Seite 1 Herbstwind pfeift um die Bäume, unter meinen Füßen knistert das Laub. Weit vor mir sehe ich noch die Umrisse meiner Klassenkameraden. Alle laufen meiner Lehrerin hinterher, die unsere Klasse in den Gemeindewald führt. Die Zeltausrüstung auf meinem Rücken scheint mit jedem Schritt schwerer zu werden. Aus irgendeinem Grund laufe ich heute langsamer als sonst, aber weder die Lehrerin, noch einer meiner 11 Klassenkameraden scheint dies zu bemerken. Die Sonne senkt sich über dem Wald und ihr Licht taucht die Landschaft in ein kräftiges Rot. Ich bleibe stehen und genieße den Moment. Doch er hält nicht lange an. Schon nach kurzer Zeit sind auch die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Wald verschwunden, und mit der einbrechenden Dunkelheit wird es kühl. Scheiße. Wer auch immer auf die bescheuerte Idee gekommen ist, an Halloween im Wald zu campen, den sollte man in den dunkelsten Keller dieses Landes sperren und ihn – Halt. Es war meine Idee… Als wir vor einer Woche in der Schule Ideen für eine Halloweenfeier gesammelt haben, fiel mir der kleine Zelt- und Grillplatz im Wald ein, und im hellen und warmen Klassenzimmer schien es mir auch noch eine gute Idee zu sein. Doch jetzt, hier im kalten und dunklen Wald habe ich meine Meinung geändert. Aber die Erkenntnis kommt zu spät. Langsam wird mir auch klar, warum niemand mein Fehlen bemerkt: Meine Lehrerin ist zu beschäftigt mit den anderen, und die wollen es nicht bemerken. Normalerweise bin ich kein ängstlicher Typ, aber vorsichtshalber suche ich in meinem Rucksack nach der Taschenlampe. Ganz unten finde ich sie schließlich und knipse sie an. Im Schutz ihres Scheines stapfe ich weiter durch den Wald… Einige Zeit später treffe ich endlich am Zeltplatz ein. Die Erste, die das bemerkt, ist meine Lehrerin: Sie läuft mit bösem Blick auf mich zu und schnauzt mich an, wie ich mich denn so weit von der Gruppe entfernen hätte können. Ich antworte ihr, dass ich mich genauso gut auch verlaufen hätte können und jetzt irgendwo alleine herumirren würde. Auf die Frage, ob ihr das lieber wäre, verzieht sie das Gesicht, entschuldigt sich und geht zurück zu den Anderen. Ich laufe ihr hinterher. In der Zwischenzeit brennt in der Grillstelle ein Lagerfeuer und die anderen bauen ihre Zelte auf. Als sie mich sehen, schreit einer: „Oh, er hat sich doch nicht verlaufen – Schade!“ Ein anderer schaut ihn böse an. „Jaaa ok – ich bin ja schon still…“ Ich setze meinen Rucksack ab und baue mein Zelt auf. Ein paar Minuten später stehen alle Zelte und wir setzen uns mit Seite 2 Würstchen ans Lagerfeuer. Unsere Lehrerin kündigt den „Höhepunkt“ des Ausfluges an: Sie wird uns eine Gruselgeschichte vorlesen, die sie durch einen Schreibwettbewerb in einer der unteren Klassenstufen erhalten hat. Ein leises, genervtes Stöhnen geht durch die Menge, wahrscheinlich haben sich alle das gleiche gedacht. Das wird „bestimmt“ der Höhepunkt des Abends – Nicht. Sie zerrt ein Stapel Papier aus ihrem Rucksack, rückt die Brille zurecht und beginnt zu lesen. Wärend sie von fliegenden Kürbismonstern, wildgewordenen Fledermäusen, und schwarzen Katzen erzählt, werden meine Augenlider schwer. Das Licht des Lagerfeuers wird schwächer, die Stimme der Lehrerin leiser, und schließlich schlafe ich ein… Ein Knall. Ich schrecke hoch. Etwas rennt weg. Mit einem Mal bin ich hellwach. Ich weiß weder wie lange ich geschlafen habe, noch warum mich ich die anderen nicht geweckt haben. Ich schaue mich um, doch außer mir selbst und meinem Zelt sehe ich niemanden. Die Lichtung ist leer. Meine Klassenkameraden, die Lehrerin, die anderen Zelte – Alles weg. Ich fange an einem meinem Verstand zu zweifeln, das kann nicht wahr sein. Ich reibe mir die Augen - schaue nochmal - und wieder bietet sich mir das gleiche unheimliche Bild der leeren Lichtung. Das Lagerfeuer ist zusammengefallen und glimmt nur noch schwach vor sich hin. Ich laufe zu meinem Zelt und suche meine Taschenlampe, um irgendetwas sehen zu können – finde sie schließlich – drücke einmal, zweimal, dreimal – nichts. Die Taschenlampe bleibt dunkel. Ersatzbatterien habe ich keine, andere Taschenlampe auch nicht – aber irgendwie brauche ich Licht. Wütend werfe ich die Lampe auf den Boden. Nach kurzem Suchen fällt mir ein Campingkocher in die Hände, den ich für den absoluten Notfall eingepackt habe. Zwar keine Taschenlampe, aber besser als nichts. Luftzufuhr zu, Gas auf, anzünden. Einen Augenblick später erleuchtet eine große, flackernde Flamme die Nacht. Um mich herum rauscht ein leichter Wind in den Blättern, irgendwo im Wald knacken Ästchen – wahrscheinlich von vorbeihuschenden Tieren – neben mir rauscht die Flamme des Campingkochers. Sonst ist es still. Egal wie sehr ich mich anstrenge noch etwas anderes zu hören, ich höre nichts anderes. Nicht mal ein Kichern von meinen Klassenkameraden, die sich hinter irgendwelchen Büschen versteckt haben und es jetzt bestimmt sehr witzig finden, dabei zuzuschauen wie ich mir den Arsch abfürchte. Die nächsten drei Minuten gehen für den Versuch drauf, mich Seite 3 davon zu überzeugen, dass da wirklich jemand hinter den Büschen sitzt. Doch nach gefühlten 1000 Büschen erklärte ich den Versuch für gescheitert und sehe ein, dass ich wirklich alleine bin. Während ich noch überlege, ob ich das ganze als die ultimative Rache oder als ein abgefucktes Halloweenmysterium halten soll, spaltet ein spitzer Schrei aus der Ferne die Nacht. Ich breche meine Überlegungen ab, ordne die Situation als Halloweenmysterium ein und renne in die Richtung, aus der der Schrei kam. Schon nach ein paar Metern weiß ich nichtmehr, wo genau im weiten Unterholz ich mich befinde. Die Bäume sehen alle gleich aus, auch ist die improvisierte Gaslaterne beim Rennen nicht gerade die hellste Lichtquelle – genauer gesagt sehe ich garnichts. Und so kommt es, wie es kommen musste, ich stolpere über einen Ast, schlage mit dem Kopf auf und – Filmriss. Als ich wieder zu mir komme, bin ich in einem Krankenhaus. In einem großen, wenig eingerichteten Raum. Die Umgebung lässt sich in ein paar Worten zusammenfassen: Blauer PVCBoden, kahle weiße Wände und Decke, auf der rechten Seite ein großes Fenster, auf der linken Seite ein Wandschrank und die Zimmertür, und mittendrin mein Bett, ebenfalls mit weißen Kissen und Decken. Beleuchtet wird das ganze von einer Neonröhre an der Decke, die leicht flackert. Draußen geht gerade die Sonne auf. Ich schaue an mir herunter. Mein Bein, das vom Sturz immer noch weh tut, ist in eine Kunststoffform fixiert und hochgelagert. Mein Blick streift weiter im Zimmer umher – irgendwas stört mich hier – aber ich komme nicht drauf was es ist. Also warte ich ein paar Minuten ab. Plötzlich bemerke ich es: Es ist ruhig. Zu ruhig. Normalerweise laufen doch auf dem Flur immer hektisch Leute umher, die zu irgendwelchen Patienten müssen, und um diese Zeit sollte der Geschirrwagen vom Frühstück zu hören sein. Aber ich höre weder das eine, noch das andere – als ob ich alleine im Krankenhaus wäre. Also richte ich mich auf, löse mein Bein aus der Fixierung, stehe auf, humple mit meinem schmerzenden Bein zur Tür, öffne sie und stehe wenig später auf einem leeren Flur. Die Tür des Nachbarzimmers steht offen. Ich betrete es und schaue mich um, doch es gleicht meinem exakt. Bis auf den Punkt, dass es nicht bewohnt ist. Jedoch lehnen ein paar Krücken am Wandschrank. Ich nehme sie an mich und laufe mit ihrer Hilfe wieder auf den Flur. So ist die Fortbewegung mit gebrochenem Bein gleich viel angenehmer Seite 4 und schneller. Mein Weg führt mich weiter den Flur entlang, vorbei an den anderen Zimmern. Allesamt sind sie leer, und ihre Tür steht offen. Nur die Tür des letzten Zimmers auf dem Flur ist geschlossen. Ich klopfe – nochmal – keine Antwort. Also öffne ich die Tür und stehe in einem Zimmer, welches garnicht ins bisherige Bild passt. Die bisherigen Zimmer waren allesamt peinlich genau aufgeräumt und bis ins letzte Detail geputzt. In diesem Zimmer liegen Decken kreuz und quer auf dem Boden und auf dem Bett prangt ein großer Blutfleck. Ich trete etwas näher, und plötzlich habe ich das Gefühl, als ob jemand hinter mir steht. Langsam und unsicher drehe ich mich um – und starre in ein paar tiefschwarze Augen. Vor Angst lasse ich meine Krücken fallen. Vor mir steht eine Frau. Mit zerzausten Haaren, faltigem Gesicht, blutigen Klamotten und den besagten leeren Augenhöhlen. In ihrer Hand hält sie ein Messer, das sie langsam anhebt und auf mich richtet. Zuerst kommt mir der Gedanke zu schreien, doch beim Überdenken stelle ich fest, dass es nichts bringen würde. Also setze ich alles auf eine Karte, greife blitzschnell nach den Krücken und schlage damit einmal kräftig auf die Frau ein. Sie fällt zur Seite und ich nutze die Gelegenheit. So schnell mich meine schmerzenden Füße tragen renne ich den Flur entlang zum Aufzug. Doch noch bevor er ankommt, hat mich die Frau eingeholt und reißt mich zu Boden… „HEY!!! WACH AUF!!! KOMM!!! DU MUSST AUFWACHEN!!!“ Langsam kommt das Licht in meine Augen zurück. Der erste Blick gilt meiner Umgebung. Ich bin am Zeltplatz. Es ist Tag, schätzungsweise 9 Uhr. Der zweite Blick gilt dem Mädchen, das mich gerade geweckt hat. Als mein Blick klarer wird, erkenne ich sie als eine Klassenkameradin. Sie hat sich über mich gelehnt und zerrt mit einer Hand an meiner Jacke. Ich richte mich auf und erkenne, dass ich wohl schlecht geträumt haben muss. Zwischen all ihrem hektischen Zerren, Stöhnen und verzweifelt vor sich hin reden höre ich immer wieder Satzteile mit „die anderen“, „Lehrerin“ und „tot“ heraus. Nach einer mir ewig vorkommenden Zeit schaffe ich es, sie zu beruhigen und zu fragen, was denn los sei. Da zieht sie ihre andere, bluttriefende Hand unter der Jacke vor, und noch bevor sie mir antworten kann, bricht sie zusammen. Mit einer Mischung aus Entsetzen, Unverständnis und Trauer starre ich sie an, bis mich eine Hand an der Schulter berührt. Ich blicke hoch. Schräg hinter mir steht meine Lehrerin und starrt mich wie in Trance an. „Was ist passiert?“ Seite 5 frage ich sie. Doch anstatt mir zu antworten, zückt sie ein Messer…
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