Hausarzt mit Leib und Seele - gossauer-info

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Hausarzt mit Leib und Seele
Obwohl die Praxisübergabe mehr als zehn Jahre zurückliegt, interessiert und verfolgt
Dr. Christoph Meili (79) noch immer gesundheitspolitische Entwicklungen. Kritisch, aber auch
mit viel Verständnis für die heutige Situation der Hausärzte, berichten der ehemalige Grütner
Hausarzt und seine Frau Christine aus ihrer über 35-jährigen Tätigkeit in eigener Praxis.
Text: Daniela Clerici; Fotos: zvg
Aufgewachsen ist Christoph Meili mit standen. Unbewusst und
drei Brüdern im dazumal sehr länd- rückblickend seien diese
lichen Witikon, am Zürcher Stadt- Jahre prägend gewesen:
rand, als Sohn eines Juristen – der Die Vereinfachung des
Grossvater väterlicherseits war lange Alltags, das FokussiertJahre Pfarrer hier in Gossau – und sein aufs Wesentliche,
einer von Wald ZH stammenden aber auch das geringere
Mutter, Tochter eines Webereifab- soziale Gefälle und der
rikanten. Seine frühe Kindheit war Mangel an Ablenkung
geprägt vom einfachen Leben der förderten die SolidariKriegsjahre. Bestimmt hatten sei- tät in der Gesellschaft.
ne Eltern grosse Ängste, als kleiner Vermutlich nachhaltiJunge erlebte er diese Zeit aber eher ge Vorbedingungen für
als abenteuerlich und arbeitsreich. Christoph Meilis berufRationierung herrschte. Fleisch liche Entwicklung. Bald
kam selten auf den Tisch, Familie einmal war klar, dass er
Meili wurde ein Garten zum Kar- mit und für Menschen
toffelanbau zugeteilt, Kohle war tätig sein möchte.
Mangelware. Tannenzapfen oder
Sägemehl dienten als Brennstoffer- Beruflicher
satz. Christine Meili, aufgewachsen Werdegang
In der Gymnasialzeit
«Verstehen Sie mich nicht
reifte der Wunsch, einmal als Arzt tätig zu sein.
falsch: Ich bin nicht der
So entschied sich ChrisMeinung, früher war
toph Meili für das Stualles besser. Es sind einfach dium der Humanmedimeine Beobachtungen
zin. Generell waren die
und Gedanken zum
1950er- und 1960er-Jahre erst geprägt vom AufWandel der Zeit.»
bau, danach führten die
in Lenzburg, erinnert sich zum Bei- rasanten Entwicklungen
spiel, dass sie mit der Schulklasse in Wissen und Technik
tageweise in einer Konservenfab- zu Spezialisierungen in
rik ausgeholfen hat oder restliche sämtlichen Gebieten.
Früchte von abgeernteten Äckern Meilis Interesse lag aber
einsammeln durfte. Die Mutter ver- im disziplinübergreifenrichtete wie viele Frauen Heimarbeit, den Denken. Die ProSpezialisten
während die Männer an der Grenze fessoren,
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DR. MED. CHRISTOPH MEILI
in ihrem Fach, unterstützten und ne spätere Ehefrau Christine kennen, 1972 erfolgte der Umzug ins neu
förderten mit auch allgemeinme- eine engagierte, offene und unkom- überbaute Familienquartier von
dizinischem Denken diese Eigen- plizierte Kinderkrankenschwester. Architekt W. Silberschmidt, ebenschaft. Dies wurde erleichtert durch Die Eheschliessung erfolgte 1963.
falls an der Böschacherstrasse. Eine
persönliche Kontakte aufgrund der Im Rahmen der Suche nach einem Einlieger-Praxis mit grosszügigem
im Vergleich zu heute wesentlich Praxisstandort erfuhr das Ehepaar Wohnhaus war fortan der Lebenskleinere Studentenzahlen.
Meili im Jahr 1969 von Dr. H. J. Rey mittelpunkt der Familie, und bis
Nach sieben Lernjahren in verschie- von der frei werdenden Praxis Dr. heute geniesst das Ehepaar die famidenen Spitälern in den Fachgebieten Marx in Grüt. Die familiäre Verbun- liäre Atmosphäre in bester NachbarInnere Medizin, Chirurgie, Frau- denheit mit der Gemeinde mag den schaft.
enheilkunde, Kindermedizin und Anstoss gegeben haben, der MögNebenfächern sowie dem Doktorat lichkeit zu folgen. So zog die Familie Alltag der Familie Meili
erhielt er den Titel «Facharzt Allge- mit den drei Kleinkindern 1969 ins Die Praxis im eigenen Haus diktiermeinmedizin FMH».
Grüt. In nach heutigem Massstab te den Familienalltag. Und mit tatAnfang der 1960er-Jahre lernte engen Platzverhältnissen lebte die kräftiger Unterstützung seiner Frau
Christoph Meili an einem von ei- junge Familie an der Böschacher- sowie weiterer, langjähriger Praxisnem Studienfreund organisierten strasse, mit Wohnung und Praxis in assistentinnen wuchs der Patientenstamm rasch an. Für die drei Kinder,
Konzertbesuch in der Tonhalle sei- einem Mehrfamilienhaus.
zwei Söhne und eine Tochter, war
das Quartier mit all den jungen Familien perfekt.
In die elterlichen Fussstapfen wollte
keines der Kinder treten. Erst vor
ein paar Jahren gestand einer der
Söhne, dass ihn gerade die Anrufe
zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas
abgeschreckt hätten.
Neben seiner Tätigkeit als Hausarzt
hatte Christoph Meili noch weitere
Ämter und Aufgaben inne: als Schularzt, Mitglied der Primarschulpflege,
Arzt des Samaritervereins und später auch Vorstandsmitglied des Spitex-Vereins. Als Heimarzt der PfleAuf einer Familienwanderung mit den drei Kindern, Anfang der 1970er-Jahre. geheime Grüneck und Rosengarten
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sowie als Praxisärzte-Vertreter im
Betriebsausschuss der Spitalkommission Wetzikon warteten spannende Aufgaben auf ihn.
Christine Meili absolvierte eine
Weiterbildung, damit sie Haushaltshilfen ausbilden und diesen einen
Lehrplatz anbieten konnte. Lange
Jahre war sie aktiv in der reformierten Kirchenpflege. Mit der ihr eigenen Kreativität initiierte und leitete
sie über 10 Jahre die wöchentliche
Beschäftigungstherapie-Gruppe
im Rosengarten und im Grüneck.
Die Teilnahme am Gossauer Weihnachtsmarkt war das jährliche Highlight, und noch heute finden sich
liebevoll selbstgestaltete Alltagsgegenstände im Haushalt Meili.
Später, als die Kinder ausgeflogen
waren, kamen zu den bereits als
Familie genossenen Wanderungen
auch Reisen ins Ausland dazu – oft
verbunden mit Themen aus dem
Bereich Medizin oder Kultur. Mit
50 Jahren beschloss Christoph Meili, das Orgelspiel zu erlernen, und
geniesst heute noch Unterricht. An
Zuhörer konnte er sich bis heute
nicht gewöhnen. Einzig ein Ständchen zum 80. Geburtstag seiner Frau
Christine in der Kirche Sitzberg soll
die Ausnahme bleiben.
Verschiedene Arbeiten aus der Beschäftigungstherapie-Gruppe.
Ständchen an der Orgel in der Kirche Sitzberg zum Geburtstag seiner Frau,
assistiert von der Tochter.
Hausarzt mit eigener Praxis, beinahe ein 24-Stunden-Job mit wenig Freizeit. Haben Sie nie mit einer Spezialisierung geliebäugelt?
Christoph Meili: «Ich bin nicht
so glücklich mit der Bezeichnung
Hausarzt. Dieser Begriff klingt etwas banalisierend. Ich verstand
meine Aufgabe eher als «persönlicher Arzt»: Idealerweise als unabhängige erste Ansprechperson bei
medizinischen Problemen, beratend und in Zusammenarbeit mit
dem Ratsuchenden, wenn möglich
über längere Zeit und so bezie-
hungsaufbauend. In diesem Kon- Christine Meili: Als Ehefrau eines
text und in der damaligen Zeit war Allgemeinmediziners mit eigener
es eine wunderschöne Aufgabe, be- Praxis im Hause, Mutter und mitreichernd und sehr vielfältig. Und arbeitende medizinische Praxisasgerade in dieser Funktion konnte sistentin war es zur damaligen Zeit
ich meine Stärken im disziplinü- auch einfach üblich, dass nicht gross
bergreifenden Wissen und Denken zwischen Privat- und Praxisleben
ausschöpfen. Dazu gehörte aber unterschieden wurde.»
auch die belastende Erfahrung von
Grenzen im Umgang mit schweren Hausärztemangel – immer wieder
Lebens- und Krankheitsschicksa- ein Thema
len und dem Gefühl eigenen Unge- «Wie in vielen Bereichen sind auch
hier die Gründe vielschichtig und
nügens.»
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erzeugen Wechselwirkungen. Zum
einen hat sich unsere Gesellschaft
stark gewandelt: Wissen, Technik,
Technologien, Medizin, und ganz
allgemein die Lebensumstände haben sich in den letzten Jahrzehnten
besonders rasant entwickelt, was
zwangsläufig zu Spezialisierungen
führen musste. Und dies nicht nur
in der Medizin. Unsere Gesellschaft
ist mobiler, schnelllebiger, konsumfreudiger und vernetzter geworden
– langfristige Beziehungen zu einem
persönlichen Arzt erscheinen nicht
mehr zwingend. Die gute Bildung
und die Informationsfülle kann bei
Ratsuchenden Verunsicherung hervorrufen. Und da wir alle nur das
Beste wollen, ist der Gang zum Spezialisten naheliegend, das Vertrauen
in die Arbeit des persönlichen Allgemeinmediziners leidet. Zum anderen aber bleibt der Mensch in seiner
sinnlichen und seelischen Wahrnehmung grundsätzlich derselbe.
So braucht er in seiner persönlichen
Lebenswirklichkeit auch Anlaufstellen, die das Ganze im Auge haben. Dass in dieser Beziehung sich
zunehmend ein Mangel abzeichnet, Heute bleibt Zeit für Ausflüge und
wird von vielen Menschen schmerz- Wanderungen, die man geniesst.
lich empfunden. Die Bezeichnung
«Grundversorger» impliziert meiner telbarem Zusammenhang mit der
Meinung nach etwas die Haltung aktuellen Störung des Befindens
«Lieferant, Belieferer zur Befriedi- stehen müssen. Es ist zu bedenken,
gung von Grundbedürfnissen». Die dass ein persönlicher Arzt die grosse
Grundlage zur Feststellung von Ver- Mehrheit der Aufgaben ohne Beizug
änderungen ist aber Zeit. Zeit, nicht eines Spezialisten oder einer Klinik
in Minuten, sondern durch gemein- lösen kann.
sam erlebte emotionale und intel- Verstehen Sie mich nicht falsch:
lektuelle Erfahrungen. Somit wären Ich bin nicht der Meinung «früher
wir wieder beim persönlichen Arzt, war alles besser». Es sind einfach
der den Ratsuchenden schon länger meine Beobachtungen und Gekennt. Zuhören heisst auch aus Er- danken zum Wandel der Zeit. Ich
fahrenem schöpfen, zwischen den verstehe die jungen Ärzte und vor
Zeilen lesen, Zeichen deuten. Dies allem auch Ärztinnen, die sich in
erfordert Zeit, aber nicht unbedingt Praxisgemeinschaften zusammenim Jetzt. So können Veränderungen schliessen. Die zeitliche Präsenz
erkannt werden, die nicht in unmit- und das wirtschaftliche Risiko kön-
72 nen gemeinsam getragen, ein fachlicher Austausch einfacher ermöglicht, der gesellschaftliche Wandel
und die Anspruchshaltung aufgefangen werden. Andererseits kann
die unabhängige persönliche ArztPatient-Beziehung unter Umständen strapaziert werden. Gespannt
werde ich die Entwicklungen weiterverfolgen.»
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