chronische Trauer - trauerleben

Krisensituationen im Umfeld von
Tod und Demenz
Tod und Trauer
„Ich habe keine Angst vor dem
Tod, ich möchte nur nicht dabei
sein, wenn´s passiert.“
Woody Allen
I. Einführung
Begriff:
• Geht auf althochdeutsches „truren“ zurück (= „die Augen
niederschlagen“ und „den Kopf sinken lassen“)
• Im Englischen: to mourn von „menen“ (nach etwas sehnen,
jemanden bedauern/trösten/kondolieren, erinnern)
Symptome:
Schmerz, Traurigkeit, Sehnsucht, Verzweiflung, Wut, Angst,
Panik, Zorn, Hass, Liebe, Depression, Weinen, Betäubung,
sozialer Rückzug, Verwahrlosung, erhöhter Alkoholkonsum,
Konzentrationsstörungen, Unruhe, Halluzinationen,
Beeinträchtigung des Denkens, Vergesslichkeit,
Schlafstörungen, Kopfschmerzen.
Worum trauert man?
Tod von Freunden, Verwandten oder
Haustieren, auch Trennungen aller Art, z. B.
Haus
Heimat
Arbeit
II. Trauermodelle
Trauer nach Freud:
• Auftreten der Trauerreaktion bei Verlust eines
Liebesobjekts bzw. eines libidinös (d. h. mit
Liebesenergien) besetzten Objekts.
• Aufgabe des Trauernden: Liebesenergien vom verlorenen
Objekt zu lösen, damit sie auf andere Liebesobjekte
gerichtet werden können.
• Ablösungsprozess ist so genannte Trauerarbeit;
Trauernder zunächst fast ausschließlich mit Erinnerungen
an Verstorbenen beschäftigt (Präokkupation). Gefühle,
die mit Trauernden verbunden werden, werden
übersteigert erlebt. Desensibilisierungsprozess.
• Trauer bewältigt, wenn vollständige Lösung vom
Verstorbenen.
Trauer nach Archer/Parkes:
• Nach Evolutionstheorie: Trauer müsste längst
„ausgestorben“ sein (kräfteraubend).
• Aber: Soll soziale Beziehungen stabilisieren (ständige
Neuordnung wäre ebenfalls sehr kräftezehrend; Beispiel:
Clanführer des Stammes).
• Grund der Trauer: Trennung von Bindungsfigur bzw.
Verlust einer Bindung
• Aufgabe: Realisierung des Verlusts und Lösung der
Bindung.
• Zusammengefasst: Trauer ist der Preis der Liebe.
Trauer nach Roland Kachler („Meine Trauer wird dich
finden“):
• Der Tod beendet das Leben eines geliebten Menschen,
nicht aber die Liebe zu ihm.
• Nicht das „Loslassen“ ist das Zentrum der Trauer, sondern
die Liebe und der Wunsch, diese in einer veränderten
Form weiterleben zu können.
• Ziel der Trauerarbeit ist es, im Äußeren die Abwesenheit
des geliebten Menschen zu realisieren und zu akzeptieren,
im Inneren jedoch eine neue Beziehung zu ihm zu finden
(Finden eines sicheren Ortes für den Verstorbenen).
III. Sterbephasen
und
Trauerphasen
Sterbephasen nach Kübler-Ross
1. Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen und Isolierung
2. Phase: Zorn
3. Phase: Verhandeln
4. Phase: Depression
5. Phase: Zustimmung
1.
Sterbephasen nach Kübler-Ross
Einzelheiten zu den Sterbephasen:
1. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen und die Isolierung
(„Nicht ich, das kann unmöglich mir passieren!“)
Verdrängung, Leugnung, Schock, Schutz vor
emotionaler Überlastung
2. Zorn
(„Warum ausgerechnet ich?“)
Zorn und Wut als Ventil
3. Verhandeln (meist kurze Phase)
Anerkennung des Todes, dennoch Verhandeln mit
Gott oder dem Schicksal, den Ärzten
Sterbephasen nach Kübler-Ross
4. Depression
(„Das Spiel ist aus“)
Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, Lebensüberdruss,
Trauer um die Verluste von Familie, Freunden, Reue
über Versäumnisse
5. Zustimmung
(„Es ist gut so“)
Zustimmung, Zulassen von Trauer und Traurigkeit, frei
von vorangegangenen Gefühlen, Abgrenzung, aber hohe
Sensibilität für die Umgebung
Trauerphasen nach Kast
Verena Kast hat die Sterbephasen
folgendermaßen auf den Trauerprozess
übertragen:
1. Nicht-Wahrhaben-Wollen
2. Aufbrechende Emotionen
3. Suchen und Sich-Trennen
4. Neuer Selbst- und Wertbezug
IV. Gesellschaftlicher, familiärer
und kultureller Hintergrund
Gesellschaftlicher, familiärer und kultureller
Hintergrund
Gesellschaftlicher Hintergrund
• erhebliche Verlängerung der Lebenserwartung (Anfang
20. Jahrhundert – Frauen 48,3 und Männer 44,8 Jahre;
heute: Frauen 82,1 und Männer 76,6 Jahre);
• Veränderung Lebensqualität, dadurch kommt Tod im
normalen Leben kaum noch vor;
• Tod kann „aufgeschoben“ werden (Medizin);
• Änderung Sterbeort (Hospize, Krankenhäuser,
Altenheime);
• Tod wird verdrängt („Jung und gesund“).
Gesellschaftlicher, familiärer und kultureller
Hintergrund
• „Hospitalisierung, Privatisierung und
Individualisierung von Tod, Trauer und Sterben“
(Lammer, Trauer verstehen, S. 15).
• Auf der anderen Seite: öffentliche Trauer (jüngst
um den Eisbären Knut – Online-Kondolenzbuch)
oder auch „Globalisierung der Trauer“ (Trauer um
die Tsunami-Opfer).
Gesellschaftlicher, familiärer und kultureller
Hintergrund
Sozio-kulturelle Faktoren, die Trauer beeinflussen:
• Kulturkreis,
• Nationalität,
• Religion,
• Persönlichkeit des Trauernden,
• Alter und Geschlecht,
• berufliche Position und finanzieller Status,
• soziales Umfeld.
V. Trauerhierarchie
Trauerhierarchie
• Gibt es eine Trauerhierarchie („Who is
the biggest loser?“)?
VI. Trauerarbeit
Trauerarbeit
Trauerarbeit
= Prozess der kognitiven Auseinandersetzung mit der
Wirklichkeit des Verlusts, bei der der Trauernde sich
immer wieder mit Ereignissen vor und während des Todes
beschäftigt, sowie mit der Erinnerung an den
Verstorbenen. [Desensibilisierung; Lösung der Bindung]
• Trauernder muss aktiv werden und eine Reihe von
Aufgaben lösen.
Trauerarbeit
Yorick Spiegel nennt folgende Aufgaben, die der Trauernde zu
lösen hat:
• Auslösung der Trauer,
• Strukturierung,
• Anerkennung der Realität,
• Entscheidung zum Leben,
• Expression unakzeptabler Gefühle und Wünsche,
• Bewertung des Verlustes,
• Inkorporation des Verstorbenen,
• Chance der Neuorientierung.
Kürzer
gefasst:
Aufgaben der
Trauerarbeit
1. Die Realität des
Verlusts
anerkennen
2. Den Schmerz
der Trauer
durcharbeiten
3. Sich in einer
Wirklichkeit
zurechtfinden, in
der der/die
Verstorbene fehlt
4. Dem/der
Verstorbenen einen
neuen Platz geben
und sich dem
Leben wieder
zuwenden
VII. Trauerbegleitung
„Sie hat einen
guten
Trauerberater“
Aus den Aufgaben
der Trauerarbeit
ergeben sich die
Aufgaben der
Trauerbegleitung:
Aufgaben der
Trauerbegleitung
1. Die Realität des
Verlusts für die
Hinterbliebenen
wahrnehmbar machen
2. Die Hinterbliebenen
den Schmerz der Trauer
durchleben lassen
3. Die Neuorientierung
erleichtern in einer
Welt, in der der/die
Verstorbene fehlt
4. Den Trauernden
ermutigen, sich guten
Gewissens wieder dem
Leben zuzuwenden
Einige einfache Regeln für die Unterstützung von Trauernden:
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einfach zuhören;
Hilfe nicht nur anbieten, sondern auch tatsächlich erbringen;
nicht versuchen, „alles wieder gut zu machen“ (= Leid lindern);
Trauer nicht vergleichen;
nicht urteilen;
Klischees und Plattitüden meiden („Es wird alles wieder gut! Vielleicht war es besser
so!“);
Schweigephasen oder Weinen aushalten;
erkannte Veränderungen benennen, auf dem Weg bestätigen;
Kleine Gesten (Karten, Blumen, Kuchen, Kekse);
Unangenehme Behördengänge abnehmen;
Fest-, Jahres-, Geburts- und Todestage gemeinsam begehen oder anrufen/schreiben.
Das Problem der mangelnden Selbstfürsorge
Trauernde sorgen nicht genug für sich, weder
gesundheitlich noch in sonstiger Hinsicht. Deshalb
ist im Rahmen einer Trauerbegleitung darauf zu
achten (z. B.: bei Partnerverlust Massage;
regelmäßige Arztbesuche; Urlaub).
Soweit Trauerbegleitung in einer Institution angeboten wird,
müssen auf folgende Punkte besonderes Gewicht gelegt werden:
• Strukturierung und Kanalisierung der Trauer;
• Zielbestimmung (vgl. Beispiel Müller/Schnegg, Der Weg der
Trauer, S. 175);
• Delegation (an Therapeuten) bei erschwerter Trauer.
Trauerbegleiter müssen sich darüber hinaus bei ihrer Tätigkeit
der folgenden Punkte bewusst sein:
• Beweggründe für Begleitungswunsch;
• Begegnung mit eigenem Tod/eigener Trauer.
Trauerbegleitung kann angeboten werden von
• Selbsthilfegruppen und Vereinen,
• Institutionen im Beratungs- und Betreuungsbereich, z. B.
Wohlfahrtsverbände, kirchliche Einrichtungen,
• Hospizen,
• Psychotherapeuten/-innen,
• Bildungsträgern,
• Bestattungsinstituten,
• Fachkräften und Einzelpersonen.
Möglichkeiten der Unterstützung:
• Trauerbegleitung im Zusammenhang mit der Bestattung
→
Bestattungsunternehmen
• Trauercafés (= Treffen in geschütztem Rahmen, Austausch mit
Personen, die Gleiches erlebt haben, gemeinsames Essen und Trinken
und Gespräche über Verstorbene)
→
Selbsthilfegruppen
• Offene Gesprächsgruppen (= Treffen an festgelegten Daten)
→
Hospize, Bildungsträger, Fachkräfte, Institutionen im
Beratungs- und Betreuungsbereich
• Geschlossene Gesprächsgruppen (= fester Rahmen, feste Gruppe,
Anleitung)
→
wie vor, zusätzlich: Psychotherapeuten
• Wochenendseminare (= fester Rahmen, Anleitung)
→
wie vor
• Einzelgespräche (Beratung und Begleitung einer einzelnen Person)
→
Psychotherapeuten, Fachkräfte und Einzelpersonen
VIII. Trauerrituale
Trauerrituale
Rituale in der Trauer sind sehr hilfreich, da sie strukturierend
und stabilisierend wirken. Es gibt eine Reihe von Ritualen,
die schon seit Generationen geübt werden, wie z. B.:
• Friedhofsbesuche;
• Todestage und Geburtstage begehen;
• Kerzen anzünden;
• Baum pflanzen;
• Gedenksteine aufstellen;
• Bilder aufstellen, „Altar“ einrichten;
• Briefe schreiben, Gespräche mit Verstorbenen führen.
Streuselkuchen = Beerdigungskuchen
Andere Rituale
Weitere Rituale können sein (vgl. Pauls/Sanneck/Wiese,
Rituale in der Trauer, 2003):
• Zusammenkunft mit Freunden und Familienangehörigen,
bei der über Verstorbenen eine Geschichte oder Anekdote
erzählt wird;
• Anfertigung eines Abschiedsbuchs;
• Schlüsselkasten (Gefühle der Trauer sollen „erschlossen“
werden; Weiterschicken des Schlüssels);
• Stoffspirale, auf der Baumscheiben verteilt sind;
• Aufstellen von Sonnenliegen mit Namen Verstorbener
(Symbol für leeren Platz).
Öffentliche Trauer
• Zur Erinnerung: „Hospitalisierung, Privatisierung und
Individualisierung von Tod, Trauer und Sterben“.
• Dem steht in gewisser Weise Trauer in der
Öffentlichkeit entgegen (führt zu Trauer als
„gemeinschaftliches, soziales Tun“, s. Müller/Schnegg,
Der Weg der Trauer, S. 101). Beispiele:
Trauerkleidung;
Traueranzeige;
Gedenkgottesdienst;
Grabgestaltung.
IX. Dauer/Verlauf von Trauerprozessen
Verlauf der Trauerreaktion (nach George A. Bonanno)
Verlust
15-50 %
geringe Trauer
50-85 %
normale Trauer
erstes Jahr
Zweites Jahr
85 % geringe
Trauer
15% chronische
Trauer
●Depression
●Angststörung
Verhaltensmuster (nach George
A. Bonanno, The other side of sadness )
Kennzeichnend ist:
1. Die Trauernden verfallen in
eine chronische Trauer.
Der Zustand bessert sich auch langer
Zeit nicht; die Wiederaufnahme des
täglichen Lebens ist kaum möglich
(ca. 10 %)
2. Die Trauernden leiden
stark unter dem Verlust, aber
nur einige Monate/ein Jahr (s.
o.)
Danach sind sie psychisch gesund, ein
Rest von Schmerz bleibt (ca. 10 %)
3. Die Trauernden verspüren
Schmerz und Traurigkeit,
aber nur kurze Zeit (so genannte Resilienz; plastisches
Beispiel für Resilienz: die
Fähigkeit eines Stehaufmännchens, sich aus jeder
Lage wieder aufzurichten).
Die Trauer beeinträchtigt nicht die
Fähigkeit, das Leben wie bisher zu
bewältigen (ca. 80%). Wichtig ist,
dass die Stärke besteht, den Verlust
ohne anhaltende Beeinträchtigung zu
überstehen. Dies bedeutet aber nicht,
dass nicht dennoch ein gewisser Rest
von Schmerz bestehen bleiben kann.
Notwendigkeit professioneller
Trauerbegleitung
X. Ist professionelle Trauerbegleitung
überhaupt notwendig?
XI. Erschwerende Faktoren für den
Trauerprozess/
chronische Trauer
Erschwerende Faktoren für den
Trauerprozess
• Unterdrückung, Verzögerung, Vermeidung der Trauer;
• besonders traumatisierende Todesumstände;
• eine besonders intensive/komplizierte Beziehung zum
Verstorbenen;
• die Trauer behindernde Lebensumstände;
• weitere unbewältigte Verluste;
• fehlendes soziales Umfeld;
• fehlende persönliche Ressourcen;
• fehlender Zugang zu Hilfesystemen.
Chronische Trauer
Kriterien für chronische/pathologische Trauer
(Vorsicht!):
• Ablösung vom Verstorbenen wird vermieden;
• Verlust oder dessen Bedeutung wird verleugnet;
• ausbleibende oder geringe affektive Reaktion;
• rastlose Überaktivität;
• Symptome einer Depression, posttraumatischen
Belastungsstörung.
XII. Trauer als transformierende
Kraft/Trauer kreativ verarbeiten
These:
„Trauernde leben in einer Seelentiefe, zu der den
meisten Menschen in ihrem Alltag der Weg
versperrt scheint.“ (Pauls/Sanneck/Wiese, Rituale
in der Trauer, S. 11).
Tatsächlich behaupten die meisten Trauernden,
dass sie gerne auf das „traurige Ereignis“
verzichten würden, dass sie aber erst durch dieses
Ereignis zu den („guten“) Menschen wurden, die
sie meinen zu sein (diese Erfahrung wiederum
möchten sie nicht missen!).
Weitere These:
Durch Trauer wird eine immense schöpferische
Kraft freigelegt, die Kunst häufig erst möglich
macht. Viele Künstler waren (sind) eher
melancholische/traurige/ depressive Menschen,
die vom Leben nicht sehr verwöhnt wurden.
„Wir können nicht lange in die Sonne blicken
und wir können dem Tod nicht immer ins Auge
sehen.“