, Kamel Daouds Roman «Der Fall Meursault» kann sehr wohl als antikoloniale Kritik gelesen werden, aber nicht nur. Mindestens so hart geht er mit der nationalen Befreiungsarmee Algeriens und mit den mörderischen Islamisten ins Gericht. In diesem Algerien werden Intellektuelle, Künstler und Frauen als Fremde ins Abseits gedrängt. Mit Haroun hat Kamel Daoud einen vielschichtigen Charakter geschaffen, der in manchem Camus’ Meursault gleicht – in seiner Vaterlosigkeit, dem distanzierten Verhältnis zur Mutter, dem Gefühl der Fremdheit, der Ablehnung von Religion –, der aber darüber hinaus weise und trotzig geworden ist. Ein Weintrinker, der über heuchlerische Frömmelei wettert und in einem hintergründigen Wortspiel aus dem französischen Meursault einen arabischen Mersoul, Propheten, macht. Und der am Ende gar ein gottloses Gelächter anstimmt. Dass Kamel Daoud mit den Namen Moussa und Haroun auf die ProphetenBrüder aus der Bibel und dem Koran anspielt und auch noch deren Schwester Meriem in einer entscheidenden Rolle auftreten lässt, ist eine weitere Pointe dieses intelligenten, inspirierenden Romans, der zudem Lust macht, auch Albert Camus, den 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten und zeitlos aktuellen Autor, nochmals zu lesen. Der 2013 in Algerien publizierte und jetzt auf Deutsch erschienene Roman wurde inzwischen von einem salafistischen Kleriker für blasphemisch befunden und der Autor mit einer Fatwa belegt – eine traurige Bestätigung von dessen Gesellschaftsanalyse. ● Lyrik Hannah Arendt, die brillante Theoretikerin, war auch Poetin. Wer das nicht weiss, verpasst nicht viel Man kann nur weinen Kurzkritiken Belletristik G. K. Chesterton: Vier verehrungswürdige Verbrecher. Die Andere Bibliothek, 2016. 348 Seiten, Fr. 58.–. Rebecca C. Schnyder: Alles ist besser in der Nacht. Dörlemann, 2016. 175 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 16.90. Sein Father Brown ist weltberühmt; der englische Autor Gilbert K. Chesterton (1874–1936) hat jedoch nicht nur den geistlichen Ermittler ersonnen, der in 49 Erzählungen dank seiner Intuition die kompliziertesten Verbrechen aufklärt, sondern ein verzweigtes literarisches und essayistisches Werk geschaffen, zu dessen Höhepunkten der 1908 erschienene phantastische Roman «Der Mann, der Donnerstag war» zählt. Nun legen die Übersetzer Boris Greff und Matthias Marx ein faszinierendes Spätwerk des Autors vor. Es erzählt von vier verehrungswürdigen Verbrechern, die sich in fröhlicher Runde ihrer Tugenden überführen. Der «moderate Mörder», der «aufrichtige Quacksalber», der «ekstatische Dieb» und der «loyale Verräter» werden zu Verbrechern, um ein Verbrechen zu verhindern. Wer Chestertons souveränen Humor liebt und Sinn fürs Paradoxe hat, liegt mit diesem Buch richtig. Dieser Erstlingsroman irritiert. Rebecca C. Schnyder, 1986 in Zürich geboren, bisher als Lyrikerin und Dramatikerin hervorgetreten, erzählt von Billy, einer kapriziösen jungen Frau, die nach ihrem ersten literarischen Erfolg keinen Halt findet, sich von Kaffee, Alkohol und Zigaretten ernährt, mit ihrer Bulimie beschäftigt ist und ihre Umwelt nervt. Sie hasst ihre betuliche Mutter und ihre erfolgreiche Schwester. Ihre treue Freundin Guen strapaziert sie ebenso wie ihren neuen Freund Noe, einen Theologiestudenten, der alles für sie tut und den sie wie alle andern, die um sie werben, zur Verzweiflung treibt. Sie ist verwöhnt, faul, in narzisstischem Unglück befangen. Man sollte sie nicht mit der Autorin gleichsetzen. Dieser ist es gelungen, eine schillernde Figur vor uns hinzustellen, die uns aufregt. Das setzt Talent voraus. Schade nur, dass die bald rotzige, bald hölzerne Sprache nicht überzeugt. Emmy Hennings: Gefängnis. Das graue Haus. Das Haus im Schatten. Wallstein, 2015. 576 S., Fr. 34.90, E-Book 21.90. Isabel Bogdan: Der Pfau. Kiepenheuer & Witsch, 2016. 248 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 19.–. Alle Welt redet derzeit von Dada und damit auch vom Künstlerpaar Hugo Ball/ Emmy Hennings. Das gibt uns Gelegenheit, auf drei Gefängnis-Romane von Hennings hinzuweisen, deren erster und wichtigster 1919 erschien, also noch zu Dada-Zeiten. Er hat aber nichts mit dem spielerisch-anarchistischen Protest der Dadaisten zu tun. Radikal subjektiv und ohne artistische Brechung erzählt er von einer dreimonatigen Haft der Autorin. Sie soll einen Freier bestohlen haben. Deshalb wird sie in ein Münchner Frauengefängnis eingeliefert. Das Buch schildert literarisch dicht und poetisch überzeugend die traumatischen Erfahrungen jener quälenden Monate. Christa Baumberger und Nicola Behrmann haben den Text vorbildlich ediert und ihn um zwei weitere, bis auf wenige Kapitel bisher noch nicht publizierte spätere Gefängnis-Romane der Autorin ergänzt. Never judge a book by its cover. Facettenreich schillert «Der Pfau» auf dem Buchdeckel, die Rückseite verspricht eine «subtile Komödie in bester britischer Manier», und auch der Klappentext lässt Gutes erahnen: Isabel Bogdan ist Anglistin – ein paar herrliche Stunden voll schwarzen Humors scheinen nur ein Umblättern entfernt. Hebt man aber den Deckel, stösst man auf eine Füllung, die beileibe kein Genuss ist. Dies nicht, weil der Pfau, der auf einem schottischen Landgut mit aggressiven Aktionen gegen blaue Gegenstände auffällt, von einem besorgten Lord erschossen, von einer resoluten Köchin gerupft und von asozialen Bankern beim Team Building gegessen wird. Sondern weil die absurde Anlage plump zerredet und jede Komik zu Tode erklärt wird. Immerhin geht die Lektüre zügig voran, so dass man bald wieder den schönen Pfau ansehen kann. Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. Herausgegeben von Karin Biro. Piper, München 2015. 160 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. BRIDGEMAN IMAGES Von Claudia Mäder Messerscharfes Denken und poetisches Schreiben – geht das zusammen? Ja, sagt uns das Nachwort in dem schmalen Band, der erstmals die sämtlichen Gedichte von Hannah Arendt präsentiert. 71 lyrische Stücke hat die 1933 aus Deutschland emigrierte Polittheoretikerin im Verlauf ihres Lebens verfasst und mit dieser Produktion ihren vielfältigen Verbindungen zur Dichtkunst eine weitere Dimension hinzugefügt. Einmal spielt die Literatur, wie die Edition betont, schon in Arendts theoretischem Werk eine wichtige Rolle: Während sie etwa in der grossen Studie zum Totalitarismus mit Texten von Kafka und Proust arbeitete, flocht sie in ihre Analyse der Revolution Bezüge zu Melville und Dostojewski ein. Dann hat die Publizistin zahlreiche Essays über Dichter von Heine bis Brecht verfasst, Freundschaften mit Autoren wie Broch und Johnson gepflegt – und zuletzt das «dichterische Denken», das sie etwa bei Walter Benjamin bewunderte, in eigenen Gedichten eben auch selber angewandt, um, so der Kommentar, Denken und Dichten in «verdichtete[n] Reflexionen» zusammenzufügen. Wo diese Fusion stattgefunden haben soll, bleibt leider auch nach zweimaligem wohlwollendem Lesen der kurzen Gedichte rätselhaft. Eine erste Serie, entstanden zwischen 1923 und 1926 und also im Kontext von Arendts amouröser Verstrickung mit Martin Heidegger, sehnt in zahlreichen Varianten den Trost der kühlen Nacht, des Abends oder der Dämmerung herbei und bringt das Leiden an der heimlichen Liebe zum Ausdruck: «Wir können nicht sagen, wie sehr wir uns einen. / Wir können nur weinen.» Ist man hier noch geneigt, den elegischen Ton und den pathetischen Stil auf das jugendliche Alter der Autorin zurückzuführen – Arendt war 18, als sie Heidegger kennenlernte –, muss man später beides als Grundzug wiederfinden. Die zweite Serie, mit Gedichten von 1942–1961, zeigt wenig poetische Weiterentwicklung; nach wie vor ruht die Nacht als Brücke über den dahinströmenden Tagen, und wenngleich vereinzelte Stücke die Erschütterungen von Krieg und Tod erahnen lassen, bleibt das Gros der Texte doch hinter jenem reflexiven Anspruch zurück, den jeder gute Dichter spielend einzulösen weiss. Im Fall von Hannah Arendt halte sich ans grosse Werk, wer Gedankendichte sucht. ● Gundula Ludwig Manfred Papst Manfred Papst Claudia Mäder 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Interview Charles Lewinsky zählt zu den erfolgreichsten Schweizer Schriftstellern unserer Zeit. Demnächst wird er siebzig Jahre alt, er veröffentlicht den Roman «Andersen» und bringt ein neues Stück auf die Bühne. Höchste Zeit für ein Gespräch. Interview: Manfred Papst «Schreiben ist wieBergsteigen» Bücher am Sonntag: Herr Lewinsky, ist der Siebzigste für Sie ein Geburtstag wie jeder andere? Charles Lewinsky: Nein. Er ist schon etwas Besonderes. Deshalb wollte ich auch meinen neuen Roman exakt zu diesem Datum präsentieren. Das habe ich meinem Verleger schon gesagt, als noch keine Zeile geschrieben war. Ich habe mir – mit siebzig darf man das – den Spass gemacht, ein Buch zu schreiben, das niemand von mir erwartet. Laufen Sie damit nicht Gefahr, Ihre Stammleser vor den Kopf zu stossen? Die sind es doch gewohnt, dass ich immer wieder neue Rhythmen, Erzählformen und Perspektiven wähle. Nehmen Sie etwa meine Romane «Mattscheibe», «Johannisnacht», «Melnitz», «Gerron» und «Kastelau». Sie sind nicht nur thematisch, sondern auch sprachlich höchst unterschiedlich. Ich lebe beim Schreiben gern in verschiedenen Welten und spiele mit deren Ausdrucksweisen. Wo bleibt da die eigene Handschrift? Ich frage zurück: Darf der Mensch nur eine Handschrift haben? Es gibt Schriftsteller, die immer wieder das gleiche Buch schreiben, und daran ist nichts Falsches. Aber ich bin ein ande- Vielseitiger Autor Charles Lewinsky, geboren am 14.4.1946 in Zürich, hat sich als Drehbuchautor, Romancier und Kolumnist (u. a. für die «NZZ am Sonntag») einen Namen gemacht. Zu seinen Hauptwerken zählen die satirischen TV-Romane «Mattscheibe» (1991) und «Schuster» (1997), der Dorf- und Kriminalroman «Johannistag» (2000) sowie die zeitgeschichtliche Ereignisse aufarbeitenden Romane «Melnitz» (2006) «Gerron» (2011) und «Kastelau» (2014). Einem breiten Fernsehpublikum wurde Lewinsky als Autor der Sitcoms «Fascht e Familie» (1994–1999) und «Fertig Lustig» (2000–2002) bekannt. Sein neuester Roman, «Andersen» (397 S., Fr. 26.90), erscheint am 14.3. bei Nagel & Kimche. Lewinskys neues Stück «Die Besetzung» wird am 30.3. am Stadttheater Langenthal uraufgeführt. rer Typ von Autor. Für meine Begriffe gibt es zwei Arten von Erzählern. Auf der einen Seite sind diejenigen, die man stets nach fünf Zeilen erkennt, ungeachtet des Inhalts. Und dann gibt es diejenigen, die ihre Sprache nach dem ausrichten, was sie jeweils zu erzählen haben. Was ist das Besondere an Ihrem neuen Roman? Da will ich eigentlich nichts verraten. Ich habe auch meinem Verleger Dirk Vaihinger während der Entstehung von «Andersen» kein Wort erzählt. Ich wollte, dass er das fertige Manuskript ganz ohne Vorkenntnisse liest, und das sollen auch meine Leser tun. Nur so viel: Es geht um einen Mann, der aufwacht und nicht weiss, wo er ist. Er sucht nach seiner eigenen Identität, und als er sie gefunden zu haben glaubt, sind die Auswirkungen schrecklich. Ich wollte ein Buch über die Macht des Bösen schreiben, anhand eines Mannes, der ein wahnsinniger Kontrollfreak ist. Als er ein einziges Mal die Kontrolle abgibt, bricht seine Welt zusammen. Der Text ist aber auch von Tempo und Witz geprägt. Er umfasst 397 Seiten, und Sie bringen es auf 308 Kapitel. Das meinte ich eben, als ich sagte, dass ich immer wieder neue Formen ausprobiere. Aber mir ist unlängst etwas aufgefallen. So verschieden meine Romane sind, gibt es doch etwas, das sie verbindet: Sie handeln alle von Schein und Sein, von Camouflage, Verstellung, der Vortäuschung falscher Identitäten. Vermutlich ist das mein Lebensthema. Bei «Gerron», «Kastelau» und jetzt bei «Andersen» liegt das am Tag. Aber schon in «Johannistag» ging es um einen pädophilen Lehrer, der nicht zugeben kann, dass er wegen seiner Neigung nach Frankreich gehen musste. Und auch in «Melnitz» müssen etliche Figuren eine andere Existenz vortäuschen: weil sie schwul sind oder weil sie antisemitische Reaktionen fürchten. Wie sind Sie auf den Stoff gekommen? «Andersen» ist auf ganz andere Weise entstanden als alle meine früheren Romane. Die habe ich jahrelang mit mir herumgetragen, bevor ich die erste Zeile schrieb. Dieser aber ist mir einfach in den Kopf gesprungen. Ich habe keine Ahnung, woher die Geschichte kam. Vielleicht habe ich sie geträumt. Sie war plötzlich da, und ich fing ohne Verzug mit dem Schreiben an. Da musste nichts reifen oder wachsen. Steckt etwas von Ihnen im Mann mit der Maske? Das weiss man als Autor nie so recht. Der Dramatiker Tom Stoppard hat zu dieser Frage einmal etwas Geniales gesagt: Ein Autor, der ein Buch geschrieben hat, ist wie ein Reisender, der an der Grenze vom Zöllner aufgefordert wird, seinen Koffer zu öffnen. Der Autor nimmt alle möglichen Sachen heraus und muss zugeben: Ja, das gehört tatsächlich mir; aber ich wusste nicht, dass ich es eingepackt habe. Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen neuen Roman beginnen? Legen Sie Figuren- und Ortsverzeichnisse an, skizzieren Sie Handlungsschemata? Oh nein, das ist nichts für mich. Ich kann nicht nach einem Plan schreiben, so wie ein Baumeister nach den Plänen des Architekten ein Haus erstellt. Das käme mir vor wie Schreiben nach Google Earth. Natürlich muss ich irgendwie von A nach B kommen. Aber ob mein Weg durch die Wüste führt oder übers Meer, das will ich nicht vorher wissen. Ich sitze zwei, drei, vier Jahre an einem Buch. Wenn ich den Weg vorher kennen würde und sozusagen nur noch «Malen nach Zahlen» betreiben dürfte: Das wäre doch grässlich! Können Sie Ihr praktisches Vorgehen schildern? Ich beginne immer auf der ersten Seite und höre mit der letzten auf. Ich kann es gar nicht anders. Das Verschieben von Textbausteinen liegt mir nicht. Ich kann auch nicht problematische Stellen überspringen, an einem anderen Ort neu einsetzen und dann auf die Sache zu- ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 «Dieser Roman ist mir einfach in den Kopf gesprungen. Ich habe keine Ahnung, woher die Geschichte kam. Vielleicht habe ich sie geträumt. Sie war plötzlich da.» BASIL STÜCHELI Charles Lewinsky wird diesen Frühling 70. Er feiert seinen Geburtstag mit der Buchpremiere seines neuen Romans «Andersen». (Zürich, 15.02.2016) 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Sie leben teils in Frankreich, teils in Zürich. Wo entstehen Ihre Romane? Fast nur in Frankreich. Da hocke ich meist allein in meinem Häuschen und unterhalte mich bloss mit meinem Gemüse. Ich brauche die Abgeschiedenheit. Wenn ich in Zürich bin, komme ich nicht vorwärts mit dem Schreiben. Damit ich vernünftig arbeiten kann, muss ich sicher sein, dass ich die nächsten vier Wochen keinen einzigen Termin habe. Wenn ich am Donnerstag eine Verpflichtung habe, kann ich schon am Montag nicht mehr richtig arbeiten. Wie sieht Ihr Tageslauf aus, wenn Sie sich zum Schreiben zurückziehen? Absolut einförmig. Ich schreibe nach einem exakten Zeitplan, wie ein Beamter. Von 9 bis 11.45 Uhr, dann wieder von 14 bis mindestens 17 Uhr. Am Ende eines solchen Tages habe ich etwa eine Seite fertigen Text. Leiden Sie mit Ihren Figuren – oder an Ihnen? Beides kommt vor. Das Schreiben meines neuen Romans ist mir, obwohl die Idee über Nacht da war, nicht leicht gefallen. Die Hauptfigur ist ja kein erfreulicher Zeitgenosse. Eigentlich möchte man sich nicht länger mit ihr befassen. Auch wenn es nicht so schlimm war wie bei «Johannistag». Da ist mir der Protagonist unendlich auf die Nerven gegangen. Meine Familie konnte mich damals kaum noch ertragen. Machen sich Ihre Figuren auch selbständig? Durchaus. Eigentlich sind wir Schriftsteller ja Grössenwahnsinnige, die ihre Allmachtsphantasien ausleben, indem sie Figuren glücklich oder unglücklich werden lassen oder sie sogar umbringen. Aber man hat seine Figuren nicht immer im Griff. Fällt Ihnen gerade ein Beispiel ein? In «Melnitz» treten einmal zwei Frauen aus dem Haus, und ich wusste genau, wohin sie gehen sollten. Sie schlugen aber die falsche Richtung ein. In Zürich notabene. Ich bin ihnen nachgelaufen wie ein Detektiv. Sie gingen schliesslich zu einer Séance. Natürlich war das irgendwo in meinem Hinterkopf. Aber bewusst war es mir nicht. Wenn die Figuren selbständig reagieren, ist das zwar beunruhigend, aber auch ein Zeichen dafür, dass sie leben. Zeigen Sie Ihr «Work in Progress» anderen Menschen, etwa Ihrer Frau oder Ihren Kindern? Während ich an einem Roman arbeite, hole ich kaum je die Meinung von anderen ein. Aber es gibt Ausnahmen. Bei «Gerron» fühlte ich mich nach 150 Seiten verloren. Ich zeigte den Text meiner Tochter, und sie sagte: «So geht das gar nicht.» Sie hatte recht. Ich habe alles weggeschmissen und ganz von vorne angefangen. Sind Sie glücklich beim Schreiben, oder kommt das Glück erst, wenn Sie den Laptop zuklappen? Schreiben ist wie Bergsteigen. Es tun einem alle Knochen weh. Es geht fast immer steil aufwärts. Aber wenn man dann auf dem Gipfel steht und ins weite Land blickt, ist man glücklich. Der Rundblick lohnt die Mühe. Ohnehin sollen Autoren nicht über ihren Beruf jammern. Es zwingt sie ja niemand dazu. Der leidende Autor – das ist für mich eine unerträgliche Pose. Die Niederschrift ist das eine, die Recherche das andere. Welche Rolle spielt sie in Ihrer Arbeit? Eine grosse. Aber sie muss so sorgfältig in den Text verwoben sein, dass man sie als solche gar nicht mehr bemerkt. Ich hasse Bücher, in denen manche Kapitel nur Informationen transportieren. Die Authentizität des dokumentarischen Ausgangsmaterials ist wichtig, aber die Geschichte muss auch ihre innere Stimmigkeit haben. Ich könnte auch mit noch so viel Recherchen keinen Roman über Südseeinsulaner schreiben. Das würde immer nur ein Baedeker. Auf die eigene Beobachtung kommt es an. Können Sie das etwas ausführen? Wenn wir unser Gespräch vor der Zeit des Tonbands führen würden und ich es beschreiben wollte, müsste ich wissen, ob Sie die Stenografie von Stolze/Schrey oder eine andere verwenden – auch wenn dieses Detail am Ende nur eine winzige Rolle spielen würde. Man muss tief in die Themen hineinkriechen. Sonst schreibt man keinen Roman, sondern einen WikipediaArtikel. In meinem neuen Buch wird furchtbar viel über Musik geredet. Da habe ich mich hinein gearbeitet, und zwar so, dass der Leser am Ende die Mühe hoffentlich nicht merkt. «Man muss tief in die Themen hineinkriechen. Sonst schreibt man keinen Roman, sondern einen WikipediaArtikel.» Onlineshop für secondhand Lektüre mit über 60 000 Büchern Kontakt: [email protected] http://blog.buchplanet.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet Andere Autoren lassen sich ohne weiteres in erzählerische Traditionen einordnen. Bei Ihnen ist das schwierig. Warum? In meinen jungen Jahren habe ich nie daran gedacht, Schriftsteller zu werden. Deshalb habe ich auch nicht versucht, Vorbilder nachzuahmen. Die Götter, die ich als Teenager hatte, könnte ich heute nicht mehr lesen. Klabund zum Beispiel. Bei Lesungen passiert es mir aber immer wieder, dass Moderatoren meine vermeintlichen literarischen Stammlinien nachzeichnen. Ärgert Sie das? Wenn sie den Begriff «jüdische Erzähltradition» verwenden, werde ich tobsüchtig. Das ist so ein dummes Klischee! Was hat Isaac Bashevis Singer mit mir zu tun – oder ich mit ihm? Ich habe eine Liste angelegt von Büchern, die mich angeblich entscheidend beeinflusst haben und die ich vielleicht tatsächlich einmal lesen sollte. Was lesen Sie denn derzeit am liebsten? Meine momentane Göttin ist die britische Erzählerin Hilary Mantel. Ich würde auch gern Dialoge schreiben können wie der amerikanische Krimiautor Ed McBain. Mit Dialogen haben Sie von Ihrer Theater- und Fernsehzeit her doch selber grosse Erfahrung! Das stimmt. Aber man kann immer noch präziser werden. Es ist eine Frage der Dosierung. Wie bei den Details. Man muss die sprechenden Details auswählen. Man darf seine Figuren nicht inventarisieren. Man kann ihnen Eigenschaften anhängen wie Christbaumkugeln an einen Baum – aber am Schluss kommt es auf den Baum an. An was für Details denken Sie da zum Beispiel? Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, welche Namen mein neuer Held seinen Hunden gibt. Sie sagen viel über seinen verkorksten Charakter aus. Erkennen sich Leser in bestimmten Figuren Ihrer Bücher wieder? Am laufenden Band, aber immer zu Unrecht. Bei «Melnitz» war das am schlimmsten. Wie werden Sie Ihren 70. Geburtstag feiern? Mit einer Buchpremiere im Theater Rigiblick. Moritz Leuenberger soll sie moderieren. Ich freue mich darauf, denn derzeit geht es mir blendend. Ich habe gerade eine Fastenkur hinter mir. Ich war in einem schönen Kurhaus und bin jeden Tag stundenlang gelaufen, ganz allein, mit meinen geliebten BBC-Hörspielen auf dem Kopfhörer. Wenn die grösste Frage nur noch ist: Gehst du zuerst in die Sauna oder zuerst in die Massage: Dann ist das Leben nicht so schlecht. Jetzt sind die Akkus wieder aufgeladen. ● Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch rückkommen. Wenn ich irgendwo feststecke, muss ich pickeln und pickeln, bis ich die Lösung habe. Obwohl ich die technischen Möglichkeiten des Computers also kaum nutze, schreibe ich fast alle meine Texte – Verse ausgenommen – direkt auf ihm. Wer sich heute noch auf die Hermes Baby kapriziert, ist kein Schriftsteller, sondern ein Hemingway-Imitator. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Sex ist nur schmutzig, wenn er richtig gemacht wird. Kurzkritiken Sachbuch Elisabeth Raabe: Eine Arche ist eine Arche ist eine Arche. edition momente, 2015. 240 Seiten, Fr. 29.90. Caitlin Doughty: Fragen Sie Ihren Bestatter. Lektionen aus dem Krematorium. C.H. Beck, 2016. 270 Seiten, Fr. 28.90. Zwei Frauen kaufen 1983 den legendären Arche-Verlag des verstorbenen Peter Schifferli in Zürich, erwerben 1987 dazu noch den Luchterhand-Literaturverlag in Darmstadt. Im Jahr 2008 verkaufen sie beide Verlage. Was sie in den 25 Jahren dazwischen erleben mit Autoren und Texten, an Erfolgen und Misserfolgen, an Euphorie und Kampf, immer in Zeitnot, unterwegs zwischen Zürich, Frankfurt und Hamburg, stets am finanziellen wie am kräftemässigen Limit – das erzählt uns die Verlegerin Elisabeth Raabe rasant und atemlos, ebenso begeistert wie selbstkritisch und ganz aus der Sicht der Verlag-Insiderin. Es wird viel gegessen in der «Kronenhalle» und viel umgezogen, und es fallen Namen sonder Zahl in diesem mitreissenden Rapport einer Leidenschaft. Er ist, wie könnte es anders sein, im neuen Verlag (edition momente) der Verlegerinnen Regina Vitali und Elisabeth Raabe erschienen. Caitlin Doughty kennt keine Berührungsängste, wenn es um das Thema Tod geht. Heute selbst Leiterin eines Bestattungsunternehmens in den USA, erzählt sie in ihrem Buch vom Einstieg in dieses Berufsfeld, bei dem der Tod im Zentrum steht. Die 32-Jährige beschreibt detailliert, wie sie Leichen für die Aufbahrung präpariert: sie rasiert, schminkt, kleidet. Sie berichtet vom schwierigen Umgang mit Angehörigen beim Abtransport von Verstorbenen mit dem Leichenwagen, führt uns vor Augen, wie eine Verbrennungsanlage funktioniert – und verrät mit Humor die skurrilen Betriebsgeheimnisse der Bestatterbranche. Es ist ein Blick hinter verschlossene Türen, den Doughty uns ermöglicht. Die Amerikanerin zeigt auf, wie sehr der Tod und der tote Körper in der westlichen Welt, gerade auch im Vergleich zu anderen Kulturen und vergangenen Zeiten, aus der Öffentlichkeit verbannt sind. Jolanda Spirig: Sticken und Beten. Die Textildynastie Jacob Rohner. Chronos, 2015. 278 Seiten, Fr. 41.90. Marc Augé: Lob des Fahrrads. Aus dem Franz. von Michael Bischoff. C.H. Beck, 2016. 104 Seiten, Fr. 21.90. Geblieben sind heute nur noch die Rohner-Socken vom einst grössten StickereiExportunternehmen der Schweiz, der Jacob Rohner AG im Rheintal. Jolanda Spirig erzählt die Geschichte dieser Firma von ihrer Gründung 1873, als der 21-jährige Käser Jacob Rohner vier Handstickmaschinen auf Kredit erwarb, über ihren Höhepunkt vor dem ersten Weltkrieg bis zum Verkauf 1988. Ein überreiches Privat- und Firmenarchiv ermöglichte der Autorin eine manchmal ausufernde, aber immer lebensvolle Darstellung von vier erzkatholischen und kinderreichen Unternehmer-Generationen. Den damaligen Bedarf an Stickereien in wohlhabenden Kreisen illustrieren dabei die Familienfotos: Rohner-Kinder sind in weissen Spitzen, Schürzchen und Kleidchen grossgeworden. Die Geschichte einer Firma wird damit zur Schweizer Familien- und Kulturgeschichte. Wie ein Fisch im Wasser ist der Mensch auf dem Fahrrad. Die Hand am Lenker, den Fuss auf der Pedale und die Nase im Wind – nie erfahren wir Möglichkeiten und Grenzen zeitgleicher, nie spüren wir Segnung und Bürde der Freiheit deutlicher, als wenn wir uns mit stetem Strampeln einen eigenen Weg durch die Welt bahnen. Kurz und knapp heisst das bei Marc Augé: «Ich radle, also bin ich.» Der Ethnologe, der seinen Blick auch auf westlich-urbane Gebiete richtet, scheut nicht vor der grossen Geste zurück, wenn er sein «Lob des Fahrrads» anstimmt und erst dessen allmählichen Niedergang seit der Jahrhundertmitte beklagt, dann seine Zukunft als menschlichstes aller Fortbewegungsmittel beschwört und zuletzt befindet: «Das Radfahren ist ein Humanismus.» Aber wie recht der Mann hat! Wer immer den Wind im Gesicht liebt, wird diese Hymne selig lächelnd lesen. LUKAS MAEDER Woody Allen Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Andersen» erscheint Mitte März im Verlag Nagel & Kimche. Viele Buchhandlungen klagen über schrumpfende Umsätze und führen das auf die Aufhebung der Buchpreisbindung zurück. Aber die bedauerliche Tatsache, dass nicht jeden Tag Tausende von Kauflustigen die Buchläden stürmen, liegt sicher ebenso daran, dass die literarische Branche die Werbung sträflich vernachlässigt. Es soll ja tatsächlich Buchhändler geben, die meinen, eine intelligente Buchauswahl und fachkundige Beratung reichten aus, um Kunden anzuziehen. Das mag zu Goethes Zeiten so gewesen sein. Aber doch nicht mehr heutzutage! Welche Automarke würde auch nur einen Wagen verkaufen, wenn sich am Auto-Salon nicht spärlich bekleidete Models auf den Kühlerhauben räkelten? Wie käme eine neue Glace in den Markt, wenn sie nicht auf einem Plakat von einer hübschen jungen Dame so lasziv zum Mund geführt würde, als sei die Abbildung einem Lehrbuch für Oralverkehr entnommen? Welche Zeitschriftentitel garantieren die höchsten Auflagen? Eben. Sie verstehen, worauf ich hinaus will: Sex sells. Es kann doch wirklich nicht so schwer sein, liebe Buchhändler, dieses Prinzip auch in Ihrer Branche umzusetzen. Ein Anfang liesse sich schon einmal damit machen, dass man die Buchtitel ein bisschen attraktiver gestaltet – eben so, wie es zu unserer sexualisierten Gesellschaft passt. Ich hätte da ein paar bescheidene Vorschläge: Wie wär’s mit einem Reclam-Band mit dem Titel «Die geschändete Jungfrau», aus dem der Leser dann erfährt, was der sexsüchtige Doktor Faust mit dem unschuldigen Gretchen so alles anstellt? Und würde sich «Gullivers Reisen» nicht zehnmal besser verkaufen, wenn der Titel lautete: «Der Mann, der den Grössten hatte»? Ganz zu schweigen vom Verkaufsschlager «In den Betten von Davos», was doch einfach viel verkaufsträchtiger klingt als… Genau, dieses Buch meine ich. Wirklich schade, dass Thomas Mann da nicht drauf gekommen ist. Ja, selbst ein Ladenhüter wie eine tausend Seiten lange Biografie von Pfarrer Kneipp würde durch eine kleine Titeländerung sofort zum Renner. Man müsste das Buch einfach «Feuchte Träume» nennen. Und wenn sich die Verlage querstellen sollten, dann bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich doch den Automobil-Salon zum Vorbild zu nehmen und das Outfit der Verkäuferinnen ein bisschen zu modernisieren. Liebe Buchhändlerinnen, ihr werdet doch wohl noch einen Bikini im Schrank haben? Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust Simone Karpf Claudia Mäder 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Kunst Dada gilt als klamaukige Form des Unsinns. Verschiedene Neuerscheinungen machen das Phänomen dagegen als Kunstrichtung greifbar, die Unvereinbares gleichzeitig fassen wollte und auch eine eminent politische Komponente hatte Mehralsschräg Genese Dada. 100 Jahre Dada Zürich. Herausgegeben vom Arp-Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, in Zusammenarbeit mit dem Cabaret Voltaire, Zürich. Scheidegger & Spiess, Zürich 2016. 248 S., zahlr. Abb., Fr. 41.90. Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. Siedler, München 2016. 272 S., Fr. 33.90, E-Book 21.90. Dadaglobe Reconstructed. Herausgegeben vom Kunsthaus Zürich. Scheidegger & Spiess, Zürich 2016. 304 Seiten, zahlr. Abb., Fr. 74.90. Von Ina Boesch «Dada hängt mir zum Hals raus», soll Hannah Höch gegenüber einem Journalisten gesagt haben, als er die deutsche Meisterin der klassischen Moderne auf ihre kurze Dada-Phase reduzieren wollte. Die unzähligen Jubelfeiern zum hundertsten Geburtstag von Dada könnten eine ähnliche Reaktion hervorrufen. Daneben droht eine Flut von Neuerschei- Weitere Publikationen Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Dada erscheint in diesem Halbjahr eine Vielzahl neuer Bücher, die einzelne Vertreter oder Aspekte der Kunstrichtung beleuchten. Nebst den in der Rezension besprochenen Werken sei auf folgende Titel verwiesen: Eva Weissweiler: Notre Dame de Dada. Luise Straus – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst (Kiepenheuer & Witsch); A. Trojan und H. M. Compagnon (Hrsg.): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction – Textbilder, Lautgedichte, Manifeste (Manesse); Francis Picabia: Funny Guy & Dada (Edition Nautilus); R. Burmeister u.a. (Hrsg.): Dada Afrika. Dialog mit dem Fremden (Scheidegger & Spiess). 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 nungen die Leserschaft zu überfordern und ihr jegliche Lust an der Auseinandersetzung mit einem der lustvollsten Phänomene des westlichen Kultur- und Geisteslebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vergällen. Angesichts der zu erwartenden Überfütterung sei die Frage erlaubt: Verdient Dada überhaupt so viel Aufmerksamkeit? Verschiedene Gründe sprechen dafür. Etwa die Tatsache, dass die Kunstströmung Generationen von Kunstschaffenden beeinflusst hat: Dada war die Mutter revoltierender Künste (ohne Dada gäbe es vermutlich keine Pop-Art und keinen Punk) und die Ahnin der Postmoderne (indem Dada die Ironie und Parodie, das Flüchtige und Fragmentarische hochhielt und die Ablehnung grosser Ideologien vorwegnahm). Darüber hinaus hat Zürich selten Gelegenheit, die Geburt einer kleinen Revolution zu feiern, die zu einem grossen Exportartikel wurde. Und last, but not least bietet das Jubiläum die letzte Chance, Mythen zu korrigieren: etwa die allgemein verbreitete Vorstellung, Dada sei vor allem schräg gewesen. Mit der Formel «Dada gleich billiger Unsinn» räumt der Ausstellungskatalog «Genese Dada» gründlich auf. Das Buch und die gleichnamige Ausstellung im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck will mit den «klischierten absurd lustigen, grotesk schrägen, pubertär rebellischen und revolutionär linken Vorstellungen davon, was Dada ist», endgültig Schluss machen, wie Co-Kurator Adrian Notz erklärt. Das gelingt den Autorinnen und Autoren, die den gesellschaftlichen und intellektuellen Nährboden Dadas aus verschiedenen Perspektiven analysieren und beackern, mit teils glänzend geschriebenen Beiträgen über philosophische, sprachtheoretische, kunsthistorische oder politische Themen überzeugend. Der Sammelband bringt die notwendige Prise Seriosität in die Diskussion. So verorten etwa verschiedene Autoren Dada Zürich nicht allein im Cabaret Voltaire, sondern betonen den ge- nius loci der am Paradeplatz gelegenen Galerie Dada. Diese war mit ihren Kunstund Vortragsabenden, Lesungen und Performances «Reflexion und Vertiefung dessen, was im Cabaret Voltaire angedacht und zuweilen auch per Zufall ausprobiert wurde». Während ihrer halbjährigen Existenz im Jahr 1917 bot die Produzentengalerie eine Plattform für das damals aktuelle Konzept des Gesamtkunstwerks, für ein Nebeneinander von verschiedenen Kunststilen, Formen und Medien. Nicht von ungefähr verwahrt sich der Schweizer Kunsthistoriker Tobia Bezzola in seinem Essay gegen Versuche, Dada als eine Einheit zu begreifen und als einen -ismus zu definieren: «Dada ist kein Stil.» Dada wurde zu Dada, weil es sich als solches deklarierte oder sich in einem explizit dadaistischen Umfeld wie eben beispielsweise der Galerie Dada präsentierte. Mit der Moderne leben Der Komparatist Martin Mittelmeier versucht in seinem Buch «Dada. Eine Jahrhundertgeschichte» dieses Nebeneinander, diese für Dada typische Gleichzeitigkeit von eigentlich Unvereinbarem, mit dem Oberbegriff der Simultanität zu fassen und in der damaligen intellektuellen Kultur zu verorten. So zeigt er etwa am Beispiel des deutschen Kunst- und Kulturtheoretikers Theodor Däubler, wie die Menschen nach der Jahrhundertwende mit der Heterogenität immer besser umzugehen verstanden. Nachdem Däubler anfangs die zunehmende Verschandelung deutscher Städte durch Architekten beklagte – die sich das Recht herausnähmen, «Neigung zur Renaissance zu fühlen oder sich Rokoko zu wünschen» –, konnte er dem Nebeneinander von verschiedenen Stilen mit der Zeit etwas abgewinnen und dieses als Haltung des modernen Lebens akzeptieren: «Simultanismus ist ein Zustand.» Ein Pendant zu Däubler als Ausrufer der Simultanität sieht Martin Mittelmeier in Guillaume Apollinaire, dem französischen Vorreiter 2 MUSEUM OF MODERN ART / PRO LITTERIS NIC ALUF / GALERIE BERINSON 1 THE ESTATE OF ERWIN BLUMENFELD / KUNSTHAUS 3 der modernen Literatur. An die Stelle der linearen Erzählung setzt dieser ein Geflecht von Beziehungen. Beispielhaft ist das Gedicht «lundi rue christine» aus dem Jahr 1912, in dem Apollinaire Gesprächsfetzen und Gedankenversatzstücke nebeneinander montiert, die man derart an einem Montag in der Rue Christine gehört und gehabt haben könnte. Mittelmeier erwähnt verschiedene Literaten unter den Dadaisten, die sich in der Tradition von Apollinaire bewegten. Leider vergisst er in diesem Zusammenhang zwei weibliche Dadaistinnen anzuführen, die überzeugende sprachliche Readymades schufen: die Engländerin Mina Loy und die Französin Juliette Roche. Offensichtlich schätzt Mittelmeier in seiner teils fehlerhaften, teils etwas gar salopp geschriebenen Dada-Geschichte den Beitrag von Frauen an Dada nicht sehr hoch ein. So erwähnt er die «DadaBaroness» Elsa von Freytag-Loringhoven kaum – immerhin eine der ersten Performerinnen überhaupt, die erste Assemblage-Künstlerin in den USA und eine von literarischen Kollegen wie William Carlos Williams hochgeschätzte Dichterin. Und wenn er sie nennt, dann reduziert er die Künstlerin, die Dada verkör- BERLINISCHE GALERIE / PRO LITTERIS 4 5 perte wie keine andere, unter anderem auf ihr Geschlecht und definiert sie lediglich als femme fatale, die «ganz Greenwich Village mit amourösen Nachstellungen und provokanten Schamlosigkeiten in Atem» hielt. Akribisch genau, äusserst kompetent und spannend zu lesen ist demgegenüber der Beitrag von Adrian Sudhalter im Ausstellungskatalog «Dadaglobe Reconstructed». In sechsjähriger Forschungsarbeit ist es der amerikanischen Kunsthistorikerin und Kuratorin gelungen, Tristan Tzaras Anfang der zwanziger Jahre konzipierte, aber nie publizierte Anthologie zu rekonstruieren und sowohl als Buch wie auch als Ausstellung (Kunsthaus Zürich und Museum of Modern Art New York) zu realisieren. 1921 bat Tzara fünfzig Dadaistinnen und Dadaisten, ihm Zeichnungen und Fotos von Werken einzusenden sowie ein Porträtfoto, dessen «freie Bearbeitung bei gewahrter Deutlichkeit» den Einsendern überlassen blieb. Das Echo war überwältigend, die meisten Künstlerinnen und Künstler antworteten umgehend und schickten Arbeiten sowie Porträts, wovon ein Viertel bearbeitet oder inszeniert war. Darunter etwa die berühmte Selbstinszenierung von Sophie Taeuber: Mit «frei bearbeiteten» Porträtfotos setzten Dadaisten 1921 ein Zeichen gegen die Erfassung von Personendaten. 1. Sophie Taeuber 2. Erwin Blumenfeld 3. I. K. Bonset 4. Peter Butler 5. Raoul Hausmann Das Gesicht vom abstrakten Holzkopf halb verdeckt, auf dem deutlich das Wort Dada und die Jahreszahl 1920 zu lesen sind. Bis anhin war kaum bekannt, dass diese zur Ikone gewordene Porträtaufnahme aus dem Studio von Nic Aluf nur aufgrund von Tristan Tzaras Projekt entstanden ist. Gegen das Datensammeln Dadaglobe war nicht nur ein wichtiger Katalysator zur Entwicklung der dadaistischen Porträtfotografie, sondern auch eminent politisch, wie Sudhalter in ihrem Meilenstein der jüngsten DadaForschung festhält. Nur wenige Wochen vor Tzaras Einladung an seine Mitstreiter schlug nämlich der Völkerbund zur Regelung länderübergreifender Reisen eine «staatliche Verwaltung mit Personendaten», unter anderem Porträtfotografien, vor. Vor diesem Hintergrund «kam die Aufforderung, das eigene Foto zu manipulieren, einem Aufruf zum Betrug gleich», schreibt Sudhalter. Eine solche Verortung im gesellschaftlichen und intellektuellen Umfeld macht den Band «Dadaglobe Reconstructed» zu einer unverzichtbaren Lektüre und sichert ihm einen Platz in der Dada-Bibliothek eines jeden Dada-Aficionados. ● 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 DDP IMAGES Sachbuch Film Zum 80. Geburtstag von Rolf Lyssy würdigt ein Sammelband «Die Schweizermacher» und holt den Stoff aus den 1970ern in die Gegenwart DerErfolgsmacher Georg Kohler, Felix Ghezzi (Hrsg.): «Die Schweizermacher» – Und was die Schweiz ausmacht. rüffer & rub, Zürich 2016. 336 Seiten, Fr. 29.80. Von Simon Spiegel Er ist der grosse Solitär der Schweizer Filmgeschichte, eine Art Matterhorn des einheimischen Filmschaffens, der in Sachen Publikumserfolg alle anderen Produktionen überstrahlt: Rolf Lyssys «Die Schweizermacher» ist mit rund 940000 Kinoeintritten der bis heute erfolgreichste Schweizer Kinofilm. Und das mit einigem Abstand. Die RS-Klamotte «Achtung, fertig, Charlie!» kann auf Platz zwei fast 400000 Eintritte weniger verbuchen. Angesichts der seit Jahren rückläufigen Kinoeintritte dürfte Lyssys Komödie das Prädikat «erfolgreichster Schweizer Film aller Zeiten» wohl noch eine Weile erhalten bleiben. Sein Inventar, von Emil Steinberger und Walo Lüönd als Einbürgerungsbeamte Moritz Fischer und Max Bodmer bis zu den braunen Abfallsäcken von Fräulein Vakulic, ist ohnehin längst allgemeines Schweizer Kulturgut geworden. Kein politischer Film Anlässlich des 80. Geburtstags von Regisseur und Drehbuchautor Rolf Lyssy, den dieser am 25. Februar beging, ist nun ein Band erschienen, der den Film und seinen Regisseur würdigt und deutlich macht, dass «Die Schweizermacher» nicht nur hinsichtlich ihres phänomenalen Erfolgs aus der Reihe tanzen. Der Film stand in seinem Erscheinungsjahr 1978 auch sonst ziemlich quer in der Landschaft. Wie verschiedene Beiträge des vom emeritierten Philosophieprofessor Georg Kohler gemeinsam mit Felix Ghezzi herausgegebenen Buchs hervorheben, setzte sich Lyssy mit seinem Ansinnen, eine Komödie über die Schweizer Einbürgerungspraxis zu drehen, in mehrfacher 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 Emil Steinberger und Walo Lüönd als «Schweizermacher» im bis heute meistbesuchten Schweizer Kinofilm. Hinsicht zwischen Stuhl und Bank. Den Vertretern des «jungen Schweizer Films», die in den 1960ern antraten, ein Kino jenseits des betulichen Heimatfilms zu etablieren, waren Dialektfilme, zumal komödiantische, grundsätzlich suspekt. Aber auch die offizielle Schweiz konnte Lyssys Drehbuch wenig abgewinnen; zu den aufschlussreichsten Dokumenten, die in dem Band enthalten sind, gehört das Sitzungsprotokoll des Begutachtungsausschusses der Filmkommission des Bundes, die es zweimal ablehnte, den Film zu unterstützen. Von «Schwank», «Vaudeville, mit bemühenden Passagen», Klischees sowie offensichtlicher Harmlosigkeit ist da die Rede. Zum Schluss wird ganz schweres Geschütz aufgefahren: Die Förderung eines solchen Projekts wäre moralisch geradezu unverantwortlich, das Thema sei für die gewählte Form viel zu ernst. Es ist freilich etwas wohlfeil, sich von heute aus über dieses Verdikt lustig zu machen. Vielmehr ist interessant, dass die Einschätzung der Kommission bei aller fehlgeleiteter Entrüstung doch einen wahren Kern enthält. Wirklich politisch ist Lyssys Film nicht, und in diesem Sinne ist das Attribut «harmlos» nicht ganz falsch gewählt. Am Ende lösen sich die Nöte der Einbürgerungswilligen allesamt in Wohlgefallen auf; dem italienischen Konditor werden die politischen Umtriebe verziehen – so grosszügig ist man hierzulande dann doch –, und für die junge Jugoslawin, die sich mit der von Steinberger gespielten Hauptfigur einlässt, spielt es letztlich keine Rolle, dass ihre Einbürgerung bachab geht. Als Tänzerin ist sie ohnehin Kosmopolitin. Dass die Frage, wie die Schweiz mit jenen Bewohnern des Landes, die keinen roten Pass besitzen, umgeht, heute aktueller ist denn je, dass die Überfremdungsdiskussion, die den Hintergrund von Lyssys Film bildet, im Vergleich mit aktuellen SVP-Vorstössen geradezu harmlos erscheint, wird von vielen Autoren angesprochen. Der Band enthält denn auch nicht nur Rückblicke, Quellenmaterial und Interviews, sondern zielt an verschiedenen Stellen explizit auf die Gegenwart; am deutlichsten in der von Georg Kohler geleiteten Gesprächsrunde zum Selbstverständnis der Schweiz. Im Zentrum steht hier die Frage, wie eine Gegenerzählung zum verhängnisvoll erfolgreichen Angstnarrativ der SVP aussehen könnte. Komiker sind Tragiker Im Lichte der heutigen politischen Diskussion erscheinen Figuren wie der Erzbünzli Max Bodmer schon fast als drollige Charakterköpfe. Verschiedene Autoren arbeiten sich an der offensichtlichen Diskrepanz zwischen der insgesamt versöhnlichen Tonlage des Films und der schrillen politischen Gegenwart ab. Allzu fruchtbar sind diese Versuche nicht; der Erfolg der «Schweizermacher» dürfte letztlich gerade darin gründen, dass der Film in bewährter Schweizer Manier ein brisantes gesellschaftliches Thema auf ein allgemein verträgliches Mass einkocht – schnörkellos und ohne übermässigen künstlerischen Anspruch. Dass die Komödie solides Handwerk und kein überragendes Kunstwerk darstellt, ist Lyssy und seinen Mitstreitern, die in ihren Wortmeldungen sympathisch allürenfrei erscheinen, dabei durchaus bewusst. Komiker sind im Innersten immer Tragiker, das gilt auch für Rolf Lyssy. Nicht nur durchlitt der Filmemacher Ende der 1990er eine schwere Depression, seine ganze weitere Karriere stand im Schatten seines Grosserfolgs, an den er nie wieder anknüpfen konnte. Vielmehr musste er weiterhin zahlreiche Absagen durch Förderinstitutionen hinnehmen. Zu seinem Geburtstag ist dem Jubilar denn auch vor allem zu wünschen, dass seinem jüngsten Projekt, dem gemeinsam mit Dominik Bernet verfassten Drehbuch «Die letzte Pointe», wieder mehr Erfolg beschieden ist. ● Kulturgeschichte Steffen Martus zeichnet ein neues Epochenbild des 18. Jahrhunderts und zeigt, wie die Aufklärung ihren Weg in den Alltag fand GeburtsstundederZeitungsleser Ideen, die die Welt bewegen, kommen meist erst mit einiger Verspätung in der Wirklichkeit an. Mit dem Wort «Aufklärung» verbinden wir Wertvorstellungen wie religiöse Toleranz, Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, persönliche Selbstbestimmung, Meinungs- und Pressefreiheit. In älteren Gesamtdarstellungen der europäischen Aufklärung nimmt es sich so aus, als hätten im Lauf des 18. Jahrhunderts kluge Köpfe wie Lessing, Voltaire, Kant dieses Idealpaket schrittweise der Öffentlichkeit unterbreitet – und die moderne Welt war geboren! Eine solche Höhenkammgeschichte der Aufklärung macht es sich nach Ansicht des Berliner Kulturwissenschafters Steffen Martus zu leicht. Sie ignoriert das reale Vermittlungsgeschehen, in dem der Geist sozusagen Fleisch ward, interessiert sich nicht für die Institutionen und Medien jener Wissensausbreitung, auf die die Aufklärer selbst so stolz waren. Martus’ «Epochenbild» des deutschen 18. Jahrhunderts geht deshalb von anderen Leitfragen aus: Wie brachten die Philosophen und Schriftsteller ihre Ideen in Umlauf, wie drang das aufklärerische Gedankengut in den Alltag ein und ergriff von den Gemütern derart Besitz, dass es – um nur ein Beispiel zu geben – am Ende des Jahrhunderts unter den Gebildeten schon selbstverständlich war, einen Selbstmörder nicht mehr als Sünder zu betrachten, der auch nach seinem Tod noch durch öffentliche Schändung des Freund wilder Lektüren: Barthold Heinrich Brockes. ten Stadtbürger vorstellt: empfänglich für Naturschönheit, den Freuden der Geselligkeit zugetan, doch immer auch darauf bedacht, sich in die stille «Studir-Stube» zurückzuziehen, wo er heidnische Philosophen, christliche Erbauungsliteratur und neueste naturwissenschaftliche Schriften wild durcheinanderliest. Der Autor präsentiert sich als Modell eines beweglichen, mit modernem «Beziehungs-sinn» ausgestatteten Menschen. Fraglos ist er nach wie vor ein guter Christ; die göttliche Ordnung erscheint nun aber nicht mehr als starres Gefüge, sondern als ziemlich kompliziertes, von einer höchsten Instanz erfreulicherweise noch gebändigtes Kräftespiel. Anhand solcher Fallgeschichten gelingt es Steffen Martus, das riesige intellektuelle Panorama des 18. Jahrhunderts geradezu spannend zu entfalten. Sie kommen alle vor: von Thomasius über Gottsched, Bodmer, Klopstock bis hin zu Lessing, Herder und Kant (und viele andere mehr). Stets werden die grossen Theorien aber vorgestellt im Blick auf ihre praktische Umsetzung im Kulturbetrieb der damaligen Zeit und die Herausbildung neuer, uns bis heute prägender Mentalitäten. So ist dieses faszinierende Porträt eines scheinbar ferngerückten Zeitalters auch ein Buch von verblüffender Aktualität. ● Klima Die Geschichte wird oft nicht vom Menschen, sondern von Wind und Wetter geformt Ein Hoch aufs Hoch! Ronald D. Gerste: Wie das Wetter Geschichte macht. Katastrophen und Klimawandel von der Antike bis heute. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 280 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 23.90. Von Florian Oegerli Es gilt als eines der langweiligsten Smalltalk-Themen überhaupt: das Wetter. Zu Unrecht. Denn Regen, Hagel und Hitze helfen nicht nur beim Überbrücken alltäglicher Gesprächslücken, sondern auch beim Austragen kriegerischer Auseinandersetzungen. Von Napoleon bis zu Jimmy Carter: Oft entschied weniger taktisches Geschick als vielmehr die aktuelle Wetterlage den Ausgang einer Schlacht. Das alles macht ein neues, kurzweiliges Buch des Historikers und Publizisten Ronald D. Gerste klar. In packend erzählten Kapiteln zeigt Gerste die geschichtsbildende Kraft des meteorologischen Zufalls. So verdankt sich das heutige Europa einem plötzlichen Hoch über den Azoren am 6. Juni 1944: Wäre das Wetter an jenem Dienstag so miserabel geblieben wie in den Tagen zuvor, der «D-Day» hätte erst Wochen später durchgeführt werden können und ein grösserer Teil Europas wäre vermutlich von der Roten Armee besetzt worden. Ein Hoch auf das Hoch also! Auch längerfristige klimatische Entwicklungen finden Eingang in das Buch. Gerste erklärt, weshalb die Warmperiode des Hochmittelalters den Bau gotischer Kathedralen begünstigte, was der Untergang des Imperium Romanum mit dem Regenwetter der Völkerwanderungszeit und das Aussterben der Maya mit exzessiven Waldrodungen zu tun haben. Ambivalent bleibt dagegen Gerstes Einordnung des aktuellen anthropogenen Klimawandels. Im Epilog deutet der Autor an, dass er die Problematik der «Überbevölkerung» für weitaus dringlicher hält. Ein Urteil, das etwas erstaunt, nimmt doch die jährliche Bevölkerungszuwachsrate laut den Vereinten Nationen stetig ab, derweil sich die Temperaturen in die umgekehrte Richtung bewegen. Davon abgesehen, bietet das unterhaltsam geschriebene Buch einiges an Erkenntnis, darunter nicht zuletzt die, dass die Geschichte eher von «grossen Stürmen» und «grossen Dürren» geprägt wird als von «grossen Männern» – bis zum heutigen Tag. ● 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO Von Manfred Koch Leichnams zu bestrafen war, sondern als Seelenkranken, dessen unglückliche Lebensgeschichte man erforschen müsse, um seine Motive nachzuvollziehen? Kurz: Martus erzählt, wie die Aufklärung zur Normalität wurde. Viel ist in diesem Buch von «Netzwerken» und «Medien» die Rede. Martus, Professor an der Humboldt-Universität, schildert gleichsam den Geschäftsbetrieb der Aufklärung, in dem konkurrierende Intellektuelle um die Aufmerksamkeit eines zunehmend lesekundigen Publikums warben, wechselnde Bündnisse eingingen, sich publizistisch bekriegten und manchmal auch wieder versöhnten. Der Effekt war eine Gewöhnung an Meinungsvielfalt allein dadurch, dass, wer etwas auf sich hielt, nun selbstverständlich Zeitungen und Zeitschriften las. Am Beispiel des Hamburger Ratsherrn und Dichters Barthold Heinrich Brockes zeigt Steffen Martus, wie die Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung ihre Leser förmlich darauf trainierten, sich in mannigfaltigen Lesewelten zu bewegen, «gepflegte Kritik und Gegenkritik» schätzen zu lernen und auf diese Weise die «Medienkompetenz» für eine zunehmend dynamische, durch beschleunigten Wandel geprägte Gesellschaft zu erwerben. «Der Patriot» hiess die wichtigste Zeitschrift der Hamburger Aufklärung; in ihr veröffentlichte Brockes 1724 einen Aufsatz, in dem er sich selbst als flexiblen, vielseitig interessier- #### CREDIT Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Rowohlt, Berlin 2015. 1037 Seiten, Fr. 52.–, E-Book 38.–. Sachbuch Generationen Sacha Batthyany konfrontiert sich mit der düsteren Vergangenheit seiner Verwandten LichtineinevonHitlerundStalin überschatteteFamiliengeschichte Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 256 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 20.–. Von Claudia Kühner Ruine des Schlosses Rechnitz, wo die Verwandten des Autors im März 1945 feierten, während ihre Gäste Zwangsarbeiter erschossen. OKAPIA Nun sind es die Enkel, die sich mit der Familiengeschichte in der NS-Zeit beschäftigen. Einer von ihnen ist der Zürcher Journalist Sacha Batthyany, Jahrgang 1973, Träger eines alten ungarischen Adelsnamens. Eines Namens, der mit einer dunklen Geschichte verbunden ist. Doch darüber ging man mit Schweigen hinweg – bis 2007 eine Zeitung den eigentlich längst bekannten Fall wieder aufgriff: Im burgenländischen Rechnitz waren im März 1945 an die 200 jüdische Zwangsarbeiter erschossen worden. Von lokalen Nazis, die auf Schloss Rechnitz als Gäste von Margit und Ivan BatthyanyThyssen einen alkoholreichen Kameradschaftsabend feierten. Das waren Sacha Batthyanys Grossonkel und dessen Frau, die milliardenschwere Schwester des Kunstsammlers Heinrich Thyssen. Dass das Paar an der Mordtat selber beteiligt war, wurde nie nachgewiesen; die Haupttäter aber gehörten zu seinem Kreis und entkamen kurz darauf dank seiner Hilfe in die Schweiz. Das Ehepaar Batthyany zog bei Kriegsende nach Lugano und lebte dort unbehelligt von jeder Behörde. «Meine Verwandten hatten nicht gefoltert, nicht geschossen, nicht gequält. Sie hatten nur zugeschaut und nichts unternommen, hatten aufgehört zu denken und als Men- schen zu existieren, obwohl sie alles wussten.» Mit dieser Feststellung und der Frage, was so eine Familienvergangenheit mit einem macht, begann Batthyany eine aufwendige Recherche. Sie führte zu Vater und Grossmutter nach Budapest, nach Rechnitz und nach Sibirien, wo der Grossvater zehn Jahre Gulag überlebt hatte, nach Lugano und bis nach Buenos Aires. Diese Reise, die auch eine zu sich selbst war, hat Batthyany in einem lesenswerten und bemerkenswert offenen Buch geschildert. Unterstützung suchte der Autor beim Psychoanalytiker Daniel Strassberg, der die Recherchen mit Gesprächen begleitete und Batthyany dazu brachte, familientypische Verhaltensweisen freizulegen. Schon beim Vater, der 1956 von Ungarn in die Schweiz kam und nun wieder in Budapest lebt, zeigen sich bekannte Muster: lieber nichts wissen wollen. Das Reden über die Familie soll helfen, die Distanz zwischen Vater und Sohn zu überwinden. Zusammen reisen sie nach Sibirien an den Ort der Lagerhaft des Grossvaters. Stalin, so zeigt sich, hält auch noch den Vater gefangen. Rechnitz hat da keinen Platz. Und in Rechnitz wiederum wenden sich die Bewohner bis heute schweigend ab, wenn jemand nach den Ereignissen der Kriegszeit fragt. Um einen Zugang zur Vergangenheit zu finden, muss Batthyany weiter reisen. In Aufzeichnungen seiner Grossmutter stiess er auf Agnes Mandl. Beide hatten im selben ungarischen Dorf gelebt, die eine auf dem Schloss, die andere, Tochter einer jüdischen Familie, im Dorf. Batthyanys Grossmutter wurde Zeugin von der Ermordung von Agnes’ Eltern: Sie wurden 1944 von der SS im Schlosshof erschossen. Für den Rest des Lebens warf sie sich vor, damals nicht geholfen zu haben. Das belegen ihre Notizen. Mandl selber überlebte Auschwitz und wanderte nach Buenos Aires aus. Batthyany spürte sie und ihre Töchter auf und reiste hin. Sie übergaben ihm Tagebücher von Agnes, die dieselben Geschehnisse reflektierten. Batthyany hat diese beiden Zeugnisse zueinandergestellt – sie bilden die bewegendsten, weil authentischsten Stellen des Buchs. Und was hat das nun mit dem heutigen Sacha Batthyany zu tun? Der Analytiker stellt fest: Eine Familie schwacher Männer, die den Lebensmittelpunkt in der Vergangenheit hat. In diesen Schwächen erkennt sich auch der Autor wieder. Seine Stärke ist es aber, sich mit schmerzlichen Wahrheiten zu konfrontieren. Dazu gehört zuletzt auch die Einsicht, dass er Agnes nicht besucht hat, um ihr etwas zu geben, sondern um etwas zu holen: «Ein Stück Existenz.» ● Macht Zwei Juristen über Zusammenhänge zwischen materiellen Nöten und maroden Rechtssystemen Justitia im Kampf gegen die Armut Gary A. Haugen, Victor Boutros: Gewalt – die Fessel der Armen. Worunter die Ärmsten dieser Erde am meisten leiden. Springer, Heidelberg 2016. 326 Seiten, 27 Abb., Fr. 28.90, E-Book 20.90. Von Michael Holmes Täglich konfrontieren uns die Medien mit Bildern spektakulärer Gewalt aus aller Welt. Aber Kriege, Staatsrepression und Terrorakte bilden nur einen Bruchteil der globalen Gewalt. Die meisten Gewaltopfer besitzen nicht ausreichend Geld, Bildung und Macht, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. «Gewalt – die Fessel der Armen» heisst ein zutiefst erschütterndes, aber wissenschaftlich fundiertes Buch über vielfältige Gewaltverbrechen, die zahllosen Armutsbetroffenen das Leben zur Hölle machen. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 Autor Gary Haugen ist Präsident der Rechtshilfeorganisation International Justice Mission, die in Afrika, Lateinamerika und Asien gemeinsam mit lokalen Akteuren die Rechte der Armen verteidigt und Justizsysteme verbessert. Co-Autor Victor Boutros leitet eine amerikanische Strafverfolgungseinheit gegen Menschenhandel. Ihr bewegendes Manifest dokumentiert allgegenwärtige, aber weitgehend verborgene Gewaltplagen in Entwicklungsländern. Ihre Geschichten über Kindesmissbrauch in Peru, Sklaverei und Zwangsprostitution in Indien, sexuelle Gewalt und Polizeiwillkür in Kenia sowie Landraub in Uganda führen den Leser in eine grauenvolle Albtraumwelt. Die Autoren analysieren komplexe Zusammenhänge zwischen Gewalt und Armut und zeigen auf, wie Rechtssysteme seit Kolonialzeiten den Machteliten dienen. Sie besprechen tiefgehende Studien, denen zufolge sichere Menschenund Eigentumsrechte mindestens so bedeutend für die Armutsbekämpfung sind wie Bildung und Gesundheit. Gewaltepidemien schaden der Wirtschaftsentwicklung nicht weniger als Kriege oder Naturkatastrophen. In Umfragen stufen die meisten Slumbewohner Gewalt als ihr grösstes Problem ein. Das Buch belegt, dass kaum Entwicklungshilfegelder in effektive Rechtsdurchsetzung für die Armen fliessen, obwohl rasche Siege über die Kriminalität im Bereich des Möglichen liegen. Sie dokumentieren die historischen Entwicklungen in den USA, Frankreich und Japan sowie erfolgreiche Pilotprojekte in Brasilien, im Kongo und auf den Philippinen. Eine bedeutende Anklageschrift, die die Augen öffnet für die erbitterten Kämpfe der Armen um Gerechtigkeit. ● Schweiz Marcel Gyr untersucht den Terror der 1970er und löst mit seinen Grabungen ein Erdbeben aus HelvetischerPolitthriller Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre. Das geheime Abkommen mit der PLO. NZZ Libro, Zürich 2016. 183 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 22.30. Marcel Gyr ist ein Coup gelungen. Eigentlich hat sich der NZZ-Reporter aufgemacht, die Lücken rund um den Absturz der Swissair-Coronado in Würenlingen zu schliessen, bei dem am 21. Februar 1970 alle 47 Insassen ums Leben gekommen waren. Die Katastrophe wurde nie restlos aufgeklärt, der mutmassliche Verantwortliche nie zur Rechenschaft gezogen, obwohl schnell klar war, dass es sich um einen palästinensischen Terroranschlag handelte. Im Frachtraum der Coronado war eine Paketbombe explodiert, die für eine Maschine der israelischen Fluggesellschaft El Al bestimmt war. Nur durch Zufall war sie in die Swissair-Maschine gelangt. Auch nach aufwendigen Recherchen zum palästinensischen Terror in der Schweiz kann Gyr die offenen Fragen rund um den Absturz von Würenlingen nicht abschliessend klären. Stattdessen aber schafft er etwas anderes: Er deckt einen veritablen Politskandal auf. Im September 1970, als mehrere Flugzeugentführungen durch palästinensische Terroristen die Schweiz und die ganze Welt in Atem hielten, brach ein Altbundesrat mit einer eisernen Regel. «Mit Terroristen wird nicht verhandelt», heisst es gemeinhin. Der ehemalige SP-Magistrat und Aussenminister Pierre Graber aber tat es trotzdem. Er schloss ein Stillhalteabkommen mit den Palästinensern, auf eigene Faust und in der festen Überzeugung, die Schweiz damit vor weiterem Terror bewahren zu können. Kontrovers diskutiert Gyrs Enthüllungen lösten in der Schweizer Politlandschaft ein kleines Erdbeben aus. Der Bundesrat sieht sich genötigt, eine interdepartementale Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die sich mit den Beziehungen der Schweiz zur palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in den 1970er-Jahren befassen soll. Die Geschäftsprüfungskommission der eidgenössischen Räte bittet den Bundesrat um eine rasche und lückenlose Aufklärung der Geschehnisse von damals. Und die Medien werden nicht müde, Historiker und Zeitzeugen aufzuführen, die Gyrs These entweder stützen oder stürzen. Es ist lange her, dass in der Schweiz ein Buch so kontrovers diskutiert wurde. Im Kern basiert es auf Gesprächen, die Gyr mit den letzten lebenden Protagonisten geführt hat, darunter Robert Akeret, damals Bezirksanwalt und Chefermittler im Fall Würenlingen, Vizekanzler Walter Buser, der zu jener Zeit die Protokolle der Bundesratssitzungen verfasste, und Jean Ziegler, der den Kontakt mit den Palästinensern hergestellt hatte. Farouk CORNELIA ZIEGLER Von Kathrin Alder Im September 1970 entführten palästinensische Terroristen drei Flugzeuge in die Wüste. Hier: Jubel nach der Sprengung der Maschinen in Zerqa, Jordanien. Kaddoumi, den palästinensischen Gegenpart der geheimen Verhandlungen, traf Gyr in dessen Exil in Tunesien. Deren Erinnerungen, aber auch schriftliche Quellen werfen ein neues Licht auf die Vorkommnisse, die die Schweiz auf dem Höhepunkt ihrer «Terrorjahre» erlebte. Einmal mehr war am 6. September 1970 ein Swissair-Flugzeug betroffen, dieses Mal wurde es von Kämpfern der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nach Zerqa mitten in der jordanischen Wüste entführt; gemeinsam mit einer britischen und einer amerikanischen Maschine. Unter den entführten Passagieren befanden sich auch Deutsche, weshalb Deutschland, Grossbritannien, die USA und die Schweiz einen gemeinsamen Sonderstab bildeten, der mit den palästinensischen Entführern verhandelte. Der Stab traf sich in Bern, und insbesondere der britische Premierminister Edward Heath schwor die Gruppe auf einen gemeinsamen Auftritt ein. Auf keinen Fall sollten separate Verhandlungen geführt werden. Ein Büro als Gegenleistung Bundesrat Graber aber hielt sich nicht daran und suchte Kontakt zu den Palästinensern. Als Mittelsmann diente ihm der Soziologe und damalige Nationalrat Jean Ziegler, ein politischer Paradiesvogel, der mit allen sozialistischen Befreiungsbewegungen der Welt sympathisierte und beste Verbindungen zu palästinensischen Diplomatenkreisen unterhielt. Ziegler vermittelte Graber einen Kontakt zu Farouk Kaddoumi, damals informeller Aussenminister der PLO. In einem Genfer Hotel fanden geheime Treffen statt, Graber beging einen doppelten Verrat: Weder der Sonderstab noch die übrigen Mitglieder des Bundesrats wussten von den Treffen. «Beim Abschied habe ich zur Schweizer Delegation gesagt: Wenn es wieder ein Problem geben soll- te, könnt ihr mich gerne nochmals kontaktieren», wird Kaddoumi im Buch zitiert. «Aber wie Sie wissen, hat es danach keine Probleme mehr gegeben.» Für diese Zusicherung musste Graber einen hohen Preis bezahlen. Zwar wurden die Zerqa-Geiseln befreit, die Schweiz musste im Gegenzug aber drei palästinensische Terroristen freilassen, die in Zürich aufgrund eines Attentats auf eine El-Al-Maschine zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden waren. Viel wesentlicher aber war die Tatsache, dass sich die Schweiz für die Palästinenser erpressbar machte. «Wenn über palästinensische Fragen entschieden werden musste, verlor die Schweizer Diplomatie ihre Autonomie», schreibt Gyr. Tatsächlich erlaubte es die Schweiz der PLO, am Uno-Sitz in Genf ein Büro zu eröffnen – als Gegenleistung für Kaddoumis Sicherheitsgarantie. Für die PLO war das ein wichtiger Schritt, um auf diplomatischer Ebene Gehör zu finden. Wie Gyr aufzeigt, gab es in der Folge immer wieder Momente, in denen die Palästinenser die Schweiz mit weiteren Forderungen und Drohungen vor sich her trieben. Zwar blieb die Schweiz vor weiteren palästinensischen Terroranschlägen in der Folge tatsächlich verschont. Ob dies auf das Stillhalteabkommen zurückzuführen ist, können allerdings auch die befragten Akteure, auf deren Aussagen sich das Buch massgeblich stützt, nicht beantworten. Gyrs These lässt sich auch nicht endgültig beweisen; Hauptakteur Graber hat die Geschehnisse jenes Septembers mit ins Grab genommen. Zum Ende der empfehlenswerten Lektüre bleiben drei Fragen: War Grabers Vorgehen nun mutig oder schlicht fatal? Welchen Einfluss hatte das Stillhalteabkommen auf die Strafverfolgung im Fall Würenlingen? Und: Wann werden wir den auf dem Buch basierenden Politthriller wohl im Kino sehen? ● 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Geschichte Der österreichische Historiker Gerald Stourzh macht sich mit der Gleichheitsordnung für eine zentrale Errungenschaft der Moderne stark VomRecht,Rechtzuhaben Gerald Stourzh: Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung. Böhlau, Wien-KölnWeimar 2015. 182 Seiten, Fr. 45.40. Von Carlo Moos Gerald Stourzh, von 1969 bis zur Emeritierung 1997 Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien, gilt mit Forschungen und Publikationen zur ausgehenden Habsburgermonarchie und zum Staatsvertrag von 1955 als Altmeister der österreichischen Geschichte. Seinen neuesten schmalen Band bezeichnet er in übergrosser Bescheidenheit als «Essay». In Tat und Wahrheit legt er mit dieser Summa eines langen Gelehrtenlebens ein eindrückliches Bekenntnis zu den Rechtsgrundlagen des Zusammenlebens der Menschen vor. «Isonomie» ist ein erstmals von Herodot eingesetzter Begriff und lässt sich mit «Gleichheitsordnung» übersetzen. Bevor er im Hauptkapitel seines Werks den Wegen zur modernen Isonomie nachgeht, präsentiert Stourzh sie in der griechischen Antike und in ihren bis 1750/1850 geltenden Abstufungen zwischen Herr und Sklave, Leibherr und Leibeigener, Grundherr und Höriger oder allgemein zwischen Herr und Knecht, alles mit einer stupenden Fülle von treffenden Beispielen. 2015 lancierte Initiative «Schweizerrecht statt fremde Richter» zu erinnern, wonach die Bundesverfassung über das Völkerrecht zu stehen kommen soll. Damit würde nicht nur eine über 200-jährige Rechtsentwicklung abgeblockt, sondern recht eigentlich rückgängig gemacht, was für ein Land, das seit Rousseau an der von Stourzh aufgezeigten Entwicklung mitbeteiligt ist, ein Makel sondergleichen wäre. Es ist zu wünschen, dass möglichst viele Gegner der Initiative diesen gut lesbaren Essay eines bedeutenden österreichischen Historikers studieren und einsetzen. ● Carlo Moos ist emeritierter Professor für Geschichte der Universität Zürich in Bewegung zu setzen». Insbesondere hier, beim Recht, Beschwerden gegen Verletzungen der Grundrechte zu erheben und gegen den eigenen Staat vor einem internationalen Gericht zu klagen, erweist sich die Brisanz des Textes, dies erst recht, wenn man die neu aufgekommene «Gefahr der Opferung von Grund- oder Menschenrechtsgarantien auf dem Altar der Sicherheit» bedenkt. Das Rad zurückdrehen? Die Schweiz wird nur am Rand erwähnt, aber gerade für sie sind die Betrachtungen des Verfassers von erheblicher Sprengkraft. Es genügt, an die ausgerechnet von einem Rechtsprofessor Chronometrie Die Zeit im Bild Klagen gegen den Staat Der Hauptteil setzt mit den Paukenschlägen der Amerikanischen und Französischen Revolution ein und verfolgt ihre Nachgeschichte bis in die Gegenwart. Hier werden die sechs Komponenten der modernen Isonomie erläutert. Es sind (1) die allgemeine Rechtsfähigkeit, das heisst das Recht, Recht zu haben und nicht Sklave oder Ausgegrenzter zu sein; (2) die persönliche Gleichheit vor dem Gesetz nach dem Abbau von Privilegierungen und Diskriminierungen von der Bauernbefreiung über die Judenemanzipation und die Gleichberechtigung der Frau bis zum Status von Ausländern, Flüchtlingen und Asylsuchenden in der Epoche weltweiter Migrantenströme; 3) die Grundrechte und 4) der Grundrechtsschutz als Teil der Verfassungsgerichtsbarkeit; 5) die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte; schliesslich 6) die Demokratie als politische Teilhabe auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und geheimen Männer- und Frauenwahlrechts. Von da erhält das Buchcover mit dem 1994 in Südafrikas ersten freien Wahlen das Wahlrecht ausübenden Nelson Mandela seine tiefere Bedeutung. Die Conclusio greift aus den sechs Komponenten der modernen Isonomie zwei Eigenschaften des Individuums als Rechtsperson heraus: als Träger des Rechts auf politische Teilhabe und als Träger des Rechts, «die Rechtsordnung 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 Kann man die Zeit abbilden? Und wie man es kann! Heute geschieht dies zwar fast immer mit einer horizontalen «Zeitleiste», wie wir sie etwa für die Entwicklung von Börsenkursen kennen. Diese Darstellungsform ist jedoch relativ jung, wie die amerikanischen Historiker Daniel Rosenberg und Anthony Grafton mit ihrer stupenden Sammlung von Zeitdarstellungen deutlich machen. Unser Bild zeigt ein englisches Brettspiel aus dem Jahr 1840, bei dem die Spielfiguren von einem historischen Ereignis zum nächsten hüpften. Man beginnt dabei bei Adam und Eva ganz aussen und bewegt sich spiralförmig nach innen – bis zu Königin Victoria im Zentrum. Seit der Antike wurde die Weltgeschichte jedoch lange in Tabellen, in parallelen vertikalen Spalten, in Reihen von Stammbäumen, als ineinander greifende Ringe und schliesslich sogar als Zifferblatt einer Uhr grafisch dargestellt. Kathrin Meier-Rust D. Rosenberg, A. Grafton: Die Zeit in Karten. Eine Bilderreise durch die Geschichte. Philipp von Zabern, Darmstadt 2015. 304 S., 308 Abb., Fr. 101.–, E-Book 69.90. Nahostkonflikt Der Autor Nir Baram begibt sich auf eine Reise durch die von Israel besetzten Gebiete EinVersuch,dieMauerder Verdrängungzudurchbrechen Nir Baram: Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Hanser, München 2016. 300 Seiten, Fr. 28.90. Nir Baram ist nicht der erste israelische Autor, der sich auf eine direkte Begegnung mit der Bevölkerung in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten einlässt. Amos Oz und David Grossman haben es vor ihm getan. Doch seither sind Jahrzehnte vergangen, in denen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit unerbittlich aufeinanderfolgten. Erste und zweite Intifada, Libanonfeldzug und Gazakrieg, Raketenbeschuss und Siedlungsbau sowie die jüngst ausgebrochene Welle der Gewalt haben zu einer Situation geführt, der viele Israeli nur noch mit massiver Verdrängung zu begegnen vermögen. Wie seinerzeit schon David Grossman hat nun auch Nir Baram beschlossen, diese Mauer der Verdrängung zu durchbrechen und die Verhältnisse beidseits der Grünen Linie persönlich in Augenschein zu nehmen. Entstanden sind auf dieser Erkundungsreise 12 grossangelegte Reportagen, die im Verlauf des letzten Jahres unter dem Titel «Walking the Green Line» in der israelischen Tageszeitung «Haaretz» publiziert wurden. Mit einem Prolog und einem Epilog versehen, sind sie dieser Tage nun auch als Buch in deutscher Übersetzung bei Hanser in München erschienen. Unbestechlicher Beobachter Mit dem Titel «Im Land der Verzweiflung» setzt die deutschsprachige Ausgabe allerdings einen Akzent, der im Original bewusst vermieden wird. Nir Baram hat sich so vorurteilsfrei wie nur irgend möglich auf die Reise gemacht und in seinen Texten lediglich wiederzugeben versucht, was er gesehen und gehört hat. Äusserungen des Mitleids, der Empörung oder auch der Kritik versagt er sich weitgehend. Die Leser sollen sich selbst ein Urteil bilden über die Zustände, in denen die Menschen in Ostjerusalem, Gaza und den übrigen Palästinensergebieten nun schon seit bald 50 Jahren leben müssen. Dass der Autor beim Schreiben in erster Linie an israelische Leser gedacht hat, macht die Lektüre seiner Reportagen für Aussenstehende nicht immer einfach. Anmerkungen oder ein erklärender Apparat wären da zweifellos hilfreich gewesen. Doch auch wem die letzten Feinheiten israelischer Politik verborgen bleiben, wird von der Lektüre beeindruckt sein. Nir Baram ist ein unbestechlicher Beobachter, und er schont weder sich noch RONEN ZVULUN / REUTERS Von Klara Obermüller Ein jüdischer Siedler blickt von fern auf das Dorf Duma in der West Bank. Nir Baram suchte die direkte Begegnung mit den besetzten Gebieten. sein Gegenüber. Ganz nah geht er an die neuralgischen Stellen heran und weicht auch politisch brisanten und heiklen Begegnungen nicht aus. Seine Gesprächspartner findet er in allen politischen Lagern. Es sind Vertriebene der Kriege von 1948 und 1967 genauso darunter wie alteingesessene Kibbuzbewohner, radikale Siedler ebenso wie ortsansässige Bauern, Politiker, die von einem Grossisrael träumen, ebenso wie Friedensaktivisten, die sich für ein gewaltfreies Nebeneinander der beiden Völker in dem einen Land einsetzen. Ihre Lebensbedingungen sind so unterschiedlich wie ihre politischen Überzeugungen. Einig sind sie sich eigentlich nur in einem einzigen Punkt: So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Die Hoffnungen, die das Oslo-Abkommen geweckt hatte, sind zerschlagen, die Friedensbemühungen gescheitert. Die Verheissung einer Zwei-Staaten-Lösung ist zur leeren Rhetorik verkommen. Niemand glaubt mehr daran. Eine Alternative ist keine in Sicht. Wenn die Worte fehlen Es ist ein hohes Verdienst des Autors, dass er sich trotz Mutlosigkeit und Verzweiflung auf der einen, Gleichgültigkeit und Zynismus auf der andern Seite vor Verurteilung und Schuldzuweisung hütet. Und auch davor, Lösungsvorschläge zu präsentieren, an die ohnehin niemand mehr glaubt. «Ich habe mich auf diese Reise gemacht», sagt er, «um herauszufinden, wie das Land wirklich aussieht, in dem ich bis an mein Lebensende bleiben werde.» Diese Haltung eines scheinbar unbeteiligten Beobachters, der doch mit jeder Faser seines Ichs an diesem heilig- unheiligen Land hängt, hält er über den ganzen Bericht hinweg durch. Er tut es in der Überzeugung, dass nur radikale Offenheit gegenüber den Ängsten und Verletzungen auf beiden Seiten der Grünen Linie die Ursachen aufzudecken vermag, die zu der so heillos verworrenen Lage im Nahen Osten geführt haben. Dass uralte Kränkungen und wechselseitige Vorurteile sich auf das Zusammenleben der beiden Völker ebenso verheerend auswirken wie der Raketenbeschuss auf israelische Wohngebiete oder der Bau der mittlerweile über 700 Kilometer langen Sperranlage, macht der Text auf jeder Seite deutlich. An zwei Stellen allerdings stösst auch Nir Barams so hart erkämpfte Unparteilichkeit an ihre Grenzen: dann, als er dem Vater des von seinen Peinigern bei lebendigem Leibe verbrannten Palästinenserjungen gegenübertreten muss, und dann noch einmal, als ihm Bilder uralter Olivenbäume gezeigt werden, die bei einem Vergeltungsakt der israelischen Armee zerstört worden waren. «Ich habe nichts mehr zu sagen», heisst es da nur noch. Der Autor weiss, wie hohl jedes Wort des Trostes oder der Betroffenheit in einer solchen Situation tönen würde. Ihm bleiben nur Scham und stumme Trauer, die er alsbald wieder hinter professioneller Nüchternheit zu verbergen sucht. Gerade deshalb aber gehören die beiden Szenen zu den stärksten Passagen im Buch überhaupt. Sie lassen schlagartig die ganze Absurdität und Unlösbarkeit des Konflikts aufscheinen, und man spürt am eigenen Leib den Schmerz, der dem Autor beim Schreiben dieser Reportagen ein ständiger Begleiter gewesen sein muss. ● 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie 100 Jahre nach seinem Tod ist Franz Marc neu zu entdecken – auch dank Texten seiner Frau LebenundMalenzwischen MachismoundSchwermut Wilfried F. Schoeller: Franz Marc. Eine Biografie. Hanser, München 2016. 400 Seiten, 32 Abb., Fr. 37.90. Maria Marc: «Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen.» Mein Leben mit Franz Marc. Hrsg. von Brigitte Rossbeck. Siedler, München 2016. 192 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Die blauen Pferde von Franz Marc dürften selbst Kunstbanausen ein Begriff sein. Auf Postern dekorieren sie Zimmerwände. Doch Franz Marc, der am 4. März 1916 im Ersten Weltkrieg bei Verdun mit nur 36 Jahren fiel, ist weit mehr als seine blauen Pferde und Rehporträts. Zum hundertsten Todestag legt der Literaturwissenschafter Wilfried F. Schoeller eine neue Marc-Biografie vor, und erstmals gibt es ausserdem das Leben Franz Marcs aus der Sicht seiner Ehefrau Maria Marc erzählt. Brigitte Rossbeck, die im vergangenen Jahr auch eine grosse Marc-Biografie verfasst hat, erstellte aus zehn existierenden Schriftstücken eine Lesefassung. Gründe genug, den Einladungen zu einer versprochenen Neuentdeckung des Künstlers zu folgen. Zaudernder Gestalter Dabei gilt es zunächst, ihn von Klischees zu befreien. Viel Pathos ist nach seinem Tod beschworen worden, nicht zuletzt auch begünstigt durch Franz Marcs eigene Schriften über eine Kunst, die mit schweren Begriffen wie «Schöpfung», «Glaube», «Paradies» operiert. Die spirituelle Verankerung rückte Marcs Arbeiten in eine süssliche Ecke. Hinzukommen seine «Briefe aus dem Feld» und andere Essays, in denen er den Krieg begrüsste – Ansatzpunkt später auch für Versuche, ihn in braune Ideologien einzugemeinden; der «heroische» Tod als Soldat passte da gut hinein. Franz Marcs bisweilen krude Sinnkonstruktionsversuche erhalten in den Biografien erstmals eine Kulisse, vor der sich der Farbenzauberer nüchterner betrachten lässt. Spannend ist dabei vor allem die Kriegszeit. Schon die Historikerin Brigitte Rossbeck zeigte Widersprüche; Marcs Kriegseuphorie etwa mündete in Verbitterung. Mit Schoellers Darstellung wird nun noch deutlicher, dass der zuvor unpolitische Franz Marc nicht national dachte, sondern europäisch. An seiner «Verirrung» ändert das nichts: Marc rechtfertigte das «Blutopfer» als notwendige «Reinigung» und sehnte sich nach der Wiedergeburt des idealistischen Typs. Doch zunächst zeigt Schoeller den 1880 geborenen jungen Akademiestudenten in München von seinen Anfängen her. Als melancholischer Zauderer wirft 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 FRANZ MARC MUSEUM, KOCHEL AM SEE Von Anja Hirsch Ein keineswegs leidensfreies Dreiecksverhältnis : Franz Marc mit seinen zwei Liebschaften Maria Franck und Marie Schnür am Ufer des Kochelsees, 1906. er die vom Vater tradierten alten Maltechniken ab und zerstört oft selbstkritisch das Eigene. Erweckungserlebnisse sind Reisen nach Paris, die Bilder Van Goghs – und nicht zuletzt mütterliche Frauen, zeitweise drei gleichzeitig. Zwischen «Machismo und Schwermut» reift ein Künstler heran, der die Akademie abbricht, es halbherzig mit einer Lithographieschule versucht und sein Hauptwerk in nur einem halben Jahrzehnt produziert; ein Naturliebhaber, der paradoxerweise die technikgläubigen Futuristen schätzt und Kandinskys abstrakte Bilder gegen Anfeindungen schützt. Mit Kandinsky löst er den Avantgarde-Krach im eigenen «Blaue Reiter»Projekt auf und ist plötzlich umtriebiger Gestalter der Kunstszene – erst in München, dann in Berlin; radikaler Individualist, aber vernetzt. Wie passt da seine eigene Kunst hinein? Für Schoeller ist Franz Marc einerseits ein «Maler der Stille», der erste anatomische Abbildstudien mit Stippvisiten im Berliner Zoologischen Garten verbindet. Andererseits sieht er ihn als Methodiker, der ein System schaffen will. Im Tier sucht er das Urbild. Anima und Animalisches, Seele und Wildes, wachsen in seinen Bildern zusammen. Populäre Theorien wie die von Rudolf Steiner prägen ihn. Vom Komponisten Schoenberg übernimmt er die positive Ummünzung des Begriffs «Dissonanz» und überträgt ihn auf Farben. Schoeller, auch DöblinBiograf, zeigt, was Marc mit den Literaten verbindet; etwa mit Alfred Döblins Tendenz der Entpersönlichung. Er bindet die Inhalte aus zahlreichen Korre- spondenzen in die Zeit ein und pointiert sie zu grossen Narrativen, die bis heute interessieren: Generationenkonflikt, Beziehungskonflikt, innere Dramen, die sich in Marcs Werken spiegeln, hier lustvoll und genau analysiert. Die bekannten Entwicklungsstadien vom Klein- zum Grossformatigen, vom Mensch zum Tier, vom Abbilder zum Abstrakteur bleiben erkennbar, sind aber mit reichlich Widersprüchen versehen. Die Stimme der Frau Einblick in Franz Marcs innere Zerrissenheit gewährt auch Maria Marc. Von den Biografen oft zitiert und kritisch beleuchtet, liegt hier der Reiz weniger darin, Neues zu entdecken. Charmant aber ist der schwärmerisch-nüchterne Tonartenwechsel ihrer Erinnerungen. Maria Marc, gestorben 1955, war nicht nur energische Nachlasshüterin, sondern selbst Künstlerin. Noch Anfang der zwanziger Jahre erlernte sie im Weimarer Bauhaus Weben und Färben. Diese Zeit ist hier nicht Thema. Dafür ihre Rolle als Frau und Tochter am Gängelband, die sich freizuschwimmen versucht. Sie liefert den Subtext zu der berühmten Fotografie, die Franz Marc mit seinen beiden Frauen, alle drei nackt, auf dem «Tränenhügel» der Alm am Kochelsee zeigt – keineswegs eine leidensfreie Libertinage. Mit Sachverstand beschreibt sie Franz Marcs Ausdruckskämpfe. Ihre wichtige Rolle im Krieg als Briefpartnerin, die Kontrapunkte zu den Irrungen ihres Mannes setzt, kommt hier leider zu kurz. Dennoch ist sie endlich als eigenständige Stimme hörbar. ● Biografie Michael Ende wollte für das Kind im Menschen schreiben. In Deutschland als Erwachsenenautor verkannt, wird er in Japan von allen Generationen geachtet Birgit Dankert: Michael Ende. Gefangen in Phantásien. Lambert Schneider, Heidelberg 2016. 312 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 21.90. Von Sieglinde Geisel Michael Ende steht – zusammen mit Otfried Preussler und James Krüss – für die Erneuerung der deutschen Kinderliteratur in der Nachkriegszeit. Als er 1957 mit «Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer» begann, befand sich der knapp dreissigjährige Autor in einer aussichtslosen Situation: Weder als Darsteller noch als Theaterautor hatte er nach der Schauspielschule Erfolg. Für den unsteten Bohémien sei «Jim Knopf» ein «Befreiungsschlag» gewesen, ein spielerisches Schreiben ohne jede Absicht, so Birgit Dankert in ihrer Biografie. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass sich Michael Ende mit seinem Erstling an die Spitze der deutschen Kinderliteratur schreiben würde: 1961 erhielt er für Jim Knopf den Deutschen Jugendbuchpreis. Als Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende hatte der 1929 geborene Michael Ende in der NS-Zeit erlebt, was Ausgrenzung heisst – ein Motiv, das er in seinen Kinderbüchern vielfältig variiert. Die Schule im Dritten Reich sei «der grösste Schock» seines Lebens gewesen, so der schlechte Schüler Ende: Er sei sich vorgekommen «wie ein in sich zurückgestauchtes Kind». Auch die Schule als Zwangsanstalt kennt man aus seinem Werk. Birgit Dankert, die für die Biografie nicht nur in Archiven recherchiert, sondern auch Weggenossen von Ende inter- viewt hat, beschränkt sich nicht auf die drei Klassiker, denen Ende seinen Weltruhm verdankt: «Momo» und «Die unendliche Geschichte» neben «Jim Knopf». In prägnanten Zusammenfassungen erschliesst Dankert auch Endes viele Erzählungen, Gedichte und Schauspielstücke, die sich an ein erwachsenes Publikum richten. Von Kinderpsychologie, Pädagogik oder Jugendschrifttum wisse er nichts, betonte Ende: «Ich schreibe für das Kind in uns allen.» Michael Ende sah sich nicht als Kinderbuchautor, er war ein All-AgeAutor, bevor es den Begriff gab. Dass er von der Kritik nicht ernst genommen wurde, hatte ihn zeitlebens bekümmert. Er könne nichts zum geplanten Jubiläumsband zu Michael Endes 65. Geburtstag beitragen, schreibt etwa Marcel Reich-Ranicki 1994, ein Jahr vor Endes Tod: «Grund: Das Werk Michael Endes ist mir nicht bekannt.» Birgit Dankert beleuchtet diese Verwerfungen ebenso wie die Kinderliteraturdebatten der 1970er Jahre, als Ende von linker Seite Eskapismus vorgeworfen wurde: Statt Kinder zur Beschäftigung mit der politischen Realität hinzuführen, biete er ihnen die Flucht in die Phantastik an. Gerade damit sei Ende für die Kinderliteratur zukunftsweisend gewesen, so Dankert: «Er bediente sich des Zeitgeistes, um ihn zu überspringen.» Schreiben und Leben waren für Ende auf untergründige Weise verbunden, so jedenfalls lässt sich sein Unvermögen in finanzieller Hinsicht interpretieren: 1988 war der Auflagenmillionär mit sieben Millionen D-Mark verschuldet. Er habe nicht mit Geld umgehen können und THOMAS & THOMAS DenZeitgeistüberspringen Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer traten auch im Fernsehen auf, hier in den 1970ern in der Augsburger Puppenkiste . habe dies auch nicht gewollt, vermutet ein Weggefährte. Schliesslich zielte Endes Gesellschaftskritik etwa in «Momo» gerade auf die Macht des Geldes ab. Eine gewisse Scheu legt Birgit Dankert gegenüber der spirituellen Dimension an den Tag, die Endes Werken die gedankliche Tiefe verleiht. Michael Ende selbst hat etwa Momos Begegnung mit der Todesfigur Meister Hora als «Initiation» bezeichnet. Seine Beschäftigung mit der Anthroposophie und in späteren Jahren auch mit okkulten Praktiken wird nur gestreift, ausführlicher kommt seine Beziehung zu Japan zur Sprache, die durch seine japanische Ehefrau befördert wurde. In Japan gibt es ein MichaelEnde-Museum, und 1988 erschien dort eine erste Biografie. Hier steckte er nicht in der Kinderbuchecke fest, sondern wurde in einem Atemzug mit Autoren wie Böll und Grass genannt. ● Gesellschaft Der männliche Elternteil rückt verstärkt ins Interesse der Forschung Renaissance der Väter Victor Chu: Vaterliebe. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 320 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 25.90. Von Walter Hollstein Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Väter abgedankt. Nicht unbedingt so sehr in der sozialen Wirklichkeit. Aber umfänglich in den Wissenschaften und dann zunehmend im Zeitgeist. Vor allem in den achtziger Jahren feierte ein bestimmter Feminismus die Familie ohne Vater. Aber bereits zuvor hatte die Entwicklungspsychologie den Vater entsorgt und das Dogma formuliert, dass die Förderung des Kindes exklusiv Aufgabe und Leistung der Mutter sei. Den Vätern wurden als Folge nur noch alimentatorische Funktionen zugewiesen, das heisst: finanzielle Leistungen, um den Lebensunterhalt des Kindes zu sichern. Solchem hält Victor Chu, seines Zeichens Diplompsychologe, sein Buch «Vaterliebe» entgegen. Was ein Plädoyer für die Wichtigkeit des Vaters sein soll, ist allerdings nur eine schlecht geschriebene Biografie: Chu hüpft von einer persönlichen Episode zur nächsten. Der Erkenntniswert des Buches bewegt sich auf niedrigstem Niveau, und garniert wird das Ganze mit einer Vielzahl appellativer Banalitäten. Zum Beispiel: «Auch wir Männer verdienen Achtung und Respekt.» Chu ist offenbar entgangen, dass es seit rund einem Dutzend Jahren eine machtvolle Renaissance des Vaters gegeben hat. Das verwundert nicht weiter, weil der Autor weder die Standardwerke der zeitgenössischen Väterforschung zur Kenntnis nimmt noch den Tatbestand, dass es seit geraumer Zeit so etwas wie eine Männerforschung gibt. Beide bele- gen eindrücklich: Ein absenter Vater ist eine lebenslange Quelle von Traurigkeit, Ärger, Verbitterung und Scham. Es gibt einen klaren Zusammenhang von Vaterpräsenz und gesunder Entwicklung des Sohnes auf der einen Seite und von Vaterabsenz und der hohen Gefahr von Scheitern auf der anderen. Allerdings dräuen schon neue Probleme. Statistiken belegen, dass junge Männer zunehmend gar nicht mehr Vater werden wollen. Die amerikanische Psychologin Helen Smith hat das kürzlich als Protest gegen die zunehmende gesellschaftliche Entwertung des Männlichen interpretiert – in Chus oberflächlichem Buch sucht man selbstredend vergebens nach Reflexionen über diese erschreckende Sachlage. ● Walter Hollstein ist emerit. Professor für Politische Soziologie und hat mehrere Bücher zu Genderfragen publiziert. 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Musik Jodeln lernen ist im Trend – seit den 1990ern boomt die Neue Schweizer Volksmusik Der Ländler nach Wysel Gyr Dieter Ringli, Johannes Rühl: Die Neue Volksmusik. Siebzehn Porträts und eine Spurensuche in der Schweiz (mit CD). Chronos, Zürich 2015. 362 S., Fr. 41.90. Von Corinne Holtz Das Alphorn und der Jodel sind zum Inbegriff der Schweizer Volksmusik geworden, die Tracht gilt als uralter Schmuck der ländlichen Bevölkerung. Alles Mythos, weiss der Musikethnologe Dieter Ringli zu belegen. Das Trachtenwesen entstand wie die Ländlermusik am Anfang des 20. Jahrhunderts und war zuerst ein städtisches Phänomen. Im Zuge der Heimatschutzbewegung wurde es in den 1930er-Jahren in den Bäuerinnenschulen Pflicht, Tracht zu tragen. So kam die Tracht, meistens neu erfunden, aufs Land. Das Alphorn seinerseits wurde im 19. Jahrhundert nur für Touristen geblasen, etwa auf der Rigi und im Berner Oberland. Die Popularisierung dieses beinahe vergessenen Instruments trieb der Eidgenössische Jodlerverband in den 1920er-Jahren voran. Wer über Volksmusik schreibt, muss zuerst Licht ins Dunkel ihrer Instrumentalisierung bringen und Musikgeschichte auch als Sozialgeschichte verstehen. Das ist das vielleicht grösste Verdienst der beiden Autoren, die für ihre Darstellung auf die pionierhafte Aufarbeitung durch Dieter Ringli sowie auf die lebendige Praxis der neuen Schweizer Volksmusik zurückgreifen können. Deren Blüte beginnt in den 1990erJahren. «Überalterung, Imageverlust und allgemeines Desinteresse» machen der traditionellen Volksmusikszene zu schaffen, während Wysel Gyr, Ländlerpapst des Schweizer Fernsehens und Sympathisant der Rechtsaussenpolitik, seine letzten Sendungen moderiert. Die Zeit ist reif für Veränderungen, nebst der World Music kommt auch die «eigene» Musik auf den Prüfstand. In der Innerschweiz etwa bricht der Schwyzerörgeli- und Klarinettenspieler Markus Flückiger auf. «Dirty Ländler» heisst eine wegweisende CD von 1994, während die erste Volksmusikwoche in Arosa junge Formationen zusammenbringt, die die Traditionalisten das Fürchten lehren. Wo sich fünfzig Jahre nichts bewegt hat, blasen jetzt Gruppen wie pareglish und Hujässler zum Aufbruch. Inzwischen hat sich die Szene etabliert. Ob Re-Interpretation oder Neukomposition, ob Improvisation oder Retrospektive: Alles ist erlaubt. Der Heimatzwang ist der Befreiung gewichen, Festivals wie «Alpentöne» und «Stubete am See» sind Sammelbecken einer erfrischend heterogenen Szene, von der zwölf prominente Vertreter und fünf Vertreterinnen im zweiten Teil des Bandes zu Wort kommen. Wo aber tatsächlich Innovation stattfindet und wo nicht – darüber schweigen die Autoren. Ist die mehrheitlich brave Ästhetik der neuen Volksmusik, auch in der Transformation in die sogenannte E-Musik, ein Tabu? ● Das amerikanische Buch Folgenreiche Diagnose: eine Geschichte des Autismus Ihr Donald war kein normaler Bub. Diese Einsicht wurde mit jedem Monat eine grössere Belastung für Mary und Beamon Triplett. Donald war ohne Zweifel intelligent. Mit zwei Jahren konnte er bereits das ganze Alphabet aufsagen – vorwärts und rückwärts. Doch die Anhänglichkeit eines Kindes zeigte er nie. Und wenn die Eltern merkwürdige Gewohnheiten wie das endlose Drehen von Topfdeckeln unterbrachen, reagierte Donald mit extremen Wutanfällen. Im ländlichen Mississippi der 1930er-Jahre gab es für Kinder wie ihn nur eine Zukunft: die Einweisung in eine geschlossene Anstalt für Geisteskranke. Doch die Tripletts gingen einen anderen Weg. Sie suchten und fanden Rat beim Kinderpsychologen Leo Kanner. Nach jahrelanger Forschungsarbeit prägte der gebürtige Wiener einen Begriff für Donalds Zustand: Autismus. fegruppen, dann mächtige Interessenverbände wie «Autism Speaks» und schliesslich neue Probleme schuf. Diese gipfelten in jüngst wieder aufgeflammten Verschwörungstheorien, wonach Autismus durch Impfstoffe und Quecksilber ausgelöst werde. Donald Triplett, dem als erstem die Diagnose «Autismus» gestellt wurde, steht am Anfang von John Donvans und Caren Zuckers (unten) Buch. Mit dieser Episode beginnen John Donvan und Caren Zucker ihr Buch In a kalen Elite an, und auch deshalb fand der Sohn Zugang zu Schulbildung und später eine Lebensstellung in der Bank im Besitz der Familie. (Crown Publishers, 670 Seiten). Auf medizinische Themen spezialisiert, nutzen die prominenten Fernsehjournalisten die Kunstgriffe ihres Metiers und machen anhand persönlicher Schicksale die Geschichte des Autismus in Amerika begreifbar. Die Autoren sind aus ihren eigenen Familien mit Entwicklungsstörungen vertraut und breiten ihre aufwendigen Recherchen in einer anschaulichen und klischeefreien Sprache aus. Die Geschichte, die sie schreiben, präsentiert sich als hürdenreicher Wandel von Ausgrenzung hin zu Verständnis und gesellschaftlicher Akzeptanz. Dennoch erscheint Donald Triplett als Glücksfall. Seine Eltern gehörten der lo- Aber selbst Mary Triplett musste jahrelang mit dem üblen Verdacht leben, Donalds Leiden als gefühlskalte «schlechte Mutter» verursacht zu haben. Mit dieser These brachte der Psychologe Bruno Bettelheim 1967 eine ganze Generation betroffener Amerikanerinnen in Verruf. Doch Mary Triplett wies die haltlose Diagnose Bettelheims zurück. Und sie war damit nicht allein. Seit Anfang der 1960er-Jahren traten Eltern als Fürsprecher ihrer autistischen Kinder auf, fanden einander und fochten gemeinsam für Bildungsmöglichkeiten und eine umfassende Erforschung der Störung. Donvan und Zucker zeichnen nach, wie dieses Engagement erst kleine Selbsthil- Different Key: The Story of Autism 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2016 Diese nie bewiesenen Ideen benutzen Eltern seit den 1990er-Jahren als Grundlage für eine Art Selbstermächtigung: Aus einer schweigenden und ausgegrenzten Minderheit wurden lautstarke Aktivisten, die an Gerichten und in den Medien um Geld, Macht und Aufmerksamkeit kämpften. Wie die «New York Times» in einer positiven Rezension beiläufig bemerkt, passt dies in einen breiteren, von der Bürgerrechtsbewegung angestossenen Trend in den USA: Ausgelöst von gesellschaftlicher Ablehnung, wurden in den letzten Jahrzehnten auch Aids und Brustkrebs zu identitätsstiftenden Faktoren. Hat «In a Different Key» ein Manko, dann den Verzicht auf eine Untersuchung auch dieses Phänomens. Lehrreich und anregend ist das Buch jedoch zweifellos. Auch deshalb, weil Donvan und Zucker den Ausgang ihrer «Autism Story», der Thematik angemessen, offen lassen. Am Ende des Buches tritt der greise Donald Triplett in seinem Kleinstadt-Idyll auf. Einen Kontrast dazu bilden Autismus-Betroffene, die keine Fürsprecher mehr wollen und sich aus dem Schatten von Eltern oder Therapeuten zu lösen versuchen. Unter dem Schlagwort «Neuro-Diversität» verlangen sie nicht mehr Akzeptanz, sondern eine Ausweitung des Begriffs «Normalität» auf ihren Zustand. ● Von Andreas Mink Agenda Rock The Who im Konzert und privat Agenda März 16 Basel Dienstag, 1. März, 19 Uhr Ursula März: Für eine Nacht oder fürs ganze Leben. Moderation: Katrin Eckert, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Reservation: 061 261 29 50. Dienstag, 15. März, 19.30 Uhr Sabriye Tenberken: Die Traumwerkstatt von Kerala. Lesung und Gespräch, Fr. 20.– (Museumseintritt). Kulturhaus Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Reservation: 061 206 99 96. Bern Freitag, 4. März, 19.30 Uhr Leta Semadeni: Tamangur. Lesung. LibRomania Buchhandlung, LänggassStrasse 12. Info: www.libromania.ch. «Get Yer Ya-Ya’s Out!» von den Rolling Stones als eines der besten Livealben in der Rockgeschichte. John Entwistle, der Bassist, war der versierteste Musiker in der brachialen Truppe. Ein Schnappschuss zeigt ihn in seinen jungen Jahren, wie er zu Hause übt, auf einer selbstgebauten elektrischen Gitarre, zu Füssen seiner braven Mutter, die aussieht, als wäre sie einer Serie von Dennis Potter entlaufen. Ein Bild, welches das Image der Band aufs Schönste konterkariert. Manfred Papst Ben Marshall mit Pete Townshend und Roger Daltrey: The Who. Prestel, München 2015. 320 Seiten, Fr. 52.–. Bestseller Februar 2016 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Rita Falk: Leberkäsjunkie. DTV. 272 Seiten, Fr. 23.90. Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben. Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90. Camilla Läckberg: Die Schneelöwin. List. 448 Seiten, Fr. 22.90. Tommy Jaud: Sean Brummel: Einen Scheiss muss ich. Fischer. 320 Seiten, Fr. 23.90. Michael Robotham: Der Schlafmacher. Goldmann. 416 Seiten, Fr. 22.90. Donna Leon: Endlich mein. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90. Paula Hawkins: Girl on the Train. Blanvalet. 448 Seiten, Fr. 18.90. Stephen King: Basar der bösen Träume. Heyne. 768 Seiten, Fr. 33.90. Bruno Ziauddin: Bad News. Nagel & Kimche. 208 Seiten, Fr. 22.40. Pedro Lenz: Der Gondoliere der Berge. Cosmos. 144 Seiten, Fr. 31.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.90. Ildikó von Kürthy: Neuland. Wunderlich. 400 Seiten, Fr. 23.90. Arno Renggli: Der Hund starb – was er nicht überlebte. Wörterseh. 168 Seiten, Fr. 18.90. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 28.90. Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre. NZZ Libro. 184 Seiten, Fr. 37.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 24.90. Richard David Precht: Erkenne die Welt. Goldmann. 576 Seiten, Fr. 33.90. Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90. Dagmar Hemm, Andreas Noll: Die Organuhr. Gräfe & Unzer. 128 Seiten, Fr. 17.90. M. Schmieder, U. Entenmann: Dement, aber nicht bescheuert. Ullstein. 224 S., Fr. 28.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 16.02.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Lenzburg Dienstag, 1. März, 19.15 Uhr Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Lesung und Gespräch, Moderation: Christine Lötscher, Fr. 18.–. Aargauer Literaturhaus, Bleicherain 7. Reservation: 062 888 01 40. Montag, 7. März, 19.15 Uhr Monique Schwitter: Eins im Anderen. Lesung und Gespräch, Moderation: Heinrich Vogler, Fr. 18.–. Aargauer Literaturhaus (siehe oben). KEYSTONE Sie galten als eine der wildesten britischen Bands in den späten sechziger Jahren: The Who rebellierten mit krudem Rock, der den Punk vorwegnahm, gegen das Establishment. Auf der Bühne zertrümmerten sie bisweilen ihre Instrumente. Das war ein Teil der Show, gewiss. Doch Sänger Roger Daltrey, Gitarrist Pete Townshend, Bassist John Entwistle und Drummer Keith Moon waren authentische Figuren. Sie spielten sich die Seele aus dem Leib. Mit Hits wie «My Generation» sowie mit der Rockoper «Tommy» schrieben sie Musikgeschichte. Der Konzertmitschnitt «Live at Leeds» gilt zusammen mit Zürich Mittwoch, 2. März, 20 Uhr Zora del Buono: Gotthard / Das Leben der Mächtigen. Lesung und Gespräch. Buchhandlung Hirslanden, Freiestr. 221. www.buchhandlung-hirslanden.ch. Mittwoch, 2. März, 19.30 Uhr Peter Stamm: Weit über das Land. Buchpremiere, Moderation: Eva Wannenmacher, Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Kartenreservation: 044 254 50 00. AYSE YAVAS COLIN JONES / IDOLS Sonntag, 20. März, 11 Uhr Rolf Lappert: Über den Winter. Lesung und Gespräch, Moderation: Alexander Sury, Ausstellungseintritt. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. Info: www.zpk.org. Dienstag, 8. März, 19.30 Uhr Bettina Spoerri: Herzvirus. Buchpremiere. Volkshaus, Stauffacherstr. 60. Reservation: www.volkshausbuch.ch. Donnerstag, 10. März, 19.30 Uhr Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. Lesung und Gespräch, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Bücher am Sonntag Nr. 3 erscheint am 27.03.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. Februar 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 o r d n o a c s c s i e r l a a b FREITAG 11.03.2016 20 UHR IM FESTSAAL us r a o t u t ies y n . a l g s t o ) G w tt. l ta fo n r. E r e c e n M isch s e v n c h N o m a talie s o fI ni d i e u n e n R et au l i t a e t a e u find r g S n D e . a . e m altun ( u i n anst se Ver Di e Ticketpreise: 25.–/15.– (mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank, AHV/IV oder mit Legi) Spezialangebot: 75.– (inkl. 2-Gänge-Menü) Unser ganzes Programm finden Sie auf kaufleutenliteratur.ch. Besuchen Sie uns auch auf Twitter und Facebook. Gebührenfreie Ticket-Reservation: KAUFLEUTEN.CH Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF für sämtliche «Kaufleuten-Literatur»-Veranstaltungen. Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring
© Copyright 2024 ExpyDoc