Lesefutter 2015 - Das Fenster in die Literatur Sachsen

Medien und Unterricht 30
LESEFUTTER 2015
Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht
POSITIONEN, PROJEKTE
UND PUBLIKATIONEN
ZUR FÖRDERUNG
DER LESEKOMPETENZ
www.bildung-lsa.de
Medien und Unterricht 30
Lesefutter 2015
Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht
Positionen, Projekte und Publikationen
zur Förderung der Lesekompetenz
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung
Sachsen-Anhalt (LISA)
in Zusammenarbeit mit dem
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V.
Anmerkung:
Die geschlechterdifferenzierende Schreibweise der einzelnen Autorinnen und Autoren in Bezug auf Berufs- und Tätigkeitsbeschreibungen wurde weitgehend beibehalten. Wo aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt wurde, ist stets das
weibliche Pendant mit gemeint. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen zudem die Meinungsäußerung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser dar.
Impressum
Herausgeber:
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung
Sachsen-Anhalt (LISA), Riebeckplatz 9, 06110 Halle
in Zusammenarbeit mit dem
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V.
Thiemstraße 7, 39104 Magdeburg
Titelfoto:
Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“
Redaktion:
Prof. Dr. Paul D. Bartsch
Layout:
Doreen Eckhoff
Druck:
druckhaus köthen GmbH & Co. KG
LISA Halle (Saale) 2015 (1501) – 1. Auflage – 1.600
Inhalt
Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Positionen
Eva Maria Kohl/Alexandra Ritter
Tabubrecher und Wahrheitssprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Michael Ritter
Das Wunderbare von nebenan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Matthias Ballod
„Ich hab dann mal versucht zu Googeln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
André Schinkel
Hinter den Gärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Ralf Langer
Geschichten von Flucht und Beharrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Frank Kirchner
Der neue Fachlehrplan Deutsch am Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Projekte
Frank Kirchner
Vorwärts mit BiSS: Auftakt und erste Entwicklungsschritte zur
gezielten Sprachdiagnostik und Sprachförderung an
allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Bettina Stoçic, Sulamith Fenkl-Ebert, Erika Wielebinski
Lesewelt Halle – da lesen doch welche vor, oder?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Annette Adelmeyer
Gleim-net: social networking im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Sabine Grätz
Scherbenpark. Ein preisgekröntes Buch für den Unterricht
entdecken – auch als Film und Theaterinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Elke Domhardt
Literatur im öffentlichen Raum: Straßenbahngedichte rollen
durch Halle! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Sebastian Caspar
„Zone C“ – ein Buch, das Augen öffnet und
Diskussionen auslöst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Eva Scherf
Mehr Zeit für Träume? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Paul D. Bartsch
Über Zeitschriften niederschwellig einsteigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Jürgen Jankofsky
Autorenbegegnungen – Autorenpatenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Thomas Rackwitz
Intro zum Text „Das Meer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Thomas Rackwitz
Das Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Unzensiert und unfrisiert: Erzählt uns was!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
25 Jahre Deutsche Einheit und. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
25 Jahre Wiedergründung des Landes
Sachsen-Anhalt – Erzählt uns was!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Publikationen
Übersicht der nachfolgend besprochenen Bücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Schulformübergreifende Lektüreempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Lektüreempfehlungen für die Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Autorenverzeichnis dieser Publikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Editorial
Editorial
Lesen gefährdet die Gesundheit… Wie bitte? Ja, tatsächlich, oder genauer: Das
abendliche Schmökern im Bett auf einem aktiv beleuchteten E-Book-Reader beeinflusst den Melatoninhaushalt des Menschen und verschiebt seinen Schlaf-WachRhythmus. Das haben Forscher jüngst in einer Studie herausgefunden: „Die Teilneh1
mer fühlten sich in der Früh matter und weniger erholt.“ Also ehrlich – ich habe als
Kind oft mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen. Und ich erinnere mich,
danach in der Früh oft matter und weniger erholt gewesen zu sein. Damit relativiert
sich das nun festgestellte Gefährdungspotenzial doch erheblich. Aus meiner Sicht
gefährdet Lesen vor allem die Dummheit – als warnender Aufkleber sollte das auf
jedem Buchdeckel prangen. Und von mir aus auch auf der Rückseite des E-BookReaders.
Nun aber zum eigentlichen: Die inzwischen 9. Ausgabe des „Lesefutters“ liegt vor
Ihnen! Und wer mit den Anfängen vergleicht, der wird nicht nur quantitativen
Zuwachs feststellen können: Aus dem anfänglichen Informations- und Rezensionsmedium ist inzwischen eine vielfältige und anregende Publikation rund um das
Lesen, den Umgang mit Literatur und Medien sowie die literarische Bildung in ihrem
Wandel geworden. Letzteren – also den Wandel des Lesens in der digitalen Gesellschaft – hat kürzlich der SPIEGEL zum Titelthema gemacht: „Die Zukunft des Lesens“
(Heft 50/2014). Und bei all den Veränderungen, die da auszumachen sind, bleibt auch
dem SPIEGEL das beruhigende Fazit: „Letztlich stimmt mithin, was Eltern und Lehrer
2
von jeher behaupten: Lesen erweitert den Horizont.“ In diesem Sinne – so hoffen die
Herausgeber des „Lesefutters“ – mögen auch die diesjährigen Beiträge und Empfehlungen wiederum funktionieren. Denn – so lesen wir in der PSYCHOLOGIE HEUTE –
„so wie Meteorologen eine Computersimulation nutzen, um komplexe Vorgänge des
Klimas zu verstehen, helfen Romane, Geschichten und Dramen, die Komplexität des
3
Lebens zu begreifen.“
Im einleitenden Teil POSITIONEN reflektieren Mitherausgeberin Alexandra Ritter
und die inzwischen emeritierte hallesche Professorin Eva-Maria Kohl die politische
Dimension der Kinder- und Jugendliteratur an Beispielen aus den vergangenen viereinhalb Jahrzehnten auf höchst aktuelle und anregende Weise. Michael Ritter ist zu
danken, dass er den zu Unrecht weithin vergessenen Dichter Franz Fühmann, einen
1
http://www.augsburger-allgemeine.de/digital/Forscher-warnen-Licht-von-E-Book-Readern-schadetunserem-Schlaf-id32416922.html (Aufruf: 29.01.2015)
2
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-130754215.html
3
Hänssler, Boris: Die Macht des Gedruckten. In: Psychologie heute, Beltz, Weinheim, März 2015, S. 64.
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Editorial
der bedeutendsten und integersten Literaten der DDR, wieder ins Bewusstsein hebt
und zeigt, dass seine märchenhaften Kindererzählungen durchaus auch heute noch
mit Gewinn im Unterricht gelesen und behandelt werden können. Der Deutschdidaktiker Matthias Ballod, der mit seiner Affinität zur digitalen Medienwelt frischen
Wind in die Lehrerbildung der Martin-Luther-Universität gebracht hat, steuert einen
Aufsatz zu kompetent-reflexiven Internetrecherchen im Unterricht bei, die eben
mehr sind als mal eben so zu googeln. Das hat engen Bezug zu modernen Lehrplanvorgaben, und so ergänzt sich sein Beitrag gut mit dem von Frank Kirchner, der den
neuen Deutsch-Lehrplan für die Gymnasien und Fachgymnasien unseres Landes
vorstellt. Davor widmet sich Ralf Langer, Fortbildungsreferent am LISA, dem Thema
Flucht in der aktuellen Literatur. Zudem würdigt er den Roman „Kruso“, für den Lutz
Seiler (der übrigens in Halle Germanistik studiert hat) im Vorjahr den Deutschen
Buchpreis erhalten hat. Ein paar Kategorien tiefer ist der Georg-Kaiser-Förderpreis
des Landes Sachsen-Anhalt für Literatur angesiedelt – gleichwohl gibt es auch hier
einen verdienten Preisträger für 2014: Sascha Kokot, dessen Lyrik auch im „Lesefutter“ vergangener Jahre rezensiert worden ist. Die Laudatio von André Schinkel ist
selbst ein Stück dichter und höchst lesenswerter Literatur geworden!
Der Mittelteil PROJEKTE bietet einen Rundumschlag, dessen Bogen vom Landesprojekt innerhalb des Förderprogramms „Bildung durch Sprache und Schrift BiSS“ über
die ehrenamtliche Leseinitiative „Lesewelt“ der Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis,
ein social-networking-Projekt des Gleimhauses Halberstadt oder die multimediale
Empfehlung zu „Scherbenpark“ von Alina Bronsky bis hin zu den halleschen Straßenbahngedichten oder einem Gespräch mit dem Autor Christoph Werner zu dessen
Jugendroman „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ reicht. Besonders hervorheben
möchte ich den Beitrag des in Weißenfels geborenen und in Leipzig tätigen Sozialpädagogen Sebastian Caspar, der mit „Zone C“ nicht nur ein wichtiges Buch zum
Thema Crystal Meth geschrieben hat, sondern auch hierzulande sehr aktiv in Schulveranstaltungen mit Jugendlichen über Drogenmissbrauch und Präventionsmöglichkeiten diskutiert.
Die PUBLIKATIONEN schließlich enthalten wie gewohnt ausführliche Hinweise auf
Bücher, die für die Behandlung im Unterricht empfohlen werden können, von Autorinnen und Autoren unseres Landes – die literarische Palette reicht vom Lyrikband
über verschiedene Prosagenres bis hin zum Sachbuch.
Ansonsten ist es wie beim Fußball – nach dem „Lesefutter“ ist vor dem „Lesefutter“:
In unserer kleinen Redaktionsgruppe laufen bereits die Vorüberlegungen für die
Jubiläumsausgabe im Jahr 2016. Sehr gern nehmen wir dazu Ihre Anregungen und
vielleicht sogar auch Ihre Beiträge entgegen. Wir freuen uns darauf!
Prof. Dr. Paul D. Bartsch
LISA Halle
Fachgruppenleiter
Dr. des. Alexandra Ritter
Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg
Institut für Schulpädagogik
und Grundschuldidaktik
Jürgen Jankofsky
Friedrich-Bödecker-Kreis
in Sachsen-Anhalt e. V.
Geschäftsführer
Positionen | Projekte | Publikationen
Eva Maria Kohl/Alexandra Ritter
Tabubrecher und Wahrheitssprecher
Realistische Kinder- und Jugendliteratur von 1970 bis heute
1. Durch das Schnipselgestrüpp
„Mutter sagt nichts. Vater schweigt. Der Fernseher
plappert. Wenn der Fernseher mal nicht lärmt, ist
es still. […] Im Zimmer des Jungen liegen Zeitungen
auf dem Boden. ,Das ist praktischer‘, sagt Vater. Ein
Teppich aus Papier. ,Der kostet nichts.‘ Mutter holt
die Zeitungen aus dem Mülleimer im Hof.“ (Friese/
Duda 2010, o. S.)
Es ist eine von Armut geprägte soziale Wirklichkeit,
die sich zu Beginn des Buches Schnipselgestrüpp
auftut. Die Eltern mit ausdruckslosen Gesichtern,
vor sich hin starrend, und demgegenüber der sinnentleert plappernde Fernseher; ein Parallelismus,
der ein Bild einer Prekariatsfamilie zeichnet, wie es
sie auch in unserer Gesellschaft nicht selten gibt.
Materielle und soziale Armut werden in Bild und
Text offenbar. Die Familienmitglieder scheinen sich
wenig füreinander zu interessieren und auch der
namenlose Junge bleibt in seiner eigenen Welt,
optisch deutlich getrennt von den Eltern
Abb. 1: Friese – Schnipselgestrüpp
(vgl. Abb. 1). Er nutzt die Zeitungen, seinen Teppich
aus Papier, um die ihn faszinierenden Dinge auszuschneiden und die Schnipsel bruchstückhaft
wieder zusammenzusetzen. Damit erschafft er sich
eine fantastische Welt, die zur Zuflucht und zum
Spielraum wird. Am Ende des Buches kann er auch
seinen Vater für dieses Spiel gewinnen und so wird
die Kluft der anfangs fast absoluten Sprachlosigkeit
der Familienmitglieder überwunden und soziale
Gemeinschaft hergestellt.
Dieses Bilderbuch von Julia Friese und Christian
Duda zeigt zum Teil symbolhaft und in poetischer
Sprache soziale Missstände ohne zu werten. Eine
Kindheit wird im Spiegel der Kinderliteratur gebrochen und dennoch sind die realistischen Bezüge
unübersehbar (vgl. Ewers 1995). In diesem Artikel
möchten wir uns mit dem Gegenstand und der
Entwicklung realistischer Kinderliteratur auseinandersetzen und anhand von Beispielen unterschiedliche Formen des realistischen Erzählens für Kinder
vorstellen.
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Positionen | Projekte | Publikationen
2. Realistisch erzählen für Kinder
Kinderliteratur wird oft als intentionale, direkt für
Kinder verfasste Literatur beschrieben. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um die Literatur, die
von Kindern gelesen wird. Ewers unterscheidet die
intentionale Kinderliteratur noch einmal in positiv oder negativ sanktionierte Kinderliteratur. Mit
negativ oder nicht sanktionierter Kinderliteratur ist
Literatur gemeint, die sich vor allem an kommerziellen Interessen auf dem Buchmarkt orientiert,
während man bei positiv sanktionierter Kinderliteratur auch von einem pädagogischen ,Hintergedanken‘ sprechen kann, der in der Literatur zum
Tragen kommt. Es werden pädagogische Ansprüche
und Kindbilder der jeweiligen Zeit auf die Literatur
übertragen (vgl. Ewers 2005, S. 2 ff.).
Auch der größte Teil der realistischen Kinderliteratur lässt sich zur positiv sanktionierten zählen. Zwar
möchte sie ohne idealistische oder phantastische
Überhöhungen die Welt zeigen, so wie sie ist (vgl.
Payrhuber 2011, S. 106). Dennoch hat sie häufig den
pädagogischen Anspruch, politische Verhältnisse
oder geschichtliche Ereignisse Kindern verständlich zu machen und dadurch Meinungsbildung zu
betreiben. Dabei sind es innerhalb der realistischen
Kinderliteratur oft politische Themen, wie der
Umgang mit Macht, die Auswirkung von totalitären
Systemen, Kriegs- und Leidenserfahrungen, Zeitgeschichte und der Umgang mit anderen Kulturen, die
vermittelt werden sollen (vgl. Gansel 2010, S. 91).
Dabei muss man aber feststellen, dass die Kinderliteratur in diesem Zusammenhang nicht statisch
den Veränderungen der Gesellschaft entgegentritt,
sondern auf neue Probleme einer sich verändernden Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen eingeht und nach adäquaten neuen Darstellungs- und
Erzählweisen sucht, die im Folgenden beleuchtet
werden sollen.
3.Realistische Kinderliteratur
im Wandel
„Ausgelöst und beschleunigt durch die innerhalb
der Kinderladenbewegung geführten Diskussionen zur Theorie der antiautoritären Erziehung und
deren Umsetzung in die Praxis, beginnt von 1970 an
eine so stürmische und tiefgreifende Veränderung
im Bereich der Kinderliteratur, des Kinderliedes und
des Kindertheaters, dass man heute im Rückblick
auf die Jahre 1970 bis 1973 von einer einschneidenden Zäsur in der Kinderkultur spricht.“ (Klaus
Doderer 2005, zit. n. Gelberg 2005, S. 19). Neben den
grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen
der BRD in den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren, die mit der Emanzipationsbewegung, Studentenbewegung und antiautoritären
Erziehung nur knapp abgesteckt werden sollen,
verändert sich auch die Beziehung zur Kinderliteratur. Die Kinderliteratur wird gesellschaftlich anerkannter, was sich auch durch die Einrichtung von
Preisen für Kinder- und Jugendliteratur (z. B. Buxtehuder Bulle (1971); Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis (1977)), die Einrichtung von Lehrstühlen
für Kinder- und Jugendliteraturforschung und die
Gründung des mittlerweile renommierten Instituts
für Jugendbuchforschung in Frankfurt am Main
(1963) zeigt; weitere Gründungen folgten. In dieser
Zeit profiliert sich auch die realistische Kinderliteratur als – wie Gansel es bezeichnet – moderner
realistischer Kinderroman (vgl. Gansel 2010, S. 91 ff.;
107 ff.), der in unterschiedliche Subgattungen unterteilt werden kann, die sich zeitlich nacheinander
entwickelt haben, heute aber durchaus nebeneinander und als Mischformen in- und miteinander
existieren und in den folgenden Punkten kurz dargestellt werden. Die Entwicklung der realistischen
Kinderliteratur in der DDR verläuft hingegen etwas
anders. Sie wird im Punkt 3.4 erläutert.
3.1.
Die Anfänge: problemorientierte
Kinder­literatur der BRD in den
1970er Jahren
Mit dem Genre des modernen Kinderromans ab
1970 ist die realistische Kinderliteratur nicht im
zeitlichen Sinne zeitgenössisch, gegenwärtig und
aktuell geworden, sondern in der Art des Erzählens
(vgl. Gansel 2010, S. 108). Bezogen auf den Gegenstand ist mit Kümmerling-Meibauer jedoch ein
Rückschritt zu konstatieren; nämlich hin zur Instrumentalisierung der Kinder- und Jugendliteratur
Positionen | Projekte | Publikationen
im Rahmen politisch-gesellschaftlicher Erziehung
(vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, S. 71). Die Kinderliteratur erhielt nun einen klaren Auftrag: Bereits
die Kleinsten sollten schon von Anfang an mit
politischen Themen in Kontakt kommen und so
zu mündigen Bürgern erzogen werden. Man distanzierte sich deutlich von den Schonräumen, die
den Kindern durch die Literatur geboten wurden.
Vielmehr wollte man Kinder befähigen, Konflikte
und soziale Missstände zu erfassen. Mündigkeit
und Gleichberechtigung sind die zentralen Prinzipien dieser Literatur für Kinder und bleiben auch über
die weiteren Entwicklungen hinweg erhalten.
An dieser Stelle muss natürlich zwischen den
faktischen Lebensbedingungen der Kinder und den
gesellschaftlichen Bildern und Klischees von Kindheit unterschieden werden. Auch wenn wir von realistischer Kinderliteratur sprechen, handelt es sich
um eine Fiktionalität, die durchwirkt ist von den
Bildern und Erfahrungen der AutorInnen und ihrer
eigenen Kindheit. Daher ist es wohl kein Zufall, dass
zunächst die Autorengeneration der in den 1930er
Jahren Geborenen sich der problemorientierten
Literatur zuwendet und möglichst unsentimental,
realistisch erzählen möchte (vgl. Ewers 1995, S. 39).
Mit ihren Werken plädieren AutorInnen wie Peter
Härtling, Christine Nöstlinger und Ursula Wölfel für
die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen. Im Vorwort von Ursula Wölfels Die grauen und
die grünen Felder ist zu lesen: „Diese Geschichten
sind wahr, darum sind sie unbequem: Sie erzählen
von den Schwierigkeiten der Menschen, miteinander zu leben und wie Kinder in vielen Ländern diese
Schwierigkeiten erfahren […]. Wahre Geschichten
haben nicht immer ein gutes Ende. Sie stellen viele
Fragen, und jeder soll die Antwort selber finden. Die
Geschichten zeigen eine Welt, die nicht immer gut
ist, aber veränderbar.“ (Wölfel 1970, 1; zit. n. Gansel
2010, S. 104). Kinder brauchen keinen Schonraum, so
ihre These, sie sind in der Lage sich bereits frühzeitig mit Problemen der Gesellschaft, aber vor allem
auch mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen, und genau das möchte die Kinderliteratur
dem kindlichen Leser zurückspiegeln. Realistische
Kinderliteratur, das sollte dem Leser bewusst sein,
ist immer auch eine Fiktion, die eine Möglichkeit
der Identifikation und Distanzierung anbietet.
Zugrunde liegt der Literatur ein Bild vom Kind, das
als eigenständiges und mündiges Wesen aktiv in
die Wirklichkeit eingreifen kann (vgl. KümmerlingMeibauer 2012, S. 71).
Zunächst ging es inhaltlich noch um Konflikte und
Strukturen der Gesellschaft, die an exemplarischen
Beispielen thematisiert wurden; auch zeitgeschichtliche Themen aus der Perspektive der Beherrschten
gerieten in den Blick mit dem Wunsch nach Abbau
vorurteilsbelasteter Deutungsschemata. Doch bald
wurde den AutorInnen klar, dass die Kinder vielmehr noch ein Bedürfnis nach der Aufklärung von
Problemen und Strukturen innerhalb der Familie,
Schule und der peer group hatten. Die Kinderliteratur wendet sich im Laufe der 1970er Jahre demnach
verstärkt der Darstellung der kindlichen Lebensverhältnisse im Alltag mit den entsprechenden Sorgen
und Nöten zu. Diese werden wenig beschönigend
gezeigt. Im Zuge der Forderung nach realistischen
Darstellungen in der Kinderliteratur wurden auch
fortlaufende neue Tabuthemen in die Kinderliteratur integriert (Gewalt, Tod, Sexualität, Drogen,
Behinderung). Gerade ein Autor wie Peter Härtling
verzichtet an dieser Stelle auf das Happy End zugunsten eines offenen Ausgangs, der ganz entsprechend des gerade gezeichneten Kindbildes aktiv
zum Weiterdenken anregt. Dies ist eine typische
Form des Erzählens der Erwachsenenliteratur, die
hier von Härtling und auch anderen AutorInnen in
die Kinderliteratur übertragen wird.
Es werden zunehmend auch die Veränderungen in
der Familie und in den Familienstrukturen dargestellt – die Mutter geht arbeiten, der Vater bleibt
zu Hause (z. B. Kirsten Boie: Mit Jakob wird alles
anders; Christine Nöstlinger: Gretchen Sackmeier).
Auch setzt sich Christine Nöstlinger in Wir pfeifen
auf dem Gurkenkönig intensiv mit der dominanten
Rolle des Vaters als Patriarch auseinander. Anliegen der Bücher ist – wie die Themen auch deutlich
zeigen – eine Aufklärung bezüglich anderer Rollen- und Familienverhältnisse in dieser Zeit. Auch
werden alternative Lebenskonzepte vorgestellt. Die
Kinderfiguren entsprechen allerdings oftmals dem
Wunsch der AutorInnen nach selbstbewussten, ver-
|9
10 |
Positionen | Projekte | Publikationen
nünftigen Kindern, die mit Weitblick mit den neuen
Familienstrukturen umgehen können.
Themen der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur in dieser Zeit sind beispielsweise:
Dritte Welt: Wölfel: Die grauen und die grünen Felder (1970); Pausewang: Die Not der Familie Caldara (1978)/ Jugendkriminalität: Noack: Rolltreppe
abwärts (1970)/ Drogen: Bayer: Trip ins Ungewisse
(1971); Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
(1979) / Jugendalkoholismus: Ladiges: Hau ab, du
Flasche (1978) / Behinderung: Härtling: Das war
der Hirbel (1973); Von der Grün: Vorstadtkrokodile
(1976) / Gewalt: Schaaf: Plötzlich war es geschehen (1977) / Alter/Tod: Lindgren: Brüder Löwenherz
(1973); Donnelly: Servus Opa, sagte ich leise (1977);
Härtling: Oma (1975)
3.2.
Der Blick nach Innen in der psychologischen Kinderliteratur der
1980er Jahre
Am Ende der 1970er-Jahre findet eine Schwerpunktverlagerung auf die Darstellung kindlicher
und jugendlicher Innenwelten im psychologischen
Kinderroman statt (vgl. Gansel 2010, S. 118). Man
spricht vom psychologischen Realismus. Diese Kinderliteratur stellt die Innenwelt der Protagonisten
dar, die zum Teil stark von äußeren Problemen beeinträchtigt ist. Die Intention der Vermittlung von
Erziehungsvorstellungen mit dieser Kinderliteratur
ist kaum erkennbar; Tabuthemen werden mit einer
Offenheit und zugleich in einer moralisch neutralen
Haltung angesprochen; ein Phänomen, was man
bisher nur aus der Erwachsenenliteratur kannte.
Dieser veränderte Anspruch an Kinderliteratur, die
die Innenwelt des Kindes exploriert, führte auch zu
einer Veränderung der Erzählmittel: subjektiviertes,
mehrperspektivisches personales Erzählen wird
praktiziert, häufiger auch erlebte Rede und innere
Monologe. Vorreiter dieser Art des Erzählens finden
sich in der skandinavischen Kinderliteratur, z. B.
mit Tormod Haugens Die Nachtvögel (1976). Dieses
Buch gibt Einblicke in das vielschichtige, zerrüttete
Seelenleben eines 8-Jährigen, der von Angst und
Wahnvorstellungen geplagt wird. In der deutschsprachigen Literatur gilt Ben liebt Anna (1979) als
Prototyp des psychologischen Kinderromans und
der Autor Peter Härtling als wichtigster Autor dieser Subgattung. Er hat die Psychologisierung und
Individualisierung der Figurendarstellung eingeleitet und wählt bewusst für seine Bücher dieselben
literarisch anspruchsvollen Darstellungsmittel wie
man sie in Romanen für Erwachsene findet (mehrperspektivisches Erzählen mit inneren Monologen,
z. B. bei Oma oder Ben liebt Anna).
Die kindlichen Leser sind in dieser Literatur Gesprächspartner auf Augenhöhe, denen nicht immer
die eine perfekte Lösung geboten werden kann.
Sie werden nicht mit glatten, einfachen Lösungen
abgespeist, sondern zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema angeregt. „Die ‚emanzipatorische‘ Funktion der Kinderliteratur von Peter Härtling erweitert die soziale Wirklichkeitserkundung
um die psychologische Dimension und damit um
die Erkenntnis der psychologischen Hintergründe
und Motive des menschlichen Handelns und der
eigenen Subjektivität.“ (Daubert 2011, S. 92). Neben Peter Härtling sind es AutorInnen wie Renate
Welsh, Kirsten Boie und Mirjam Pressler, die sich
dieser Literatur zuwenden. In vielen Werken wird
als Schauplatz die Familie gewählt und es entstehen psychologische Familienromane, die sich vor
allem in den 1990er-Jahren weiterentwickeln. Dabei
sind die Übergänge sowohl zur emanzipatorischen
Mädchenliteratur als auch zum Adoleszenzroman
fließend.
Themen der psychologischen Kinder- und Jugendliteratur sind beispielsweise:
sexueller Missbrauch: Talbert: Messer aus Papier
(1992); Hassenmüller: Gute Nacht, Zuckerpüppchen
(1992) / homoerotische Beziehungen: MeißnerJohannknecht: Leanders Traum (1994) / Atom- und
Kriegskatastrophen: Pausewang: Die Wolke (1987);
Pausewang: Die letzten Kinder von Schewenborn
(1983) / Rechtsradikalismus: Pausewang: Die Meute
(2006) / Depression: Boie: Mit Kindern redet ja keiner (1990); Welsh: Diesteltage (1997) / Außenseiter/
Heimkinder: Pressler: Wenn das Glück kommt, muss
man ihm einen Stuhl hinstellen (1994); Mebs: Sonntagskind (1983); Jutta Richter: Der Tag, als ich lernte
die Spinnen zu zähmen (2000) / Gewalt: Moeyaert:
Bloße Hände (1996); Boie: Nicht Chicago. Nicht hier
Positionen | Projekte | Publikationen
(1999) / Behinderung: Welsh: Drachenflügel (1988);
Fox: Paul ohne Jakob (2001) / Emanzipation: Chidolue: Lady Punk (1985)
3.3
Zum Lachen und zum Weinen – komische und tragisch-komische Familienromane in den 1990er-Jahren
Im Laufe der 1980er bis 1990er-Jahre kommt neben
den ernsthaften kindlichen Themen eine neue komische Kinderliteratur auf, die weniger die Risiken
und Krisen gegenwärtiger Kindheit in den Blick
nimmt, als die Chancen der jeweiligen kindlichen
Situationen (vgl. Daubert 2011, S. 97). Gansel spricht
hier von „einer neuen Stufe der Erkundung aktueller Wirklichkeit“ (Gansel 2010, S. 126), die Kindheit
mit Gelassenheit und Selbstironie zeichnet. Diese
skeptische-ironische Grundhaltung ist kennzeichnend für die komische (bzw. tragisch-komische)
Kinderliteratur. Diese Art der Darstellung von
Wirklichkeit und kindlichem Alltag favorisiert zum
einen stärker das Lesevergnügen, bietet aber auch
eine psychologische Entlastung der LeserInnen
durch situativen, sprachlichen Humor. Nicht selten
greifen die Romane auch andere Gattungen mit auf
und arbeiten in die Handlung Merkmale und Motive von Detektivgeschichten (z. B. Steinhöfel: Rico,
Oskar und die Tieferschatten) bzw. Abenteuergeschichten (z. B. Engström: Ihr kriegt mich nicht) ein.
Als bekannte und erfolgreiche AutorInnen dieser
Literatur sind vor allem Christine Nöstlinger, Uwe
Timm, Marie-Aude Murail und Andreas Steinhöfel
zu nennen. In den meisten Fällen sind komische
Kinderromane zumeist komische Familienromane,
die die veränderte Lebenswelt, Rollenbilder und Beziehungsmuster als Folie für komische Darstellungen nutzen, obwohl – und das muss man an dieser
Stelle einwenden – auch die Defizite der kindlichen
Situationen in den Blick genommen werden, auch
wenn man sie nicht beklagt, sondern witzig-ironisch bewertet (vgl. Gansel 2010, S. 127).
Der komische Familienroman möchte eine Pluralisierung der Familienformen (Ein-Eltern-Familien,
Patchworkfamilien, homoerotische Lebensgemeinschaften) und gleichzeitig auch die Instabilität
familiärer Gebilde (Trennung, Scheidung, Wieder-
verheiratung) zeigen; Themen die eine Vielzahl
von Kindern heute bewegen. Es werden auch
geschlechtsspezifische Rollenbilder (neue Väter,
neue Mütter), gewandelte Verhältnisse zwischen
den Generationen ( jugendliche Eltern, früherwachsene Kinder) und veränderte Erziehungsziele und
Erziehungsstile thematisiert. Die 1990er-Jahre sind
gekennzeichnet durch eine Entdramatisierung des
Generationskonflikts, beispielsweise ist die Auflehnung gegen Fremdbestimmung und gegen autoritäre familiäre Strukturen, wie man sie noch bei
Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig findet, für die moderne Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit kein Thema mehr (vgl. Gansel
2010, S. 126). Dagegen wird häufiger die Problematik
von Trennung und Scheidung sowie die Auseinandersetzung mit neuen Lebenspartnern und Stiefgeschwistern thematisiert. Auffallend ist das Ausmaß
an Selbstverständlichkeit, mit der abweichende Familienformen gesehen und dargestellt werden. Die
damit verbundene Tendenz zur Normalisierung und
Liberalisierung spiegelt aber nur begrenzt die Wirklichkeitserfahrungen der Kinder wider, gleichzeitig
werden Mediennutzungen und Konsumkindheiten
noch wenig beleuchtet (vgl. Ewers 1995, S. 47).
Nichtsdestotrotz prägen die komischen Familienromane ein gutes Eltern-Kind-Verhältnis, wie beispielsweise in Kirsten Boies Nella Propella, obwohl
durchaus immer wieder Probleme im Familienleben
von Mutter und Tochter auftauchen. Andererseits
wird die Utopie der vollständigen, heilen und
harmonischen Familie abgelöst durch den Blick
auf andere Aspekte harmonischen Zusammenlebens, die weit über die Grenzen des alten Familienmodells hinausgehen: Partnerschaft, Liberalität,
Toleranz, Akzeptanz von persönlichen Freiräumen,
emotionale Wärme, Solidarität, Hilfsbereitschaft
und Engagement. Die traditionelle Familie wird oft
als Karikatur, als spießiges Gegenmodell zum toleranten, liberalen, kreativen und verständnisvollen
Familienklima aufgezeigt (z. B. bei Andreas Steinhöfels: Paul Vier und die Schröders). Hier besteht die
Gefahr einer neuen Klischeebildung, die kritisch
verfolgt werden sollte (vgl. Daubert 2011, S. 98).
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Komische oder tragisch-komische Kinderromane
sind nicht eindeutig Themen zuzuordnen, spielen
aber häufig innerhalb einer Familie. Beispiele sind:
Nöstlinger: Der Zwerg im Kopf (1989), Boie: Nella Propella (1994), Steinhöfel: Rico, Oskar und die
Tieferschatten (2008), Härtling: Mit Clara sind wir
sechs (1991), Murail: Simpel (2007), Kuijer: Wir alle für
immer zusammen (2001)
Deutlich zeigt die Darstellung des modernen realistischen Kinderromans, dass er permanent auf sich
verändernde gesellschaftliche Verhältnisse reagiert
und Bezug nimmt. Während der problemorientierte
und psychologische Kinderroman der 1970er und
1980er Jahre auf die Aufklärung der Wirklichkeit
abzielte und versuchte, die Außen- und Innenwelt
der Kinder realistisch zu erfassen und darzustellen,
gleichzeitig aber dadurch auch die Schattenseiten
der Gesellschaft zum Vorschein zu bringen, stellt
der komische Kinderroman Spaß und Lebenslust in
den Mittelpunkt ohne schönzufärben oder zu idealisieren (Gansel 2010, S. 128). Er greift aktuelle Bilder
von Kindheit auf und verarbeitet sie mit anspruchsvollen, stilistischen Erzählmitteln, die zum Teil aus
der Erwachsenenliteratur übernommen werden.
Auch wenn es in der Darstellung von Kindheit Brechungen und auch Lücken gibt, wie Ewers feststellt
(vgl. Ewers 1995, S. 47). Gerade diese Brechungen
scheinen vor allem die Bearbeitung schwieriger, z. T.
tabuisierter Themen attraktiv zu machen.
3.4.Ein Blick zurück: Die Kinder­
literatur in der DDR
Bisher ist von „Tabubrechern und Wahrheitssprechern“ in der Kinderliteratur gesprochen worden,
die seit den 1970er Jahren hauptsächlich im westdeutschen Raum publiziert wurde. Welche Tendenzen und Entwicklungslinien lassen sich für die in
der DDR geschriebenen Kinderbücher beobachten?
Realistische Kinderliteratur findet sich in der DDR
bereits in den 1950er Jahren, als in den westdeutschen Kinderbüchern noch eine Art heile Welt
konstruiert wurde, die die Kinder vor Konflikten
und Problemen aller Art bewahren sollte und sie
in einen Schonraum verwies, der nur den Kindern
vorbehalten schien. Die nach dem Krieg in der DDR
entstehenden Kinderbücher dagegen standen zunächst stark im Zeichen der Bekämpfung des nationalsozialistischen Gedankengutes und verstanden
sich als Erziehungshilfe beim Aufbau einer neuen
Gesellschaftsordnung (vgl. Richter 1995 und Lüdecke 2006). Wer schrieb die neuen Kinderbücher, auf
welche Literatur konnte zurückgegriffen werden?
Zu den ersten Autoren der neu gegründeten Verlage gehörten heimkehrende Exilanten – linksbürgerlich oder sozialistisch – wie Bertolt Brecht,
Alex Wedding, Ludwig Renn oder Friedrich Wolf.
Die Kinderlieder und Gedichte Brechts, die in der
Tradition der proletarisch-revolutionären Literatur
geschriebenen Geschichten von Alex Wedding und
Auguste Laszar oder die Tiermärchen des Dramatikers Friedrich Wolf (Die Weihnachtsgans Auguste
ist noch heute als witzig-liebevolle Weihnachtsgeschichte bekannt) waren neben Werken des
klassischen Erbes und Übersetzungen sowjetischer
Kinderliteratur das „Gründungskapital“ der beginnenden sozialistischen Kinderliteratur der DDR.
Über Preisausschreiben des Ministeriums für Kultur
wurden neue, junge Autoren geworben. So kam in
den 1950er-Jahren Erwin Strittmatter zur Kinderliteratur und es begannen Alfred Wellm, Karl Neumann, Benno Pludra und später Gerhard Holtz-Baumert für Kinder zu schreiben. Strittmatters Tinko,
bei seinem Erscheinen heftig umstritten, kann man
noch heute als einen ästhetisch anspruchsvollen
Kinderroman lesen, der poetisch und realistisch
zugleich von existenziellen Konflikten zwischen den
Generationen während der Zeit der Bodenreform
erzählt.
Die frühen Erzählungen von Wellm, Neumann oder
Pludra spielen fast alle auf dem Dorf, sind von den
literarischen Strukturen her relativ simpel konstruiert und erzählen, wie der Einzelne in die Gemeinschaft von Kindern und Erwachsenen findet und
sich darin als gesellschaftlich nützlich erweisen
kann.
In der Kinderliteratur der 1960er-Jahre lässt sich
beobachten, dass der Einzelne aus dem Kollektiv
herauszutreten beginnt und die Verantwortung der
Gemeinschaft für den Einzelnen zunimmt. Ganz
langsam bekommt das Individuum eigenwilligere
Konturen (z. B. bei Pludra: Reise nach Sundevit (1965);
Positionen | Projekte | Publikationen
Pludra: Lütt Matten und die weiße Muschel (1963)),
märchenhaft-phantastische Sujets werden ausprobiert (Fühmann: Die Suche nach dem wunderbunten
Vögelchen (1960)), es darf herzhaft gelacht werden
(Holtz-Baumert: Alfons Zitterbacke (1958)).
Die 1970er und 1980er-Jahre bringen dann den
Aufbruch und die Reise der literarischen Helden zu
sich selbst. Die Erzählstrukturen werden offener, die
Konfliktgestaltungen verschärfen sich. Nach wie
vor ist Benno Pludra einer der wichtigsten Kinderbuchautoren in der DDR (Insel der Schwäne (1980);
Tambari (1969); Das Herz des Piraten (1985)), vom
Umfang seines Werkes ist er vielleicht vergleichbar
mit Peter Härtling, aber in seinem literarischen Stil
finden sich stärker mythische und märchenhafte
Bezüge. Dies findet man auch bei anderen Autoren
dieser Zeit. Alfred Wellm schreibt die berührende
Geschichte von Karlchen Duckdich (1977) und Gerhard Holtz-Baumert schickt seine jugendlichen
Helden auf die Abenteuer der Landstraßen (Trampen nach Norden (1975)). Mit Peter Abrahams Das
Schulgespenst (1978) und Uwe Kants Der kleine
Zauberer (1974) vor allem aber mit den Erzählungen
von Christa Koczik kommen nun auch verstärkt
phantastische Erzählweisen in die Kinderliteratur
der DDR.
Sie erzählt von dem viel zu langsam agierenden,
nachdenklichen Jungen Moritz, der in einer Litfaßsäule wohnt und mit einer Katze spricht (Moritz in der Litfaßsäule (1980)) oder von einem auf
einem Fensterbrett landenden Engel, dem die
Flügel gestutzt werden sollen (Der Engel mit dem
Schnurrbart (1983)). Diese Figuren können sicher am
ehesten als „Tabubrecher“ im o. g. Sinne bezeichnet werden. Wahrheitssprecher sind aber auch der
Bauernjunge Tinko, die sich ständige verwandelnde
Meta Morfoss in der surrealen Geschichte von Peter
Hacks oder der Junge Umberto in einem der letzten
in der DDR erscheinenden Kinderbücher von Günther Saalmann. Jakob heimatlos (1999) von Benno
Pludra ist schon ein Grenzgänger zwischen den
Welten, wie der Titel bereits suggeriert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Besonderheit der Kinder- und Jugendliteratur der DDR
darin besteht, sich von Anfang an und durch alle
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Phasen hindurch immer als Teil der Nationalliteratur zu verstehen (vgl. Richter 2005/Steinlein 2006).
Sie ist nicht mehr nur – wie traditionell üblich –
intentionale Literatur, d. h. auf eine bestimmte
Lesergruppe bezogene und für sie geschriebene
Literatur, vielmehr kann ihre Entwicklung immer im
Zusammenhang mit der für Erwachsene gesehen
werden. Bestimmte Veränderungen von Inhalten,
Formen, Themen, Figurenkonstellationen, Handlungsräumen u. Ä. können in der Literatur für Kinder
genauso wie in der für Erwachsene beobachtet
werden. Das vielleicht hervorstechendste Politikum
der Kinderliteratur der DDR ist jenes, das Karin
Richter so benennt: „Kinder- und Jugendliteratur
der DDR bindet in allen Phasen ihrer Entwicklung
kindliches Leben in die dominanten gesellschaftlichen Prozesse ein. So zeigt sich in der Auseinandersetzung kindlicher Helden mit Vätern oder Großvätern niemals nur ein familialer Konflikt, sondern sie
bedeutet das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher
gesellschaftlicher Auffassungen.“ (Richter 1995,
S. 32)
4. Literatur als Erfahrungsraum
Kinder brauchen Geschichten. Sie sind der Raum, in
dem Kinder ihre Erfahrungen verarbeiten können.
Wie kann politisches Lernen mit Kinderbüchern,
mit erzählten und gelesenen Geschichten befördert
werden? Wie kann sich dadurch die Erfahrungsfähigkeit der Kinder entwickeln?
Beispielhaft sollen mit Alfred Wellm, Albert Wendt
und Andreas Steinhöfel drei Autoren vorgestellt
werden, mit deren literarischen Helden sich Kinder
damals und heute identifizieren könnten, wenn
sie eigene ähnliche Erfahrungen verarbeiten oder
fremde Erfahrungen kennenlernen wollen.
1977 schrieb Alfred Wellm die Erzählung Karlchen
Duckdich. Sie ist 1992 noch einmal in der Klassikerausgabe von DDR Kinderliteratur des Verlages Faber
und Faber publiziert worden.
Erzählt wird, wie Kristina und ihr großer Bruder
Karlchen versuchen, sich in der großen Stadt (es
könnte Berlin sein) zurechtzufinden, nachdem sie
das Dorf Vierfelde und die Großmutter Zumba verlassen mussten - ein Vorgang, der auch heute noch
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Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 2: Wellm – Karlchen Duckdich
Kindern widerfährt, wenn sie gezwungen sind, vertraute Kindheitsorte zu verlassen und sich an neuen
Orten einrichten zu müssen. Karlchen läuft mit
seiner kleinen Schwester durch die fremden Straßen (vgl. Abb. 2). Alles ist anders, als sie es gewohnt
sind. Sie fürchten und wundern sich sehr. Kristina
glaubt, dass die Schaufensterpuppen verzauberte
Königstöchter sind. Karlchen glaubt das nicht, aber
er widerspricht ihr nicht, sondern erfindet sogar
noch etwas dazu: den König der Dolomiten, dessen
Schloss hinter dem blauen Zaun steht. Am blauen
Zaun lauern die großen Jungen, die sie hänseln und
verhauen wollen. Karlchen beschützt seine Schwester und lenkt sie mit den erfundenen Märchen ab.
Auch am Abend sind die Kinder allein. Vor dem Einschlafen darf Kristina immer drei Fragen stellen, die
man ihr beantworten muss. Eines Abends will sie
von ihrem Bruder wissen, ob die Schaufensterpuppen wirklich verzauberte Königstöchter sind und
es wirklich den König der Dolomiten gibt und sein
Schloss hinterm blauen Zaun. Der Bruder muss zu-
geben, dass alles nur erfunden ist. Enttäuscht und
traurig wendet sich die Schwester ab. Die Märchen
sind entzaubert. Aber in der Nacht schleicht sie zu
ihrem Bruder. Er muss ihr schwören, dass sie am
nächsten Tag wieder in die Dolomitenstraße zu den
schönen verzauberten Königstöchtern gehen. Der
Bruder verspricht es. Die Märchen kehren zurück
(vgl. Kohl, 2014, S.132).
Die Erzählung ist eine Bruder- und SchwesterGeschichte und ähnelt darin klassischen Volksmärchen wie Hänsel und Gretel oder Brüderchen und
Schwesterchen, in denen sich Geschwisterpaare in
einer Notlage befinden, die sie gemeinsam bewältigen müssen. In den Volksmärchen hilft den
Kindern, dass sie fest aneinander glauben und alle
Prüfungen, die ihnen das Schicksal auferlegt, tapfer
bestehen. Die eigentliche Lösung des Konfliktes
vollbringt allerdings das Wunder, das zur rechten
Zeit zur Stelle ist, wenn sich die Kinder genügend
Mühe gegeben haben.
In Karlchen Duckdich gibt es kein märchenhaftes
Wunder, das rettend eingreift. Hier rettet die Kinder
nur, wenn man überhaupt von Rettung sprechen
kann, dass sie in der Lage sind, ihre eigene Phantasie produktiv werden zu lassen. Die eigene kindliche Phantasie kann und muss einen Schutzraum
bieten vor der Fremdheit und Einsamkeit, die die
Geschwister in der Großstadt erleben. Eine andere
Hoffnung gibt es nicht. Das erscheint bitter, aber
Wellm erzählt es ohne jeden Vorwurf und sucht
keine Schuldigen. Tröstlich bleibt, wie liebevoll die
Geschwister miteinander umgehen und wie sie
dem Zauberlicht der Märchen vertrauen, das der
Autor behutsam anknipst.
Alfred Wellm nutzt dieses poetische Credo bereits
in einer schon 1966 geschriebenen Geschichte
über das Mädchen Heika (Wellm: Das Mädchen
Heika), das große Mühe hat, lesen zu lernen und
dessen Not erst die Buchstaben des Märchenbuches lindern helfen. Auch die späteren Texte Wellms
(Wellm: Das Mädchen mit der Katze; Wellm: Der
kleine Wruk) verweisen immer wieder auf die Kraft
und die Magie der eigenen Phantasie, einer zutiefst
menschlichen Fähigkeit, die gepflegt und behütet
werden will.
Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 3: Wendt – Sauwetterwind
Fünf Jahre nach Alfred Wellms Karlchen Duckdich
wird zum ersten Mal Albert Wendts Hörspiel Der
Sauwetterwind, im Rundfunk der DDR gesendet;
2005 schreibt Wendt die Prosafassung des Stückes,
sie erscheint im Leiv Verlag in Leipzig. Der Sauwetterwind kann wie die meisten Stücke Albert Wendts
als Märchendramatik bezeichnet werden, tatsächlich erscheinen die Geschichten im märchenhaften,
oft allegorischen Gewand, in ihrem Inneren aber
haben sie alle einen sozialkritischen und höchst
politischen Kern. Insofern muss eine Aufteilung in
realistische oder phantastische Kinderliteratur hier
wie in den meisten anderen Beispielen immer wieder fragwürdig erscheinen.
Ein zwölfjähriger Junge – Herrmann genannt –
fährt mit seinem Drahtesel jeden Morgen aus dem
Dreihäuserdorf über die Felder und Wiesen zur
Schule. Der Weg ist lang, das Fahrrad – ‚Herr von
Knacke‘ genannt – ist alt und klapprig, und eines
Morgens bläst zudem ein so heftiger Wind, der zum
Sauwetterwind anschwillt, dass der Junge zu spät
und klitschnass zum Unterricht kommt und von der
besorgten Lehrerin auf den Ofen gesetzt wird, um
wieder zu trocknen. Dazu allerdings muss er vor der
versammelten Klasse seine Hosen ausziehen, wogegen sich der Junge erbittert wehrt. Die Demütigung
erträgt er nur, indem „Herrmann auf dem Throne“
sich wünscht, tot zu sein. Der Tod kommt zu dem
Jungen, aber er weigert sich, ihn mitzunehmen und
hüllt ihn vielmehr in den Mantel des Schweigens.
Von nun an spricht der Junge kein Wort mehr. Alle
bemühen sich um ihn, der Schuldirektor wagt sogar
einen Selbstversuch, indem er sich auch die Hosen
ausziehen und auf den Ofen setzen lässt. Auch er
verstummt, als er zu ahnen beginnt, was im Inneren
des Jungen vorgegangen sein muss. Erlöst wird der
Junge schließlich von der Frühlingsbrise, die er beim
Heimradeln trifft und die sanft über die Felder weht
und wärmt und ihn kitzelt und zum Lachen bringt,
sodass er sein Schweigen aufgeben muss.
Demütigungen von Kindern sind ein uraltes Thema
der Literatur, in Albert Wendts Geschichten finden
sie sich immer wieder. Sie werden bei ihm nie bagatellisiert oder weggetröstet, sie sind so schlimm,
wie sie sind. Darin ähnelt seine Poetik der von
Wellm. Aber es gibt immer einen Hauch Hoffnung,
der Lösungsmöglichkeiten zumindest andeutet. Darin wiederum ähneln seine Geschichten allen guten
großen Kindergeschichten.
In einer der zuletzt veröffentlichten Geschichten
Albert Wendts Bummelpeters Weihnachtsfest (2000
erschienen und seit 2013 auch auf einer Berliner
Bühne als Weihnachtsmärchen gespielt), erzählt
Wendt, wie ein kleiner Junge am Heiligabend
vergeblich an vielen Türen des Dorfes klopft, nachdem er in den zugefrorenen Dorfteich gefallen
ist. Niemand öffnet ihm, alle schicken ihn nach
Hause. Aber nach Hause kann er nicht, denn die
Tante kommt erst spät von der Arbeit. So kriecht
er schließlich (Analogien zur alten christlichen
Weihnachtsgeschichte sind unübersehbar) zu den
Schafen in den Stall und wärmt sich an ihrem Fell.
Halbtot findet ihn der Schäfer und schleppt ihn ins
Krankenhaus, wo eine resolute Krankenschwester
(„mir stirbt am Heiligabend kein Kind“) ihn wieder
aufpäppelt. Der Held überlebt knapp, die Notsitua-
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Positionen | Projekte | Publikationen
tion, das versteht man gut beim Lesen, kann jederzeit und an jedem Ort der Welt wieder eintreten.
Andreas Steinhöfel ist heute einer der meistgelesensten und beliebtesten Kinderbuchautoren. Sein
Werk für Kinder und Jugendliche ist sowohl inhaltlich als auch formal sehr vielschichtig. Immer wieder erprobt er neue Genre und neue Erzählweisen.
Mit gekonntem Sprachwitz, unsentimentaler und
gleichzeitig emphatischer Erzählweise räumt er mit
gängigen Klischees im Kinderbuch radikal auf.
Die Helden in den Büchern Steinhöfels sind überwiegend Außenseiter: Kinder, die ihren Eltern egal
sind, Ungeliebte, Scheidungskinder, seelisch Obdachlose, Vaterlose, Geschlagene. Oft sind sie mit
einem Handicap versehen (zu dick, zu langsam, zu
aufmüpfig, zu klug). Tapfer machen sie sich dennoch immer wieder auf den Weg, lachen sich ihre
Angst weg und verteidigen ihre Defizite. Der Autor
teilt mit ihnen die Hoffnung, dass doch noch alles
gut werde und verrät sie nie (vgl. Kohl 2013, S. 9ff).
Abb. 4: Steinhöfel – Rico
Eines seiner bekanntesten Werke dürfte die Trilogie
um das ungleiche Jungenpaar Rico und Oskar sein,
die in einem Berliner Kiez leben und die gemeinsam
abenteuerliche Situationen erleben und bewältigen. Mit Rico und Oskar präsentieren sich neue, ungewöhnliche Figuren, die es so in der Kinderliteratur
noch nicht gegeben hat. Sie agieren in einem sensibel ausgeleuchteten sozialen Milieu auf humorvolle
und sehr ehrliche Weise. Während der langsame, in
der Förderschule unterrichtete Rico, der sich selbst
als „tiefbegabt“ bezeichnet, eigentlich immer gut
gelaunt und voller phantasievoller Ideen ist, überlegt der zarte, sensible und überschlaue Oskar, ein
offensichtlich „hochbegabtes“, aber sehr einsames
Kind, nicht so lange, urteilt messerscharf, aber oft
nervig. Rico hat gelernt seine Defizite zu verteidigen und mit den oft schwierigen Umständen seines
Familienlebens klarzukommen. Als er Oskar trifft,
entspinnt sich zwischen beiden eine Freundschaft,
die beiden Jungen über vieles die Augen öffnet.
Die hier gezeigten Beispiele sind von ihren Autoren
auf ganz verschiedene Weise in die Kinderbuchwelt
buchstabiert worden: leise und poetisch, trotzig
und kurios, traurig und komisch. Es wird mit phantastischen Mitteln (Schnipselgestrüpp, Der Sauwetterwind), mit Elementen aus dem Märchen (Karlchen Duckdich) oder entsprechendem Witz (Rico,
Oskar und die Tieferschatten) die soziale Wirklichkeit
gespiegelt und auch gebrochen. Karlchen Duckdich,
der kleine Herrmann, Bummelpeter, Rico und Oskar
sind von Autoren konstruierte, fiktive literarische
Figuren, mit denen ihre kindlichen Leser in der Zeit
ihrer Lektüre eine Beziehung aufbauen können,
die durchaus in die lebendige Welt hinüberreicht.
In ihrem Kern sind es allesamt Sozialstudien, die
Lebensmodelle einer Gesellschaft beschreiben, die
ein Miteinander und Füreinander der Menschen Kinder und Erwachsene - dringend brauchen.
Positionen | Projekte | Publikationen
Literatur
Daubert, Hannelore (2011): Moderne Kinderromane. In:
Lange, Günter (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der
Gegenwart. Grundlagen – Gattungen – Medien – Lesesozialisation und Didaktik. Baltmannsweiler, S. 87-105.
Ewers, Hans-Heino (1995): Veränderte kindliche Lebenswelten im Spiegel der Kinderliteratur der Gegenwart.
In: Daubert, Hannelore/Ewers, Hans-Heino (Hrsg.):
Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur.
Braunschweig, S. 35-48.
Ewers, Hans-Heino (2005): Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Ein Beitrag zu ihrer Definition und zur Terminologie ihrer wissenschaftlichen Beschreibung. In: Lange,
Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1, Baltmannsweiler, S. 2-16.
Friese, Julia/Duda, Christian (2010): Schnipselgestrüpp.
Zürich.
Gansel, Carsten (2010): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 4. überarb. Aufl., Berlin.
Gelberg, Hans-Joachim (2005): die Worte die Bilder das
Kind. Über Kinderliteratur. Weinheim.
Steinlein, Rüdiger / Strobel, Heidi / Kramer, Thomas (Hrsg.)
(2006): Handbuch zur Kinder-und Jugendliteratur der
SBZ/DDR. Von 1945-1990. Stuttgart.
Kohl, Eva Maria (2014): Kinder & Märchen. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze.
Kohl, Eva Maria (2013): Leute, redet miteinander! Laudatio
auf Andreas Steinhöfel. In: JuLit Heft 4/2013, S. 9-11.
Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt .
Lüdecke, Marianne (2006): Realistische Erzählungen und
Romane mit Gegenwartsstoffen und zeitgeschichtlichen Themen. Überblick 1945 bis 1965. In: Steinlein,
Rüdiger / Strobel, Heidi / Kramer, Thomas (Hrsg): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR. Von
1945-1990. Stuttgart.
Richter, Karin/Plath, Monika (2005): Lesemotivation in der
Grundschule. München.
Richter, Karin (2005): Kinder- und Jugendliteratur in der
DDR. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinderund Jugendliteratur Hohengehren. S. 137-156.
Richter, Karin (1995): Die andere Kinderwelt. Ein Blick ins
Kinder- und Jugendbuch der DDR. In: Arbeitskreis für
Jugendliteratur e. V. (Hrsg.): Zwischen Bullerbü und
Schewenborn. Auf Spurensuche in 40 Jahren deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur. München,
S. 29-46.
Ritter, Alexandra & Michael (2013): Sichtungen im
"Schnipselgestrüpp". Einblicke in ein Forschungsprojekt
zur (Re-)Konstruktion von (literarischen) Sinnstrukturen bei der Rezeption von Bilderbüchern im pädagogischen Kontext. In: Kruse, Iris/Sabisch, Andrea (Hrsg.):
Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel, Denkspiele,
Bildungskonzepte. München, S. 125-136.
Wellm, Alfred (1977): Karlchen Duckdich. Kinderbuchverlag, Berlin.
Wendt, Albert (2005): Der Sauwetterwind. Leiv Verlag,
Leipzig.
Wendt, Albert (2010): Bummelpeters Weihnachtsfest.
Jungbrunnen Verlag, Wien.
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Michael Ritter
Das Wunderbare von nebenan
Franz Fühmanns märchenhafte Kindererzählungen im Spiegel
sich verändernder poetischer Konzeptionen
Annäherungen
Zwei Zitate Franz Fühmanns am Anfang dienen als
Einstieg:
„Instrumentalcharakter von Literatur, [...] das heißt
wieder deren Reduzierung auf Publizistik oder
Didaktik, und das wieder heißt für die Literatur, der
Gesellschaft statt durch Reichtum und Stärke durch
Verarmung und Schwäche zu dienen.“ (Fühmann
1993a, 50)
„Die Kinder sind das dankbarste Publikum, das
intelligenteste, das kritischste, das verständigste, das
aufgeschlossenste, das sachkundigste, kurzum, das
ideale Publikum. Für Kinder zu schreiben [...] das ist
einfach eine Freude und eine Wohltat. Ich mach’s
also nicht zuletzt aus dem ganz egoistischen Grunde, weil ich mich dabei erhole, weil es mir unheimlichen Spaß macht.“ (Fühmann, zit. nach Heinze
1998, 290)
Der erste Kommentar ist als Wort an künftige
Kollegen dem gleichnamigem Vortrag aus dem Jahr
1972 vor der Sektion Literatur und Sprachpflege der
Akademie der Künste der DDR entnommen und
richtet sich nicht explizit an AutorInnen von Kinderliteratur. Das Interview mit Josef Herrmann Sauter,
dem das zweite Zitat entstammt, datiert auf das
Jahr 1971. Mit Franz Fühmann äußert sich hier ein
Autor, dessen Schriften für Erwachsene und Kinder in der DDR am Anfang der 1970er Jahre einen
hohen Stellenwert einnehmen und der auch in der
BRD Interesse zu wecken beginnt, das sich 1982
sogar in der Verleihung des Geschwister-Scholl-
Preises manifestiert. In beiden Aussagen schwingt
ein starkes Bestreben mit, Literatur für Kinder (wie
auch die für Erwachsene) nicht lediglich als Werkzeug pädagogisch-ideologischer Einflussnahme
zu verstehen. Kinder als Adressaten von Literatur
werden dabei im Blick des Autors als Gegenüber auf
Augenhöhe wahrgenommen, ohne dass jedoch die
Unterscheidung von den erwachsenen LeserInnen
aufgehoben wird. Diese große Wertschätzung des
Schriftstellers Fühmann manifestiert sich gerade
in dieser Zeit auch literarisch in seinen – explizit an
Kinder und Jugendliche gerichteten – anspruchsvollen Märchensammlungen und ambitionierten
Mythen- und Epennacherzählungen/-adaptionen,
z. B. die internationale Märchensammlung Das Tierschiff (1965), die adaptierten Shakespeare-Märchen
(1968), die Neufassungen der antiken Stoffe Androklus und der Löwe (1966) und Das hölzerne Pferd: Die
Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten
des Odysseus (1968) – 1974 wird Prometheus folgen – und die mittelalterlichen Epen Reineke Fuchs
(1964) und Das Nibelungenlied (1971). Diese akkomodativen Bearbeitungen der klassischen Stoffe
erfahren bis heute viel Aufmerksamkeit; beispielhaft zu erwähnen sind die aufwendigen Neuerscheinungen der griechischen Mythen mit Bildern
von Angela Hampel (2004) und Susanne Janssen
(2011). Fühmann gelingt es in diesen Arbeiten, philosophische Tiefe und vielschichtige Darstellungen
menschlicher Erfahrungen in Formate zu übersetzen, die bereits Kinder und Jugendliche nachhaltig
faszinieren können. Allerdings gehören zum Werk
des Kinderbuchautors Franz Fühmann auch Texte
wie die Geschichte Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte (1959). Bereits der Titel dieses
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Buches – das ebenfalls noch heute im Buchhandel
verfügbar ist – lässt Brüche und Widersprüche in
der poetischen Konzeption Fühmanns erahnen,
wenn sich hier struwwelpedriateske Belehrungsliteratur andeutet. Sicherlich ist ein genauerer Blick
angebracht, doch wirft diese erste Beobachtung
Irritationen auf, die einen exemplarischen Zugang
zu den Eigenarten des literarischen Werkes von
Franz Fühmann eröffnen. Diesen nutzend möchte
der folgende Beitrag Kontinuitäten und Brüche in
der kinderliterarischen Darstellungskonzeption des
Autors verfolgen. Exemplarische Aufmerksamkeit
erfahren dabei lediglich die eigenständigen märchenhaften Erzählungen wie auch einige Puppenspiele Franz Fühmanns. Die literaturtheoretischen
und philosophisch-ideologischen Leitlinien dieser
Texte werden in biografischer Perspektive beleuchtet und besonders mit Blick auf gravierende individuelle und weltanschauliche Krisensituationen am
1
Ende der 1960er Jahre diskutiert.
Aus der Kindheit im Märchenwald zum
Märchendichter der ersten Stunde
Für den 1922 im böhmischen Rokytnice nad Jizerou
(damals Rochlitz an der Iser) geborenen Apothekersohn Franz Antonia Josef Rudolf Maria Fühmann
wird die Heimat des Riesengebirges zum prägenden
Stoff seiner Literatur. Dort, wo Rübezahl zuhause ist,
wächst der junge Fühmann in einer Welt auf, in der
die Märchen Wirklichkeit zu sein scheinen.
„Auf einem Hügelchen unten im Tal ein winziges
Wäldchen wie ein verirrter Igel: Der Märchenwald
meiner Kindheit. Dort die tapferste Tat meines
Lebens: Allein abends am Hexenhaus vorbei. [...] Ich
komme [...] aus einer Landschaft her, wo die Märchen einfach zu Hause sind.“ (Fühmann, zit. nach
Heinze 1998, 13f)
Gepaart mit der deutsch-nationalen Gesinnung des
Vaters und der zum Fanatismus und Spiritismus
neigenden katholischen Religiösität der Mutter (vgl.
1
Die zahlreichen Märchen- und Mythennacherzählungen
und -adaptionen müssen hier aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben, was thematisch zwar vertretbar ist, aber
keinesfalls als Wertung missverstanden werden soll.
Decker 2009, 28ff) liegt hier ein wichtiger Wurzelgrund für die streng polarisierenden Weltanschauungen, denen sich Franz Fühmann in seinem Leben
immer wieder zuwenden wird. Der Ausbruch aus
der Familie führt in die Gefolgschaft der Nationalsozialisten. Nach Kriegsdienst und Gefangenschaft
wird er als bekehrter Stalinist ins befreite Deutschland zurückkehren und in der DDR – dem Deutschland seiner Wahl, diese Entscheidung wird er trotz
aller Verwerfungen bis zu seinem Tod verteidigen
– widmet er sich als politischer Funktionär in der
NDPD der Kulturpolitik. Ab 1958 bis zu seinem Tod
ist er als Schriftsteller ausschließlich freiberuflich
tätig.
In den sich hier andeutenden biografischen und
weltanschaulichen Brüchen des Franz Fühmann
bleibt das Märchen eine Konstante, die in den
Fünfzigerjahren auch den Einstieg in die schriftstellerische Arbeit prägt. Bereits früh fördert der
Vater Fühmanns das sprachlich-literarische Talent seines Sohnes, erste Gedichte erscheinen auf
dessen Betreiben bereits in den Kriegsjahren in
verschiedenen Zeitschriften. In den Jahren seines
Parteidienstes sind es ebenfalls vor allem Gedichte,
die neben ersten Novellen und Erzählungen den
Schriftsteller Fühmann als Dichter ins Blickfeld der
Republikkultur rücken. Die beiden Gedichtbände
Die Nelke Nikos (1953) und Aber die Schöpfung soll
dauern (1957) enthalten aber auch eine Vielzahl an
Gedichten, die Märchenstoffe adaptierend das neue
poetische und weltanschauliche Selbstverständnis Fühmanns offenbaren. In enger Verbindung
dieser beiden Ebenen ist es eben das Märchen, das
Fühmann selbst zur Konzeption seiner Lyrik (vgl.
Fühmann 1993b, 486) erklärt. „Alle Märchen werden
Wirklichkeit werden...“ (Maurer 1954, zit. nach Krätzer 1998, 51) fasst Georg Maurer die Haltung zusammen, die jene Gedichte ausdrücken, und ebenjener
Optimismus, diese Hoffnungsgläubigkeit spricht
aus den Texten, in denen sich Fühmann nach den
schockierenden Jahren des Nationalsozialismus einer neuen Zukunft zuwendet, die nun das Paradies
verspricht, das bereits in seiner Kindheit als Utopie
omnipräsent war, in den zerrütteten Beziehungen
der Eltern Fühmann jedoch Rhetorik und Wunschtraum bleiben musste.
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Und doch sind Fühmanns Gedichte keine naiven Realitätsentwürfe. Es sind Versuche der Neudeutung,
in denen gerade das große Bekanntheitspotenzial
der Märchen als intertextueller Stoff mit hohem
tradierten Sinnpotenzial umgedeutet werden soll.
In seinem Gedicht Der Müller aus dem Märchen
(Fühmann 2008, 288) nimmt er die Perspektive
des feudalistisch unterworfenen Proletariers ein,
der eher aus Hilflosigkeit vor der majestätischen
Erscheinung des Fürsten als aus bösem Willen
seiner Tochter die Fähigkeit bescheinigt, Stroh zu
Gold spinnen zu lassen. Das Resümee in den letzten
beiden Zeilen
ein deutscher Müller, bieder und brav,
den der Keulenschlag des Königs traf.
pointiert diese Entlastung noch einmal. Das Lob des
Ungehorsams (ebd. 293f) thematisiert die fatalen
Folgen blinden Gehorsams, aber auch die Kraft des
eigenen Willens, indem das Geislein als Widerpart
der mütterlichen Autorität reinszeniert und damit
aber seine Rettung ermöglicht wird.
Biografische Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zur Fühmann bis an sein Lebensende quälenden Selbstbefragung nach den Grenzen
des eigenen Gehorsams – gerade mit Blick auf die
Gaskammern von Auschwitz: Hätte er vor ihnen
gehorcht? – schwingen hier deutlich mit.
Lob des Ungehorsams
Sie waren sieben Geißlein
Und durften überall reinschaun,
Nur nicht in den Uhrenkasten,
Das könnte die Uhr verderben.
Hatte die Mutter gesagt.
Es waren sechs artige Geißlein,
Die wollten überall reinschaun,
Nur nicht in den Uhrenkasten,
Das könnte die Uhr verderben,
Hatte die Mutter gesagt.
Es war ein unfolgsames Geißlein,
Das wollte überall reinschaun,
Auch in den Uhrenkasten,
Da hat es die Uhr verdorben,
Wie es die Mutter gesagt.
Dann kam der böse Wolf.
Es waren sechs artige Geißlein,
Die versteckten sich, als der Wolf kam,
Unterm Tisch, unterm Bett, unterm Sessel,
Und keines im Uhrkasten,
Sie alle fraß der Wolf.
Es war ein unartiges Geißlein,
Das sprang in den Uhrenkasten,
Es wusste, dass er hohl war,
Dort hat’s der Wolf nicht gefunden,
So ist es am Leben geblieben.
Da war Mutter Geiß aber froh.
Abb. 1: © Rostock: Hinstorff, 2013
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Mit dem Lob des Ungehorsams liegt auch ein erster
Text vor, der – wenn auch erst deutlich später – als
Literatur für Kinder begriffen wurde. 1971 nahm
Hans-Joachim Gelberg das Gedicht in sein erstes
Jahrbuch der Kinderliteratur (Gelberg 1971) auf. 2013
erschien es als Bilderbuch mit Illustrationen von
Kristina Andres im Hinstorff-Verlag (Fühmann/Andres 2013).
Fühmann selbst begriff sich zu dieser Zeit jedoch
noch nicht als Schriftsteller für Kinder. Seine Gedichte richteten sich an Erwachsene. Seit 1958
schrieb er keine Gedichte mehr, jedoch erschien
noch 1962 sein Lyrikband Die Richtung der Märchen,
der als Auswahlband zahlreiche Märchengedichte
Fühmanns versammelte. In diesem Band zeigt sich
der Prozess der sich aus der starken Verwobenheit
Fühmanns mit den Stoffen der Märchen entwickelnden poetisch-konzeptionellen Verdichtung einer Poetologie. Und es deutet sich an, dass das Märchen nicht nur die lyrische Konzeption Fühmanns
darstellte. Denn längst waren nun die beiden Bücher erschienen, mit denen Fühmann ganz gezielt
die Bühne der Kinderliteratur betreten hatte, die
sich aber nahtlos an die bisherigen konzeptionellen
Leitlinien der „gleichnishaften Lehrstücke“ (Krätzer
1998, 51), wie Jürgen Krätzer Fühmanns Märchenlyrik der Fünfzigerjahre bezeichnet, anschließen.
die Moritz wegen seiner Abneigung zu Sauberkeit
nur ungenügend oder gar nicht zu lösen vermag.
Schließlich spitzt sich der Konflikt derart zu, dass
Moritz im Affekt mit der Zerstörung des Märchenlandes durch eine Bombe droht und postwendend
von der Schmutzhexe ins Schmutzland entführt
wird. Während Moritz zuerst begeistert mitgeht,
regt sich bald Abneigung gegen die neuen Lebensverhältnisse. Mit der Hilfe von Frau Piepermann und
den Kindern, nicht zuletzt aber auch seiner eigenen
Courage wegen, können die Schmutzhexe schließlich befreit und die Prinzessin erlöst werden. Diese
zieht am Ende mit ins Kinderheim, wo auch der
geläuterte Moritz wieder gern unterkommt.
Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr
sein wollte (1959)
Mit seiner ersten Kindergeschichte, die 1959 als
Bilderbuch (mit Bildern von Inge Friebel) im Kinderbuchverlag Berlin erscheint, ist Fühmann auch
in diesem Literatursegment sofort erfolgreich. Der
bereits namhafte Autor erzählt die Geschichte des
Jungen Moritz, der in einem Kinderwochenheim
lebt, das „außen gelb und innen violett“ (Fühmann
1959, o. S.) ist. Zum Leidwesen der anderen Kinder
und der Leiterin des Kinderheims Frau Piepermann
mag Moritz sich nicht waschen. Als ein König
auftaucht, der die Kinder bittet, seine verwunschene Prinzessin zu befreien – sie schläft einen
Zauberschlaf – wird Moritz dennoch ausgewählt,
an der Befreiung mitzuwirken. Auf dem Weg ins
Märchenland warten drei Aufgaben auf die Kinder,
Abb. 2: © Rostock: Hinstorff, 2012
Diese Geschichte, die auf Anregung seiner Tochter
Barbara entstand (Fühmann 2008, 340), verarbeitet
in unterschiedlicher Weise die Strukturen und Motive des Märchens. Bereits der Titel verweist auf das
Märchen Vom Büblein, das sich nicht waschen wollte
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(Bechstein, zit. nach Wardetzky 2006, 583). Wie bei
Bechstein gerät auch Moritz durch sein abweichendes Verhalten in die Fänge des Bösen. In seinem
Falle ist es aber die Gemeinschaft, das Kollektiv, mit
deren Hilfe Moritz das Böse überwinden kann und
seine Erfüllung in der Reintegration in die Gruppe
und der Übernahme von deren Wertmaßstäben
findet.
Auffälliger jedoch fällt die starke Vermischung realistischer und phantastischer Gestaltungsstrukturen und Motive ins Auge. So stellt der Handlungsort
der Rahmenerzählung ein Kinderwochenheim dar,
wie es in der DDR der Fünfziger- und Sechzigerjahre durchaus üblich war. Auch die institutionellen
Strukturen zeigen, dass die Handlung im jungen
Arbeiter- und Bauernstaat verortet ist. Moritz ist
bei Auftauchen des Königs Pionier vom Dienst und
als alle Kinder das Kinderheim verlassen, muss der
König diesen Posten übernehmen. Mit dem Thema
Sauberkeit sind nicht nur ein prinzipieller Hygienemaßstab und eine Erziehungsaufgabe in der Kindheit benannt. Ebenso tangiert das Thema ein zentrales Gebot der Jungpioniere: „WIR JUNGPIONIERE
treiben Sport und halten unsere Körper sauber und
2
gesund.“ Insofern wird hier auch ein Kernthema
der institutionalisierten sozialistischen Erziehung in
den Blick gerückt. Schließlich eröffnet sich noch ein
weiterer, auf den Autor bezogener Realitätsbezug.
Auch dessen eigene Tochter Barbara, die ebenfalls
in einem Kinderwochenheim aufwuchs, taucht in
der Figur der Bärbel als eine der Hauptfiguren neben Moritz in der Geschichte auf.
Der realistische Rahmen verbindet sich jedoch
schon bald mit märchenhaften Elementen und
Strukturen. Der plötzlich im Kinderheim auftauchende König stellt nicht nur ein historisch überholtes Relikt in der Kinderheimszenerie dar, er gibt
sich auch sofort als Herrscher des Märchenlandes
zu erkennen. Während die Kinder auf seine Existenz einigermaßen überrascht reagieren, ist die
Existenz dieses Landes für Frau Piepermann keine
Überraschung. Sie besitzt sogar eine Landkarte
2
http://www.documentarchiv.de/ddr/jp-gebote.html
[abgerufen am 09.01.2014]
davon, kann den Kindern im Gegensatz zum König
den Weg erklären und ruft sogar vorsorglich den
Pförtner des Landes an, um die Ankunft der Kinder
anzukündigen.
Während der König nur von Berufs wegen nicht
in die DDR gehört, bleiben fantastische Elemente
dann auf das Märchenland beschränkt. Sprechende
Tiere und andere Zauberwesen existieren nur dort.
Auch andere märchentypische Gestaltungsmittel
werden in differenzierter Form gebraucht. Flächenhafte Figurentypen treten nur in den klassischen
Märchencharakteren auf. Auch werden diese in
vielfältiger Form überzeichnet ironisiert bzw. im
Falle der Prinzessin auch normalisiert und von der
realistischen Gemeinschaft der Heimkinder assimiliert. Die Eindimensionalität der Handlungsebenen
wird eindeutig durchbrochen, wenn realistische
und fantastische Handlungsorte wie in der fantastischen Erzählung parallel verortet und ein Übergang
zwischen den Welten institutionalisiert wird. Die
Formelhaftigkeit der Sprache wird durch klassische
Märchenwendungen und situationsdeiktische
Rahmenverweise märchentypisch realisiert, aber
auch hier mit eher zeitgenössischen Formen von
Alltagssprache kombiniert. Sublimation als Wirklichkeitsentfremdung betrifft ebenfalls lediglich die
märchenseitigen Charaktere und Handlungssituationen; das Kollektiv der Kinder handelt sachlich
und vernunftorientiert und im Rahmen der realen
Gestaltungsmöglichkeiten. Märchentypische Abstraktionen und Polarisierungen finden sich schließlich in der Handlungsstruktur, die im Märchenland
mit der dreifachen Aufgabenbewältigung dem
bekannten Wiederholungsmuster des Märchens
folgt, wobei bei der dritten Sequenz nicht der Befreiungsschlag, sondern die Katastrophe folgt. Auch
die polarisierenden Wertzuschreibungen des Guten
und Bösen beschränken sich auf das Märchenland.
Im Kontext des Kinderheims verkommt der König
zur albernen Figur, seine Tochter wird ein Kind unter
vielen.
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Die Suche nach dem wunderbunten
Vögelchen (1960)
Nur ein Jahr später erscheint Fühmanns zweites
Kinderbuch, das als Trompeterbüchlein (Illustratorin
ist wieder Inge Friebel) ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin realisiert wird. Noch stärker als beim
Moritz strebt Fühmann hier die Legierung realistischer und märchentypischer Gestaltungsstrukturen
an, was markant bereits in den einleitenden Sätzen
deutlich wird:
Mitten in unserem schönen Land, sieben Wälder
und sieben Genossenschaftsfelder hinter der Hauptstadt Berlin, liegt die kugelrunde Stadt Käsebrot,
und mitten in der kugelrunden Stadt Käsebrot ist
ein großer grüner Platz, und mitten auf dem großen
grünen Platz ist ein buckeliger brauner Baum, und
mitten auf dem buckeligen braunen Baum ist ein
dicker knorriger Ast, und mitten auf dem dicken
knorrigen Ast ist ein breites bleisilbernes Blatt,
und mitten auf dem breiten bleisilbernen Blatt ist
ein kuscheliges blaues Nest, und mitten in dem
kuscheligen blauen Nest ist ein feuerrotbäuchiges
Vöglein mit einem vollmondgelben Rücken, einem
seerosengrünen Schwanz und einem veilchenblauen Köpfchen, und mitten in dem veilchenblauen
Köpfchen stecken über einem zuckerweißen Schnäbelchen zwei winzige purpurne Äuglein, und wenn
die winzigen purpurnen Äuglein sich auftun, dann
sehen sie gerade in den Schlafsaal des Kinderwochenheims der kugelrunden Stadt Käsebrot. (Fühmann 1960, 5f)
Geschickt gelingt Fühmann die Verortung der
Handlung in der DDR, mit der jedoch gleichermaßen eine fantastische Wirklichkeitsentfremdung
einhergeht: Die Entfernungsangabe zu Berlin trägt
deutlich dysfunktionale und unbestimmte Züge
und wird zudem von der märchentypischen Symbolzahl Sieben klar fantastisch überzeichnet. Die
schrittweise Fokussierung des Handlungsaugenmerks gleicht einem filmischen Zoom, erinnert aber
ebenso an formelhafte Geschichtenstrukturen.
Das Vögelchen zeigt sich als offensichtlich irreales
Exemplar seiner Art und wird im Folgenden auch
als einzigartiges, bedingt magisches Wesen vorgestellt. Am Ende seiner schrittweisen Fokussierung
wird der Blick plötzlich gewendet, indem der auf
die Augen des Vögelchens hin orientierte Leser
nun mit dessen Augen in die Wirklichkeit der DDR
schaut und sich hier wieder klar in kinderkulturellen Kontexten realistischer Form wiederfindet.
Fühmann selbst gibt an, dass auch die kugelrunde
Stadt Käsebrot ein Vorbild gehabt habe: Bitterfeld
mit seiner glockenförmigen Dunsthaube und dem
üblen Geruch der Chemieindustrie (Fühmann, zit.
nach Heinze 1998, 99). Als Primäradressatin kann
wiederum Tochter Barbara angenommen werden.
Abb. 3: © Berlin: Kinderbuchverlag 1960
Die Geschichte entspinnt sich im Folgenden als Kriminalroman, in dem das wunderbunte Vögelchen
eines Tages verschwunden ist, was die für seine Sicherheit verantwortlichen Kinder des Kinderheims
zur Kontaktaufnahme mit der Polizei bewegt.
Gemeinsam mit zwei Volkspolizisten gehen die
drei Kinder Sonja, Lutz und Bärbel [!] auf Fahndung.
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Das Vögelchen wird schließlich nach längeren und
genau erläuterten Recherchen auf einem Jahrmarkt
beim Zirkusmagier Sassafraß ausfindig gemacht.
Die Lage spitzt sich dennoch zu, denn Lutz beginnt
in Eigeninitiative zu fahnden und gerät in die Gewalt von Sassafraß. Durch das Geschick der Volkspolizisten und mit Hilfe des wunderbunten Vögelchens werden schließlich alle Bösewichte gefasst,
Lutz wird befreit und der Fall abgeschlossen.
Das Buch zeichnet sich durch das deutliche Bemühen aus, Einblicke in die Arbeitsweisen der Volkspolizei zu bieten; ein Thema, mit dem Fühmann sich
im Nachgang der Bitterfelder Konferenzen und im
Rahmen einer Recherche über die Arbeit eines Abschnittsbevollmächtigten ohnehin gerade beschäftigt hatte.
Dieses zweite Kinderbuch knüpft strukturell an die
Geschichte vom Moritz an, modifiziert die Realisierung der Verknüpfung realistischer und fantastischer Elemente jedoch anders. Ein Nebeneinander
zweier Welten mit unterschiedlichen Wirklichkeitsstrukturen gibt es nicht. Das wunderbunte
Vögelchen als einziges wirklich fantastisches Wesen
gehört ausschließlich nach Käsebrot. Es vollzieht die
Handlung mit und agiert vernünftig und beherzt,
kann sich aber nur in der Sprache der Vögel ausdrücken, die für die Menschen leider nicht zu verstehen
ist; nur der Autor übersetzt für die Leser des Buches.
Der zweite Märchencharakter, der Magier Sassafraß
entpuppt sich als Jahrmarktsschwindler, der über
keinerlei fantastische Fähigkeiten verfügt. Auch
die Volkspolizisten und die Kinder müssen mit den
herkömmlichen Mitteln auf die Fahndung gehen
und selbst das wunderbar anmutende Haus Allwissend entpuppt sich als eine schlichte, wenn auch
erstaunlich gut ausgestattete Informationszentrale.
Das Fantastische, am Anfang noch andeutungsweise omnipräsent, wird im Verlauf der Handlung
sukzessive marginalisiert.
Demgegenüber werden Republik und Gesellschaft
vom ersten Satz an idealisiert dargestellt („Mitten
in unserem schöne Land...“). Die Volkspolizisten
stellen sich als verständnisvolle Freunde und Helfer in den Dienst der Kinder, sie geben nebenbei
bereitwillig und geduldig, aber konsequent und
dienstbeflissen Einblick in ihre Arbeit. Bösewichte haben in diesem Staat keinen Platz. Sassafraß
entpuppt sich nicht nur als ein solcher, sondern als
Waffenbesitzer zudem als Militarist. Er gibt an, mit
Lutz in ein anderes Land fahren zu wollen, in dem
niemand nach Lutz fragen würde und wo er für ihn
arbeiten müsse. Deutlich scheinen hier polarisierende Zuspitzungen einer schwarz-weiß-gemalten
Ost-West-Problematik auf, zumal der Landeswechsel von der DDR zur BRD zum Zeitpunkt des Bucherscheinens noch realistisch möglich war; die Grenze
wurde erst 1961 geschlossen.
Demgegenüber zeigen sich die Repräsentanten des
‚besseren Deutschlands’ nicht nur als moralische
Vorbilder, sondern auch als klügere und nachsichtigere Menschenfreunde. Sassafraß wird zugestanden, dass auch er sich ändern könne und auch die
beiden Volkspolizisten müssen zugeben, dass sie
nicht ohne Fehl und Tadel sind. Insofern verliert
sich hier die Flächenhaftigkeit und Abstraktheit
der Protagonisten. Auch der Erzählstil entfernt sich
deutlich vom formelhaften Märchen.
So weist die prinzipielle Ähnlichkeit in der Gestaltung der beiden märchenhaft-realistischen Kindererzählungen doch auch deutliche Unterschiede auf.
Die pointiert-ironische Überzeichnung der typisierten Märchenmotive, und die damit einhergehende
Relativierung der platten Moral des Titelkonflikts,
wie sie in der Geschichte von Moritz prägend
war, weicht in der Suche nach dem wunderbunten
Vögelchen einer versachlichenden Wirklichkeitsdarstellung, die zwar mit Märchenmotiven spielerisch
umgeht und dabei die von Maria Lypp herausgearbeitete Einfachheit kinderliterarischer Stoffe (vgl.
Lypp 1984) beispielhaft erreicht, jedoch mit deutlich
höherem Realitätsanspruch gesellschaftliche Probleme konkret und modellhaft reinszeniert. Was bei
Moritz noch als leichtfüßige Fantasterei daherkam
und neben dem erhobenen Zeigfinger auch ein Augenzwinkern beigab, wird im zweiten Versuch zur
stark ideologisierten Erziehungsliteratur, die sich
auch dem kinderliterarischen Mainstream der DDR
wieder stärker annähert.
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Zeitgenössische Kontroversen: Fühmanns Kinderbücher in der DDR
Fühmann scheint sich dieser Problematik bereits
wenige Jahre nach dem Erscheinen der beiden
Bücher selbst bewusst zu sein. Ihr großer Erfolg –
beide sind bis heute verfügbar (neu aufgelegt im
Hinstorff-Verlag) und Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen wird 1964 sogar verfilmt – kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Spektrum der Kinderliteratur ihrer Zeit eine ambivalente Stellung einnehmen. Nach einer verstärkten
Publikation von Märchen in der zweiten Hälfte der
Vierzigerjahre (vgl. Wardetzky 2006, 579f) – diese
galten vorerst als unbedenklich und repräsentierten
kulturhistorische Wurzeln vor dem deutschen Sündenfall – waren die kinderliterarischen Tendenzen
der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der DDR durch
eine starke gesellschaftspolitische Ausrichtung der
Literatur geprägt. Das Kind in der Gesellschaft, als
Teil des Kollektivs, und in dieser Funktion in direkter Verantwortung bei der Realisierung der sozialistischen Gemeinschaft wurde zum Leitbild der
Literatur für Kinder (vgl. Richter 2011, 59ff). Damit
einher ging eine klare Orientierung auf realistische
Literatur. Das Wunderbare schien in diesem Kontext
keinen Platz mehr zu haben. Während in Fühmanns
Geschichten dieses gesellschaftspolitische Bemühen deutlich erkennbar ist, versucht er dennoch
die für seine Zeit gänzlich untypische Verbindung
realistischer und fantastischer Motive. Die Einzigartigkeit dieser Verbindung drückt sich exemplarisch
im Verlagsgutachten zum Moritz aus:
Diese Verquickung von Wirklichkeit und märchenhafter Phantasie – von der wir bisher erfahrungsgemäß annehmen mußten, daß sie unmöglich sei
– ist Fühmann nicht nur deshalb gelungen, weil er
ein wirklicher Dichter ist, sondern auch weil er die
Welt der Kinder in ihrer ganzen Vielfalt kennt und
deshalb überzeugend gestalten kann. (Verlagsgutachten, zit. nach Heinze 1998, 94)
Doch löst eben dieses Phänomen nicht nur Begeisterung aus! Gerade unter Pädagogen wurde die Frage, ob eine Vermischung von Realität und Fantastik
der Darstellung und Ausgestaltung des sozialistischen Realismus gerecht werden kann, kontrovers
diskutiert. Ein König als Pionier vom Dienst ging
vielen dann doch zu weit. Fühmann selbst setzt sich
mit solchen Argumenten immer wieder intensiv
3
auseinander. Für ihn ist die von ihm vorgenommene Verbindung kein Zeichen von Innovation,
sondern ein originäres Merkmal der Märchen,
wobei die Realität der Märchentexte durch ihre
schriftliche Fixierung, die gleichzeitig eine Fixierung
ihres Alltags in der Zeitgeschichte darstellt, eine für
spätere Generationen verfremdete (vgl. Fühmann
2008, 327f). Der König und der Müller waren am
Beginn des 19. Jahrhunderts Figuren des Alltags.
Damit war auch der Realitätsgrad der Märchen für
die Adressaten dieser Zeit ein anderer, als im 20.
Jahrhundert. Dennoch weist auch Fühmann darauf hin, dass diese Alltagsfiguren natürlich keiner
realistischen Darstellung im Märchen unterliegen,
sondern typisiert Funktionsträger mit tradierter
Motivstruktur und widerspruchsfreier Anlage darstellen. Aus diesem Grund eignet sich das Märchen
mit seinem Figurenensemble und Handlungsrepertoire in besonderer Weise, exemplarische Probleme
und Themen des Alltags mit der nötigen Distanz
von der Alltagserfahrung pointiert zu verarbeiten,
ohne die Wirklichkeit unnötig zu verfälschen. Demgegenüber böten – so schreibt er 1975 in seinem
Essay Das mythische Element in der Literatur – die
widerspruchsfreie Darstellung von märchenhaft
überzeichneten Alltagsfiguren wie Brigadieren, Genossenschaftsbauern und Volksarmisten kaum die
Möglichkeit, ein glaubwürdiges Problemszenario zu
gestalten.
3
Davon zeugen auch Briefwechsel mit Lehramtsstudierenden, in denen er in den Sechzigerjahren detailliert über
seine Intentionen bei der Gestaltung der beiden Bücher
Auskunft gibt. Einzusehen sind einige dieser Briefe bei
Heinze 1998 und Fühmann 2008.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Gerade dieses in Szene setzen des Märchentyps für
die exemplarische Ausgestaltung von Kinderalltag
scheint im Moritz ausgezeichnet gelungen zu sein,
weil die Flächenhaftigkeit der Märchenfiguren dort
an das Märchenland gebunden ist und sie im Alltag
– ironisiert oder normalisiert – zu Individuen werden (im Falle der Prinzessin) oder aber als fantastische Elemente ihre mangelnde Passung zum gesellschaftlichen Alltag selbst deutlich zum Ausdruck
bringen (so der König). Dieser Kunstgriff geht in der
Suche nach dem wunderbunten Vögelchen verloren,
da hier eben diese Trennung aufgehoben wird und
Fühmann die von ihm später deutlich kritisierte
Glättung von Widersprüchen in der Figurenkonstruktion von Alltagsfiguren (insbesondere in den
idealisierten Volkspolizisten) selbst realisiert. Hier
schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten
Widersprüchen in der poetischen Konzeption, die
nur unter biografischen Gesichtspunkten verständlich gemacht werden kann.
Abb. 4: © Manfred Böttcher: Porträt Franz Fühmann. Um 1970.
Pinsel, Tusche.
Vom Märchen zum Mythos
Die beiden Kindergeschichten bleiben vorerst die
einzigen eigenständigen Texte Fühmanns für Kinder. Einerseits wendet er sich im Rahmen des Bitterfelder Wegs umfangreichen Recherchen im sozialistischen Arbeitsalltag zu, andererseits dominieren
wieder Arbeiten in der Literatur für Erwachsene.
Die in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre publizierten Texte wenden sich eher an ein jugendliches
Publikum; der Mythos wird Fühmanns favorisiertes
jugendliterarisches Genre. Das zunehmende Lebensalter der Tochter Barbara mag daran nicht unerheblichen Anteil haben. Jedoch zeichnet sich auch
ab, dass die Märchenkonzeption mit ihrer immanenten Hoffnungsutopie immer weniger mit dem
von Fühmann wahrgenommenen sozialistischen
Alltag in der DDR zu tun hatte. Ideologische und
kulturpolitische Differenzen mit den Mächtigen des
Landes nehmen zu. Fühmann selbst stürzt mehr
und mehr in eine persönliche Krise. Später wird er
die Ereignisse des Prager Frühlings als Wendepunkt
in seinem Leben bezeichnen. An der „Grenze des
Zerbrechens“ (Fühmann, zit. nach Richter 1992, 233)
begibt er sich im Herbst 1968 auf Alkoholentziehungskur, die einen erfolgreichen Lebenswandel
einleitet. Auch in philosophisch-ideologischer
Perspektive findet Fühmann nun die Kraft für einen
Neuanfang und verfolgt konsequent die poetologischen Widersprüche, die ihn in den letzten Jahren
mehr und mehr haben verzweifeln lassen. Das hat
gravierende Auswirkungen auf seine schriftstellerische Arbeit; auch die für Kinder. Bis zu seinem Tod
1984 entstehen neue Geschichten, die deutlich den
Wandel des Autors belegen, und dennoch wichtige
Traditionslinien seiner Arbeit fortführen.
Ein zentrales Thema von Franz Fühmanns umfangreich geführten und essayistisch dokumentierten
poetologischen Reflexionen betrifft das Verhältnis
von Märchen und Mythen; den beiden Genres,
denen er als Entwicklungsformate in seiner eigenen Schriftstellerbiografie zentrale Bedeutung
zuschreibt. Dem noch unschuldig klingenden Satz
aus Androklus und der Löwe (1966) „Aber das waren alles nur Märchen“ (Fühmann, zit. nach Decker
2009, 216) kann nachträglich einige Bedeutung
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zugemessen werden, denn er markiert das vorläufige Ende von Fühmanns Märchenproduktion.
Immer überzeugter wendet er sich dem Mythos als
Alternative zu, der die suspekt gewordenen gesellschaftspolitischen Verhältnisse der DDR besser
abzubilden scheint. Die einfache Losung „Das Gute
wird siegen!“ ist mit den Verhältnissen in der DDR
nicht mehr vereinbar. Der überzeugte Sozialist
Fühmann gerät damit – wie viele seiner Zeitgenossen – in einen elementaren Widerspruch. Seine
philosophisch-ideologischen Grundpositionen mag
er nicht ändern, stellen sie für ihn doch die beste aller Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens
dar. Mit der erlebten Wirklichkeit, die mit diesen
Positionen kongruent zu sein behauptet, kann er
sich jedoch immer weniger identifizieren. In den
polaristisch strukturierten Argumentationsmustern
der DDR-Ideologen ist Kritik an den Zuständen des
real existierenden Sozialismus jedoch gleichbedeutend mit der reaktionär-konterrevolutionären
Infragestellung der DDR. Die Ereignisse im Rahmen
des Prager Frühlings machen die Hoffnungen auf
Reformen zunichte. Auch der Machtwechsel an der
Spitze der DDR am Beginn der Siebzigerjahre – Erich
Honecker löst Walter Ulbricht ab; er verspricht auch
eine offenere Kulturpolitik ‚ohne Tabus’ – weckt nur
kurz Hoffnungen auf Besserung und macht bald
einer großen Resignation Platz. Die Ausbürgerung
Wolf Biermanns 1976 stellt schließlich eine weitere
wichtige Zäsur dar.
Fühmann gehört zu den zwölf Erstunterzeichnern
eines Protestbriefs gegen diese Maßnahme. Von
nun an ist das Verhältnis des Autors zur politischen
Elite nachhaltig zerrüttet. Anders als viele seiner
KollegInnen geht Fühmann nicht nach Westdeutschland, er sieht sich in der DDR aber immer
schwierigeren Arbeitsverhältnissen ausgesetzt. Solche „koordinierte[n] Differenzierungs- und Zersetzungsmaßnahmen“ (Formulierung aus Fühmanns
Stasiakte, Heinze 1998, 362) machen das Publizieren
zunehmend schwieriger. Öffentliche Auftritte sind
mehr und mehr nur noch in alternativkulturellen
Zusammenhängen möglich; zum Beispiel im Forum
der Kirchen der DDR. Die Vehemenz der persönlichen Diffamierung, der sich Fühmann zunehmend
ausgesetzt sieht, wird exemplarisch an der Reaktion
Abb. 5: © Rostock: Hinstorff, 1998
auf sein Engagement für geistig behinderte Menschen deutlich. Während er selbst in einem Brief an
seine Schwester schreibt:
„... mein schönstes Erlebnis beim Vorlesen überhaupt: ich hab vor etwa 100 geistig schwerbehinderten Menschen gelesen [...] und die haben mir
fünfviertelstunden zugehört, haben gelacht, sich
gefreut, sind glücklich gewesen [...]. Das werd ich
ausbaun...“ (Brief vom 23.4.1980, ebd., 307)
wertet die Stasi dieses Engagement als Zeichen von
Fühmanns zunehmender Unzurechnungsfähigkeit.
In seiner Stasiakte wird am 17.3.1982 notiert:
„Genosse [Name geschwärzt] teilte weiter mit,
daß er den Eindruck gewonnen hat, daß Fühmann
zunehmend Verhaltensweisen eines Geistesschwachen annimmt. Er beobachtete, daß sich Fühmann
hingezogen fühlt, zu Personen, die sich bereits in
psychiatrischer Behandlung befinden. [...] Er beabsichtigt, über Geistesgestörte und für Geistesgestörte zu schreiben.“ (ebd., 315)
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Positionen | Projekte | Publikationen
Als Fühmann in dieser Zeit an Krebs erkrankt, ist er
bereits zutiefst frustriert. Ein Jahr vor seinem Tod
beendet er sein Testament mit den Worten:
„Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der,
gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal
erträumten.“ (Fühmann, zit. nach Decker 2009, 410)
Gerade in den letzten Jahren wendet sich Fühmann
jedoch wieder verstärkt den Märchen zu. Er schreibt
Puppenspiele und Märchen auf Bestellung. Auch
märchenadaptierende Radiohörspiele sind dabei,
die er aber explizit an ein erwachsenes Publikum
adressiert. Diese Texte fundieren auf poetologischen Überlegungen, die Fühmann besonders in
seinem Ungarn-Tagebuch Zweiundzwanzig Tage
oder Die Hälfte des Lebens (1973, 1993b) und in seinem Essay Das mythische Element in der Literatur
(1975, 1993e) äußert.
Die Märchenkonzeption auf dem
Prüfstand
Für Fühmann beantwortet sich die Frage nach der
Beziehung von Märchen und Mythen aus der Perspektive der Herkunft ihrer Themen und Motive, wie
auch aus deren Vertextung und Markierung. Sowohl Märchen als auch Mythos beruhen demnach
auf archaischen und elementaren Menschheitserfahrungen, wobei der Mythos diese symbolisch
verarbeitet, das Märchen hingegen weitgreifendere
Neukompositionen von Versatzstücken dieser
Erfahrungen vornimmt (vgl. Fühmann 1993e, 92).
Während im Mythos existenzielle Themen wie
Verrat, Verlangen, Treue und Gewalt in ihrer Ambivalenz vereint im Protagonisten dargestellt werden,
äußern sich im Märchen polarisierende Persönlichkeitsmerkmale in unterschiedlichen Handlungsträ-
gern. Der Held des Mythos ist nicht gut oder böse,
er ist innerlich gespalten und hin und her gerissen.
Und er handelt auch so. Seine Taten sind geprägt
von inneren Konflikten und das Scheitern an eigenen Idealen gehört zum Sieg immer mit dazu. Am
Beispiel der griechischen Sagen führt Fühmann
dies vor Augen. Der Göttervater Zeus im Prometheus
(1974) wird als Herrschender selbst zum Despoten und die Helden des Kampfes um Troja (1968)
haben keine weiße Weste. Die Frage nach gut und
böse stellt sich in den Facetten des Handelns, nicht
aber in der Trennung der konkreten Figuren. Das
Märchen ist für Fühmann eine Weiterverarbeitung
dieser Mythenstoffe, ein Produkt zweiter Hand,
das sich dadurch auszeichnet (vgl. Fühmann 1993e,
486), dass es die Ambivalenzen menschlicher Erfahrungen in stereotypen Funktionsfiguren trennt und
polarisierend abstrahiert. Damit pointiert das Märchen moralische Wertesysteme durch eine flächenhafte Konstruktion seiner Figuren- und Handlungsanlage, es entfremdet seine Motive jedoch von der
konkreten und widersprüchlichen Erfahrung des
Alltags und mechanisiert Moral als starres System.
Die sublime Überzeichnung von Menschheitsthemen im Märchen ist für Fühmann die logische
Konsequenz. „Die Märchen sind Kaleidokopsbilder
von Mythensplittern, bunt, flächig, entzückend und
auswechselbar“ (ebd., 486). Andererseits muss er
auch einräumen: „Aber oft sind Märchen Juwelen,
die Mythen nur Rohdiamanten“ (ebd., 492).
In Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der
eigenen Biografie, mit seinen Selbstzweifeln und
seinen gescheiterten Hoffnungen verlegt sich Fühmann mehr und mehr auf das Schleifen von Rohdiamanten. Die nüchterne Suche nach dem eigenen
Ich führt er im Mythos weiter, denn: „[d]as Märchen
lehrt träumen, der Mythos leben“ (ebd., 487). Die
Träume scheinen gescheitert, das Leben wird zur
Hauptaufgabe. So verstummt mit dem Utopisten
Fühmann auch der Märchenerzähler; jedoch nicht
für immer.
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Hof des Sultans, das keiner kohärenten Geschichte
zu folgen scheint. Ein getürmter Sklave setzt einen
Drachen auf den Sultan an unter dem Vorwand,
zum Feuerspeien brauche er dessen Genehmigung.
Doch statt den Sultan zu töten, wird der Drache
Oberdiskutierer am Hof. Was diskutieren meint,
bringt der Ritter auf den Punkt:
Ritter: Wir sagen unsere Meinung, und die meine
gilt.
Drache: Und wenn das der Andre nicht gelten läßt?
Ritter: Dann zieh ich mein gutes, wackeres Schwert!
Abb. 6: © Rostock: Hinstorff, 1999
Der glückliche Ritter von Trinitat (1976,
1999)
1976 erhielt Fühmann von dem mit ihm befreundeten Jungen Joachim Damm (damals 10 Jahre) den
Auftrag, ein Puppenspiel zu schreiben „mit einer
dicken Dame, einem Sultan, einem Ritter, einer Prinzessin, einem orientalischen Zauberer und einem
Drachen und Sklaven“ (Heinze 1998, 293). Fühmann
führt die Bestellung prompt aus und legt nur kurze
Zeit später Der glückliche Ritter von Trinitat oder
Wie wird man Oberdiskutierer (1976, 1999) vor. Das
Puppenspiel ist zu diesem Zeitpunkt lediglich für
Joachims Theater bestimmt und erscheint erst 1999
posthum mit Bildern von Egberth Herfurth.
Die Geschichte ist eine schräge Persiflage auf
den Alltag der DDR. Noch ungetrübt von der kurz
bevorstehenden Ausbürgerung Wolf Biermanns
inszeniert Fühmann ein buntes Durcheinander am
In dieser Diktion karikiert Fühmann die zur Rhetorik verkommene materialistische Dialektik. Im
märchenhaften Szenario gänzlich ungebräuchliche
Begriffe, wie Tonnenideologie und Prognostik, aber
auch konkrete Elemente des DDR-Alltags, wie eher
appellativ wirkende Spruchbanner zur Meinungsbildung des Volkes, stellen hier eine explizite Brücke
zur Wirklichkeit dar.
Feinsinnig, und doch bar jeder Subtilität inszeniert
Fühmann für seinen jungen Auftraggeber einen
Blick auf die DDR, der bei aller Kritik von einem
versöhnlichen Grundtenor geprägt ist. Für Fühmann ist es nach Langem eine erste Rückkehr zu
den Motiven des Märchens im Schreiben für Kinder.
Weiterhin etabliert es mit dem Auftragswerk ein
Format, das er in den Folgejahren noch mehrmals
auflegen wird.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Märchen auf Bestellung (1981, 1993)
Die Märchen Von der Fee, die Feuer speien konnte;
Anna, genannt Humpelhexe und Der Drache und der
Schmetterling sind als Auftragswerke auf Anregung
von Kindern geschrieben und in einer Sammlung
4
1981 (hier 1993d) veröffentlicht worden. In diesen
Texten wird die Rückkehr des Märchenautors zu
seinen Anfängen als Schreiber für Kinder deutlich:
Es war einmal ein Wald, in dem es niemals schneite. Dieser Wald lag nicht im glühenden Afrika und
auch nicht im heißen Indien, er lag gar nicht weit
weg von der Stadt Berlin, hinter dem zweiundzwanzigsten Hügel zwischen Sachsen und Mecklenburg.
Heute lebt kein Baum dieses Waldes mehr, aber
einige Ururururenkel der Dachse, die damals dort
gesiedelt haben, sind heute genauso alt wie ihr.
(Fühmann 1993d, 291)
Dieser Anfang der Geschichte Von der Fee, die Feuer
speien konnte erinnert deutlich an den Einstieg
in Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen
(Fühmann 1960, vgl. Teil 1 dieses Beitrags in kjl&m
2.2014). In einem Wechselspiel von Verfremdung
und Lokalisierung inszeniert Fühmann eine offensichtlich irreal-märchenhafte und doch an konkrete
Orte und Zeiten gebundene Szenerie. Bis hin zum
Gebrauch der Zahlensymbolik – waren es 1960 noch
sieben Wälder und Genossenschaftsfelder sind es
nun zweiundzwanzig (Fühmanns magische Zahl,
vgl. Richter 1992, 73) Hügel – knüpft Fühmann hier
an eigene Erzähltraditionen an, die eben das für ihn
typische hybride Realitätsmärchen erkennen lassen.
Und doch nehmen die erzählten Handlungen einen
völlig anderen Verlauf.
In besagter Geschichte wird von der Fee Anna Susanna Lachdochmal berichtet, die in einem kleinen
Stück Waldes durch einen Zauber einen ewigen
4
In neueren Veröffentlichungen, zum Beispiel der Hörspiellesung durch Elke Heidenreich (Fühmann/Heidenreich 2004)
und den Bilderbuchausgaben mit Bildern von Jacky Gleich
(Fühmann/Gleich 2004) wird zudem das Märchen von Doris
Zauberbein hinzugefügt.
Sommer etabliert hat. Als der Winterkönig hinter
diese Posse kommt, erzwingt er gegen Anna Susannas Willen den Einzug des Winters, der die unvorbereiteten Tiere und Pflanzen hart trifft. In letzter Not
zieht die Fee aus zu den Drachen, um von ihnen das
Feuer speien zu lernen. Doch sie ist zu schwach und
kann nur mit der Hilfe der anderen Drachen den
Winter einstweilen vertreiben. Ab dem kommenden
Jahr lässt sie dem Wetter schließlich seinen Lauf.
Gemeinsam ist allen diesen Märchen auf Bestellung, dass sie von Außenseitern erzählen. Wieder
geht es um bekannte Motive wie Sauberkeit und
Gemeinschaft, doch anders als beim Moritz, der kein
Schmutzkind mehr sein wollte (Fühmann 1959) ist es
nun nicht das Kollektiv, das das Individuum assimiliert, sondern der Einzelne sucht seinen Weg jenseits der gängigen Traditionen. Verantwortung für
sich selbst und andere wird zur obersten Prämisse
und zur Herausforderung in einer Welt, die die eigenen Lebensentwürfe nicht akzeptieren kann und
möchte. Hier nun forciert Fühmann ganz deutlich
alternative Lösungen, die pragmatisch, doch ohne
Selbstaufgabe sind. Sie sind frei von Utopien, machen aber das beste aus den Gegebenheiten. Dazu
gehört auch, die eigenen Grenzen – wie im Fall von
Anna Susanna – zu entdecken und akzeptieren zu
lernen. Dass das nicht Selbstaufgabe bedeuten
muss, illustrieren die Protagonisten der Märchen
auf Bestellung eindrücklich.
Abb. 7: © Rostock: Hinstorff, 2002
Positionen | Projekte | Publikationen
Schlipperdibix und klapperdibax! (1984,
1985)
In seinen letzten Lebensmonaten in der ersten
Jahreshälfte 1984 – körperlich geschwächt, dennoch
unermüdlich produktiv – legt Franz Fühmann noch
einmal zwei Märchen für Kinder vor; wieder in der
bereits erprobten Form des Puppenspiels. Diese
an die Puppenspieltradition Poccis anknüpfenden
Stücke sind Neufassungen bekannter Märchenstoffe voller intertextueller und zeitgeschichtlicher
Querverweise. Im Spiel von der glücklichen Flucht
des Prinzen Schaukelpferd vom Spielzeugland mit der
Prinzessin Dana von Gurkistan aus der Burg des Zauberers Khalakuck ist es das von Fühmann bereits in
seinem Essay Das mythische Element in der Literatur
(1993e, 92) besprochene Motiv der von einem Zauberer geraubten und von einem Prinzen befreiten
Prinzessin, das den Stoff der Geschichte bietet. Das
in den Märchen vieler Kulturen auffindbare Motiv und die – wie in allen ihren Vorlagen – in einer
rasanten und von vielen Verwandlungen geprägten Verfolgungsjagd gipfelnde Erzählung münden
im Falle Fühmanns auf dem Döbelner Markt vor
einem Stand mit Spreewälder Neuen Sauren Gurken – wieder erkennbar die typische Verknüpfung
realistischer und märchenhafter Elemente, hier
eher in einer Zwei-Welten-Lösung, auch wenn kein
expliziter Übergang von Realität und Märchenwelt
markiert wird. Die kuriosen Bezüge zum DDR-Alltag
gipfeln in der Ignoranz der Döbelner Bewohner, die
sich weigern, die Fantastik der Situation anzuerkennen. Der anwesende Volkspolizist mischt sich mit
einer ganzen Reihe an in ihrer Rationalität grotesk
wirkenden Verboten in die Verfolgungsjagd des
Zauberers ein, bleibt dabei aber weitgehend wirkungslos.
Im zweiten Märchenspiel der Sammlung Vom
Kaspar, der Königin Tausendschön und der noch tausendmal schöneren Prinzessin Schneewittchen wird
das beliebte Grimmsche Märchen neu erzählt. Wie
kaum an anderer Stelle wird hier die radikale Wandlung des Schriftstellers Fühmann deutlich. War ihm
gerade dieses Märchen in seinen lyrischen Texten
der Fünfzigerjahre noch als Sinnbild der Geschichte
des deutschen Volkes erschienen (vgl. Krätzer 2008,
354), bearbeitet er es in seinem Vortrag Ein Wort an
künftige Kollegen (1972, Fühmann 1993a) mit Blick
auf den sich in der DDR immer stärker abzeichnenden Generationenkonkflikt in der Kulturpolitik. In
diesem Puppenspiel deutet er das Märchen wiederum um, indem er die Mutter Königin (Fühmann
nimmt die Grimmsche Veränderung der Mutter zur
Stiefmutter wieder zurück) und Schneewittchen
in einer Entwicklungsperspektive miteinander
vergleicht. Das zuerst verfolgte Schneewittchen
schlüpft aus seiner Opferrolle, als es zur Königin
ernannt wird – die Handlung unterscheidet sich
mitunter deutlich von der Grimmschen Vorlage, ein
Prinz wird nicht benötigt – und zeigt sich nun selbst
von der Macht korrumpiert als egoistische und
skrupellose Herrscherin. Das Märchen endet fast
gespenstisch mit einem sich senkenden Vorhang
und der Aussage der neuen jungen Königin Schneewittchen:
Also weißt du, lieber Spiegel, ich werde dir jetzt
mein geheimstes Geheimnis anvertraun. Weißt du,
ich möchte gar zu gern heiraten, und der schönste
Prinz von der Welt muss es sein, und wir werden die
tollste Hochzeit haben und werden das glücklichste Paar von der Welt sein und eine Hochzeitsreise
nach Cottbus machen, und wir wollen zusammen
das schönste Kind haben, das die Welt je gesehen
hat, natürlich ein Mädchen, eine richtige Prinzessin,
und sein Leib soll so weiß wie Schnee sein, und die
Backen so rot wie lebendiges Blut, und die Haare so
schwarz wie Ebenholz, ja, das wünsche ich mir, ja, so
wird es sein! (Fühmann 1985, 102)
Wenige Monate vor seinem Tod hat der Schriftsteller Fühmann nun endgültig den Glauben an die
erlösende Zukunft verloren. Zwar scheint das Credo
Die Märchen werden Wirklichkeit wieder zu gelten,
doch wird aus dem propagierten Wunschtraum ein
allzu realer Alptraum, der die Erfahrung des erlebten Scheiterns einer Gesellschaftsutopie in trostlose Verzweiflung auflöst. Die komische Figur des
Kaspar, der in beiden Spielen eine zentrale und fast
immer arglose und gut gelaunte Rolle spielt, wird
dabei zum Sinnbild des spießigen Kleinbürgers, der
die Unlebbarkeit dieses Lebens mit oberflächlicher
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Positionen | Projekte | Publikationen
guter Laune und jeder Menge Nebensächlichkeiten überspielt. Seine Rolle scheint wie ein Einwurf
des Autors, der die Unsäglichkeit der verfremdeten
Handlung durch die hinzugefügte Rolle weniger
moderiert, als sarkastisch pointiert.
Franz Fühmann: Vom Scheitern als
Methode?!
Was am Lebensende als Rückkehr zu den frühen
märchenhaften Kindererzählungen (vgl. dazu
Teil 1 dieses Beitrags in kjl&m 2.2014) einerseits
erscheint, stellt sich andererseits als Ende eines
fatalen Spannungsbogens heraus, in dem ein Autor
seine eigenen poetischen Konzepte radikal infrage
stellt, worin sich letztendlich auch die Frustration
über das eigene und das gesellschaftliche Scheitern
artikuliert. Der in seinem Testament formulierte
Schmerz dieses Scheiterns, ist gerade in den letzten
Texten, fast körperlich spürbar. Noch die Märchen
auf Bestellung zeigen einen trotzigen Glauben an
den Einzelnen, wenn schon das Kollektiv sich nicht
als besserungsfähig herausstellt. Dieser Optimismus ist in den letzten Erzählungen scheinbar verloren gegangen.
Nicht vergessen werden darf, dass hier ein Todkranker schreibt, der nach langer Krankheit auch seine
eigenen Kräfte schwinden sieht. Doch kann diese
Relativierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass
das ganze Werk Fühmanns in den letzten Jahren
mehr und mehr von diesem Bewusstsein des Scheiterns geprägt ist. Nicht zuletzt sein letztes großes
Projekt, die Herausarbeitung seines poetischen
Zuhauses unter der Erde im Bergwerk muss er 1983
(Fühmann 1993f) aufgeben und als Fragment veröffentlichen. Und doch ist es eben dieses Scheitern,
das als Vermächtnis des Autors Fühmann insbesondere in Erinnerung bleibt. Die Erinnerung an einen
Charakter, der sich selbst schreibend aus radialer
Ideologisierung herauslöst und darin letztendlich
selbst Freiheit findet, fördert eine Literatur zutage,
die diese Freiheit authentisch zu artikulieren versteht. Was beim Glücklichen Ritter von Trinitat und
den Märchen auf Bestellung noch explizit in Erscheinung tritt, ist selbst in den letzten Puppenspielen
hinter der impliziten Warnung und der Provokation
noch zu spüren. Auf dem Sterbebett schreibt Fühmann schließlich noch drei Hörspiele für das Radio,
die die Märchen Das blaue Licht, das Rumpelstilzchen und Vom Machandelboom adaptieren (Fühmann 2008). Diese düsteren – explizit an Erwachsene adressierten – Texte stellen den Schlusspunkt
der Märchenproduktion Fühmanns dar.
Die radikale Abkehr vom eigenen naiven Zukunftsoptimismus in schwarz-weißer Realitätsgestaltung hat Franz Fühmann allein schriftstellerisch viele Wege gehen lassen. Als Texte für Kinder
verdienen neben den Märchen auch die Mythen
und seine Sprachspielbücher Aufmerksamkeit;
einzigartig Die dampfenden Hälse der Pferde im
Turm zu Babel (1978). Sein essayistisches Schreiben
für Erwachsene liest sich demgegenüber in einer
Zusammenschau als eine verzweifelte Suche nach
dem eigenen Ich, das er lange unter vielfältigen Einflüssen und einer für ihn beängstigenden Biografie
verschüttet sah. Dass er am Ende dieses Ich in seinen Texten – auch in denen für Kinder – findet, kann
vermutet werden. Die düstere Prognose, die sich
dabei ergibt, ist daher durchaus auch als Gewinn
zu betrachten; das Scheitern wird letztendlich zum
möglichen Erfolg.
Beeindruckend ist, dass Fühmanns Schreiben über
diese Brüche hinweg starke Kontinuitäten aufweist.
Allein die für ihn charakteristische Verquickung und
Legierung realistischer und märchenhafter Elemente und die einzigartige Inszenierung des Wunderbaren in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem
eigenen Erleben finden sich in den frühen wie den
späten Texten für Kinder als wiederkehrende Gestaltungsmittel immer wieder. Das Märchen – seine
poetologische Konzeption – hat sich demnach über
die Zeit hin nie wirklich überholt. Eher sind es die
eigenen Perspektiven des Franz Fühmann, die am
Ende seines Lebens andere sind als die des jungen
Fühmann. Das Märchen erweist sich hier wie dort
als ein produktiver Rahmen, in dem – unabhängig
von der ideologischen Beeinflussung – für Fühmann
das gilt, was er in seinem Ungarn-Tagebuch im
Märchen immer gesehen zu haben glaubt: „tua res
agitur [...] deine Sache wird hier erzählt“ (Fühmann
1993e, 481f). In dieser Perspektive sind die Märchen
für Fühmann immer auch ein Einblick in seine ei-
Positionen | Projekte | Publikationen
gene Welt gewesen. Von dieser Authentizität leben
die Texte bis heute. Und dass sie immer noch von
ungebrochener Aktualität sind, beweist auch das
kontinuierliche Interesse an den Geschichten. Dem
Hinstorff-Verlag gilt es an dieser Stelle abschließend zu danken, der das Erbe Fühmanns immer
wieder – oft auch in Kombination mit ausgezeichneten Bild- und KlangkünstlerInnen – in wunderbaren Büchern und anderen Medienformaten einer
Öffentlichkeit zugänglich erhält.
Fühmann, Franz: Schlipperdibix und klapperdibax! Zwei
Kasperlstücke. Rostock: Hinstorff 1985.
Literatur
Fühmann, Franz: Märchen auf Bestellung. In: Fühmann,
Franz: Reineke Fuchs, Märchen nach Shakespeare, Das
Nibelungenlied, Märchen auf Bestellung. Rostock: Hinstorff 1993d, S. 287-314.
Primärliteratur
Fühmann, Franz: Die Nelke Nikos. Berlin: Verlag der Nation 1953.
Fühmann, Franz: Aber die Schöpfung soll dauern. Berlin:
Aufbau 1957.
Fühmann, Franz: Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr
sein wollte. Berlin: Kinderbuchverlag 1959.
Fühmann, Franz: Ein Wort an künftige Kollegen. In: Fühmann, Franz: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981.
Rostock: Hinstorff 1993a, S. 44-55.
Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte
des Lebens. In: Fühmann, Franz: Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die
Hälfte des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993b, S. 281-506.
Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte
des Lebens. In: Fühmann, Franz: Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die
Hälfte des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993c, S. 281-506.
Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur.
In: Fühmann, Franz: Essays, Gespräche, Aufsätze 19641981. Rostock: Hinstorff 1993e, S. 82-140.
Fühmann, Franz: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß. Rostock: Hinstorff 1993f.
Fühmann, Franz: Die Suche nach dem wunderbunten
Vögelchen. Berlin: Kinderbuchverlag 1960.
Fühmann, Franz/Herfurth, Egbert: Der glückliche Ritter
von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer. Rostock: Hinstorff 1999.
Fühmann, Franz: Die Richtung der Märchen. Berlin: Aufbau 1962.
Fühmann, Franz/Gleich, Jacky: Doris Zauberbein. Rostock:
Hinstorff 2004.
Fühmann, Franz: Reineke Fuchs. Berlin: Kinderbuchverlag
1964.
Fühmann, Franz/Hampel, Angela: Prometheus. Frankfurt/Main: Edition Büchergilde 2004.
Fühmann, Franz: Das Tierschiff. Berlin: Kinderbuchverlag
1965.
Fühmann, Franz/Heidenreich, Elke: Märchen auf Bestellung. Hörbuch. Rostock: Hinstorff 2004, CD.
Fühmann, Franz: Androklus und der Löwe. Berlin: Kinderbuchverlag 1966.
Fühmann, Franz: Märchen für Erwachsene. Hörspiele,
Essays und andere Texte. Rostock: Hinstorff 2008.
Fühmann, Franz: Das hölzerne Pferd: die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus.
Berlin: Neues Leben 1968.
Fühmann, Franz/Janssen, Susanne: Prometheus. Die Titanenschlacht – Die Sage von Trojas Fall – Irrfahrt und
Heimkehr des Odysseus. Rostock: Hinstorff 2011.
Fühmann, Franz: Shakespeare-Märchen. Nacherzählung.
Berlin: Kinderbuchverlag 1968.
Fühmann, Franz/Andres, Kristina: Das Lob des Ungehorsams. Rostock: Hinstorff 2013.
Fühmann, Franz: Das Nibelungenlied. Berlin: Verlag Neues Leben 1971.
Gelberg, Hans-Joachim (Hrsg.): Geh und spiel mit dem
Riesen. Erstes Jahrbuch der Kinderliteratur. Weinheim:
Beltz & Gelberg 1971.
Fühmann, Franz: Prometheus. Die Titanenschlacht. Berlin:
Kinderbuchverlag 1974.
Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur.
In: Fühmann, Franz: Erfahrungen und Widersprüche.
Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff 1975.
Fühmann, Franz: Die dampfenden Hälse der Pferde im
Turm zu Babel. Berlin: Kinderbuchverlag 1978.
Heinze, Barbara (Hrsg.): Franz Fühmann. Eine Biographie
in Bildern, Dokumenten und Briefen. Rostock: Hinstorff
1998.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Sekundärliteratur
Decker, Gunnar: Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Rostock: Hinstorff 2009.
Krätzer, Jürgen: Fühmanns Lyrik: Das Scheitern der „Märchenkonzeption“. In: Krüger, Brigitte/Bircken, Magrid/
John, Helmut (Hrsg.): Jeder hat seinen Fühmann.
Zugänge zu Poetologie und Werk Franz Fühmanns.
Frankfurt/Main: Peter Lang 1998.
Krätzer, Jürgen: Dem Grund zu. Nachwort. In: Fühmann,
Franz: Märchen für Erwachsene. Hörspiele, Essays und
andere Texte. Rostock: Hinstorff 2008, S. 347-359.
Lypp, Maria: Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur.
Frankfurt/Main: 1984.
Richter, Hans: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Berlin: Aufbau 1992.
Richter, Karin: Kinder- und Jugendliteratur der DDR. In:
Lange, Günter (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der
Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider
2011, S. 58-86.
Wardetzky, Kristin: Märchen. In: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/Kramer, Thomas (Hrsg.): Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR von 1945 bis 1990.
Stuttgart: Metzler 2006, Sp. 555-628.
Positionen | Projekte | Publikationen
Matthias Ballod
„Ich hab dann mal versucht zu Googeln“
Kompetent-reflexive Internetrecherchen im Deutschunterricht
Wenn wir unseren Schülern, aber auch uns etwas vorzuwerfen haben, dann, dass wir uns zu wenig auskennen mit einem Arbeitswerkzeug, das wir tagtäglich vielfach nutzen. Wie arbeiten Internet-Suchmaschinen?
Wie werden Treffer gewichtet? Wie lassen sich Suchanfragen verbessern? Kann man Google in den Unterricht
integrieren und warum kann ein Suchergebnis kaum besser sein, als die Eingabe ins Suchfeld? Warum also
vertrauen wir viel zu oft blind einer Maschine, ohne vorher unseren Verstand zu fragen?
1Die Herausforderung
Die ersten 10 Jahre dieses Jahrhunderts waren
geprägt von einer schleichenden, aber weit reichenden Medienrevolution. Internet und mobile Endgeräte haben unser aller Leben, im Privaten, beim
Arbeiten, aber auch unsere Art zu Lernen nachhaltig
und irreversibel verändert. In Schulen, Hochschulen
und Bildungseinrichtungen verändern die digitalen
Medien Unterrichts- und Sozialformen und unsere
persönlichen Zugänge zum Wissen. Google wird
dabei – in einem Atemzug mit Wikipedia – als echte
Herausforderung benannt, nämlich dann, wenn
Schüler oder Studenten reflexhaft nur die ersten
Treffer betrachten und Fundstellen bedenkenlos
kopieren, um daraus Hausaufgaben oder Hausarbeiten zu collagieren (Paál 2011). Reagieren oder
Kapitulieren? Restringieren oder Resignieren?
Wikipedia und Google aus dem Unterricht zu
verbannen oder im Bildungskontext zu verbieten,
ist zu kurz gedacht. Kulturpessimismus steht einer
Didaktik nicht gut zu Gesicht. Sie sollte Lösungen
anbieten und kreative Wege finden, um Informationskompetenz bei Schülern zu fördern. Pädagogen,
Lehrer und Eltern sollten eine kulturpragmatische
Haltung annehmen, da Medienrevolutionen schon
immer wesentlicher Bestandteil unserer Kulturgeschichte waren und stets die Entwicklung von
Zivilisation forcierten. Nach der Entwicklung von
Schrift, der Erfindung des modernen Buchdrucks
und der technischen Reproduzierbarkeit von Wort
und Bild subsumiert die digitale Revolution alle
Errungenschaften früherer Medienrevolutionen:
„Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe
dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden
Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem
reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen
Qualität“, so der Medienlinguist Peter Schlobinski
(2012).
Dieses „Unimedium“ zu verstehen, zu nutzen und
zu gestalten, ist ein wichtiger Bildungsauftrag
der Schule. Im Hinblick auf einen kompetenten
Umgang mit Informationen, sollen Schüler lernen, inwiefern das eigene intellektuelle Vermögen
die Qualität der Recherche bestimmt und welche
individuellen Kompetenzen die Informationssuche verbessern. Schüler müssen erfahren, wie sie
Suchwerkzeuge (Suchmaschinen) nutzen, welchen
Begrenzungen das bloße „Googeln“ unterliegt und
zudem Alternativen kennenlernen. Allem voraus ist
es erforderlich, bei Schülern systematisch Methoden- und Sprachkompetenz auf- und ausbauen, die
für zielgerichtetes Recherchieren nötig sind.
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Positionen | Projekte | Publikationen
2Informationskompetenz
2.1Dimensionen
Obgleich Informationskompetenz kein ganz neuer Terminus ist, bleibt seine Verwendung uneinheitlich. Ursprünglich aus dem Bibliothekswesen
stammend, wird er heute zumeist bezogen auf eine
allgemeine Internet-Nutzung verwendet. Unglücklich erscheint der häufig synonyme Gebrauch von
Medien- und Informationskompetenz. Denn: Die
‚etablierte‘ Medienkompetenz impliziert einen
Fokus auf die Instrumente, Dienste und Formen der
Kommunikation, während Informationskompetenz
eher deren inhaltliche, gestaltende und bewertende
Komponente akzentuiert.
Ob diese Trennung Medienkompetenz auf der
einen und Informationskompetenz auf der anderen
Seite nötig und sinnvoll erscheint, mag jeder selbst
entscheiden. Zur Diskussion und zum Stand ‚Rund
um die Informationskompetenz‘ in Deutschland
sei die Veröffentlichung von Gapski/Tekster (2009)
empfohlen. Aus (sprach)didaktischer Perspektive
orientiere ich mich an folgender Definition:
„Informationskompetenz bezeichnet die Fähigkeit,
mit beliebigen Informationen selbstbestimmt, souverän, verantwortlich und zielgerichtet umzugehen.
[...] Aus Emittentensicht (Informationen zur Verfügung stellen) umfasst Informationskompetenz
die Fähigkeit bzw. Fertigkeit, Information zweck-,
zielgruppen-, sach- und medienadäquat aufzubereiten und zu vermitteln (präsentieren und kommunizieren).
Aus Rezipientensicht (Informationen nutzen) umfasst Informationskompetenz die Fähigkeit bzw.
Fertigkeit, Information zu recherchieren und organisieren; analysieren und evaluieren.“ (Ballod 2007,
290)
Dass selbst eine so umfassende Definition den informatorischen Anforderungen im 21. Jahrhundert
nicht gerecht wird, liegt auf der Hand. Theoretisch
gilt es zu unterscheiden zwischen dem Weitergeben und dem Aufnehmen von Informationen,
praktisch aber sind wir soziale und kommunikative
Wesen und müssen somit permanent beides leisten.
Obgleich die Formen kommunikativer Handlungen,
Medienangebote, Kanäle und Formate an Komplexität und Vielfalt in den letzten 20 Jahren beträchtlich zugenommen haben (SMS, Chats, Twitter, Posten), steht im Mittelpunkt noch immer mündliche
und schriftliche Ausdrucksfähigkeit – im jeweiligen
medialen Rahmen. Mithin handelt es sich um keine
‚neue‘ Kompetenz des Medienzeitalters, sondern
eine originär menschliche, kommunikativ-soziale
Kompetenz. Diese wird zumindest seit Platons
„Phaidros“ in einer langen sprachphilosophischen
Tradition (Herder, Humboldt, Weisgerber, Habermas) reflektiert. Aus diesem Grund ist Informationskompetenz in der Schule und im Deutschunterricht zu vermitteln (vgl. Ballod 2005).
Im Folgenden soll anhand von Google exemplarisch
aufgezeigt werden, wie viel Potenzial das Thema
‚Internet-Suche‘ zur Vermittlung von Informati1
onskompetenz in der Schule bietet. Es wird dabei
bewusst auf Stundenkonzeptionen, technische
Anforderungen und eine Zuordnung zu Lehrplänen oder Fächern verzichtet. Die Anregungen sind
als Bausteine, Ideen-Pool oder als Blaupausen zur
methodischen Erprobung und für eigene Ausgestaltungen gedacht.
2.2
Vom Suchen und Finden
Professionelles Handeln setzt immer eine Bewusstheit (Awareness) des eigenen Tuns voraus; das gilt
auch für das Recherchieren. Eine Informationssuche
ist immer ein hypothesengeleiteter Prozess, der auf
unbewusstes Vorwissen aufbaut und sprachliches
Wissen voraussetzt. Der Prozess der Informationssuche lässt sich als Dreischritt beschreiben: Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung.
In der Phase der Vorbereitung geht es zunächst
um die Zielklärung, nämlich welche Information
zu welchem Zweck gesucht wird (Informationsbedürfnis). Bei der Themenklärung geht es dann um
eine klare Fragestellung sowie die Aktivierung des
eigenen Vorwissens. Bei der Aufwand-Nutzen-Klärung schließlich ist zu definieren, wann die Suche
1
Als Pendant sei auf den Lesefutter-Beitrag zu Wikipedia
(Ballod 2014) verwiesen.
Positionen | Projekte | Publikationen
als ‚erfolgreich‘ gilt und welche Abbruchkriterien
gesetzt werden. Zuletzt folgt die Strategieklärung:
Auf welchen Wegen, mit welchen Methoden und in
und mit welchen Medien wird gesucht.
Der Suchende stellt dazu implizit Annahmen auf,
die er während der Suche revidiert, variiert oder optimiert. Je plan-, absichts- und zielvoller die Suche
(explizit) vorbereitet wird, desto vielversprechender
ist das Ergebnis: „Wozu benötige ich die Information?“ „Was weiß ich bereits darüber?“ „In welchen
Quellen könnte etwas zu finden sein?“ „Benötige ich
Detail- oder Überblickswissen?“
In der Phase der Durchführung sind die RechercheWerkzeuge den Suchbedürfnissen anzupassen oder
gar alternative Wege zu beschreiten. Zum thematischen Einstieg bieten sich noch immer klassische
– vielfach digitalisierte – Nachschlagewerke (Lexika,
Duden, Enzyklopädien...) an. Die Weiterverarbeitung von Fundstellen sollte ebenfalls systematisch
bedacht werden (Archivierung, Dokumentation,
Bookmarks…).
Bei der Nachbereitung wird ein Rückbezug zur
Ausgangsfrage hergestellt, indem die Fundstellen
und Treffer analysiert und bewertet werden. Sofern
das Rechercheziel nicht erreicht wird, ist die Suche
mittels Selektion, Reduktion oder Variation umzugestalten; z. B. durch lokale, temporale, mediale,
personale oder thematische Ein- oder AusschlussKriterien (Ballod 2011, 116ff).
Mit ein wenig Phantasie werden aus diesen ‚trockenen‘ Verfahrensschritten interessante fachspezifische Aufgabenstellungen für Internet-Recherchen
im Unterricht.
2.3
Vom Analysieren zum Bewerten
Die nächste Herausforderung liegt darin, relevante
Fundstellen aus einer zumeist Unzahl an Treffern
herauszufiltern. Eine zuverlässige Relevanzbewertung ist entscheidend, weil nicht alle Fundstellen zu
sichten sind. Es bedarf klarer Kriterien zur schnellen
Entscheidung. Die ersten 10 Treffer eines Rankings
anzuklicken, hilft hingegen kaum weiter, obgleich
mutmaßlich am häufigsten praktiziert.
Für eine Analyse entscheidend ist es zunächst, die
Aussageabsicht des Informierenden ‚herauszulesen‘, um den Informationsgehalt einschätzen zu
können. Welche Treffer als ‚wertvoll‘ gelten, hängt
aber nicht von bloßen formalen oder inhaltlichen
Aspekten (Precision, Recall) ab. Qualitäts- und Relevanzbewertung variieren aufgrund persönlicher
(z. B. eigener Intention) oder situativer Faktoren (z.
B. Zeitdruck). Aus Schülersicht mögen die meisten
Informationen bei Wikipedia hinreichend differenziert und ausreichend relevant erscheinen, aus Sicht
eines themenbezogen forschenden Experten kaum.
Die Relevanz kann nur von dem jeweils Suchenden
im spezifischen Kontext angemessen beurteilt werden, auch deshalb, weil der Informationswert immer an einen subjektiven Neuigkeitswert geknüpft
ist. So kann dieselbe Information für eine Person
hoch relevant und wichtig sein, für eine andere trivial und unnütz. Selbst aus Sicht des Einzelnen kann
aber eine Information zum Zeitpunkt X hochgradig
neu und interessant, zu einem späteren Zeitpunkt Y
redundant oder irrelevant sein.
Zur Qualitätsbewertung von Informationen sind
zumindest fünf Kriterien relevant:
1. Aktualität
Nicht zwangsläufig sind ‚ältere‘ Informationen per
se qualitativ minderwertig (Goethes Werke, Einsteins Relativitätstheorie...). Eine regelmäßige Aktualisierung von Internetseiten signalisiert ‚Wertschätzung‘ und eine gezielte Pflege des Angebots
ist im schnelllebigen Medium Internet für Anbieter
und Nutzer gleichermaßen unabdingbar.
2. Autorenschaft
Das Hauptaugenmerk sollte auf der Sorgfalt beim
Nachweis von Quellen liegen. Mögliche Intentionen
von Autoren, Herausgebern oder Verantwortlichen
der veröffentlichten Informationen sind in die Qualitätsbewertung einzubeziehen.
3. Zielgruppe
Auch die Frage, an wen sich das Informationsangebot richtet, kann ein wichtiges Qualitätsmerkmal
darstellen.
4. Textsorte
Um die Zielrichtung von Informationen zu verstehen, bedarf es grundlegender Textsortenkenntnisse
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(Meinung, Kommentar, Bericht, wissenschaftlicher
Artikel, Glosse, Satire, Werbung...).
5. Aufbereitung
Die Sorgfalt der Informationsgestaltung lässt zumeist gute Rückschlüsse auf die Gesamtqualität zu:
Korrektheit und Nachvollziehbarkeit der Aussagen,
Vollständigkeit der Quellennachweise, Einbinden
von Querbezügen (Verlinkungen), übersichtliche
Anordnung textualer und graphischer Elemente.
Darüber hinaus ist z. B. die deutliche Trennung von
Werbung und redaktionellen Beiträgen ein Gradmesser für Seriosität. Integrierte Orientierungshilfen, Glossare oder Bildnachweise liefern ebenfalls
Indizien für die Sorgfalt des Informationsanbieters
bei der Gestaltung und Pflege des Informationsangebots (Ballod 2011, 19ff).
3Internet-Suchmaschinen
3.1Grundlagen und Hintergründe
Internet-Suchmaschinen sind in der modernen
Mediengesellschaft Gatekeeper und universeller
Schlüssel zum Weltwissen zugleich. Ohne allgemeine Internet-Suchmaschinen wäre der Zugang zu
vielen Informationsquellen verschlossen, Orientierung im weltweiten Datendickicht unmöglich.
Suchmaschinen kompetent bedienen? Ist doch
kinderleicht! Man muss doch nur ein Wort oder
mehrere Wörter in das Suchfeld eintragen. Genauer
betrachtet, ist es komplexer. Die Kriterien, nach denen Informationen gefiltert und aufbereitet werden, sind Nutzern höchstens ansatzweise bekannt,
im Kern bleiben sie jedoch Betriebsgeheimnis des
2
jeweiligen Anbieters.
Alle Suchergebnisse sind kritisch zu reflektieren.
Denn: Die vermeintlich ‚weltweite‘ Informationslage ist ‚zensiert‘. Dies schützt uns vor einer nicht
zu bewältigenden Informationsfülle (information
overkill) oder vor krimineller Kontaktaufnahme
2
Das Ranking, also die sortierte Liste der angezeigten Treffer,
wird je nach Suchmaschine von verschiedenen Parametern
und Algorithmen bestimmt, im Fall von Google sind es
mehr als 200 Kriterien (http://de.wikipedia.org/wiki/Google). Wesentlich für das Ranking ist die Anzahl der Verlinkungen von anderen Seiten auf eine URL sowie Zugriffszahlen
und Keywords.
via Spam, Viren, Phishing, Trojaner etc. Zugleich
aber ist das präsentierte Angebot in mehrfacher
Weise gebrochen, verzerrt oder manipuliert. Viele
Informationen bekommen wir gar nicht zu Gesicht,
teilweise durch unwissentlich gesetzte persönliche
Einstellungen bzw. durch Filtermechanismen der
Suchmaschine oder aufgrund länderspezifischer
Interessenkonflikte (GEMA-Streit in Deutschland,
politische Zensur in China).
3.2 Typen von Suchmaschinen
Zu unterscheiden sind Web-Kataloge (Portale) und
Suchmaschinen. Während in Katalogen Informationen oft redaktionell und mit direktem menschlichen Zutun kategorisiert werden, liefern Such3
maschinen automatisch erzeugte und sortierte
Trefferlisten zu freien Sucheingaben. Die algorithmisierten Dienste werden in allgemeine Internet-,
Meta- und Spezial-Suchmaschinen eingeteilt. Bei einer Metasuche werden mit einer Anfrage mehrere
Suchmaschinen zugleich befragt und die Ergebnis4
se entsprechend gelistet. Spezial-Suchmaschinen
sind hingegen – wie es der Name schon sagt – auf
spezielle Datenbestände, bestimmte Domänen, einzelne Medienformate oder spezifische Suchanfor5
6
derungen spezialisiert, etwa Nachrichten , Bücher ,
7
8
9
Bilder , MP3-Dateien oder Blogs .
Darüber hinaus gibt es spezielle Suchmaschinen,
die entweder Personen-Suchprofile (z. B. www.yasni.
de) oder Zielgruppen (z. B. www.blinde-kuh.de oder
www.fragfinn.de) fokussieren. Auch in allen gesellschaftlichen Domänen (Wirtschaft, Wissenschaft,
Bildung, Politik, Medien,...) existieren redaktionelle
Informationsportale und Online-Mediatheken mit
spezialisierten Suchfunktionen, die Datenbanken,
Sparten oder Themencluster durchforsten.
3
4
6
7
8
5
9
z. B. www.bing.de, www.yahoo.com, www.fireball.de oder
www.ask.com
z. B. http://meta.rrzn.uni-hannover.de/
z. B. www.rocketnews.com/
z. B. www.gallileus.info/
z. B. www.picsearch.com/
z. B. http://www.netzwelt.de/dl/doppelte-mp3-dateiensuchen-freeware.html
z. B. www.blog-sucher.de/
Positionen | Projekte | Publikationen
Wichtig zu wissen ist, dass alle Suchanfragen
immer nur einen Ausschnitt des gesamten Webs
abdecken. Als Deep Web wird der Teil des Internets
bezeichnet, in dem Inhalte entweder nicht frei zugänglich sind oder aber von Suchmaschinen nicht
indiziert werden (können). Obgleich Google bereits
mit seiner Namensgebung (googol = eine Eins
mit 100 Nullen) suggeriert, eine unendlich hohe
Zahl an Seiten zu ‚kennen‘, gehen die Schätzungen
stark auseinander, wie viel mehr Informationen im
Internet insgesamt vorhanden sind. Auf bis zu 550
Mal so viele Seiten kommt demnach das Deep Web
10
gegenüber dem Surface Web.
3.3 Funktionsweisen von Suchmaschinen
Um mögliche Begrenzungen und Probleme bei
der Nutzung von Internet-Suchmaschinen verstehen zu können, ist es nötig, ihre Funktionsweisen
bezüglich des Indexierens, des Rankings sowie der
Manipulationsmöglichkeiten zu kennen. Hilfreich
ist auch, über Marktmechanismen des Internets
und des Suchmaschinen-Segments Bescheid zu
wissen. Google selbst bietet auf seiner Homepage
eine umfassende Erklärung der Funktionalität aus
11
Anwendersicht. Eine Flut an Ratgeberliteratur verspricht zudem Tipps und Tricks: „Der Google-Code“
(Henk van Ess 2011), „Suchmaschinenoptimierung &
Usability“ (Broschart 2011), „Die ultimative Google
12
Bibel“ (Kiefer 2010). Das Dienstleistungssegment
zur Suchmaschinen-Optimierung (kurz: SEO) hat
sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, denn
zugespitzt ausgedrückt gilt: „Wer bei Google nicht
gefunden wird, den gibt es nicht!“. Nutzungsanalysen zufolge finden nur die ersten 5 – 30 Treffer große Beachtung. Bei diesen Treffern handelt es sich
zudem häufig um erkaufte Rangplätze, während
die restlichen kaum oder keine Beachtung finden
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Deep_Web
http://www.google.com/intl/de_ALL/insidesearch/features/
12
Selbstverständlich gibt es entsprechende Angebote auch
online; z. B. www.suchfibel.de.
11
(Schetsche et al. 2005, 27). Entsprechend hoch ist
die Motivation von Informationsanbietern, ihre
Internetseiten so zu gestalten, dass diese im Ran13
king weit oben stehen. Unabhängig davon werden
auch die Suchalgorithmen ständig verändert und
verbessert; oft ohne die Nutzer hinreichend darüber zu informieren. Google hat bei einem einzigen
großen Update 2012 insgesamt 53 Änderungen
14
vorgenommen.
In der Schule sollten die Verfahren des automatischen Indexierens, die Kriterien des Rankings oder
auch beliebte Manipulationsversuche daher thematisiert werden.
Schüler können selbstständig recherchieren, welche
neuartigen Ansätze von Suchmaschinen (www.
wolframalpha.com/), von Möglichkeiten der Trefferaufbereitung (www.kartoo.com/) von FrageAntwort-Modalitäten (www.hiogi.de/) oder von
anonymisierbaren Suchanfragen (https://ixquick.
com/) erforscht und ausprobiert werden.
3.4 Wissen über Google
Faktisch ist für Viele der Zugang zum „Wissen unserer Welt“ gleichbedeutend mit einer Suchanfrage
beim Quasimonopolisten „Google“. Laut Marktforschung hat Google bei den Internet-Suchanfragen
in Deutschland einen Marktanteil (Stand: Septem15
ber 2014) von 94,8 Prozent.
13
Im Umfeld der Suchmaschinen-Optimierung gibt es eine
ganze Palette an Werkzeugen, mit denen man Suchmaschinen bei der Arbeit über die Schulter schauen kann. Vgl. z. B.
http://seo-tools-online.de/tools.php
14
http://www.golem.de/news/suchmaschine-53-aenderungen-an-googles-suchalgorithmus-im-april-2012-1205-91601.
html
15
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/167841/
umfrage/marktanteile-ausgewaehlter-suchmaschinen-indeutschland/
| 39
40 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 1: Marktanteile Suchmaschinen in Deutschland
Bereits 2004 hielt das Verb googeln Einzug in den
Rechtschreibduden und längst hat sich googeln als
Synonym für das Recherchieren (im Internet) etabliert. Im Jahr 2014, siebzehn Jahre nach seiner Gründung, kommt das amerikanische Unternehmen
auf einen Börsenwert von 400 Milliarden Dollar
und gehört damit zu den fünf ‚wertvollsten Unter16
nehmen‘ weltweit. Google befindet sich in einem
kleinen Kreis von IT-Konzernen (mit Apple, Amazon,
Facebook), der das gesamte Internet nachhaltig
prägt und seine Spielregeln maßgeblich bestimmt
(Hamann/Rohwetter 2012). Schetsche et al. drücken
dies bezogen auf Google sehr drastisch aus, denn
„[o]hnehin schon beliebte Seiten werden durch
eine gute Positionierung bei Google noch beliebter; bislang unbekannte Seiten hingegen bleiben
es weiterhin. […] Suchmaschinen wie Google sind
damit zentrale Instanzen der Gleichschaltung der
politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung
in der neuen Welt“ (2005, 23). Ungeachtet dieser
scharfen Wertung lässt sich der Schluss ziehen, dass
16
http://www.deraktionaer.de/aktie/apple-zurueck-auf-demthron-83570.htm
wir ein Werkzeug, mit dem wir tagtäglich arbeiten,
besser kennen(lernen) und unseren Bedürfnissen
anpassen sollten, schließlich verwenden wir ja auch
keine Gabel, um eine Suppe umzurühren.
Personalisierte Einstellungen können dabei Segen
oder Fluch sein, denn die individuelle Anpassung
von Filtereinstellungen an Informationsbedürfnisse oder Vorlieben hilfreich und unproblematisch,
sollten aber freiwillig und bewusst ausgewählt
werden. Bei Schülern beliebt sind z. B. die Personalisierung von Startseite, die Anpassung des Layouts
sowie des Dienstes Google News.
Um so wichtiger erscheint mir, die Firmenphilosophie von Google, mit ihren 10 Grundsätzen zu
17
kennen. Die Selbstauskünfte hierin sind ebenso interessant wie ein Blick in die ausführlichen
18
Nutzungsbedingungen und umfängliche Daten19
schutz-Erklärung.
17
www.google.de/about/company/philosophy/
www.google.de/intl/de/policies/terms
19
www.google.de/intl/de/policies/privacy/ Das Unternehmen Google ist in den letzten Jahren stärkerbemüht, eine
gewisse Transparenz zu schaffen, was sich in der Rubrik
„Neuigkeiten“ (www.google.de/press/) widerspiegelt, in
der beispielsweise Produktveränderungen und Neuentwicklungen angekündigt werden.
18
Positionen | Projekte | Publikationen
Eine derart theorielastige Betrachtung eignet sich
im Schulkontext nicht als Einstieg, aber sicher zur
Vertiefung der Suchmaschinen-Thematik. Da Google die früheren Versionen hinterlegt, bietet sich eine
Synopse an, ebenso ein vergleichender Blick auf
staatliche Datenschutzrichtlinien oder Nutzungs-
bedingungen anderer Konzerne. In einem OnlineDossier der ‚Bundeszentrale für politische Bildung‘
werden aktuelle Entwicklungen im Suchmaschinenmarkt – insbesondere auch Google – diskutiert
sowie Konsequenzen für die Wissensgesellschaft
und mögliche Reaktionen thematisiert.
20
Abb. 2: Bundeszentrale für politische Bildung: Online-Dossier
4
Internet-Suchmaschinen im
Unterricht
4.1Suchverhalten er- und hinter­
fragen
Das Thema ‚Internet-Suche‘ im Unterricht sollte mit
einem Befragen der Klasse zu ihren individuellen
Nutzungsgewohnheiten beginnen; z. B.: „Wie oft
nutzt ihr Google?“ „Wann und zu welchem Zweck
nutzt ihr Google?“ „Welche alternativen Suchmöglichkeiten fallen euch ein?“ „Welche erweiterten
Sucheinstellungen kennt oder nutzt ihr?“ „Wie wählt
ihr die Treffer aus, die euch angezeigt werden?“ „Wie
viele Treffer schaut ihr euch überhaupt an?“ „Wie
20
www.bpb.de/gesellschaft/medien/politik-des-suchens/
entscheidet ihr, ob das, was dort steht, relevant bzw.
richtig ist?“
Anhand solcher und vergleichbarer Fragen können
die unterschiedlichen Antworten der Schüler zusammenfassend visualisiert werden. Indem sie sich
über ihre Such- und Internetgewohnheiten austauschen, profitieren alle wechselseitig. Alternativ
dazu demonstrieren Schüler (z. B. am Smartboard)
Suchanfragen vor der Klasse; entweder unmittelbar
(offene Suche) oder nach einer kurzen Vorbereitung
(Nachstellen einer erfolgreichen Suche). Selbstverständlich kann der Lehrer auch gezielt Suchanfragen vorgeben oder methodisch in ein WebQuest
einbinden. Die Ergebnisse, Fundstellen und Vorgehensweisen werden dann verglichen, kommentiert
und bewertet.
| 41
42 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Eine erste Erkenntnis sollte sein: Google liefert
keine Antworten, sondern Treffer. Selbst Studenten
gaben zu, ganze Fragen in das Suchfenster einzutragen, in der Annahme, derartige Fragen seien von
anderen sicher schon einmal so gestellt worden. Ein
Trugschluss, denn selbst wenn dem so ist oder wäre,
erhöht das nicht die Wahrscheinlichkeit ‚passende
Antworten‘ zu finden. Nichtsdestotrotz scheint
dieses Vorgehen weit verbreitet und kaum hinterfragt. Auf der Hand liegt es daher, die spannenden
Entwicklungen in der Künstlichen-IntelligenzForschung oder die neueren Ansätze zum ‚Semantischen Web‘ anschließend zu diskutieren. Spätestens
in der Oberstufe lassen sich damit Facetten und
Probleme natürlicher vs. künstlicher Sprachen als
Rahmenthemen behandeln.
4.2Fragen stellen lernen
In einem zweiten Schritt sollte beleuchtet werden,
wie man zu richtigen Fragen kommt, diese formuliert und in sinnvolle bzw. suchmaschinenadäquate
Suchanfragen ‚übersetzt‘. Der bedeutende Philosoph Kant unterscheidet drei Weisen des Fürwahrhaltens: Glauben, Meinen und Wissen (Kant 1952:
B650, A622). Diese Kategorisierung kann Schülern
helfen zu erkennen, dass im Internet vielfach kein
Wissen vermittelt wird, sondern bloße Glaubenssätze oder persönliche Meinungen geäußert werden.
Das bedeutet aber auch: Richtiges Fragenstellen
will gelernt sein, wie das folgende Beispiel zeigt.
Geben Sie zunächst folgende Frage vor: „Gibt es
Gott?“ Schauen Sie sich gemeinsam mit der Klasse
die Treffer an und diskutieren Sie, warum es auf diese Frage keine hinreichend eindeutige Antwort geben kann. Gehen Sie nun einen Schritt weiter: „Wird
die Welt eines Tages untergehen?“ Auch auf diese
Frage finden sich viele, von schlüssigen Antworten
weit entfernte, spekulative Aussagen. Eine dritte
Frage könnte lauten: „Gibt es das Higgs-Boson-Teilchen?“ Gemeinsam mit den Schülern kann deduktiv
hergeleitet, vor allem aber diskutiert werden, dass
die Suche nach dem sogenannten ‚Gottesteilchen‘
durchaus wissenschaftlich betrieben wird, dass
also Physik, Metaphysik und Weltbilder durchaus in
enger Verbindung stehen. Je nach Unterrichtsfach
lassen sich daran soziale, historische, ökonomische,
ethische oder religiöse Querbezüge herstellen und
vertiefen. Für den Deutschunterricht könnte sich
eine andere Fährte anschließen: „Wann schreibt
man ß, wann ss?“ Die gefundenen Seiten können
gemeinsam bewertet, weiterführend bearbeitet
(Arbeitsblätter zur Orthographie) oder fachlich
diskutiert (Vorgeschichte, Nutzen, Ziele, Umsetzung
der Rechtschreibreform) werden.
4.3
Wort-Schätze bergen
Die Suchmaschinen-Thematik ist prädestiniert für
Wortschatz-Arbeit im Deutsch-, aber auch Fachunterricht. Vor der eigentlichen Suchanfrage bieten
sich zur Aktivierung des Vorwissens ein Brainstorming (im Klassenverband) oder das Erstellen einer
Mind-Map (in Einzelarbeit) an. Diese bereiten die
eigentliche Suche vor, nämlich indem Schüler mögliche Such-, Stich- und Schlagwörter, Begriffe und
Phrasen zunächst sammeln, notieren und anschließend ausprobieren.
Klassische Wörterbucharbeit (online/offline) kann
ebenso hilfreich sein, wie die Nutzung von Thesauren (Wortlisten), die bereits vielfach in OfficeProgramme integriert sind (z. B. in Microsoft Word
Y rechte Maustaste: Nachschlagen, Synonyme,
Übersetzen...).
Neben der Nutzung vorhandener Wortlisten kann
die Orthographie (alte, neue, alternative Rechtschreibung) oder Schreibweise (E-Mail, eMail,
Email, e-Mail) variiert werden. Als Ebenen weiterer
Sprachbetrachtung kommen verwandte Wörter aus
zugehörigen Wortfeldern oder Wortfamilien in Betracht. Weitere sprachliche Variationsmöglichkeiten
sind: Wechsel der Sprache (deutsch Y englisch), der
Sprachebene (Umgangssprache Y Hochsprache),
der Wortart (Verb Y Substantiv), Verwendung unterschiedlicher Phrasen, einschließlich der Wortstellung („Kleines Ferienhaus mieten“ Y „Bungalow
anmieten klein“).
Positionen | Projekte | Publikationen
4.4Eingaben und Einstellungen
anpassen
Ausgehend von der These, dass eine Informationssuche nur so erfolgreich sein kann, wie eine zuvor
geklärte Zielstellung und Strategie, gibt es Hilfestellungen für die Eingabe in das Suchfeld. Die o. a. Ratgeberliteratur hält ebenso Sucheingabetipps (van
Ess 2011) bereit, wie zahlreiche Online-Seiten (www.
suchfibel.de) oder Suchmaschinenanbieter selbst.
Google offeriert seine Hinweise zusammen mit den
21
Sucheinstellungen in einer eigenen Rubrik.
22
Abb. 3: Google-Suchtipps
ben oder merkmalssemantische Kategorien in Form
von Ober-, Unter- oder Nebenbegriffen herangezogen.
Um Suchergebnisse bei zu vielen Treffern einzugrenzen oder bei sehr wenigen auszuweiten, gibt es
ebenfalls eine Reihe von Möglichkeiten, die Sucheinstellungen anzupassen.
„Google Instant“ ist eine mittlerweile etablierte
Standardeinstellung der Suchmaske, die Suchan­
frage wird bereits während des Eintippens automatisch vervollständigt bzw. durch mögliche weitere
Suchbegriffe ergänzt. Diese Funktion lässt sich wie
Safe-Search-Einstellungen oder das Löschen früherer Suchanfragen manuell deaktivieren. Um die Veränderungen der Suchergebnisse sichtbar werden zu
lassen, sollten Schüler vergleichend mit verschiedenen Einstellungen nach denselben Stichwörtern suchen. Auch die Funktion ‚wörtlich‘ ist anzusprechen,
denn Google passt automatisch Rechtschreibung,
Synonyme und personalisierte Präferenzen ohne
Wissen des Nutzers an.
Boolsche Operatoren (und, oder, nicht) nützen
Suchanfragen einzuschränken, Trunkierungen diese
zu erweitern: Anführungszeichen („...“) bei der
Phrasensuche, Sternchen (*) dienen als Platzhalter
für Einzelzeichen oder ganze Wörter. Online befassen sich zahlreiche Seiten mit der Anpassung von
23
Suchoptionen. Die Rubrik „Erweiterte Sucheinstel24
lungen“ bietet Optionen zur Ein- oder Ausgrenzung bestimmter Dokumenttypen oder Sprachen.
Beispielsweise werden viele wissenschaftliche Texte
als *.doc oder *.pdf im Netz veröffentlicht. Zeitraum
der Aktualisierung, Sprachgebiet oder Webbereich
(*.edu, *.org, *.net) sind ebenfalls nützliche Kriterien.
Auch hier kann morphologisches, syntaktisches,
semantisches und lexikalisches Wissen hilfreich
sein. So können Stammformen, Flexionsformen,
Kompositionen oder Derivationen von Suchwörtern
ausprobiert werden. Oder: Es werden typische linke
und rechte Nachbarn (Kollokationen) mit eingege21
Das Zahnrädchen-Symbol, das erst nach einer Suchanfrage
auf der rechten Bildschirmseite oben erscheint, eröffnet
neben Suchhilfen eine Palette interner Einstellungs- und
Personalisierungsoptionen.
22
http://support.google.com/websearch/bin/answer.
py?hl=de&answer=134479
23
http://www.weboptimierung-griesbaum.de/wissen/google-suche---11-suchtipps-fur-die-internet-suche-mit-google.
html Vgl. auch http://gregor-moellring.de/anleitungen/
google-besser-suchen-mit-operatoren/
24
http://www.google.de/advanced_search?q=asdf+movie&h
l=de&biw=1600&bih=768&prmd=imvns
| 43
44 |
Positionen | Projekte | Publikationen
25
Abb. 4: Suchmaschinen und Lernportale für Kinder
4.5
Austesten statt Abschreiben
Zum ‚Austesten‘ von Suchmaschinen gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wobei die Sucheingabe
zunächst konstant gehalten wird, aber mit unterschiedlichen Sucheinstellungen, zu verschiedenen
Zeitpunkten oder mittels verschiedener Suchma26
schinen recherchiert wird. Nachfolgend werden
die Treffer und Ergebnisse vergleichend ausgewertet, was speziell bei Suchen mittels Meta- und
Spezial-Suchmaschinen aufschlussreich ist.
Crossmediale Vergleiche sind ebenfalls möglich: Drei
Parallelgruppen müssen dazu zum gleichen Thema
recherchieren. Eine Gruppe sucht ausschließlich im
Internet mit Google, eine im Internet ohne Google
zu verwenden und eine weitere Gruppe startet die
Recherche ohne jegliche Internet-Nutzung in der
schuleigenen Bibliothek. Zu sehen, wie die jeweiligen Schüler methodisch vorgegangen sind und auf
welche Quellen sie stoßen, ist sicher für Lehrer und
Schüler gleichermaßen aufschlussreich.
25
Eine Übersicht ist zu finden unter: http://bildungsserver.
berlin-brandenburg.de/suchen-und-lernen.html
26
Eine Übersicht ist zu finden unter: www.suchmaschinenonline.de
Eine weitere methodische Alternative: Schüler und
Lehrer gehen – in einem eher spielerisch, detektivischen Sinne – gemeinsam auf die Suche nach ‚obskuren‘ Themen, nach Fake-Seiten oder sogenannten
Hoax. Als Einstieg eignet sich die Wikipedia-Seite
27
zu Fakes. Obgleich das folgende Beispiel nicht
taufrisch ist und aus Nordamerika stammt, ist es
28
ein Lehrstück über Gutgläubigkeit von Schülern.
Es lohnt sich, die Untersuchung und zugehörige
Kommentare ausfindig zu machen.
Eine ernsthafte und anspruchsvolle Aufgabe ist die
Bewertung von Suchmaschinen für Kinder.
Die notwendigen Qualitätskriterien sind im Klassenverband zunächst zu erarbeiten und festzuhalten. Neben den bereits o. a. Kategorien (2.3 Vom
Analysieren zum Bewerten) sollten sowohl allgemeine Aspekte der Usability (Wirth 2004) als auch
29
Gestaltungsaspekte von Webseiten herangezogen
werden.
27
http://de.wikipedia.org/wiki/Fake
http://zapatopi.net/treeoctopus/
29
z. B. unter: http://wg.e-kompetenz-ratgeber.de/ oder
http://www.computerwoche.de/g/die-groessten-fehlerder-website-gestaltung,101812
28
Positionen | Projekte | Publikationen
4.6Google-Dienste aktiv nutzen,
Inhalte ergänzen
Neben den Suchdiensten (Web, Bilder, Blogs, wiss.
30
Artikel etc.) bietet Google weitere Dienste an,
die sich großer Beliebtheit erfreuen. Google-Maps,
Google Übersetzer und Google Earth sind weithin
bekannt und laden den Nutzer ein, selbst aktiv zu
werden. Wie Google Maps, Google Books und Google
Trends im Unterricht genutzt werden könnten, wird
nun skizziert.
Bei Google Maps ist es leicht, Schüler gemeinsam in
Arbeitsgruppen eigene Inhalte (Fotos, Kommentare) ergänzen zu lassen, die dann im Kartenmaterial
oder – wo möglich – auch bei Google Streetview
erscheinen. Die Ergänzungen können sich auf
vorher vereinbarte Bereiche beziehen; die Schule,
das Umfeld, den Stadtteil, Sehenswürdigkeiten oder
kulturelle Einrichtungen.
Google Books ist aus Schülersicht interessant, um
eine erste Einführung in ein Buch zu erhalten.
Hochwertige und seltene Bücher können online
31
gesichtet, z. T. auch gelesen werden. Autorenverlinkungen ermöglichen die direkte Weiterbeschäftigung mit dem Urheber und erschließen somit
Hintergrundinformationen. Da sich über „ähnliche
Bücher“ thematische Cluster ergeben, können
Themen assoziativ-vernetzt erschlossen werden.
Da Schüler oft schon Hase spielten und den Lehrern
nur die Igel-Rolle bleibt, sollten Lehrer Google Books
nicht länger ignorieren, sondern ausprobieren und
gezielt überlegen, wann, wo und wie sie ihn im
Fachunterricht (oder auch durch Hausaufgaben)
proaktiv einbinden können. Im Deutschunterricht
beispielsweise schreiben Schüler eigene Rezensionen zu Büchern. Buchbesprechungen im Forum
wiederum können mit denen in anderen Portalen
(Amazon, Buchhandel, Portale, Verlage) verglichen
werden.
Google Trends bietet ein Kaleidoskop statistischer
Analysen zu häufigen Suchbegriffen und eine Art
besonderen Jahresrückblick. Anhand von Google30
31
http://www.google.de/intl/de/about/products/
Wissenschaftlich Interessierten (Schülern und Lehrern) sei
auch der Suchdienst Google Scholar nahegelegt.
Suchanfragen werden verschiedenste Themen des
vergangenen Jahres – nach Kategorien sortiert aufbereitet. Animierte und interaktive Graphiken
laden ein, Statistiken und Verteilungen zu ergründen und themenbezogene Auswertungen in den
Unterricht einzubeziehen, frei nach dem Motto:
„2014 wurde millionenfach auf Google gesucht.
Was sagen diese Suchen über uns aus.“ (https://
www.google.de/trends/2014/).
Google-Dienste fordern es geradezu heraus, sich ihnen in Form von Schüler-Wettbewerben zu nähern.
Methodisch eignen sich dazu Quiz-Formate ebenso
wie WebQuests: Schnelligkeit und Kreativität bei
der Suche, Originalität und Qualität der Fundstellen
32
etc. Manche Dienste setzen zwar eine Anmeldung
voraus, was unproblematisch ist, sofern Schüler
über das o. a. Hintergrundwissen zu Personalisierung und Datenschutz verfügen.
4.7Noch tiefer bohren
Bedingt durch die hohe Marktpräsenz von Google ist neben dem Ranking auch das MarketingPotenzial ein Thema für die Schule. Schüler sollten
lernen, welche Wege Werbefachleute, Firmen, aber
auch Einzelpersonen beschreiten, um zielgerichtet
33
Kunden zu gewinnen. Mithin mangelt es Schülern
sowie Lehrern an Verständnis, wie weit Suchergebnisse und die im Umfeld platzierten Anzeigen
kommerziell ‚verankert‘ sind und Werbung war und
ist immer ein wichtiges Thema im Deutschunterricht; warum sollte die Beschäftigung beim ‚TextBild-Verständnis‘ von Tabakwerbung in Printmedien
stehen bleiben.
„Google Marketing. Werben mit AdWords, Analytics, AdSense & Co.“ (Rupp 2010) lautet bezeichnenderweise ein Titel. Unter der Rubrik ‚Werben mit
Google‘ sind auf der Startseite von Google einige
Möglichkeiten dargestellt. Schüler dürften sich sehr
interessiert an den Tricks von Profis und den Möglichkeiten kleiner und großer Manipulationen zeigen. Denn ähnlich wie bei Spam und Viren stehen
32
Eine ganz andere Möglichkeit spielerischen Wettbewerbs
bietet Fireball: http://www.fireball.de/Dienste/TrafficSpiel.
asp
33
Vgl. beispielsweise Google Anzeigen. Online erreichbar
unter: http://www.google.de/intl/de/ads/
| 45
46 |
Positionen | Projekte | Publikationen
findige und windige Gesellen im ständigen Wettstreit mit den Suchmaschinen-Programmierern.
Prädestiniert hierfür sind eigene Medienprodukte
des Schulumfelds, wie Schülerzeitung, Klassen-Wiki,
Schulhomepage oder private Blogs der Schüler.
Warum nicht mit den Schülern gemeinsam diese
Seiten nach professionellen SEO-Kriterien verbessern? Mehr Hintergrundwissen zur Anwendung zu
bringen, wird kaum möglich sein und mit den verschiedenen Talenten in einer Klasse sicher einiges
zu leisten sein (Technik, Musik, Graphik, Sprache,
Bilder, Keywords...). Zu anspruchsvoll? Dann kommen Online-Initiativen in Betracht, die zu produktiver Mitarbeit anregen, wie beispielsweise klicksafe.
de oder internet-abc.de. Weitere Ideen und weiterführende Fragestellungen ergeben sich – je nach
Klassenstufe und Unterrichtsfach. Diese lassen sich
z. B. während einer Projektwoche in Kleingruppen
oder in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften (AGs)
behandeln:
34
Abb. 5: Googles „Spielplatz“
34
http://www.google.com/intl/de_ALL/insidesearch/playground/
1. „Wenn ihr selbst eine Suchmaschine konstruieren
müsstet. Wie würdet ihr vorgehen? Was wäre euch
wichtig? Was findet ihr an aktuellen Suchmaschinen
praktisch? Was findet ihr verbesserungsfähig?“
2. „Erstellt einen Fragebogen zu den Nutzungsgewohnheiten bei der Internetsuche und teilt sie in
anderen Klassenstufen aus. Befragt verschiedene
Personen eures Bekanntenkreises über das, was ihr
in diesen Unterrichtseinheiten gelernt habt. Also: Ob
sie die personalisierte Suche kennen, wissen wie ein
Pageranking entsteht oder welche Alternativen es zu
Google gibt.“
Die Ergebnisse können sich die Gruppen im Anschluss wechselseitig präsentieren; z. B. als MindMap oder Plakat, am Smartboard oder mit Powerpoint. Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt
und falls Sie nun wirklich noch nicht genug haben
und in den Google-Kosmos – mit oder ohne ihre
Schüler – abtauchen möchten, dann sind sie auf
dem google-eigenen Spielplatz richtig.
Positionen | Projekte | Publikationen
4.8
Auf den Plan treten
Um Google besser kennenzulernen, mögen die
obigen Anregungen nützlich sein. Projektergebnisse
oder offen gebliebene Fragen können mittels „Feedback geben“-Button auch direkt an die Google-Entwickler gesendet werden.
Denkbar ist auch, dass Schüler ihre Kommentare
und Projektergebnisse sogar bei einem Lokaltermin
in den Deutschland-Niederlassungen von Google
vorlegen. Oder sie bitten Google-Vertreter um ein
Interview, um sich vor Ort und aus erster Hand ein
35
Bild von dem Unternehmen zu machen. Denn
nicht zuletzt ist Google ein attraktiver Arbeitgeber
mit zukunftsträchtigen Berufschancen für kreativhelle Köpfe. Dies alles hilft, Google nicht länger als
„Blackbox“ zu sehen, sondern zu erkennen, wie
Google im ‚Inneren‘ funktioniert und welche Techniken, vor allem aber welche Menschen dahinter
stehen.
5Ausblick
War Informationskompetenz ursprünglich die KernDomäne von „Informational Professionals (IPs)“, so
avanciert sie heute zu einer übergreifenden Kulturtechnik. Nämlich: Der „Fähigkeit, bezogen auf
Herausforderungen in Schule, Hochschule, Wissenschaft, Wirtschaft oder Gesellschaft, Informationsbedarf zu erkennen, Informationen zu ermitteln,
zu beschaffen, zu bewerten und effektiv zu nutzen.
Denn diese fördert das Grundwissen in Bildung und
Berufsleben, führt zu Erfolgen und Innovationen in
der Forschung und Entwicklung, ermöglicht Kreativität und Zufriedenheit im Alltag.“ (DGI 2012).
Das WWW als Massenphänomen der letzten 20
Jahre symbolisiert dabei nur den Anfang einer
digitalen Revolution, in der sich immer mehr Bereiche des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten
Lebens in die Online-Welt verlagern und sich die
‚digital natives‘ immer stärker organisieren. In die35
http://www.google.de/about/company/facts/locations/
| 47
sem Feld ergeben sich unzählige weitere Themen,
die die Lebenswelt der Schüler unmittelbar widerspiegeln und daher in der Schule zu behandeln sind:
Urheberrecht, Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung, Informationsethik etc.
Nicht wenige Schüler aber auch Lehrer lavieren in
einer rechtlichen Grauzone, wenn Sie einfach Bilder
aus der Google-Suche übernehmen. Anhand dieses
‚simplen‘ Beispiels lässt sich das ‚Recht am eigenen
Bild‘ thematisieren und andere problematische
Aspekte („Mobbing in sozialen Netzwerken“, „Das
Internet vergisst nichts“ etc.) ‚nachziehen‘. Von
besonderer Bedeutung ist es, den Schülern Alternativen und frei nutzbare Quellen (https://creativecommons.org/, https://www.oercommons.org/)
aufzuzeigen.
48 |
Positionen | Projekte | Publikationen
36
Abb. 6: Creative Commons-Site
Die „soziale Macht“ des Netzes im Allgemeinen und
der sozialen Netzwerke im Besonderen sind keinesfalls zu vernachlässigen. Dass besonders die Suchmaschinen, respektive Google eine eigene Macht
darstellen, liegt auf der Hand und ist mittlerweile
ebenfalls Gegenstand vielfältiger Betrachtungen. Es
geht in der schulischen Vermittlung nicht um eine
Bewertung, sondern um die differenzierte Sicht auf
die Entwicklungen und welche Reichweite diese für
unser aller tägliches Leben haben. Besonders empfehlenswert ist die Dokumentation „Die geheime
Macht von Google“ in der ARD, die Online verfügbar
ist und mit dem folgenden Teaser angekündigt ist:
„Vier Milliarden User "googeln" sich täglich weltweit durch das Internet. Längst ist Google ist zum Navigator durch den Alltag geworden. Allein in Europa laufen 90 Prozent der Suchanfragen über Google.
Google sortiert uns die Welt, sucht für uns und findet - und ist dank des Siegeszugs der Smartphones
allgegenwärtig. Google dominiert das Internet - eine ungeheure Macht. Ist die Suchmaschine tatsächlich so objektiv und verbraucherfreundlich, wie sie scheint? Oder verfolgt Google Absichten, die die
37
Interessen der Verbraucher in Wahrheit verletzen?“
36
37
https://creativecommons.org/
http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/videos/die-story-im-ersten-die-geheimemacht-von-google-100.html
Positionen | Projekte | Publikationen
In allernächster Zeit werden mittels internetfähiger Smartphones, Flatrates und Cloud-Computing
ganze Bücher-, Film- und Datenbank-Bibliotheken
jederzeit, überall und für jeden verfügbar sein.
Die Bildungsinstitutionen sind in der Pflicht, diese
Entwicklungen konstruktiv und kritisch zu begleiten. Die Freiheit des Internets und die Freiheit des
Einzelnen werden davon abhängen, ob und wie
Schüler zu mündigen (Online)-Bürgern erzogen
werden. Die Freiheit des Internets, sein anarchisches Potenzial, die freie Meinungsäußerung und
das kreative Chaos sind längst von ökonomischen
Interessen infiltriert.
Die Eingabe in die Suchmaske von Google „Wie
wird die Zukunft des Internets aussehen?“ führt zu
vielen unterschiedlichen Prognosen, aber ein Blick
in die Ideen-Schublade des Google-Konzerns (Datenbrille, Gesichtserkennung, selbstfahrende Autos,
38
Haussteuerung) lässt womöglich noch tiefer
blicken.
„Seit Juni 2013 wissen wir, vor allem durch Edward
Snowden, dass das Internet ein Überwachungsnetz
ist. Inwieweit es ein manipuliertes Netz ist, in dem
uns Monopole eine ihnen genehme und kommerziell lukrative "Wirklichkeit" vorgaukeln, ahnen wir
vielleicht - eine Beweisführung ist schwer, in Kartellverfahren klingt sie an. Die entscheidende Frage
muss sein: Was können wir gegen Überwachung
und Manipulation tun? Oder: Wie kann das Netz
"repariert" werden?“ (http://searchstudies.org/de/
suma2015.html).
So gesehen ist auch die Zukunft der Internet-Suche
ein Thema mit vielen spannenden Facetten von
höchster gesellschaftspolitischer Bedeutung: Wird
es in Zukunft ein Mehr-Klassen-Internet geben oder
gar verschiedene, voneinander getrennte Netze?
Wie werden sich die wissenschaftlichen und praktischen Fortschritte im Kontext des „Semantic Web“
weiterentwickeln? Wird es, ernsthafte Alternativen
zum Quasi-Monopol von Google bei der InternetSuche (zumindest in Deutschland und der westlichen Welt) geben?
38
http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/
wirtschaft_nt/article123843964/Google-kauft-Spezialistenfuer-vernetzte-Haustechnik.html oder DER SPIEGEL-Titel:
Google. Der Konzern, der mehr über Sie weiß als Sie selbst.
Nr. 2, 11.01.2011.
Recherchieren aber bleibt zunächst und in erster
Linie eine intellektuelle Tätigkeit, denn die ‚Antworten der Maschine‘ können selten besser sein,
als die ‚Fragen der Nutzer‘. Entsprechend bleibt
auch die sogenannte Schwarm-Intelligenz (wisdom
of crowds) eine schiefe Metapher, solange nicht
jeder Einzelne in dieser Gruppe über eine größtmögliche Portion an Wissen, an Kompetenz und an
Erziehung verfügt, die man im klassischen Sinne
Bildung nennen würde. In den sozialen Netzwerken,
als einer neuen Form selbstorganisierender Kultur,
spielt Bildung keine große Rolle. Umso mehr sollten Vertreter traditioneller Bildungseinrichtungen
neue Wege beim Zugang zu Wissen und innovative
Methoden bei der Kultur- und Bildungsvermittlung
beschreiten.
Zum Artikel
Der vorliegende Beitrag entspricht – bis auf einige
Aktualisierungen, kleine Anpassungen und Adaptionen – einem Artikel, der 2012 als „Googeln im
Unterricht zur Vermittlung von Informationskompetenz“ in: Gapski, Harald/Tekster, Thomas [Hrsg.]:
Informationskompetenz im Kindes- und Jugendalter in der Schriftenreihe Medienkompetenz des
Landes Nordrhein-Westfalen (kopaed; Düsseldorf/
München) erschien.
Zum Kontakt
Prof. Dr. Matthias Ballod
MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG
Germanistisches Institut
Didaktik der deutschen Sprache und Literatur
Luisenstraße 2
06099 Halle (Saale)
Durchwahl: 0345 / 5523- 603
Sekretariat: 0345 / 5523- 601
E-Mail: [email protected]
Web: www.deutschdidaktik.uni-halle.de
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Literaturangaben
Hinweis: Alle in diesem Aufsatz aufgeführten InternetQuellen wurden am 11.01.2015 zuletzt geprüft.
Ballod, Matthias (2014): Wikipedia im Deutschunterricht
nutzen! Reflexiv – Produktiv – Kreativ. In: Lesefutter
2014, LISA Halle, 28-37.
Ballod, Matthias (2011): Informationen und Wissen im
Griff. Effektiv informieren und effizient kommunizieren, Bielefeld: Bertelsmann.
Ballod, Matthias (2007): Informationsökonomie – Informationsdidaktik. Strategien zur gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Informationsbewältigung und Wissensvermittlung, Bielefeld: Bertelsmann.
Ballod, Matthias (2005): Dimensionen von Informationskompetenz.
In: Computer + Unterricht. Lernen und Lehren mit digitalen Medien, Jg. 15, Nr. 59, 44-46.
Broschart, Steven (2011): Suchmaschinenoptimierung
und Usability. Website-Ranking und Nutzerfreundlichkeit verbessern, 2., aktualisierte Aufl., Poing: Francis.
DGI - Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e. V. (2012): DGI setzt
auf Informationskompetenz gegen Informationsüberflutung, Pressemitteilung. Online erreichbar
unter: http://www.dgi-info.de/index.php/presse/
pressemitteilungen/475-dgi-pm-strategie
Gapski, Harald; Tekster, Thomas (2009): Informationskompetenz in Deutschland. Überblick zum Stand der
Fachdiskussion und Zusammenstellung von Literaturangaben, Projekten und Materialien zu einzelnen Zielgruppen, Düsseldorf. Online erreichbar unter: http://
www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Aktuelle_Forschungsprojekte/Informationskompetenz_in_Deutschland_August_09.pdf
Hamann, Götz; Rohwetter, Marcus (2012): Vier Sheriffs
zensieren die Welt. In: DIE ZEIT, Nr. 32 vom 02. August,
S. 19.
Kant, Immanuel (1952): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner.
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Paál, Gabor (2011): Alles abgeschrieben? Bildung in Zeiten
von Google. Radiointerview im Deutschlandfunk.
Online erreichbar unter: http://www.dradio.de/dlf/
sendungen/campus/1390910/
Rupp, Susanne (2010): Google Marketing. Werben mit
AdWords, Analytics, AdSense & Co., München: Markt +
Technik.
Schetsche, Michael; Lehmann, Kai; Krug, Thomas (2005):
Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des
Wissens. In: Lehmann, Kai; Schetsche, Michael (Hrsg.):
Die Google-Gesellschaft. transcript: Bielefeld. S. 17-39.
Schlobinski, Peter (2012): Sprache und Kommunikation
im digitalen Zeitalter. Online erreichbar unter: http://
www.mediensprache.net/de/essays/6/
van Ess, Henk (2011): Der Google-Code. Das Geheimnis
der besten Suchergebnisse, München: Addison-Wesley.
Wirth, Thomas (2004): Missing Links. Über gutes Webdesign, München/Wien: Hanser.
Positionen | Projekte | Publikationen
André Schinkel
Hinter den Gärten
Laudatio auf Sascha Kokot aus Anlass der Verleihung des GeorgKaiser-Förderpreises des Landes Sachsen-Anhalt 2014
Lieber Sascha, meine Damen und Herren,
der Grund unseres Zusammentreffens ist ein erhebender, denn es setzt sich damit eine Tradition fort,
die jeweils zwei Dichter ehrt – einen, dessen aus
dem Expressionismus kommendes und bis in die
Neue Sachlichkeit hakendes Werk über Jahrzehnte
hinweg die Theaterszene Deutschlands geprägt hat;
einen, dessen junges Œuvre mit dem vielbeachteten Gedichtband „Rodung“ einen mehr als erfreulichen Ausdruck gefunden hat und der, auch wenn er
sich nun der Dinge und des Studiums wegen nach
Leipzig verkrümelt hat, aus diesem unserem seltsamen Bindestrichland stammt.
Ja, die Verleihung des diesjährigen Georg-KaiserFörderpreises findet eingedenk der Vergabe des
etwas namensamputierten Literaturförderpreises
an Daniela Danz 2005 nun zum tatsächlich achten
Mal statt. Angesichts dessen, was in der Welt wie
im Ländchen momentan los … und der Pessimist in
uns versucht ist, das Ende der Aufklärung zu befürchten … ist dies eine gute Gegenbewegung. Es
lässt auch die Hoffnung bestehen, dass man von
der gegenwärtigen Meinung, Universitäten und
Theater seien, als jeweils höchste und wichtigste
Bildungseinrichtungen, nach den Maßgaben des
Markts zu kontrollierende Kuchenbuden, besser
heute als morgen abrückt. Um sich zu verständigen
auf diesem schlingernden Schiff, das dieser Planet
ist, ist es weder nötig, Köpfe rollen zu lassen im Namen irgendeines Götzen, noch mit dem Mundverbot der Frömmler und Siegersprachler zu kommen.
Wir sind damit inmitten dessen, was das Ansehen
dieses Preises und unserer Zusammenkunft zu
seiner Vergabe signalisieren sollte: Man muss sich
nicht einig sein, um an den Grundfesten, die uns
von den Tausendfüßlern und Planarien unterscheiden, festzuhalten. Eine dieser Festen ist die Kunst.
Also: Einerseits ehren wir einen Dichter, dessen
Arbeiten von den Nazis für alle Zeit in den Orkus
gekippt sein sollten, Georg Kaiser, einen dem Anschein, der Mentalität nach echten Magdeburger,
dessen reifer Fleiß ein Dreiviertel-Hundert Stücke,
daneben Romane und Gedichte zeitigte. Kaisers
Vergessenheit ist selbst ein Lehrstück darüber, wie
der Bruch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Biografien der das Centennium Erleidenden eingreift, ein wenig an den Yvan-Goll’schen
„Hiob“ erinnernd, mit dem es nicht gut ausgeht.
Auf der anderen Seite fördert das Land Sachsen-Anhalt mit einem Preis, der den Namen Kaisers trägt,
die nachwachsende Avantgarde, deren Stand im
entwickelten Neu-Jahrtausend alles andere als ein
leichter ist. Es hätte dem alten Kaiser wohl gefallen, dies zu sehn, ist doch darin eine Lösung eines
frühen Konflikts des Dichters, in der Welt zu sein,
angedeutet. Jeden der bisherigen Preisträger hat
diese Ehre bestärkt.
Über Sascha Kokot gibt es einiges zu berichten: Der
gebürtige Altmärker, der in Osterburg aufwuchs, in
Hamburg lernte, den es nach Australien, schlussendlich nach Leipzig verschlug, wo er am Deutschen
Literaturinstitut die Iden und Weihen eines Au-
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Positionen | Projekte | Publikationen
tors eher vertiefte denn erwarb, mit der nunmehr
legendär zu nennenden „Hausdurchsuchung“ eine
Lesereihe begründete und sich eine Existenz als
Autor und Fotograf aufbaute, ist mit der Nennung
seines literarischen Debüts alles andere als rundum erfasst. Diese „Rodung“, 2013 in der hochambitionierten Edition Azur Helge Pfannenschmidts
in Dresden erschienen, bildet aber dennoch einen
Fonds dessen, worum es Sascha geht und worum
der Kunst, wenn sie sich mit dem Spiegel einer Persönlichkeit mischt, zu tun ist, ab.
Das ist es auch, was den kleinen Furor in der Szene,
wenn man sie so nennen will, erzeugte. Stille, partiell nahezu lautlose Texte sind auf diesen 85 Seiten
zu finden, zugleich von einer gewaltigen Schwere
und schwangeren Füllung, konstatierende, monolithische Gesänge, sich teils wie Anti-Gesänge gebärdend und nicht selten den Gebrauch von Ironie,
wenn sie denn vonnöten sein sollte, lange wägend.
Sie haben ihrem Verfasser den Ruf eines ernsthaften Mannes eingebracht, eines Arbeiters mehr im
Bergwerk denn auf der Pfaueninsel der Dichtung
… und sie haben ihm innerhalb des deutschsprachigen Raums wie auch international – seine Texte
wurden in fünf Sprachen übersetzt – Respekt und
Gehör verschafft.
auch diese Nacht fällt
hinter deinem Haus zu Boden
du hast freie Sicht tief hinein
weißt von den Funkmasten den Rasthöfen
wie Transit sich daran entlang spurt
mit rotem Licht die Sedimente abfährt
das Zurückgelassene nachdunkelt
viel hast du dort geborgen
dir stur in die Zimmer gestellt
Schwemmholz deiner Herkunft
nun bleibt dir der Blick vom Balkon
auf die halbe graue Stadt die demontierten Gleise
der kalten Rodung folgte Stille nach
dein Heim ist ein begehbares Wesen
in dem unser Fehlen haust
Es ist dies das mehr oder minder namensgebende Gedicht in Saschas erster lyrischer Sammlung,
unter der Überschrift „Schließer“ ist es als einer
der wenigen Texte mit einem Titel versehen. In ihm
schießen, glaube ich, alle Aspekte dieses Schreibens
in eins: es wird vom Verlassen einer vertrauten
Landschaft berichtet, die, gewissermaßen, in den
Aggregatzustand der äußeren Weggesunkenheit
wechselt, nicht ohne dass man den Ballast seiner
Erinnerung daran und letztlich das, was man durch
diese Landschaft selbst ist, mitnimmt in die Fremde,
das Schwemmholz der Herkunft, und in der man
ortlos ist und gefüllt mit dem Alten, gegen das
das demontierte Neue brandet und – letztlich fern
bleibt wie das, was man verlassen hat: „der kalten
Rodung folgte Stille nach“ und „nun bleibt dir der
Blick vom Balkon“. Die Dimension ist im Übrigen
noch umfänglicher, denn sie greift zurück bis in
die Ur-Verluste, die die Prägemarken existentieller
Poesie sind.
Dieser gedimmte, sonore, tiefernste Klang der
Kokot’schen Sprache ließ früh aufhorchen: Dank
eines bis heute hervorragend funktionierenden
Förder-, im Sport würde man sagen – „Sichtungs“Systems ist man in Sachsen-Anhalt nach wie vor
auf bestem Wege in der literarischen Nachwuchspflege. Diesem Status indes entwachsen, sehen wir
nun einen ausgeformten, seine Obsessionen, wie
es scheint, mählich sortierenden Dichter vor uns,
dessen Parlando uns trifft und staunen macht. Die
Dichterschaft, meine Damen und Herren, ist eine
Zumutung und eine Gnade zugleich, nirgendwo
kann man in solcher Dringlichkeit von Dingen sprechen, die sonst womöglich unaussprechlich wären.
Die Lyriker-Seele ist stets halbseitig bedroht und
auf der anderen Seite zum unbestechlichen Hinsehen verpflichtet. Diese Unbestechlichkeit, in den
Worten Müllers die „weggeschnittenen Augenlider“
des Dichters, ermöglicht die der lyrischen Gattung
unabdingbare Genauigkeit. Sie hat alle dauerhaften Dichterstimmen durch die Zeiten gebracht, ihr
Verlust hat auch Hochbegabte nicht selten an ihrer
Sinnsuche scheitern lassen.
In den Versen Sascha Kokots aber treffen wir
mustergültig auf diesen schwierigen Spagat, er
wird durch die besondere Engführung einer unbeschnörkelten Beobachtung des Umliegenden mit
Positionen | Projekte | Publikationen
dem Agieren des Sprechenden, der ‚Stimme‘ des
Gedichts noch aufgeladen. Auffällig, wie gesagt,
die große Stille, flussartige Ruhe in diesen Texten,
die oft erscheint, als würde darunter ein Brodeln
gebändigt, aus dem sich alle existentielle Dichtung
speist. Sie tritt mutvoll auf und riskiert zugleich Ratlosigkeit, gegen die dann, in einer weiteren Ableitung quasi, vorzugehen wäre und so fort. Es ist dies
eine Art, sich in der Welt zu halten, die eben nichts
mit der Ablenkungsmaschinerie der sogenannten
Gegenwart, dem schaudererregenden Zeitgeist
oder, in die Lyrik gebrochen, dem so vordergründigen, saumseligen Zerkrümeln der Sprache zu tun
hat. Hören und vergleichen wir selbst:
hinter den Gärten
enden die Namen unserer Orte
an der unverletzten Gusshaut
wir haben vergessen
dort zu enttrümmern
die ausgelegten Fallen zu kontrollieren
die neuen Gebiete begehbar zu machen
wir kennen den Flusslauf kaum
wo genau die Versinkung liegt
die Trasse ihre Schatten parallel dazu wirft
unsere Karten sind inzwischen überholt
mit ihnen stimmen die Proviantlisten kaum
wir wissen nicht was vonnöten sein wird
fest steht nur die Kälte zieht an
und wir füllen langsam das Schrot
in die Patronen
Wir hören also und: staunen. Was uns hier mit der
größtmöglichen Beherrschung mitgeteilt wird, ist
zugleich frappierend und ungeheuerlich, es ist, als
stünde es auf dem Kipppunkt einer Erkenntnis, der
über das Große, Ganze wie auch über die gewaltige Ratlosigkeit einer anstehenden Epoche spricht.
Also doch ein Zeitgedicht? Auch das, aber eben ein
entlarvendes. Es ist letztlich zugleich die Zeit, in der
„unser Fehlen haust“. Die Literatur als Schwester
der Geschichtsschreibung wird immer auch aus
der Ära berichten, in der sie entsteht, nicht aber,
sich ihr anzudienen, eher wohl, um die Analogie zu
ziehen zwischen den Herden der Epochen. Leider ist
das Bild unserer Epoche grausig, trotz alledem. Wir
sind dem Süßholz der leichtherzigen Gesellschaft,
wieder einmal und unglücklich, entkommen, wir
suchen die Flussläufe, an denen wir zu leben haben,
nach den Schwemmhölzern eines Sinns, ja, und
unserer eigenen Identität ab. Hinter den Gärten, wo
die Wildnis beginnt, lockt die Herausforderung, und
sie erschreckt zugleich – es werden die Patronen
gefüllt, ihr zu begegnen. Das Anziehen der Kälte ist
womöglich … das reziproke Signum unserer Entfremdung.
Ja, existentiell – jenseits der schulemachenden
Verschlagwortung aller Dinge zu Pixeln und weitläufigen Unerheblichkeiten ist das der grundlegende Antrieb jeder künstlerischen Ansprache. Zu den
Gebresten des Jahrhunderts, aus dem wir stammen
und das uns bis heute, auch wenn wir seine Lehren
mittlerweile wieder – auch davon redet dieses Gedicht – verspielen, beeinflusst, kommt im Falle des
Dichters der Licht- oder oft genug Ablichtbezirk des
Persönlichen dazu. Seine Pixelung prägt, beleuchtet
oder verdüstert, je nachdem, den seelischen und
nicht zuletzt auch leiblichen Verlauf eines Künstlerlebens und formt vor allem sein Werk. In der dichterischen Schamanen-Abteilung fällt das auf wie in
keiner Kunstform sonst … der Stempel des Äußeren
prägt, durch den ureigenen Solarplexus gefiltert, die
Zunge, die Sprache des Vers-Obsessionisten, seine
Lyrik, die ihm als die genau ihm entsprechende,
folgerichtige Ausdrucksform erscheint.
ein Leben auf Besuch
und in jeder Stadt diese
Zeitungsverteiler Bahnhöfe
wellige Plakate
immer ein Buchstabe weniger
auf dem Straßenschild
der ausgerissene Stadtplan
bald namenlos
die Schlüssel ohne Zähne
Noch etwas ist interessant in unserer Erwägung
und treibt mich um: so entstammt Sascha Kokot,
meine Damen und Herren, der uns heute als mit
diesem Preis auszuzeichnender ‚Einzeltäter‘ entgegentritt, zugleich einer Autorendynastie, die, für
sich genommen, ausreichte, die „Osterburger Dich-
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Positionen | Projekte | Publikationen
terschule“ zu begründen. Dieser Umstand enthält
Aspekte des Glücks und der Tragödie zugleich, er ist
in einen Auftakt gesetzt durch die eindringlichen
Texte seines Vaters, der nicht mehr unter uns sein
kann, in ein zweites Aggregat gebracht durch die
tiefen, souverän wie beherrscht geführten Erzählungen und Verse seiner Mutter Diana und findet
in der Arbeit seines Bruders Vincenz, Musiker und
Autor zugleich, eine weitere dichterische Experimentieranordnung – in ihr wird das Wort ein erneutes Mal auf seine Biegsamkeit untersucht. Wenn
man möchte, setzt sich dieses Kaleidoskop aus vier
Stimmen ebenfalls zu einer Art Ganzen zusammen.
Für den heutigen Tag tritt Sascha schlaglichtartig in
das Zentrum dieser Konstellation, wird gleichsam
zum Botschafter dieser Ballung an Denk-, Umsetzund Erfindungskraft. Das schmälert ja das Besondere nicht, im Gegenteil, es gibt dem notwendigen
Verständnis dieser Arbeit einen denkbaren Fonds.
Möge unser Heim eine Form „begehbares Wesen“
werden, in dem dann aber die Ahnung unseres Daseins haust und in ihm wie uns nachklingt. Heimatlos, mit dem „Schlüssel ohne Zähne“, werden wir
noch lange genug sein.
Die Gedimmtheit der Stimme ist zugleich ein Argument ihres Bemühens um Klarheit, eine Anordnung der Dinge. Ein Individuum betritt, zuweilen
in einem vagen Verbund mit den Seitenschnitten
anderer Individuen, eine abgelegte Landschaft
und muss zusehen, in ihr zurechtzukommen. Die
Mechanik dieser Bewegung ist es, die beeindruckt.
Sascha hat die Meister dieser lyrischen Untergattung – der späte Huchel wäre zu nennen, Andreas
Altmann vor allem – gelesen und dabei Nachbarn
gefunden. In den bislang etwa vierzig Gedichten
der Nach-„Rodung“ setzt sich dieser Weg, wie wir
an dem Gedicht „hinter den Gärten“ sehen konnten, mit scharfkantiger Konsequenz fort: wir sind
heute auch hier, um uns der nötigen Beharrlichkeit
einer solchen Arbeit auf den flegräischen Feldern
der Dichtung zu entsinnen. Aus einem abgestorbenen Land bewegt sich die rummelnde Glut nun
durch die Hilbig’sche Landschaft des nächsten
Sterbegebarens. Man kommt nicht umhin, von dieser Konsequenz Saschas, von diesem postulierten
„Du-musst-dahin-wo-es-wehtut“ erschreckt und
angetan in einem zu sein.
Denn gleichwohl ist das Kokot’sche Denk- und
Mahlwerk auch eine politische Dichtung, das die
Dinge durch einen unverspiegelten Filter auslegt
und wertet. Es kommt dabei in den hämmernden
Werkstätten der Desillusion an, „hinter den Gärten“ beginnt eine unberechenbare Landschaft,
sie schwappt bereits in die mühsam gehaltenen
„Malevil“-Verschnitte hinein. Dieser Mut und Weitblick in der Entlarvung der Konstellationen, er ist in
unseren Generationen nurmehr wenig häufig und
oft lediglich vage gebildet: wer legt schon gern den
Finger in die aufgekommene Illusions-Verlorenheit
unserer Jahre, ihrer nun in Angriff kommenden Ausführung?! Damit ist nun hier zu rechnen – jenseits
des ganzen Heidi-Klum-Gedöns, der allgemeinen
Verdämlichungs-Euphorie, hinter dem Feixen der
Bohlen’schen Wackeldackel rumort es in dieser Zeit,
dass einem Angst und Bange wird und so manche
„Susanna Maxima“ vergeblich bimmelt:
ohne Dächer steht ihr da
wie ein Schlag in die alten Erzählungen
als die Mutter noch die Reihenfolge
der Worte abends am Bett kannte
mit dem Geruch der letzten Scheite
steht ihr zerschmissen
auf den rußigen Schwellen
wisst nicht wo die Alten zu begraben
die Inschriften in die Kreuze einzukerben sind
nur die asphaltierten Zubringer
sind euch gut bekannt
vom sonntäglichen Ritus
‚Zerschmissenheit‘ ist vielleicht das Stichwort, das
den Anbeginn dieses Schreibens provozierte: ein
rasantes Wechseln der Töne und Blicke, eine galoppierende Überformung und Überstülpung, die eben
dazu führt, dass man die Worte nicht mehr zusammenbekommt und mit den letzten Scheiten eben
auch der Prozess des Erinnerns außer Gang gesetzt
wird, sei es in den „kapitalen Blockstaaten“ oder
„westwärts gewildert“: letztlich ist alles bereift
vom Atem der kommenden (abziehenden?) Post-
Positionen | Projekte | Publikationen
Apokalypse. Wir wissen nicht, ob die Reitereien der
dritten Garnitur schon durch sind oder ob es nicht
die Zöglinge dieser sind, die den Landstrich weiter
verwüsten. Das Dilemma des Vergangenen – es ist
eben auch das Dilemma der Gegenwart. Es sind die
Vorzeichen gewechselt, nicht die Protagonisten.
Auch das lehrt, glaube ich, uns diese bestechende,
mahnende Dichtung.
Wir sind also geehrt, indem wir sie ehren und ihr
eine Rückversicherung unserer Wertschätzung für
das merkwürdige „Waidwerk am Selbst und den
Dingen“, das Sascha, als aus diesem aus divergierenden Stämmen zusammengesetzten Landstrich
stammender Dichter, vornimmt, geben. In der Tat,
zurückgespiegelt, mag der verhaltene, kühle Ton
von Sascha Kokots Gedichten uns eine Ahnung
geben für den möglichen kulturellen Reichtum, der
dieser nicht immer reibungslosen Liaison so verschiedener Mentalitäten: der mitteldeutschen, der
anhaltinischen, der hercynen, ostfälischen, märkischen innewohnt. Wenn man diesen Ton – und die
Synästhetiker unter uns vermögen dies – ins Licht
hält, möchte man gern von einer norddeutschen
Komponente im Stimmenklang sprechen, der im
Zusammenklang den Blick auf eine Form der Gesetztheit ermöglicht, die manch anderem Versfüßler so schlecht nicht stünde. Ich denke, sie fällt auch
in Leipzig, sei es das alttestamentarische oder das
neuhippe, in jedem Fall auf. Und sie wird sich auch
künftig nicht auf den „breiten behäbigen Leberfleck
mittenmang“, wie Peter Gosse die heimliche mitteldeutsche Hauptstadt umschreibt, beschränken.
Dass es ihr bisher nicht vergönnt war, in Darmstadt
die Jury des „Literarischen Märzes“, die für die Vergabe des Leonce-und-Lena-Preises zuständig ist, zu
erwecken, erzählt uns wohl mehr über die saumselige Frühjahrsmüdigkeit besagter Jury denn über
den dunklen, lakonischen Glanz der Kokot’schen
Dichtung. Ich sehe das nicht als Niederlage, sondern eher als ein Symptom. Und vielleicht sitzt ja
die fällige Zurechtrückung dieses Umstands auf
der nächsten Betriebs-Wolke bereit. Denkbar wäre
zugleich, daß dieser Winterschlaf bereits ein Part jener postapokalyptischen Verlebtheit ist, die Kokots
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Texte motorisieren. Möglicherweise ist es aber auch
so, dass sich das Glück bereits auf anderen Wegen
tummelt, wie etwa bei seiner Auszeichnung für sein
Drehbuch „debris“, 2008 von der Robert-Bosch-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut
und Ostpol e. V. prämiert und an einem Kiewer Institut verfilmt. Man nehme wahr, in welche Gefilde
unser Delinquent sich mit jedem Recht vorarbeitet!
In der Fächerung der Blicke und Möglichkeiten liegt
zudem stets eine Chance, für das My eines Grans an
der Zeit teilzuhaben, eben ohne ihr aufsitzen, in ihr
aufgehen zu müssen. Möge es also Frühling werden
in Darmstadt, dem ein gewaltiger Sommer nachfolgt, in dem wir an die geträumten und wahrhaftigen Steinbrüche ziehen und die Porphyr-, Basaltoder Granit-Inschriften überprüfen:
ein weißer Strich bist du
dicht unter der Oberfläche
in diesem schwarzen Medium
noch nicht lange zurück
gekippt ins Schwimmbare
ducken wir uns unter
Mücken und Federn weg
zählen die Züge zur anderen Seite
im selben Takt fallen Steine in den Bruch
schneiden eine Form für den nächsten Sommer
ganz ohne Kleider und jeglichen Grund
in die Stadt zurückzukehren den Kessel
fehlt uns die Dunkelheit
bis dahin zähle ich die letzten Spuren
auf dem Tuch eine feuchte Fährte
die dein Rücken in die Sonne legte
Das ist bei weitem nicht alles, worüber zu berichten
wäre, aber es ist bereits viel und es rechtfertigt vor
allem die heutige Vergabe des Preises, und wir können ein wenig in der Spätsonne dieser Erfreulichkeit einhergehn. Unsere Begegnung, die Begegnung
zwischen Sascha und mir, ist mittlerweile schon
historisch zu nennen, sie liegt nunmehr sechzehn
Jahre zurück. Sascha war damals Gymnasiast im
Schatten Albrechts des Bären in Osterburg; ich hielt,
als so tollpatschiger wie euphorisierter Junglyriker
auf den Literaturtagen herumtorkelnd und grade
mit jener Auszeichnung beflittert, über die wir
heute reden, eine Lesung an diesem Gymnasium.
56 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Es berührt mich deshalb jetzt auch, weil Sie nun
studieren und besehen können, was aus diesem
Gymnasiasten von damals geworden ist, den ich
bei einer Literaturwerkstatt in Sonneck wiedertraf,
wo er im Kreis um Wilhelm Bartsch saß und mit
einer schmalen, äußerst reduzierten Frühlyrik, über
die ich heute leider nicht sprechen darf, seine erste
Trittspur hinterließ. Es erzählt uns diese Geschichte
eben auch etwas über die Möglichkeit der Entdeckung und gezielten Förderung von Gaben, die
heute eine würdige Krone erhält. Wir sind hingegen
angehalten, diese sehr geradlinige Sicht und Seherschaft Sascha Kokots zu ergründen und für gegeben
hinzunehmen, berichtet sie uns doch von unserer
Getriebenheit in wiederum getriebener Zeit.
auf weiter Flur bleiben mir nur die Häute
der Wind schlägt sie hohl aus
wirft sie in Form als würden sie
noch ein Tier in mir bergen
in den Nächten seh ich es
die feinen Glieder kreuzen
die Rücken mir zukehren
kräftig gegen mich anschlagen
bevor es aus meinen Händen bricht
Wir sind eben auch zugleich die Tiere des eigenen
Glücks oder Nicht-so-sehr-Glücks. – Lieber Sascha,
sei damit in die Geschwisterschaft der Kaiserpreisträger aufgenommen, das ist von dieser Sekunde an
in den Aggregatzustand einer Tatsache überführt
und wird eine Reihe Leute im Land nicht nur freuen,
sondern auch ermutigen, bei sich und den eigenen
Dingen zu bleiben und darin unbeirrbar zu sein. Ich
wünsche Dir Kraft und Mut, danke Dir für Deine Geduld mit mir altem Desillusionisten – es ist gut, zu
sehen, dass noch nicht alles, obwohl verloren, verloren ist. Ich gratuliere von Herzen. Meine Damen und
Herren, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Jena • Halle • Magdeburg, im September 2014.
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Ralf Langer
Geschichten von Flucht und Beharrung
Literarische Darstellung von Zeitgeschichte
IStiller Fall aus dem Rahmen: „Gehen, um zu bleiben“
von Klaus Müller (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014)
Es findet sich kein Klaus Müller im „Wer war wer
in der DDR“, das Buch, welches rückblickend die
Wichtigen, Einflussreichen und Prominenten der
untergegangenen DDR in regelmäßig aktualisierten
Auflagen zusammenfasst, einstigen Staatsbürgern
nachträgliche Detailinformationen zukommen
lässt, anderen Geschichtsinteressierten schnelle
biographische Orientierung bei der Erschließung
historischer Darstellungen ermöglicht. Dies verwundert nicht, gehörte er doch weder zu den
markanten Stützen oder bekannten Gesichtern des
untergegangenen Staates, noch zu denen, welche
dessen Ende beschleunigten oder dies im Nachgang gern glauben. Der Name Klaus Müller könnte
als Sammelbegriff für den typischen DDR-Bürger
herhalten, welcher sich unbekannt wie unerkannt
in seiner realsozialistischen Nische einrichtete, dort
nach dem systemischen Tapetenwechsel oftmals
noch immer haust. Jener Klaus Müller aber, welcher mit seinem autobiographischen Buch nun die
Öffentlichkeit sucht, verließ seine Nische und die
DDR, fiel bildlich gesprochen aus dem Rahmen. Auf
seine persönlichen Erinnerungen hat wohl trotzdem niemand mehr gewartet, wurden sie doch
bereits 1994 durch Christian Friedrich Delius, einen
altbundesdeutschen Meister der dokumentarischen
Literatur in seiner Erzählung „Spaziergang von
Rostock nach Syrakus“ umfangreich verarbeitet,
fanden sich diese 2012 ausschnittweise in einem
Sammelband zur Insel Hiddensee als Treffpunkt
der Boheme und Aussteiger-Idyll wieder (Andres
H. Apelt/Cornelia Klauss: Hiddensee – Die Insel der
Anderen, Geschichten von Zeitzeugen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2012). Zudem gibt es neben der
wissenschaftlichen zunehmend Erinnerungsliteratur, welche illegale Grenzübertritte sachlich aus
der Außen- oder bewegt aus der Innenperspektive
zeigt. Trotzdem ist es aber gut, dass es dieses Buch
nun doch gibt – Müllers Geschichte ist es wert,
noch einmal zusammenhängend von ihm selbst
erzählt zu werden! Dies nicht nur, weil er mit der lebensweltlichen Herleitung seiner Gründe zu gehen
und doch zu bleiben; um den programmatischen
Titel des Buches aufzugreifen, typische Lebens- und
Gefühlslagen der einstigen DDR aufruft, sondern
gerade auch, weil er uns zugleich Nuancierungen
zeigt, die in ihrer Eigenwilligkeit, ja teilweise Skurrilität noch einmal mitgeteilt werden müssen.
Wer war nun dieser Klaus Müller und was unterschied ihn von den vielen anderen Meiers, Müllers
und Schulzes in der größten DDR der Welt zwischen
Arkona und Zittau? Ein Sachse ist der Autor und
Hauptakteur dieses autobiographischen Buches,
welcher die Möglichkeiten des akademischen
Aufstiegs im Arbeiter- und Bauernstaat aus- und
stattdessen den Weg in die gastronomische Dienstleistungswüste der DDR einschlägt. Dass es in
dieser neben den Verlierern vor dem Tresen auch die
Gewinner dahinter gab, war wohl vielen bewusst,
der Autor rückt es anfänglich aber noch einmal
deutlich ins Bewusstsein. Der Überschuss an Geld
und Zeit sichert Müller schon frühzeitig Zustände,
welche ihm Gelegenheit für umfangreiche Selbstentfaltung geben, ihm aber umso schneller die
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Positionen | Projekte | Publikationen
Grenzen eines Lebens in der DDR aufzeigen. Im
Mittelpunkt dieser Selbstentfaltung steht bei ihm
eine für viele nachvollziehbare Vorliebe für Italien,
zugleich aber auch die für manchen sicher unverständliche Zuwendung zu einem gewissen Johann
Gottfried Seume. Seume, Dichter und ebenfalls
Sachse aus einfachen Verhältnissen, war es, der
Dank eines aufgeschlossenen Deutschlehrers schon
frühzeitig mit seiner Italienreise in Müllers Kopf herumspukte und wichtiger Impulsgeber wurde. 1801
begab sich dieser von Leipzig aus zu Fuß auf den
langen wie beschwerlichen Weg bis ins südlichste
Italien. Er erkundete Land und Leute, beobachtete
die Schönheit der Natur, besonders aber auch das
alltägliche Leben in seiner Härte und mit seinen
sozialen Spannungen. Ein Jahr nach der Rückkehr
erschienen seine Erinnerungen in der damals verbreiteten Form eines Reiseberichtes unter dem Titel
„Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Seumes
Reise war es nun, welche rund 180 Jahre später für
den in der Mitte seines Lebens angekommenen und
neue Herausforderungen suchenden Klaus Müller
zum Drehbuch werden sollte. Sein Entschluss, das
geregelte Dasein als Lehnstuhlreisender mit bildungsbürgerlich geprägtem Kopfkino aufzugeben
und dem Wissen über andere Länder wie Kulturen
die persönliche Anschauung folgen zu lassen, wird
nun zur Triebfeder seines Denkens und Handelns. Er
muss auf Seumes Spuren nach Italien, koste es, was
es wolle! Dass dafür Mauern, Zäune oder andere im
Ernstfall tödliche Hindernisse überwunden werden
müssen, bei der geplanten Rückkehr in die DDR brachiale Bestrafung und soziale Ausgrenzung drohen,
scheint ihn dabei wenig zu verängstigen – es stellt
für ihn eher eine logistische Herausforderung dar.
Diese Herausforderung der Vorbereitung und
Durchführung des illegalen Grenzübertritts steht
ab 1981 dann auch im Mittelpunkt seines langjährigen Agierens: Die Ostsee wird als der Weg des
Grenzdurchbruchs gewählt, ein Segelboot und der
Segelschein organisiert. Westgeld wird getauscht
und mühsam als Grundstock einer Reisekasse in die
BRD transportiert, Wege und Hindernisse ebenso
erkundet wie Gepflogenheiten der Marine und die
Spezifik reisetauglicher Wetterlagen. Was hier so
unkompliziert aneinandergefügt wird, kommt im
Buch ebenso problemlos, fast spielerisch daher.
Angst spielt keine wirkliche Rolle und dies trotz
körperlicher Grenzerfahrungen beim Segeln und
mehrerer realsozialistischer Zwischenfälle mit den
Vertretern „staatlicher Organe“, bei denen Müller
typische Handlungsweisen von der Bedrohung
bis zur Erniedrigung erleben muss. Fast plaudernd
wendet er sich im Stile seiner literarischen Vorbilder an den geneigten Leser, reiht chronologisch die
Geschehnisse und verknüpft diese regelmäßig mit
Einblicken in eigene Gedanken wie Befindlichkeiten.
Nach Jahren der Vorbereitung und der Lauer, wie
er die Zeit des Abwartens nennt, realisiert er im
Sommer 1988 endlich den ersten Teil seines Plans.
Der Grenzdurchbruch nach Dänemark gelingt, die
schnelle Weiterreise in die Bundesrepublik folgt.
Zügig geht er dort zum zweiten Teil über, welcher
für den Restsommer sowie folgenden Herbst und
Winter die Erkundung des westlichen Deutschlands und die Aufstockung der Reisekasse vorsieht.
Dass dieser Westen längst nicht so goldig ist, wird
ihm schnell klar, die Ernüchterung hält sich aber in
Grenzen. In seinem Selbstverständnis als Gast auf
Zeit, versehen mit einem kleinen Netzwerk an Bekannten und erfahren im Erkunden legaler Vorteile,
zugleich arbeitswillig und genügsam gelingt ihm
die gewünschte Verbindung von Bildungsreise und
Geldverdienen. Obwohl die Eindrücke umfangreich,
vielseitig und mitunter betörend sind, geht er offenen wie wachsamen Auges durch diese neue Welt,
hinterfragt er kritisch Schein und Sein, gleicht er
bisherige mit neuen Lebenswelten ab. Nie kommt
sein Selbstverständnis als DDR-Bürger auf Bildungsurlaub wirklich ins Wanken, zeigen die Verlockungen der neuen Welt nachhaltige Wirkung. Erst das
Unverständnis der verlängerten DDR-Bürokratie
in deren Ständiger Vertretung in der BRD und die
Verweigerung eines Visums für Italien treiben den
fast zwanghaft korrekten Müller in die temporäre BRD-Staatsbürgerschaft. Mit dieser aber kann
im Frühjahr 1989 endlich der lang gehegte Traum
in Erfüllung gehen, die Reise auf Seumes Spuren
beginnen.
Da sich die Zeiten geändert haben, Müllers persönliches Zeitmanagement eine schnelle Rückkehr vorsieht, verzichtet er auf den geplanten
Positionen | Projekte | Publikationen
Fußmarsch. Zugig wie zügig geht es nach Italien
und über die Stationen Triest, Venedig, Rom sowie
Neapel nach Syrakus, dem Wendepunkt der Reise.
Kurz nur ist der Aufenthalt auf Sizilien, wenig Zeit
bleibt zum Verweilen. Die Rückreise folgt bald, das
Tempo bleibt, auch wenn die Stationen nun zahlreicher werden. Palermo, Siena, Florenz, Bologna,
Parma, Bergamo, Mantua, Verona und Bozen werden erkundet, bevor der Zug wieder in deutschen
Landen einfährt. Erstaunlich ist dabei, welche Fülle
an Sehenswürdigkeiten, Erlebnissen und Eindrücken Müller in dieser kurzen Zeit rückblickend
anhäuft und für den Leser aufbereitet. Hier läuft
er zu seiner erzählerischen Hochform auf, verweist
auf touristische Höhepunkte, ohne zum Reiseführer
zu mutieren, streut geschichtliche Details und ruft
klassisches Bildungsgut auf. Große Kultur findet
sich regelmäßig neben Alltäglichkeiten, Elemente
des Berichtes wechseln sich ab mit emotional gedämpften Schilderungen in der ihm eigenen Art des
sachlich-staunenden Fabulierens verknüpft er alles
zu einer abwechslungsreichen Patchwork-Decke der
Erinnerung.
Nach vier Wochen ist das Italienabenteuer auch
schon wieder vorbei. Schnell noch werden einige
Sehenswürdigkeiten erkundet, dann folgt die Rückreise in den Teil Deutschlands, der für ihn nach wie
vor seine Heimat ist. Mit preußischer Korrektheit
teilt der Sachse auf selbstgewährtem Bildungsurlaub den zuständigen Genossen dessen Ende und
die genaue Zeit der Ankunft mit – so, wie er es in
seinem Abschiedsbrief versprochen hatte. Tapfer
steigt er in den Interzonenzug, sieht er dem Empfang und den absehbaren Konsequenzen entgegen.
Was ihn dann wirklich erwartet, ist unglaublich.
Statt sofortiger Verhaftung, schnellem Prozess und
Verurteilung wegen illegaler Grenzüberschreitung
landet er in einem vergleichsweise kuscheligen
Eingliederungslager für übersiedlungswillige Bundesbürger. Die DDR ist bereits im fortgeschrittenen
Dämmerzustand, auch wenn ihr bald folgendes
Ende längst nicht absehbar ist. Man hat mit anderen Problemen und Personen zu kämpfen, heimatbekennende Rückkehrer wie Müller sind ungeachtet oder gerade wegen ihrer skurrilen Reisegründe
wie -wege wohl ein kleineres und vernachlässi-
gungswürdiges Übel. Sang- und klanglos wird er ins
normale Leben entlassen, über seinen spektakulären Fall der Mantel des Schweigens gebreitet.
Es sollte nicht viel Zeit vergehen, bis wieder ein
Vertreter seines Berufsstandes auf merk- wie
denkwürdigen Abwegen wandeln sollte, diesmal
aber medienwirksam inszeniert. Im Herbst 1989
verlor die DDR – nicht nur für viele Leser des Neuen
Deutschlands – durch eine Mentholzigarette, einen
durch diese betäubten Schlafwagenkellner und
seine vermeintliche Entführung ins kapitalistische
Ausland endgültig ihre Glaubwürdigkeit.
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Positionen | Projekte | Publikationen
II
Flüchtige Literaturtipps
Bodo Müller: Faszination Freiheit
Christine und Bodo Müller: Über
– Die spektakulärsten Fluchtge-
die Ostsee in die Freiheit – Drama-
schichten, 6. Aufl.,
tische Fluchtgeschichte, 8. Aufl.,
Christoph Links Verlag, Berlin 2013
Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2013
Andree Kaiser (Hrsg.): Nur raus
Andreas H. Apelt (Hrsg.): Flucht,
hier! – 18 Geschichten von der
Ausreise, Freikauf – (Aus-)Wege aus
Flucht aus der DDR, Ankerherz
der DDR, Mitteldeutscher Verlag,
Verlag, Hollenstedt 2014
Halle 2011
Dieter Bub: Unsere Sehnsucht
Jürgen Kleindienst: Siebzig Meter
nach Freiheit – Fluchtgeschichten
Angst – Fluchtgeschichten aus der
aus der DDR, Mitteldeutscher
DDR. 1961-1989, Zeitgut Verlag,
Verlag, Halle 2015
Berlin 2013
Wolfgang Wietzker (Hrsg.): Flucht
Constantin Hoffmann: Ich musste
aus der DDR-Diktatur – 101 Zeitzeu-
raus – 13 Wege aus der DDR, Mittel-
genberichte, Helios Verlag,
deutscher Verlag, Halle 2015
Aachen 2013
Positionen | Projekte | Publikationen
| 61
IIIReif für die Insel: „Kruso“ von Lutz Seiler
(Suhrkamp Verlag, Berlin 2014)
Dieses Buch ist ein beschwörendes, ein verstörendes und zugleich auch ein betörendes Buch. „Und
das ist gut so“, würde ein Politiker im Ruhestand
sagen, welcher uns einen Großflughafen versprach
und lediglich eine Redewendung hinterließ. Dieses
Buch sollte nicht besprochen werden, es sollte seine
Wirkung entfalten und einen Aufkleber bekommen. Vorsicht, dieses Buch kann Verwirrung und
Nachdenklichkeit erzeugen! Dieses Buch hat seinem
Autor einen renommierten Preis gebracht, es wird
in ungewöhnlichen wie erfreulichen Stückzahlen
nachgedruckt und hoffentlich auch in selbem Maße
gelesen. Dieses Buch ist wichtig, für den Autor, aber
auch für uns. Auf die Frage nach dem Warum wird
nachfolgend nach Antworten gesucht, wohlwissend, dass es bei einem Er bemühte sich bleiben
wird.
Lutz Seiler, ein bei der breiten, zumeist prosafixierten Leserschaft bislang wenig bekannter, dafür
von Lyriklesern geschätzter Autor, hat nach vielen
Jahren des Schreibens mit „Kruso“ nun seinen
ersten Roman vorgelegt. Weckt der Titel dieses
Buches beim Leser die Erwartung einer Robinsonade – einer modernen natürlich, wie die Schreibung
verspricht – so irrt er nicht, nicht völlig zumindest.
Hauptschauplatz ist eine Insel in der Ostsee, Hiddensee, Akteure sind vordergründig Schiffbrüchige,
Gestrandete oder Ausgesetzte, Ausgestiegene bzw.
Aussteiger in der Begriffswelt der Handlungszeit.
Bei diesen landet der Leser in der DDR im letzten
Jahr ihres Bestehens, im Jahr der sich zuspitzenden
Krise und ihres Untergangs. Wer einen typischen
DDR-Roman erwartet (was auch immer diesen
ausmacht), wird enttäuscht. Das normale Leben
mit Tristesse des Alltags, dem kleinen Glück beim
ewigen Jagen und Sammeln, der Nestwärme in der
privaten Nische oder den Momenten beglückender
Farbigkeit in den Zeiten dominierender Grautöne,
aber auch all die bekannten, ungeliebten oder gar
gefürchteten Handlungen der bekennenden Diktatur des Proletariats und das Aufbegehren dagegen
bleiben weitestgehend auf dem Festland zurück,
erfahren auf der Insel nur selten und zudem eine
spezielle Zuspitzung. Hiddensee ist für seine befristeten Bewohner weit weg vom allgegenwärtigen
und oftmals fragwürdigen Zeit-, Leistungs- und
vor allem Ideologiedruck der DDR. Hier finden sie
scheinbare Zwanglosigkeit, unkontrollierten Müßiggang und gedanklichen Gleichklang, aber auch
Nähe und Geborgenheit in temporären Schicksalsgemeinschaften. Vor dem Hintergrund einer wenig
berührten Natur, als dessen Teil sie sich fühlen
können, durchströmt sie ein Gefühl der Ungebundenheit und der Freiheit, oft auch das einer unausgesprochenen Zusammengehörigkeit. Saisonarbeit,
auch wenn mitunter schwer und monoton, sichert
den längeren Aufenthalt auf der Insel und einen
guten Platz in der Hierarchie der Aussteiger auf Zeit,
mitunter auch den Lebensunterhalt für ein zwangwie arbeitsloses Überwintern in der Heimat. Wer
keine Arbeit sucht oder findet, muss sich arrangieren oder improvisieren. Die Rückkehr aufs Festland
wider Willen fällt schwer, manchem zu schwer
– andere Wege von der Insel werden gesucht und
auch gegangen. Diese sind gefährlich, oftmals im
wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Wen nicht
die Grenzorgane mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Gewalt am Weggehen hindern, den stellt
die Ostsee mit ihren Naturgewalten auf eine lange
und vor allem harte Probe. Diese bestehen nur wenige, viele, zu viele scheitern und bezahlen mit dem
Leben.
Einer dieser Aussteiger im Sommer 1989 ist Ed, im
bürgerlichen Leben Edgar Bendler, Student der Germanistik und des Autors Alter Ego. Bekennend „ein
exotisches Wesen aus dem Zoo des menschlichen
Unglücks“, muss er sich auf den Weg machen, bevor
aus dem Tagtraum vom Sprung aus dem Fenster
Realität wird. Sein Aufbruch, das „Unterwegssein“
ist Flucht und Neubeginn zugleich. Introvertiert,
kontaktscheu, unendlich einsam und voller angestauter Emotionen will, nein muss er einen
schmerzhaften Verlust verwinden, zugleich neu
ankommen. Nicht von ungefähr wählt er dafür Hid-
62 |
Positionen | Projekte | Publikationen
densee, als Geheimtipp längst die Insel der Seligen,
der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten
und Ausgestoßenen. „Wer hier war, hatte das Land
verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“ und
lebt eine „schwer zu begreifende Form der legalen
Illegalität“, wird er später feststellen. Bis dahin
aber muss er erst einmal ankommen – ein Vorgang,
welcher weit über das Betreten der Insel und auch
über das (zumeist schwierige) Bleiben auf dieser
hinausgeht. Ein vermeintlicher, aber nicht wirklicher Zufall führt ihn, den Getriebenen und Suchenden, zum Ort seiner Bestimmung – den Klausner.
Dieser, eine legendäre Kneipe hoch über dem Meer,
ist etwas Besonderes. Erinnert er Ed auf den ersten
Blick „an einen Mississippidampfer, einen Schaufelraddampfer, der versucht hatte, durch den Wald
das offene Meer zu erreichen“, so sollte er bald
mehr für ihn werden, wie er schon immer mehr für
andere war. Die Besatzung und Abläufe spiegeln die
oftmals schräge Normalität der Ostseegastronomie
dieser Zeit wider – resignierte Festlandgastronomen, enttäuschte Akademiker, Aussteiger auf Zeit
und andere der Normalität Entrückte bewältigen
in einer zwar aufgehübschten, aber doch realen
versorgungstechnischen Mangelwirtschaft den
erdrückenden und nicht abreißenden Strom der
Urlauber, welcher in der Saison tagtäglich die Insel
überflutet. Einer der Abwäscher ist der Besatzung
abhandengekommen, Ed, das Maß seines Glücks
gar nicht erfassend, bekommt trotz des Fehlens von
Arbeitserlaubnis und Gesundheitszeugnis dessen
Stelle, dessen Zimmer und damit das privilegierte
Bleiberecht für die Insel. Er stürzt sich in die Arbeit,
findet im „stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung“, im „Schweigen als innerstem Bestandteil
seiner Flucht“ und in der Zwiesprache mit der Natur
Befriedigung, wenn auch nicht seinen Frieden. So
passt er ins Konzept dieses Dampfers, dieser Arche,
welche die Mannschaft „mit Hilfe eines speziellen
Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie“
Tag für Tag über Wasser hält. Während der Öffnungszeiten werden FDGB-Urlauber und Laufkundschaft bedient, am Abend dann folgt die wirkliche
Mission: die Fürsorge für obdachlose Schiffbrüchige
und Gestrandete. All diese Aussteiger, Abenteurer,
Antragsteller, Abtrünnigen und Gescheiterten,
welche auf die Insel strömen, „gehören nicht mehr
wirklich zum Land, sie haben das Land unter ihren
Füßen verloren“. Sie zu betten und zu speisen ist
das Anliegen der Gemeinschaft der Esskass, der sogenannten Ersatzkandidaten, welche als Saisonkräfte oftmals ihre begrenzten Ressourcen mit anderen
teilen. Der Wille und die Kraft ihres geheimen Kopfes bringt sie dazu, auch wenn sie für dessen Vorstellung vom Weg zu den Wurzeln der Freiheit, von der
Erleuchtung und Rettung nur bedingt Verständnis
haben. Kruso ist dieser charismatische Anführer, als
Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch Sohn eines
sowjetischen Generals und einer früh verstorbenen
Zirkusartistin bei seinem Onkel, einem kaltgestellten Spitzenwissenschaftler für Strahlentechnik, auf
der Insel aufgewachsen, nun Abwäscher im Klausner und damit unmittelbarer Arbeitskollege von Ed.
Was sich zwischen den beiden bald entwickelt, was
sie unausgesprochen voneinander erwarten und
letztendlich zu geben in der Lage sind, ist schwer
mit Worten zu fassen. Nur auf den ersten Blick ist
es lediglich ein Robinson-Freitag-Verhältnis: Kruso
weiht ihn ein in die Besonderheiten der Insel und
das Leben in der „Freien Republik Hiddensee“, in
das Bewusstsein der Einzigartigkeit der Esskass
und die Suche nach den verschütteten Wurzeln
durch die Schiffbrüchigen, aber auch in den Rhythmus der „Inselkrieger“ (der Küstenwache), den Ruf
der Sirenen und das Flüstern der Toten. Ed ist sein
williges wie verständnisvolles Medium, welches ihn
unvoreingenommen akzeptiert und still verehrt. Es
ist und wird aber mehr: Beide sind Seelenverwandte und Getriebene, jedoch nicht wie die meisten
Andersartigen auf der Flucht vor dem realsozialistischen Alltag, vor einer gescheiterten oder perspektivlosen Biographie in der DDR, die im Auf- oder
Ausbruch Begriffenen. Sie wollen und müssen
bleiben, sie sind Suchende im Hier und Jetzt, ihr
Weg geht nach innen. Sie müssen etwas Unfassbares verarbeiten, dafür eine Mission leben oder noch
finden. Sie sind Freunde und Brüder zugleich, das
Band zwischen ihnen ist die Suche nach dem Weg
aus der Sprachlosigkeit, die Suche nach Worten für
den Verlust, um diesen bewältigen zu können. Ihre
Positionen | Projekte | Publikationen
Sprache ist die der Poesie, am Ende die ihrer Poesie
– hier bilden sie in stillschweigendem Einvernehmen eine Schicksalsgemeinschaft.
Der Herbst 1989 erschüttert auch ihre Insel, beschleunigt alle äußeren und inneren Prozesse: Niemand benötigt mehr Krusos „Pension der Freiheit“,
sein „Fremdenheim für verlorene Seelen“. Seine
äußere Mission wird von der Geschichte überholt,
hat sich erledigt. Krusos selbstzerstörerisches Aufbegehren dagegen wird zum Kampf auf Leben und
Tod, den er verlieren muss. Als Märtyrer in eigener
Sache geht er seinen Weg bis zum bitteren Ende. Ed
bleibt zurück in einer Mischung aus Lethargie und
Irrsinn, dann die erlösende Erleuchtung. (Hier nutzt
der Autor das Stafettenprinzip, hätte Professor B.
aus dem alten Leben Eds an dieser Stelle des Übergangs im Roman angemerkt.) Krusos innere Mission, das Unaussprechliche in Worte zu fassen, geht
auf seinen Auserwählten, auf Ed über. „Du kannst
meinen Ton übernehmen“, raunt Kruso seinem
Schützling in der Gedankenwelt zu, welcher sich
nun aufmacht, die verloren gegangenen Texte in
dessen Sinne neu zu schreiben. So findet er endlich
seine Mission.
Ähnlichkeiten mit realen Personen sind weder
zufällig noch ungewollt, jedoch für dieses Buch
letztendlich unerheblich. Im Mittelpunkt dieses
Kammerspiels stehen nicht die subtilen Andeutungen und Beschwörungen historischer Zustände
und Ereignisse, auch wenn sie bestens gelungen
sind. Die Intensität und Fragilität der Emotionen
Krusos und Eds, ihre Irrungen und Wirrungen sind
es, welche das Buch dominieren, seine besondere
Stärke ausmachen. Sie haben über ihre Zeit hinaus
Bestand, sie sind und bleiben zeitlos.
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Frank Kirchner
Der neue Fachlehrplan Deutsch am Gymnasium
Kompetenzorientierung im integrativen und sprachverbundenen Deutschunterricht
„Dies ist nur ein Auszug von dem, was Eliezer dem Joseph unter dem Gottesbaum einprägte. Der Jüngling
aber schrieb alles auf nach der Anweisung des Alten und las es, den Kopf auf der Schulter, sich selber vor,
bis er es auswendig wußte. Das Lesen und Schreiben war selbstverständlich die Grundlage von allem und
begleitete alles; denn es wäre sonst nur ein verwehendes Hörensagen und Wiedervergessen gewesen unter
den Menschen. … Abwechselnd schrieb er die Landes- und Menschenschrift, die zur Befestigung seiner
täglichen Redeweise und Mundart taugte und in der sich Handelsbriefe und -aufstellungen nach phönizischem Muster am säuberlichsten zu Blatt bringen ließen, - und auch wieder die Gotteschrift, die amtlichheilige von Babel, die Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären, für die es den Ton gab und den Griffel.
Eliezer besaß zahlreiche und schöne Muster davon, Schriftstücke, die die Sterne betrafen, Hymnen an Mond
und Sonne, Zeittafeln, Wetterchroniken, Steuerlisten sowie Bruchstücke großer Versfabeln der Urzeit, die
1
erlogen waren, doch mit so kecker Feierlichkeit in Worte gebracht, daß sie dem Geiste wirklich wurden.“
Thomas Mann stellt hier in Würdigung und Pathos
das Lernen der Sprache und der Schrift des Zöglings
Joseph durch den biblischen Gelehrten Eliezer dar.
Die literarische Beschreibung enthält Ausführungen zu verschiedenen Textgattungen und ihrer
kritischen Lesbarkeit und Aneignung. Imaginär
wird der Prozess des Lernens als etwas Schönes und
Großes dargestellt und stellt das Grundlegende unserer Sprache als allumfassendes Medium unserer
Verständigung und für die Wissensaneignung dar.
Diese Textstelle verinnerlicht, wie das Lernen und
Verständnis der Sprache ganzheitlich und thematisch vielfältig erfolgen kann.
Auch der neue Lehrplan Deutsch für die Schulform
Gymnasium verdeutlicht mit seiner Zielstellung
zur Bildung und Erziehung einen ganzheitlichen
Anspruch: „Die Schülerinnen und Schüler erfahren
Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Verständigung und als wichtigstes Medium für die Teilhabe
am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen
Leben. Dazu gehören sowohl die Fähigkeit, aus
Texten unterschiedlicher medialer Form Informationen zu gewinnen, zu bewerten und angemessen
zu präsentieren, als auch die Fähigkeit des sach-,
intentions- und adressatengerechten Sprechens
2
und Schreibens.
Wie bereits im Lehrplan für die Sekundarschule,
nimmt auch hier das in der Vergangenheit oft vernachlässigte aufmerksame Zuhören einen zentralen
Platz ein. Im Unterschied zu den Bildungsstandards
Deutsch für den Mittleren Schulabschluss ist der
Kompetenzbereich „Sich mit Texten und Medien
auseinandersetzen“ eigenständig und wird im
Grundmodell nicht mehr mit Lesen zusammengefasst. Insgesamt orientiert sich die Struktur des
Deutschunterrichts für das Gymnasium an den
nationalen Bildungsstandards der KMK und wird
wie folgt dargestellt:
1
2
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der junge Joseph.
Roman. Fischer Taschenbuchverlag. Limitierte Sonderausgabe. Frankfurt am Main 2003, S. 23-24
Kultusministerium Sachsen-Anhalt (Hrsg): Fachlehrplan
Deutsch Gymnasium/Fachgymnasium. Erprobungsfassung
1.8.2014, S. 2 (http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf)
Positionen | Projekte | Publikationen
Domänenspezifischer
Kompetenzbereich
Prozessbezogene
Kompetenzbereiche
Domänenspezifischer
Kompetenzbereich
Sich mit Texten und
Medien auseinandersetzen
Sprechen und Zuhören
Sprache und
Sprachgebrauch
reflektieren
Schreiben
Lesen
3
Abb. 1: Grundmodell der Kompetenzbereiche für die Allgemeine Hochschulreife
Im integrativen Deutschunterricht sind alle Kompetenzbereiche in komplexer Weise miteinander verbunden, wobei die prozessbezogenen Kompetenzen
Sprechen und Zuhören, Schreiben sowie Lesen
einen zentralen Platz im Lernprozess einnehmen, da
sie fachbezogen als auch überfachlich bedeutsam
sind.
Hinsichtlich der am Gymnasium zu verfolgenden
wissenschaftspropädeutischen Orientierung für
die Studierfähigkeit sind bei den prozessbezogenen
Kompetenzbereichen jeweils folgende Kompetenzen zu erzielen, die besonders in der gymnasialen
4
Oberstufe ihre Ausprägung erhalten :
Sprechen und Zuhören
Schreiben
Lesen
• Ausbildung einer anspruchsvollen Diskursfähigkeit und
Präsentationskompetenz
• Nutzung elementarer
Schreibanforderungen einer
wissenschaftspropädeutischen Textproduktion
• selbstständiges Lesen beim
Erschließen von komplexen
und umfangreichen Texten
mit unvertrauten Themen und
Formaten
• Entwicklung einer überzeu• strukturierte Zusammengenden Rhetorik und der
fassung von Texten und
Kompetenz, das Gehörte
textbezogenes Argumentieselbstständig in unterschiedliren, dabei fremde und eigene
cher medialer Form zu sichern
Äußerungen transparent in
und zu reflektieren
Bezug setzen und Bekanntes
unter neuen Fragestellungen
betrachten
• Einordnung der erfassten Informationen in fachliche und
überfachliche Zusammen­
hänge
• E
ntwicklung eigener Deutungen des Textes und Begründung von Schlussfolgerungen
• Reflexion der Ergebnisse des
• Formulierung von HypotheSchreib- bzw. Darstellungsprosen und deren Reflexion und
zesses und Verdeutlichung der
kontinuierliche Weiterenteigenen Position
wicklung
Tabelle 1: Wissenschaftspropädeutische Kompetenzen nach Lehrplan Gymnasium
3
Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine
Hochschulreife, Beschluss der Kultusministerkonferenz
vom 18.10.2012, Sekretariat der Ständigen Konferenz der
Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland
(Hrsg.), Bonn und Berlin 2014, S. 14
4
Kultusministerium Sachsen-Anhalt (Hrsg): Fachlehrplan
Deutsch Gymnasium/Fachgymnasium. Erprobungsfassung
1.8.2014; http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/
Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf ,
S. 5-8 (18.12.2014)
| 65
66 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Auch in den domänenspezifischen Bereichen
werden die wissenschaftspropädeutischen Zielstellungen verfolgt, wie z. B. in einem analytisch distanzierten Umgang mit Texten und ihren medialen
Präsentationen oder in der reflektierten Anwendung von Kommunikationsmodellen, die verschiedene Ebenen der sprachlichen Kommunikation
beinhaltet.
Für die Sekundarstufe I werden die grundlegenden
Wissensbestände für die Kompetenzentwicklung
ausgewiesen. In der Oberstufe wird darauf verzichtet, da in den jeweiligen Kurshalbjahren komplexe
Rahmenthemen zu entwickeln sind. Bei den zu planenden Unterrichtssequenzen sind die literarischen
Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik sowie pragmatische Texte entsprechend zu berücksichtigen. So
können z. B. bei der Themenauswahl Vergleiche von
Literaturepochen oder Textsorten erfolgen. Anregungen und Unterstützung geben den Lehrkräften
aktuelle Schulbuchkonzeptionen der Oberstufe
wie das persönliche Arbeits- und Lesebuch Deutsch
5
(P.A.U.L.D.) des Schöningh Verlages.
Im Lehrwerk findet man eine Unterrichtsanregung
zum Thema „Liebesgedichte aus verschiedenen
Epochen“, beginnend im Mittelalter mit Heinrich
von Morungen, über die Romantiker wie Clemens
von Brentano bis zur Lyrik der Gegenwart von Ulla
Hahn, Sarah Kirsch oder Reiner Kunze. Auch zur
Gattung Drama gibt es ein umfangreiches Kapitel
über die Anfänge des Theaters in der Antike, das
deutsche Theater im 18. Jahrhundert (Gottsched,
Lessing), das Theater der Klassik von Goethe und
Schiller, das soziale Drama bei Büchner oder das
epische Theater von Brecht. Darüber hinaus enthält
das Kapitel Aufsätze zum Wert des Theaters in der
Gegenwart und eine kritische Sicht auf das Regietheater vom Bestsellerautor Daniel Kehlmann.
Durch diese komplexen Rahmenthemen können
gemäß Lehrplanforderung grundlegende Aufgabenformate realisiert und eingeübt werden:
• das Interpretieren literarischer Texte,
• das Erörtern literarischer und pragmatischer
Texte und
• das materialgestützte Verfassen informierender
und argumentierender Texte auf der Grundlage
umfassender Textanalysen.
Deutlich wird insgesamt, welches Potenzial nicht
nur in der gymnasialen Oberstufe bei Rahmen- bzw.
Querschnittthemen auf der Grundlage vorhandener
Wissensbestände, die kumulativ erworben wurden,
besteht, um die gemäß Grundsatzband geforderten
Schlüsselkompetenzen zu realisieren. Für das Fach
Deutsch ist selbstverständlich zu erwähnen, dass
hier die Sprache Gegenstand und Mittel des Kompetenzerwerbs ist, die Entwicklung der Sprachkompetenz. Da aber auch grundlegende Arbeits- und
Lerntechniken fachspezifisch und für andere Fächer
vermittelt werden (siehe Texterschließung und
Textproduktion) ist des Weiteren die Ausbildung
der Lernkompetenz zu nennen. Durch die Behandlung vielfältiger literarischer wie auch pragmatischer Texte (u. a. Sach- und Gebrauchstexte) trägt
das Fach Deutsch nicht unerheblich zur Entwicklung von kultureller Kompetenz, Demokratie- und
Sozialkompetenz und naturwissenschaftlicher
Kompetenz bei. Nicht zu vergessen, um die Herausforderungen der Mediengesellschaft konstruktiv
zu bewältigen, ist der grundlegende Beitrag des
Deutschunterrichts für die Ausbildung der Medien6
kompetenz.
5
6
Dieckhans, J.; Fuchs, M. (Hrsg.): P.A.U.L.D. Oberstufe. Persönliches Arbeits- und Lesebuch Deutsch. Bildungshaus Schulbuchverlage. Schöningh Verlag. Paderborn 2013, S. 60-87;
88-117
Eine grundlegende Voraussetzung für einen gelingenden Deutschunterricht am Gymnasium ist die
Lektüreauswahl. Den Lehrkräften kommt dabei eine
zentrale Rolle zu. Gleichfalls sollen die Wünsche und
Lektürevorschläge der Schülerinnen und Schüler
angemessen berücksichtigt werden. Im Ergebnis
der fachdidaktischen wie praxisbezogenen Diskussion entschieden sich die Lehrplanmacher dafür, auf
dem Bildungsserver für die einzelnen Jahrgangsstufen Lektüreempfehlungen als didaktische Unter7
stützung der Lehrerinnen und Lehrer auszuweisen.
Seit Jahren wird immer wieder für oder gegen
einen literarischen Kanon diskutiert, auch Kritik
geübt an der Beliebigkeit in den Lehrplänen einzelner Bundesländer. Im Jahr 1997 löste Ulrich Greiner
http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/GSB_Gym_BS.pdf, S. 11-15 (18.12.2014)
7
http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/Deu_Lektuere_010814_BS.pdf
(17.12.2014)
Positionen | Projekte | Publikationen
in der Wochenzeitung Die Zeit eine Diskussion aus,
die auch in den Medien ihren Widerhall fand und in
der fachdidaktischen Diskussion nicht nur Euphorie
ausgelöst hat:
„Wir brauchen einen neuen Kanon. Allein schon
deshalb, damit man über ihn streiten und das Gespräch über Literatur wieder beginnen kann. Wo kein
gemeinsamer Gegenstand mehr ist, gibt es keine
Diskussion. Als der Deutschunterricht in die Hände
traditionsfeindlicher Didaktiker geriet, wurde der Kanon abgeschafft. Er galt als Herrschaftsinstrument.
Das war er auch. Jeder Kanon sagt: "Das mußt du lesen, das gehört dazu, dieses nicht." Und jeder Kanon
erzeugt seinen Gegenkanon. Dieser kann mächtiger
sein als jener. Die Entdeckung von Brecht in den sechziger Jahren war deshalb so machtvoll, weil er in den
Schulen nicht gelesen wurde. Wer einmal das Reich
der Literatur betreten hat, ist für Reglementierungen
8
verloren.“
Die jetzige Lektüreempfehlung zum Lehrplan auf
dem Bildungsserver wird auch diese Diskussion
nicht lösen können und es war auch nicht beabsichtigt, hier den Stein der Weisen gefunden zu haben.
Es ist eine pragmatische Lösung und der Empfehlungscharakter ist lobenswert und lässt Spielraum
für Entscheidungen der Lehrkräfte an den Gymnasien vor Ort zu. Aber unabhängig davon bleibt die
Tatsache, dass die Kollegien in den Schulen sich auf
eine „gemeingültige“ Literatur einigen sollten.
Die entscheidenden Kriterien für die Auswahl sind
die literarische, literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit der Werke und ihr Bezug zur Lebens- und
Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler. Natürlich kann man aufgrund dieser Begründung der
Lehrplanentwickler auch argumentieren, warum
diese nicht unmittelbar Bestandteil des Lehrplanes
sind, denn viele Werke waren und werden für eine
lange Zeit schulische Lektüre bleiben, unabhängig
aktueller Neuerscheinungen. Es bleiben für den
Deutschunterricht und den literarischen Bildungsanspruch Werke, die schon Schülergenerationen vor
uns geliebt und auch abgelehnt haben.
8
http://www.zeit.de/1997/21/titel.txt.19970516.xml/komplettansicht (19.12.2014)
| 67
Das jetzige Vorgehen hinsichtlich der Aktualisierungen und Neuaufnahmen weiterer bedeutsamer
Titel der Gegenwartsliteratur ist legitim, entscheidend ist das Vermögen der Lehrkräfte vor Ort, die
Vielfalt der Textgenres und Textsorten entsprechend bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen und auch hinsichtlich Werkgeschichte
und Autorenbiographien bei den Schülerinnen und
Schülern die literarischen und kulturgeschichtlichen
Kompetenzen zu entwickeln.
Die Lektüreempfehlung enthält schuljahrgangsbezogen auch Texte nichtdeutscher Sprache in deutscher Übersetzung, die aufgrund ihrer sprachlichen
wie auch literaturhistorischen Bedeutsamkeit im Literaturunterricht gewürdigt werden sollen. Charles
Dickens, Mark Twain oder Antoine de Saint-Exupéry
haben Schülergenerationen begleitet und als
„Klassiker“ begeistern sie noch heute, gerade durch
aktuelle Neuübersetzungen, die sprachlich überraschen. Natürlich sollte eine Joanne K. Rowling
im Unterricht berücksichtigt werden, und dies ist
nicht allein nur durch die medialen Umsetzungen
und Erfolge ihres Helden Harry Potter begründet.
Dem Anspruch des Lehrplanes im Sinne der wissenschaftspropädeutischen Ausbildung konsequent
folgend, werden für die gymnasiale Oberstufe auch
literatur- und sprachtheoretische Texte ausgewiesen.
In der Veröffentlichungsreihe „Lesefutter“, in welcher dieser Aufsatz erscheint, werden seit einigen
Jahren Texte von Autorinnen und Autoren aus
Sachsen-Anhalt und Mitteldeutschland gemäß
eines Vorschlags des Bödecker-Kreises vorgestellt
und von Mitarbeitern des LISA für die jeweiligen
Jahrgangsstufen für eine Behandlung im Unterricht
rezensiert. Auch hier gibt es viel Potenzial für eine
spannende Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur und Themen, die die Schülerinnen und
Schüler zu einer erlebnisreichen Lesereise mitnehmen können.
68 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Für das Verständnis der Texte und Worte ist das
Wissen über Sprache und Sprachgebrauch existenziell und mehr als nur notwendige Grundlage. Über
diesen Bereich verbindet sich der Deutschunterricht bei der Ausprägung der Kompetenzen, denn
wir kommunizieren mit unserer Sprache über den
Gegenstand Sprache und deren Bedeutung. Wo
kommen Wörter her, warum können sie dies oder
jenes ausdrücken, warum klingen sie für uns so
vertraut wie auch oft fremd, alles Fragen, die uns
stärker mit unserer Muttersprache und Einflüssen
der Fremdsprache beschäftigen. Der Lehrplan setzt
dazu Rahmen und Anregungen. Vor allem auch das
Vermögen der richtigen Schreibung, seit der letzten
Rechtschreibreform, bewegt nicht nur Schülerinnen
und Schüler, sondern alle die sich mit Schrift beschäftigen müssen und wollen.
Der Lehrplan beschreibt die Anforderungen in
diesem domänenspezifischen Kompetenzbereich
wie folgt: „Die Schülerinnen und Schüler erwerSchuljahrgänge
5/6
10
9
ben Sprachkompetenz, indem sie über Sprache und
Sprachgebrauch nachdenken und Sprache als System
und historisch gewachsenes Kommunikationsmedium analysieren und verstehen. Sie erweitern so ihr
Sprachwissen und ihre Sprachbewusstheit und nutzen beides für die produktive und rezeptive Kommunikation. Die Schülerinnen und Schüler untersuchen
Texte nach funktionalen, normativen und ästhetischen Gesichtspunkten, analysieren und reflektieren
grammatische Strukturen und berücksichtigen diese
9
bei der eigenen Sprachproduktion.“
In diesen Ausführungen wird deutlich, wie das
Sprachwissen für den mündlichen und schriftlichen
Sprachgebrauch erforderlich ist und welchen Stellenwertes bei der Erschließung von Texten für das
Sprachverständnis besitzt.
Auszugsweise wird hier der kumulative Kompetenzzuwachs hinsichtlich des Wissens und Anwendens
10
lexikalischer Mittel dargestellt :
Teilbereich: Lexikalische Einheiten kennen und funktional verwenden
Kompetenzen
• über einen erweiterten Wortschatz verfügen und diesen funktional und sicher
gebrauchen
• wesentliche Elemente der Wortbildung
erkennen und selbstständig nutzen
• Wortbildungsmodelle unterscheiden und
angemessen produktiv gebrauchen
• Bedeutungsbeziehungen erfassen und im
eigenen Sprachhandeln situationsangemessen nutzen
Kompetenzen
• den systematisch erweiterten, differenzierten Wortschatz situationsangemessen
und adressatengerecht sicher nutzen
• Fachbegriffe zur Beschreibung sprachlichkommunikativer Sachverhalte anwenden
• bei Analyse und Gestaltung unterschiedlicher Texte stilistische Mittel sicher unterscheiden, ihre Funktion beschreiben und
ihre Angemessenheit reflektieren
http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf, S. 8
(19.12.2014)
10
Grundlegende Wissensbestände:
• Modelle der Wortbildung: Zusammensetzung und Ableitung
• Elemente der Wortbildung: Wortstamm,
Ablaut, Präfix, Suffix, Grund-, Bestimmungswort und Fugenzeichen
• Gemeinsamkeiten und Entwicklungen
von Wortfamilien
• Bedeutungsbeziehungen und Wortfelder
Grundlegende Wissensbestände
• Begriffsinhalte: Assoziation, Denotation
und Konnotation
• Merkmale des Bedeutungswandels
Vgl. http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf,
S. 20;36 (19.12.2014)
Positionen | Projekte | Publikationen
Die Gegenüberstellung macht sichtbar, wie nicht
nur bei dem Verstehen von Begriffen sondern auch
bei der Reflexion über lexikalische Mittel nach sechs
Schuljahren das komplexe Verständnis sprachlicher Strukturen weiterentwickelt werden soll. Die
Vermittlung von grundlegenden Wissensbeständen
rückt dabei in den höheren Jahrgangstufen immer
mehr in den Hintergrund, da die Anwendungs- und
Transferleistungen für das Sprachverständnis immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Die Ergebnisse des Ländervergleichs im Jahr 2009
zu den sprachlichen Kompetenzen in Deutsch und
der ersten Fremdsprache zeigten in der 9. Jahrgangsstufe, dass die beteiligten Schülerinnen und
Schüler am Gymnasium in Sachsen-Anhalt signifikant bessere Leistungen im Lesen, Zuhören und
in der Orthographie erzielten. Die Mehrheit der
Gymnasiasten erreichte auf den Kompetenzstufen
II, IV und V bereits in der 9. Jahrgangsstufe die Vorgaben der KMK-Standards für den mittleren Schul11
abschluss. Dies war erfreulich und ist zugleich
Ansporn, mit der Implementierung des neuen
Lehrplanes daran anzuknüpfen.
Die Gestaltung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur an den Schulen, vor allem im Hörver-
stehen und im Bereich der Orthographie, bleibt
auch am Gymnasium eine Herausforderung für
die Zukunft. Die regelmäßige Beteiligung an den
bundesweiten Vergleichsarbeiten im Schuljahrgang
8 hilft, diesen Prozess zu unterstützen und kann
zeigen, wie weit die Kompetenzentwicklung im
sprachlichen Bereich vorangeschritten ist.
Das aktuelle Dialogheft des LISA zu kompetenzorientierten Aufgaben der Sekundarstufe I in den
12
sprachlichen Fächern gibt vielfältige Anregungen
und Aufgabenmuster zum selektiven und strukturellen Textverständnis, zur Textdeutung, zum
selektiven wie detaillierten Hörverstehen oder zur
Deutung eines Hörtextes sowie zur Einschätzung
der sprecherischen Gestaltung. Die Vorschläge
sollen dazu beitragen, dass auch weiterhin die
Lehrkräfte durch den Einsatz verschiedener Aufgabentypen und differenzierter Anforderungen in den
Aufgabenstellungen die Kompetenzentwicklung
der Schülerinnen und Schüler besonders im Fach
Deutsch kontinuierlich beobachten und einschätzen, um den Anforderungen des neuen Lehrplanes
auf Dauer gerecht zu werden.
11
12
Köller, O.; Knigge, M.; Tesch, B. (Hrsg.): Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich. Waxmann Verlag. Münster 2010,
S. 165-167
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Kompetenzorientierte Aufgaben der
Sekundarstufe I. Aufgaben und Kommentare zu Vergleichsarbeiten der Fächer Deutsch und Englisch. Dialog 27. Halle
2014, S. 14-40
| 69
70 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Frank Kirchner
Vorwärts mit BiSS: Auftakt und erste Entwicklungsschritte zur gezielten Sprachdiagnostik
und Sprachförderung an allgemeinbildenden
Schulen in Sachsen-Anhalt
Im „Lesefutter 2014“ wurde darüber informiert,
dass für die nächsten fünf Jahre ein umfangreiches
Sprachförderprogramm vom Bund und den Ländern
ins Leben gerufen wurde. Über 400 Schulen sowie
mehr als 200 Kindergärten und Kindertagesstätten
aus ganz Deutschland beteiligen sich nun aktuell
an dem Bund-Länder-Programm "Bildung durch
Sprache und Schrift" (BiSS). Sie werden durch das
Programm bei ihrer Arbeit im Bereich der sprachlichen Bildung und Förderung wissenschaftlich begleitet und unterstützt. Ziel ist es herauszufinden,
welche Methoden und Instrumente der Sprachförderung unter welchen Bedingungen funktionieren
und wie sie optimal umgesetzt werden können.
In Sachsen-Anhalt arbeiten zwei Verbünde – ein
Verbund mit zehn Grundschulen und ein Verbund
mit acht weiterführenden Schulen – in diesem Programm mit. Die Verbünde sind Zusammenschlüsse
von Schulen, die den Erfahrungsaustausch und die
gemeinsame Durchführung von Fördermaßnahmen
verabredet haben. Wie bereits im letzten Lesefutter darüber informiert wurde, arbeiten die Schulen
im Primarbereich an den zwei Modulen „gezielte
sprachliche Bildung in fachlichen und alltäglichen
Kontexten“ sowie „Diagnose und Förderung des
Leseverständnisses“. Im Sekundarbereich beteiligen
sich die Schulen an den Modulen „Sprachliche Bildung in fachlichen Kontexten“ und „Medieneinsatz:
Schreiben und Lesen mit digitalen Medien“.
Auf einer Internetplattform werden gebündelte
Informationen bereitgestellt über die je Modul
eingesetzten Tools mit Informationen, z. B. zu ihrer
Wirksamkeit, zur wissenschaftlichen Fundierung,
Infos über Materialien, Diagnoseinstrumente, bestpractice, eingesetzte Förderung oder über bereits
existierende Fort- bzw. Weiterbildungskonzepte.
Die Toolboxen entstehen sukzessive im Verlauf der
BiSS-Initiative und werden ständig weiterentwickelt, erweitert und aktualisiert. Sie sind momentan
nur von den beteiligten Bildungseinrichtungen der
Bundesländer einsehbar, da alle Beteiligten sich im
Entwicklungsprozess befinden. Im Ergebnis sollen
diese Toolboxen einer breiten sprachbildungsinteressierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht
werden.
Nach Schulauswahl und Konzeptentwicklung in
2013 und erfolgreicher Antragsstellung erfolgte
Anfang Mai 2014 am Landesinstitut der offizielle
1
Start in unserem Bundesland und der bundesweite
Auftakt Ende Mai in Berlin, siehe die Dokumentationen zu den Vorträgen und Inputs unter der offiziel2
len BISS-Seite des Trägerkonsortiums.
Mit Programmbeginn werden die Projektschulen
ihre bewährten Konzepte für Sprachförderung,
Sprachdiagnostik und Leseförderung mit neuen
Maßnahmen verzahnen. Als Grundlage stellt das
Programm wissenschaftlich fundierte Informationen und Materialien zur Verfügung, die für die
Praxis verständlich aufbereitet werden. Die in
unserem Bundesland eingeführten Angebote zur
Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung für Kinder und Jugendliche sollen im Hinblick
1
http://www.bildung-lsa.de/schule/schul__und_modellversuche/bildung_durch_sprache_und_schrift__biss_/
archiv/2014.html
2
http://www.biss-sprachbildung.de/biss.html?seite=57
Positionen | Projekte | Publikationen
auf ihre Wirksamkeit und Effizienz wissenschaftlich
überprüft und weiterentwickelt werden. Dabei
unterstützt das Programm die erforderliche Fortbildung und Weiterqualifizierung der teilnehmenden
Lehrkräfte, wodurch die Schule und vor allem die
Schülerinnen und Schüler insgesamt profitieren.
Die Unterstützung erfolgt auf vielfältige Weise und
wird sich an den Bedürfnissen der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer orientieren.
Die Projektschulen in Sachsen-Anhalt dokumentieren ihre Entwicklungsarbeit und Erfahrungen in
einem vom LISA bereitgestellten Ordner im Sinne
eines Tagebucheintrages:
Landesinstitut für schuLquaLität und LehrerbiLdung (Lisa)
Tagebuch
SprachabenTeuer
© Maria Arts - Fotolia.com
mit sprachlupe
Abb. 1: Tagebuch Sprachabenteuer
| 71
Die beteiligten Schulen haben in 2014 ihre bestehenden Konzepte überprüft, Schwerpunkte für die
Qualifizierung der Kolleginnen und Kollegen festgelegt und ihre Maßnahmen zur Sprachförderung
weiterentwickelt. Sie haben ebenso an landes- und
bundesweiten Workshops und Arbeitstreffen teilgenommen:
Fortbildungsveranstaltung im Oktober 2014 am
LISA in Halle: Fahrplan lesen – Bahnhof verstehen/
Leseverständnis von Aufgaben im Mathematikunterricht in Kooperation mit dem Institut für Textop3
timierung Halle
In der Fortbildungsveranstaltung wurden Wege
aufgezeigt, wie das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht beim
Lösen von Sachaufgaben gefördert werden kann.
Dazu wurden unterschiedliche Lesestrategien mit
praktischen Übungen erarbeitet, die sich in den
Jahrgangsstufen 3 bis 6 fächerübergreifend einsetzen lassen. In der Fortbildung wurden außerdem
ein Kompetenzraster und ein Beobachtungsbogen
für die Lehrkräfte zur Thematik erarbeitet, die im
Rahmen einer Selbstevaluation in den am Projekt
beteiligten Schulen untersucht werden.
BISS-Jahrestagung im November 2014 in Köln: Impulse für Sprachdiagnostik und Sprachförderung
Auf dem Programm standen Diskussionsrunden
und Praxisbeispiele aus den Verbünden. Für den
Elementarbereich wurde am ersten Tag speziell das
Thema „Alltagsintegrierte Sprachbildung“ vertieft.
Es fanden des Weiteren die Auftakttreffen der drei
Themencluster „Lernende Institution“, „Sprachbildung, -förderung und -diagnostik“ und „Unterrichtsentwicklung und sprachliche Bildung im
Elementarbereich“ statt.
Länderübergreifender BiSS-Workshop im November
2014 in Hannover: Medieneinsatz: Schreiben und
Lesen mit digitalen Medien
Nach einer theoretischen Einführung durch unseren
Verbundpartner Herrn Prof. Dr. Ballod vom Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität
3
http://www.ifto.de/
72 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Halle-Wittenberg zum Thema „Die neue Qualität
medialer Interaktion als Chance für Schule und
4
Deutschunterricht“ hatten die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer aus Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Sachsen-Anhalt die Möglichkeit,
wahlweise eines von zwei konkreten Medien in
ihrem pädagogischen Potenzial genauer kennen zu
lernen, die Online-Enzyklopädie Wikipedia und das
Erklärvideo-Format Common Craft Videos. Anschließend berichteten Lehrkräfte aus Hannover von
ihren praktischen Erfahrungen mit diesen beiden
Medien im Unterricht im Rahmen des BiSS-Projekts
„Wikipedia-AG“. Am Ende wurden Perspektiven
der länderübergreifenden Arbeit im Rahmen des
Moduls „Medieneinsatz“ entworfen.
Auch im Jahr 2015 sind durch das LISA und das BiSSKonsortium vielfältige Inputveranstaltungen für die
Verbundschulen geplant. So können die Schulen bei
Interesse und Erfordernis immer an den bundesweiten Tagungen und Arbeitstreffen teilnehmen, um
Anregungen und Hilfestellungen für ihre Entwicklungsarbeit zur Sprachdiagnostik und Sprachförderung zu erhalten und in Austausch mit Kolleginnen
und Kollegen der anderen Bundesländer zu treten.
Als Auftaktseminar wird für die Verbundschulen in
den Winterferien 2015 eine Fortbildung zum Thema
„Neue Wortschätze entdecken – Den Wortschatz
erweitern und vertiefen“ stattfinden. Über den weiteren Verlauf und erste Ergebnisse wird die Projektleitung des LISA oder auch Akteure der Verbundschulen weiterhin im Lesefutter berichten.
Kontaktdaten
Landeskoordinator: Frank Kirchner
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt
Riebeckplatz 9
06110 Halle (Saale)
Telefon: 0345/2042-275
Telefax: 0345/2042-260
E-Mail: [email protected]
Verbundkoordinatorin: Andrea Peter-Wehner
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt
Riebeckplatz 9
06110 Halle (Saale)
Telefon: 0345/2042-272
Telefax: 0345/2042-260
E-Mail: Andrea.Peter-Wehner@lisa.
mk.sachsen-anhalt.de
4
http://www.bildung-lsa.de/files/817076f42c122a7e80b1a2f
6c52f1f13/Hier.pdf
Positionen | Projekte | Publikationen
Bettina Stoçic, Sulamith Fenkl-Ebert, Erika Wielebinski
Lesewelt Halle – da lesen doch welche vor, oder?!
Einblicke in die ehrenamtliche Leseinitiative der FreiwilligenAgentur Halle-Saalkreis e. V.
So stellt sich Lesewelt Halle in Materialien der
Freiwilligen-Agentur vor: „Lesewelt Halle ist eine
ehrenamtliche Initiative und begeistert seit 2003
Kinder für das Lesen. Inzwischen sind 120 Freiwillige
als Leselernpatinnen, Vorlesepatinnen und Paten
oder bei Vorleseaktionen in Grundschulen, Kitas
und Horten aktiv und tauchen mit Kindern in ‚Lesewelten‘ ein. Machen Sie mit!“
Dieser Beitrag möchte einen tiefergehenden
Einblick in „Lesewelt Halle“ geben. Er umfasst die
Anbindung von „Lesewelt Halle“ an die FreiwilligenAgentur Halle-Saalkreis e. V., einen Überblick über
die Entwicklung des Projekts und stellt die aktuellen Tätigkeitsfelder und die Koordinationsaufgaben
vor. Abschließend möchten wir Anregungen geben,
auf was Sie achten sollten, wenn Sie als pädagogische Fachkraft ehrenamtliches Engagement im
Bereich der Leseförderung bei Ihnen installieren
möchten.
Die Freiwilligen-Agentur Halle
Seit 1999 fördert die Freiwilligen-Agentur Halle
bürgerschaftliches Engagement in der Region
Halle und Sachsen-Anhalt. Sie versteht sich als
Schnittstelle zwischen engagementinteressierten
Menschen, gemeinnützigen Organisationen, Politik,
Verwaltung und Wirtschaft. Ihre Schwerpunkte sind
die Information, Beratung und Vermittlung von Engagementinteressierten, die Beratung von Vereinen,
gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen. Sie bietet Fortbildungen rund um freiwilliges
Engagement für Haupt- und Ehrenamtliche an und
setzt innovative Engagementprojekte um. Darüber
hinaus vernetzt sie sich mit Vereinen und leistet
Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit für freiwilliges
Engagement.
Lesewelt Halle – von der Idee zum Projekt
„Lesewelt Halle“ ist eine Initiative, die 2003 von einer Mitarbeiterin der Freiwilligen-Agentur gegründet wurde. Die Projektidee von „Lesewelt Halle“
stammt ursprünglich aus „Adopt an idea! Gute
Ideen aus den USA“ von BRINCK und wurde erstmalig in Berlin unter dem Label „Lesewelt Berlin“
umgesetzt. Anschließend gründeten sich in ganz
Deutschland Vorleseinitiativen – auch in Halle unter
dem Dach der Freiwilligen-Agentur.
| 73
74 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Ursprünglich umfasst die Projektidee das Vorlesen
für Kinder in Kindertagesstätten und Horten.
Dabei liest ein/e Vorlesepatin oder -pate einer
Gruppe von Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren
ein Mal wöchentlich vor. Ziel war und ist es, Begeisterung für das Lesen zu wecken! Meist werden
Bilderbücher oder Geschichten mit kurzen Texten in
den Vorlesestunden eingesetzt. Die Kinder kommen
dabei mit der Vorleser/-in ins Gespräch, entdecken
selber Bilder, fangen an zu erzählen und lernen das
Medium Buch besser kennen.
Durch die Anbindung an die Freiwilligen-Agentur
war es der Initiative gut möglich, Ehrenamtliche
für ihr Anliegen zu gewinnen, beispielsweise durch
Pressemitteilungen, Ansprache von Bürger/-innen
Deutscher Vorlesepreis – Kategorie Förderpreis für Lesewelt Halle,
Frankfurt am Main, 2006
bei Stadtfesten oder bei öffentlichkeitswirksamen
Aktionen wie dem Freiwilligentag.
Im Jahr 2010 erfuhr die Initiative eine inhaltliche
Erweiterung durch Leselernpatenschaften bzw.
ehrenamtliche Lesehilfen. Initiatorinnen waren drei
Vorleserinnen, die zu Beginn an einer halleschen
Grundschule die ersten Leselernpatenschaften
aufgebaut haben. Im Gegensatz zur Vorlesepatenschaft basiert eine Leselernpatenschaft auf einer
Eins-zu-eins-Beziehung. Eine Patin oder ein Pate
unterstützt ein Grundschulkind beim Lesenlernen
wöchentlich für eine Schulstunde während der
Schulzeit. Alle Beteiligten teilen die Grundauffassung, dass die Ehrenamtlichen nicht die Funktion
der Lehrer/-innen übernehmen und nicht für das
Lesenlernen als Grundkompetenz verantwortlich
sind. Jedoch können sie insbesondere die Motivation der Kinder als wichtige Voraussetzung für den
Lern- und Leseerfolg stärken.
Warum ehrenamtliche Leseförderung?
Vor allem am Beispiel der Leselernpatenschaften
wird die Bedeutung von ehrenamtlicher Leseförderung seitens der Lehrer/-innen, der Patinnen und
Paten regelmäßig als positiv und zielführend zurückgemeldet. Die Kinder können dank ihrer Patin
oder ihres Paten besser lesen, trauen sich eher, in
der Klasse laut vorzulesen und gewinnen Freude an
unterschiedlicher Literatur. Durch die vertrauensvolle Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb von
Schule und Familie gewinnen die Kinder Selbstvertrauen und einen positiven Blick auf die eigenen Fähigkeiten. Teilweise spiegelt sich die ehrenamtliche
Leseförderung auch in den Schulnoten wider, und
eine Leselernpatin berichtete im Dezember 2014 bei
einem Austauschtreffen stolz, dass ihr Patenkind
nach der vierten Klasse das Gymnasium besuchen
wird.
Leselernpatenschaften wirken sich positiv auf die
Lesemotivation, Lesekompetenz und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder aus. „Das [ehrenamtliche] Förderpotenzial wird besonders dann deutlich,
wenn beim bzw. nach dem Lesen Gespräche über
das gemeinsam Gelesene entstehen. So üben Kinder in der sozialen Situation mit einer kompetenten
Partnerin bzw. einem kompetenten Partner Prozesse des Reflektierens und Kommunizierens über
Gelesenes ein, die wichtige Teilkomponenten der
Lesekompetenz sind. Gleichzeitig sind (vor-) lesende
Erwachsene und Gleichaltrige ein wichtiges Vorbild,
an dem sich Kinder orientieren können.“(BMBF
2007, S. 93)
Dabei bedürfen schwache Leser/-innen einer besonderen Aufmerksamkeit (vgl. BMBF 2007, S. 98),
die sie von den Ehrenamtlichen in einer Eins-zueins-Beziehung erhalten. Nicht unwichtig in dieser
Beziehung ist, dass die Ehrenamtlichen außerhalb des Systems Schule verortet sind und keinen
„offiziellen Lehrauftrag“ haben. Vielmehr können
sie unbefangen auf die individuellen Wünsche der
Kinder eingehen und entsprechenden Lesestoff
einbeziehen.
Positionen | Projekte | Publikationen
Aktionslesen am Kirchentag, Halle, 2006
Bundesweiter Vorlesetag, Stadtbibliothek Halle, 2014
Das ist Lesewelt Halle im 12. Jahr
Die Zahl der Leselernpatenschaften ist seit 2012
stark angestiegen. Aktuell engagieren sich 78 Personen ehrenamtlich als Leselernpatinnen und -paten.
Des Weiteren sind 41 Vorleserinnen und Vorleser in
Kitas und Horten aktiv. Insgesamt sind zurzeit etwa
120 Freiwillige im Rahmen von „Lesewelt Halle“ in
Kindertageseinrichtungen im Einsatz.
Im Jahr 2014 fanden unter dem Dach der Freiwilligen-Agentur acht Austauschtreffen statt, in denen
Erfahrungen und Probleme zur Sprache gekommen
sind. Außerdem wurden vier Fortbildungen angeboten und vier Feste zur Anerkennung der Ehrenamtlichen wie Sommerfest und Weihnachtsfest gefeiert.
Neben dem wöchentlichen Engagement beteiligen
sich viele Freiwillige auch gerne am Aktionslesen.
Jedes Jahr findet am dritten Freitag im November
beispielsweise der bundesweite Vorlesetag statt.
Zu diesem Anlass haben 2014 in der Stadtbibliothek
unsere Vorleserinnen und Vorleser ganztägig etwa
250 Kindern und Erwachsenen vorgelesen.
Koordination und Organisation
Lesewelt wird von einer hauptamtlichen Mitarbeiterin koordiniert und zum großen Teil ehrenamtlich
betreut.
Zu den Koordinationsaufgaben der hauptamtlichen
Mitarbeiterin und drei Ehrenamtlichen gehören:
• Gewinnung und Beratung von interessierten
Ehrenamtlichen
• Vermittlung von Ehrenamtlichen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen
• Beratung von Kindertageseinrichtungen und
Grundschulen zum Einsatz und zur Begleitung
von Ehrenamtlichen
• Anerkennung der Ehrenamtlichen, z. B. zu Geburtstagen
• Organisation und Durchführung von Austauschtreffen, Festen und Einstiegsfortbildungen
• Organisation des Projekts „Libro geht auf Reisen“
• Organisation weiterer Aktionen zur Leseförderung
• Öffentlichkeitsarbeit in Form von Beteiligung an
Stadtfesten, am Semesterstart, Pressemitteilungen verfassen, Flyer auslegen
Darüber hinaus initiiert „Lesewelt Halle“ Projekte
rund um die Leseförderung wie beispielsweise „Libro geht auf Reisen“. Zurzeit sind zwei Leseraupen
aus Stoff – gefüllt mit Kinderbüchern – in Kitas und
Horten unterwegs. Die Raupen bleiben ca. sechs
Wochen in einer Einrichtung, und in einem Tagebuch halten die Kinder ihre Leseerlebnisse fest.
Das kleine ABC zum Engagement in der
Lese­förderung
Falls Sie nun „auf den Geschmack gekommen“ sind
und ebenfalls ehrenamtliche Leselernpatinnen und
Paten oder Vorleser/-innen für Ihre Einrichtung
gewinnen möchten, haben wir für Sie einige Tipps
zusammengestellt.
| 75
76 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Leselernpatenschaft, Halle, 2014
A wie Anfang – vom Anfang und Ende der Zusammenarbeit
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit besitzt der
Erstkontakt eine besondere Bedeutung. Achten Sie
darauf, dass Sie erreichbar sind und halten Sie Absprachen und Vereinbarungen auf Rückrufe ein. Die
neue Patin verlässt sich auf Ihre Aussagen und ist
als Außenstehende am Anfang auf Sie angewiesen.
Eine Besonderheit der freiwilligen Arbeit ist auch,
dass sie jederzeit beendet werden kann, von der
Seite des Freiwilligen als auch von der Seite der
Organisation aus. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollten Sie schon zu Beginn der Tätigkeit einen
Ausstiegsmodus besprechen (z. B.: Ausstieg ist
jederzeit möglich, muss auf jeden Fall den zuständigen Ansprechpartnern mitgeteilt werden). Zudem
ist zu empfehlen, bei Beendigung der Zusammenarbeit ein abschließendes Gespräch zu führen, um
sich gegenseitig über die gemachten Erfahrungen
auszutauschen und einen Engagementnachweis zu
übergeben.
A wie Anerkennung
Freiwillige, die Anerkennung erleben, fühlen sich
wertgeschätzt und sind motivierter, dabei zu bleiben. Neben einem regelmäßigen Lob oder Dankeschön gibt es unterschiedliche Formen der Anerkennung. Beispielsweise über kleine Präsente, eine
Dankes-Urkunde oder über eine persönliche Einladung zum Schulfest. Eine Form der Anerkennung ist
auch, dass Ihre Patinnen und Paten über Aktivitäten
der Einrichtung informiert sind, sich eingebunden
fühlen und je nach Anlass auch eingeladen werden.
B wie Beratung – Lassen Sie sich beraten
Bevor Sie mit einem ehrenamtlichen Leseprojekt
beginnen, ist ein Erfahrungsaustausch mit einem
bestehenden Leseprojekt hilfreich. Freiwilligenagenturen können hier Hinweise und Anregungen
geben, was bei der Zusammenarbeit mit Freiwilligen zu beachten ist und wie ein ehrenamtliches
Patenprojekt erfolgreich initiiert werden kann.
B wie Begleitung durch Ansprechpartner, Fort- und
Weiterbildung und Austausch
Neben der Begleitung einer Fachkraft ist der Austausch mit anderen Patinnen und Paten wichtig
und stärkt den Zusammenhalt und das Wohlbefinden. Oft und gerne tauschen sich die Freiwilligen
über Material aus, was bei ihnen in der Leselernstunde „funktioniert“ hat und welche ABC-Spiele
gut ankommen. Vorlesepatinnen dagegen sprechen
gerne über passende Kinderbücher und Gestaltungsmöglichkeiten.
Darüber hinaus sind Fortbildungen für Leselernpatinnen und Vorlesepatinnen unerlässlich, um
Positionen | Projekte | Publikationen
den Ehrenamtlichen Wissen und Know-how an die
Hand zu geben für die Gestaltung ihrer Lesestunden. Vor allem Leselernpatinnen und -paten benötigen Austausch und Unterstützung von einem
Fachpartner.
E wie Einstieg und Schnupperphase
Ein guter Einstieg in die freiwillige Tätigkeit wird
durch eine Probephase unterstützt, die aus einem
oder mehreren Treffen bestehen kann. Eine gute
Möglichkeit ist auch das Hospitieren bei schon aktiven Patinnen und Paten.
Auch für die Fachkräfte ist die Schnupperphase eine
gute Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit den
Freiwilligen ohne Druck zu prüfen.
Sprechen Sie beim ersten Kennlerngespräch wichtige Punkte von sich aus an, wie Versicherungsschutz
und Aufwandersatz. Für viele Freiwillige sind auch
schon kleinere Beträge wie der Kauf von Fahrscheinen, Material oder Telefonauslagen Entscheidungskriterien für oder gegen ein regelmäßiges Engagement.
F wie Freiwillige finden
Woher bekommen Sie Freiwillige, wenn keine Freiwilligen-Agenturen in Ihrer Region vorhanden sind?
Freiwillige sind überall! Eltern, Omas, Opas und vor
allem junggebliebene Seniorinnen und Senioren
lassen sich für ein ehrenamtliches Engagement im
Bereich der Leseförderung begeistern.
Hängen Sie Flyer in Ihrer Schule auf oder an Orten,
die Menschen besuchen, die gerne Lesen, beispielsweise in Buchläden, Bibliotheken, weiterführenden Schulen, Universitäten, Fachhochschulen oder
Volkshochschulen.
K wie konkret – Konkrete Aufgabenbeschreibung
Grundlegend für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Freiwilligen ist die genaue Festlegung der
Aufgaben- und Kompetenzbereiche der Freiwilligen.
Eine genaue Aufgabenbeschreibung schützt beide
Seiten vor Missverständnissen, vor Über- und Unterforderung und wirkt Unklarheiten über die Aufgaben entgegen. Vielen Menschen ist eine verlässliche
Planung wichtig, kurzfristige Terminänderungen
oder spontane Anfragen führen zur Überforderung.
Die Aufgabenbeschreibung kann sich im Laufe der
Zeit ändern. Wichtig ist, dass mit den Freiwilligen
gesprochen wird und gemeinsam Änderungen festgelegt werden.
K wie Kostenerstattung
Für viele Freiwillige spielt es eine große Rolle, dass
ihr Ehrenamt für sie keine Kosten verursacht, und
bereits regelmäßig anfallende Fahrtkosten o. Ä.
können hier zur Hürde für’s Engagement werden. Es
sollte demnach sichergestellt werden, dass entstehende Kosten von der Einrichtung übernommen
werden.
V wie Versicherung
Um Ihre Einrichtung und die Freiwilligen zu schützen, achten Sie auf ausreichenden Versicherungsschutz. Eine Haftpflichtversicherung der Organisation kommt für alle Schäden auf, die durch Freiwillige
während der Arbeitszeit entstehen. Eine Unfallversicherung für Freiwillige kann häufig kostenlos
abgeschlossen werden.
Z wie Zusammenarbeit von Fachpersonal und
Ehrenamtlichen
Voraussetzung für eine erfolgreiche Beschäftigung
von Ehrenamtlichen ist eine offene, aufgeschlossene und wertschätzende Einstellung des Fachpersonals gegenüber freiwilligen Mitarbeitern.
Das Fachteam sollte über die Zusammenarbeit
mit Ehrenamtlichen informiert und bereit sein,
die notwendige Einarbeitung und Begleitung der
Freiwilligen zu gewährleisten. Eine Einarbeitung
ohne Zeitdruck, eine gute Gesprächsführung und
Einfühlungsvermögen bei der Anleitung sind wichtig. Hilfreich ist es auch, konkrete Ansprechpartner
innerhalb des Teams vorher zu klären.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Fazit & Ausblick
Ehrenamtliches Engagement im Bereich der Leseförderung hat sich in Halle seit zwölf Jahren in
vielen Kindertagesstätten und Horten und seit vier
Jahren auch in Grundschulen erfolgreich etabliert.
Seitens der Fachkräfte, der Ehrenamtlichen, von den
Kindern und ihren Familien werden Leselernpatenschaften begrüßt und positiv angenommen.
Einer Herausforderung, der sich „Lesewelt Halle“ im
Jahr 2015 stellt, ist die Frage nach möglichen erfolgreichen Patenschaftskonzepten für Flüchtlingskinder und für Kinder mit Migrationshintergrund mit
geringen bis nicht vorhandenen Deutschkenntnissen. Ehrenamtliche kommen auf uns zu und fragen nach, welche Strategien gibt es für Kinder, die
Deutsch als Zweitsprache erlernen? Wie kann ich
diese Kinder unterstützen? Welche Kompetenzen
benötige ich? Und wo kann ich diese erwerben? An
dieser Stelle möchten wir das pädagogische Fachpersonal ermutigen, Ehrenamtliche im Prozess des
deutschen Spracherwerbs mit einzubeziehen und in
ihrer Konzeption zu berücksichtigen. Denn Ehrenamtliche haben Lust mit Kindern zu lesen, zu lernen
und sie zu unterstützen.
Leselernpatenschaft, Halle, 2011
Literatur
BMBF (Hrsg.) (2007): Förderung von Lesekompetenz –
Expertise. Bildungsforschung Band 17. Bonn, Berlin.
http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf
Brinck, Christine (2003): Adopt an Idea! Gute Ideen aus
den USA. Transatlantischer Ideenwettbewerb Usable.
Edition Körber-Stiftung: 2., unveränd. Auflage.
Kontaktdaten
Bettina Stošić
Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V.
Leipziger Str. 82, 06108 Halle
Telefon: 0345/2002810
E-mail: [email protected]
Positionen | Projekte | Publikationen
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Annette Adelmeyer
Gleim-net: social networking im 18. Jahrhundert
Der Titel des museumspädagogischen Projekts,
mit dem das Gleimhaus Halberstadt seit 2014 sein
Angebote erweitert hat, wirkt auf den ersten Blick
anachronistisch. Ausgerechnet das Zeitalter der
Aufklärung, die Epoche des individuellen und gesellschaftlichen geistigen Emanzipationsprozesses
wird hier verbunden mit der Facebook-Praxis, die
Kritikern als Sinnbild für Suchtgefahr und digitale
Verdummung gilt. Wie ist das zu erklären?
Wer durch die Räume des Halberstädter Museums
für Aufklärung streift, wird eine andere Perspektive
einnehmen. Dicht an dicht hängen dort die Porträts der deutschen Geisteswelt der Aufklärung:
Literaten, bildende Künstler, Politiker. Zusammengetragen wurden sie nicht von den Ausstellungskuratoren, sondern vom Bewohner des Hauses am
Domplatz höchstselbst. Johann Wilhelm Ludwig
Gleim, seinerzeit ein vielgelesener Dichter, verstand
sich als Organisator der literarischen Kommunikation seiner Zeit. Er war mit vielen der bedeutendsten
Dichter und Denker seiner Zeit befreundet, unterstützte junge literarische Talente wie Wilhelm Heinse, Johann Gottfried Seume und Jean Paul und trug
eine umfangreiche Sammlung an Handschriften,
Büchern und Porträts zusammen, die nach seinem
Tod einem Lehrinstitut, einer „Schule der Humanität“, als Anschauungsmaterial dienen sollte.
Gleim sammelte also FREUNDE wie die modernen
Facebook-Nutzer auch. Und wie diese stand er zwar
mit vielen, aber nicht mit allen in enger persönlicher Beziehung. So entstand ein NETZWERK, das
in persönlichen Notsituationen half und einen
intensiven Gedankenaustausch ermöglichte, der oft
auch in geselligen Treffen fortgesetzt wurde. Seine
Sammlungsgüter wollte Gleim TEILEN, damit viele
Freundschaftstempel im Gleimhaus Halberstadt
(Foto: Ulrich Schrader)
Menschen auf sie aufmerksam werden und daran
Gefallen finden, sie LIKEN, wie man im FacebookJargon sagen würde.
So neu ist die Idee von Facebook also gar nicht, was
man den jugendlichen Nutzern bei einem Besuch
im Gleimhaus durchaus verdeutlichen sollte. Das
war das Anliegen der Museumsleitung. Bis aus diesem Ansatz eine tragfähige Projektidee entwickelt
und diese technisch umgesetzt wurde vergingen
nur etwa zwei Jahre. Dabei arbeitete das Gleimhaus
eng mit der AG „Betreuung kultureller Lernorte“ am
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung
Sachsen-Anhalt und dem Fachbereich Automatisierung und Informatik / Medieninformatik der
Hochschule Harz zusammen. Unterstützt wurde
das Projekt vom Kultusministerium Sachsen-Anhalt.
Im Dezember 2013 wurde Gleim-net an das Museum übergeben und ermöglichte seither schon
vielen Schulklassen und Jugendgruppen, aber auch
Lehrerinnen und Lehrern eine ungewöhnliche Reise
in die gelehrte Welt des 18. Jahrhunderts.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Teilnehmer einer Projektgruppe als Wieland und Voß (Foto: Jörg Gläscher, 2013)
Die Exkursion beginnt mit einem einleitenden
Animationsfilm. Je nach Alter der Lerngruppe bzw.
Intention der Projektnutzung stehen filmische
Darstellungen zum Leben Gleims in Halberstadt
und zu den geselligen Zusammenkünften in seinem
„Freundschaftstempel“ zur Verfügung. Grundlage
sind zwei Zinnfiguren-Dioramen, die in den Ausstellungsräumen des Museums zu finden sind. Die
Kinder und Jugendlichen erhalten Einblicke in den
Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts und bereiten sich so darauf vor, für kurze Zeit in die Rolle
eines der Freunde Gleims zu schlüpfen.
Dieser öffnet seine wertvolle Handschriftensammlung für die Gäste. Über einen der Briefe, die einst
an Gleim geschrieben wurden, bekommt jeder per
Zufallsprinzip seine Rolle. Das Lesen der Briefe, die
auch in einer Hörfassung vorliegen, vermittelt den
Projektteilnehmern einen ersten Eindruck von der
Persönlichkeit, in deren Rolle sie kommunizieren
sollen. Es schafft auch einen Zugang zur Sprache
der Gelehrten und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Materialien in gedruckter und in Datei-Form
vermitteln zusätzliche Informationen. Sie lassen
Dichterinnen wie Anna Louisa Karsch oder Sophie
von La Roche und Schriftsteller wie Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder oder Gottfried
August Bürger auch als Menschen greifbar werden.
Für die Kommunikation steht eine eigens entwickelte Netzwerksimulation im Gleimhaus zur Verfügung, in der sich alle Teilnehmer über tablet PCs be-
wegen können. Unabhängig vom Internet können
damit ähnlich wie auf Facebook Freunde gesucht
und Nachrichten übermittelt werden. Die Teilnehmer können posten und zahlreiche Informationen,
Werkauszüge und zeitgenössische Kunstwerke aus
einem großen Dateipool entnehmen, die man liken,
kommentieren oder für den Gedankenaustausch
nutzen kann. Ziel ist dabei eine aktive Annäherung
an Ton und Thematik der freundschaftlichen literarischen Kommunikation in der Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit. Die förmliche Anrede
war zwischen den engeren Freunden Gleims ebenso
wenig bedeutsam wie andere Konventionen des
bis dahin gültigen Briefstils. Die Projektsituation
ermöglicht es also, dieser fremden Welt auf Augenhöhe zu begegnen.
Netzwerkkommunikation in einer ruhigen Ecke im Gleimhaus
(Foto: Elke Engelhardt, 2013)
Positionen | Projekte | Publikationen
Auf diese Weise kann den historischen Persönlichkeiten sehr intensiv nachgespürt werden. Die
Tiefgründigkeit der Auseinandersetzung ist aber
abhängig vom Zeitbudget der Gruppe und der Zielstellung, mit der sie das Projekt besucht. Sie kann
sich einen Tag, aber auch eine ganze Woche lang
mit Freundschaftskult, Literatur und Geselligkeit
im 18. Jahrhundert beschäftigen, denn ergänzend
zum Kommunikationsangebot sind Angebote zum
gemeinschaftlichen Dichten und Schreiben, zum
Porträtieren, zur Dekonstruktion von Gemälden des
Rokoko oder zur Herstellung von Freundschaftsgaben verfügbar.
Praktisch für die Nutzung des Projekts im Unterricht ist auch die Möglichkeit für die begleitende
Lehrkraft, das Protokoll der Netzwerkkommunikation zur weiteren Bearbeitung unter inhaltlichen
oder kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten mitzunehmen. Auch Gleim, Fachmann für die
Kommunikation im Grenzbereich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, äußert sich dazu. Sein Brief,
der die Projektteilnehmer eine gewisse Zeit nach
ihrer Exkursion an ihren Besuch erinnern wird, fasst
in freundschaftlicher Form die Lehren zusammen,
die aus dem protokollierten Netzwerkaustausch
gezogen werden können.
Darin zeigt sich auch das medienpädagogische
Potenzial des Projekts. Gleim-net ermöglicht es, sich
eine andere Identität zuzulegen. Bei Jugendlichen
ist die Möglichkeit des Experimentierens mit der eigenen Wirkung erwiesenermaßen ein wesentlicher
Aspekt, der soziale Netzwerke attraktiv erscheinen
lässt. Selbst in der überschaubaren Gleim-Netzwerkgemeinschaft kommt es schnell zu intensiven
Kontakten, andere bleiben randständig; gegebenenfalls kommt es sogar zu Anschuldigungen. Die
Rollenübernahme bietet auch in diesem Bereich
viele Möglichkeiten der Selbsterfahrung.
Dichten nach Endreimen im Projekt Gleim-net
(Foto: Elke Engelhardt, 2013)
Die Anstrengung, die erforderlich ist, um möglichst
viele Kontakte zu pflegen, ist dabei nicht weniger
mächtig als bei den Zeitgenossen Gleims, wie der
Korrespondenz der Freunde häufig zu entnehmen
ist. So führt der mit den Mitteln der modernen
Kommunikationsgesellschaft geführte Austausch
am Ende wieder in die Zeit Gleims zurück, der
die Kinder und Jugendlichen fortan mit weniger
Distanz begegnen werden. Vor allem den Persönlichkeiten, deren Rollen sie in diesem Projekt eingenommen haben, werden sie noch lange verbunden
bleiben.
Weitere Informationen zum Projekt sind auf der
Projektseite www.gleim-net.de sowie auf dem
Bildungsserver Sachsen-Anhalt unter http://www.
bildung-lsa.de/themen/ausserschulische_lernorte/
lernort_museum abrufbar.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Sabine Grätz
Scherbenpark. Ein preisgekröntes Buch für den Unterricht entdecken – auch als Film und
Theaterinszenierung
Alina Bronsky wurde 1978 in Jekaterinburg geboren.
Sie ist auf der asiatischen Seite des Ural-Gebirges
aufgewachsen, hat ihre Jugend in Marburg und
Darmstadt verbracht und nach dem Abbruch des
Medizinstudiums als Redakteurin bzw. Werbetexterin bei einer Zeitung gearbeitet. „Scherbenpark“,
ihren ersten Roman, der 2009 in der Kategorie
Jugendbuch für den Deutschen Jugendliteraturpreis
nominiert war, hat sie 2008 unter diesem Pseudonym veröffentlicht (Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln, ISBN 978-3-462-04150-7).
Die Handlung des Romans ist aus der Ich-Perspektive geschrieben, oft beiläufig und in einem Plauderton, aber auch sehr scharfzüngig; der Satzbau
ist einfach, häufig wird die direkte Rede verwendet
und so könnte man denken, das sei banal. Doch dies
ist wohlkalkuliert, die Handlung und deren Hauptfigur, die siebzehnjährige Sascha Naimann, hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Die Naimanns sind
aus Russland nach Deutschland gekommen und
leben im „Solitär“, einem Wohnsilo. Die Hochhaussiedlung wird auch Russenghetto genannt. Dort
herrschen eigene Gesetze. Wegen ihrer Hochbegabung und ihrer prekären Lebenssituation wurde
Sascha in einem katholischen Elite-Gymnasium
angenommen. Hier erlebt sie die Welt der behüteten Mitschüler(innen), die herausgeputzt sind, ein
volles Freizeitprogramm haben, aber oft unzureichende Kenntnisse in Mathematik.
Obwohl Sascha erst 17 Jahre ist, trägt sie eine große
Verantwortung, denn nachdem der Ex-Mann ihrer
Mutter diese und ihren neuen Lebensgefährten vor
den Augen der drei Kinder umbrachte, versucht Sascha den jüngeren Geschwistern Anton und Alissa
eine Mutter zu sein und den Alltag so gut wie mög-
lich zu organisieren, damit sie nicht ins Heim müssen. Eine Cousine des Vaters kommt aus Sibirien,
um zu helfen. Doch da sie kaum ein Wort Deutsch
spricht, ist sie oftmals keine große Unterstützung.
Das traumatische Ereignis hat bei allen Kindern
tiefe Spuren hinterlassen, auch die so selbstsicher
auftretende Sascha braucht große Fürsorge.
Positionen | Projekte | Publikationen
Sascha hat zwei Ziele. Manchmal denke ich, ich bin
die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige
Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche
ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und
ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich
habe auch schon einen Titel: "Die Geschichte einer
hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde,
wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte".
Vielleicht ist das nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es
mir genau zu überlegen, denn ich habe noch nicht
angefangen zu schreiben. Mit dieser Passage beginnt der Roman und für den Leser breitet sich auf
den nächsten 300 Seiten die Familientragödie aus.
Sascha will ein Buch über ihre Mutter schreiben, ihr
damit ein Denkmal setzen. Den Doppelmord will sie
auch rächen, in dem sie den Stiefvater Vadim, der
im Gefängnis sitzt, tötet. Eines Tages liest sie in der
Zeitung einen Bericht über Vadim. Den Artikel hält
Sascha für unzumutbar, für rührselig, und in ihrer
Wut macht sie sich auf den Weg zur Redaktion der
Zeitung. So lernt sie den Redakteur Volker Trebur
und dessen Sohn Felix kennen. Durch diese beiden
kommt Sascha in eine Welt, die ein Kontrast zu
ihrer Lebenswelt darstellt. Doch auch ein modernes und geräumiges Einfamilienhaus mit Garten
bedeutet nicht automatisch, dass hier die „ideale“
Familie lebt, so wie Sascha es vermutet hatte: die
Eltern sind geschieden, Felix ist nicht gesund. Im
Laufe der Zeit entspinnt sich zwischen Sascha und
Volker, aber auch zwischen Sascha und Felix eine
diffuse Liebesgeschichte. Auch ein anderer Volker
spielt noch eine Rolle. Dies ist ein kompliziertes
und gleichzeitig auch kindliches Verhältnis, jedoch
wichtig für den seelischen Heilungsprozess der
Protagonistin.
Sascha wird eine Pendlerin zwischen den beiden
Welten und in keiner davon fühlt sie sich richtig zu
Hause. Sie will nicht scheitern, sondern sie begehrt
auf, strebt nach Glück, Wohlstand und Freiheit. Sascha schreibt weder ein Buch über ihre Mutter, noch
muss sie Vadim töten, denn der begeht Selbstmord.
Aber für sie zeichnet sich die Bewältigung des
Traumas ab. Sie muss ihren Weg finden und wird
sich behaupten. Der Leser begleitet Sascha auf dem
Weg des Erwachsenwerdens.
Das Buch bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte
für den Unterricht ab Jahrgangsstufe 9. „Scherbenpark“ analysiert die sozialen Bedingungen, unter
denen Menschen in der Gesellschaft leben. Neben
dem beschriebenen Einblick in die Lebenswelt von
Migranten und die Zukunftsperspektive Jugendlicher mit schwierigen Startvoraussetzungen werden
Jugendgewalt, Freundschaft, Liebe, Sexualität sowie
verschiedene Familien- und Frauenbilder als Problemstellungen zu diskutieren sein.
Der titelgebende Scherbenpark spielt in der Geschichte im Übrigen keine große Rolle, es ist eine
Lichtung in einem angrenzenden Waldstück, jedoch
kann man über die Bedeutung des Titels sprechen.
Das Buch wurde unter der Regie von Bettina Blümner im Jahr 2013 verfilmt. Die mit umfangreichen
didaktischem Material angereicherte DVD kann in
der Pädagogischen Mediathek des LISA unter der
Signatur 46 72709 für den Unterricht entliehen werden. Auch für das Theater wurde „Scherbenpark“
inszeniert, beispielsweise steht es in der Saison
2014/15 auf dem Spielplan im Theater der Altmark
in Stendal.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Elke Domhardt
Literatur im öffentlichen Raum: StraSSenbahngedichte rollen durch Halle!
Passen Gedichte noch in unsere Zeit? Brauchen wir
sie noch? Wenn ja – wofür? Sind wir überhaupt
noch dazu imstande, uns auf ihren Ton, ihr Tempo,
ihre andere Art von Wahrnehmung einzulassen?
Meine Mutter, wohnhaft in Stuttgart, hat mich
eines Tages bei einem Spaziergang mit dem Hersagen einiger Gedichte überrascht, die sie auswendig
konnte. Sie war über siebzig Jahre alt und hatte
so etwas noch nie getan. Gelernt hatte sie sie bei
ihren Fahrten mit den Stuttgarter Straßenbahnen,
in denen überall auf sämtlichen größeren Flächen
Plakate mit Gedichten kleben.
Die Vorstellung, in öffentlichen Verkehrsmitteln
gelesen, womöglich sogar auswendig gelernt zu
werden, gefiel meinen Dichter-Kollegen sofort.
Auch die Mitarbeiter der HAVAG waren sehr angetan davon. So eine Aktion wäre ja nicht nur ein
Aushängeschild für die Dichter, für die Stadt und
das Land, sondern sogar auch für die HAVAG selbst.
Leider gerieten angesichts der Flächen, die für den
Anschlag von Gedichten in Frage kamen, unsere Pläne ins Wanken. Sie befanden sich über den Fenstern
und hatten ein sehr langes, sehr schmales Querformat. Einfach eine Buchseite zu vergrößern und zu
kopieren, wie es in Stuttgart praktiziert wurde, war
nicht möglich. Alles selber machen ging also nicht.
Wir brauchten einen Fachmann – eine Fachfrau vielmehr. Denn nun kam die Grafikerin Hannelore Heise ins Spiel, und mit ihr noch einmal ein ganz neuer
optischer Aspekt. (Beschränkungen in der Kunst, so
sehr sie uns ärgern, stellen sich ja hinterher meist
als ein Segen heraus, weil wir durch sie gezwungen
waren, uns etwas einfallen zu lassen.)
Mit unserer Gedichtauswahl und einigen Entwürfen von Frau Heise stellten wir einen Antrag auf Fördermittel bei der Kunststiftung. Er wurde bewilligt.
Und nun fahren also mittlerweile achtzig Gedichte
in den Halleschen Straßenbahnen kreuz und quer in
der Stadt herum. Sie sind ganz unterschiedlich vom
Genre her und von der Machart. Die meisten stammen von Autoren unseres Vereins, von berühmten
Leuten wie Mucke, Bartsch oder Schinkel bis zu Unbekannten und Anfängern. Aus der vorigen DichterGeneration sind Sarah Kirsch, Rainer Kirsch und
Heinz Czechowski vertreten. Und an historischen
Persönlichkeiten sind Eichendorff, Wilhelm Müller,
Bürger, Novalis und andere vertreten. Einziges Auswahlkriterium – neben der Qualität der Texte – war
der Bezug zu unserer Stadt oder zu unserem Land.
Den Reaktionen der Fahrgäste nach, die uns erreichen, ist unser Projekt ein Erfolg. Einziger Nachteil:
Achtzig Gedichte sind bei der Menge von Bahnen,
die ständig im Einsatz sind, viel zu wenig.
Wir überlegen, ob es noch andere Stellen gibt, die
ein Gedicht vertragen könnten. Litfaßsäulen. Kahle
Wände. Aus der Stiftung kam die Idee, die Brötchentüten von Bäckereien zu bedrucken. Oder wir machen es wie Elling im gleichnamigen Theaterstück,
der Konservenbüchsen und Einweckgläser in den
Kaufhallen mit Gedichten beklebt.
Wir bleiben offen für Neues. Gedichte brauchen wenig Platz. Sie passen überall hin. Und wir brauchen
sie noch.
Anmerkung der Herausgeber:
Das schöne Projekt „Straßenbahngedichte“ des Förderkreises der Schriftsteller Halle wurde vor mehreren Jahren durch die Schriftstellerin Elke Domhardt
initiiert; inzwischen rollt die dritte Staffel durch die
Saalestadt. Diese Form der Literaturverbreitung
bietet sich geradezu an, für die jeweiligen örtlichen oder regionalen Gegebenheiten adaptiert
Positionen | Projekte | Publikationen
zu werden – auch und gerade dort, wo keine Straßenbahnen fahren! Als Gemeinschaftsprojekt von
Kunst- und Literaturunterricht wäre beispielsweise
die zeitweise Ausgestaltung der Schulkorridore
mit graphisch gestalteten Texten eine Möglichkeit;
auch vor modernen bildkünstlerischen Umsetzungen (etwa im Graffiti-Stil) sollte man sich nicht
scheuen...
Die kompletten „Straßenbahngedichte“ kann man
hier im Netz betrachten:
http://www.foerderkreis-halle.de/tram0.htm
Und hier einige Beispiele der von Hannelore Heise
graphisch umgesetzten Gedichte…
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Positionen | Projekte | Publikationen
Sebastian Caspar
„Zone C“ – ein Buch, das Augen öffnet und
Diskussionen auslöst
„Stoff für Crystal im Wert von 184 Millionen Euro. Im
Kampf gegen die aggressive Partydroge Crystal ist
Fahndern in Deutschland und Tschechien ein Rekordfund gelungen. Sie beschlagnahmten 2,9 Tonnen
des Grundstoffs Chlorephedrin zur Herstellung von
Crystal Meth in Leipzig.“
(Die Welt, 13.11.14)
Die ersten Recherchen für meinen Roman „Zone C“
gehen auf das Jahr 2000 zurück. Schon zu diesem
Zeitpunkt hatten große Teile der Jugendlichen und
jungen Erwachsenen Kontakt zu dieser zerstörerischen Droge, waren ihr verfallen und wurden süchtig. Unabhängig von Elternhaus, gesellschaftlichem
Status, Beruf und politischer Einstellung durchzog
sich das Crystal Meth Problem wie ein roter Faden
durch die Biografien einer ganzen Generation.
Unbeachtet von Politik und Fachstellen, gelang es
der Droge, in verschiedenste sozialen Schichten
einzudringen, sich zu entfalten, so dass man davon
ausgehen muss, dass die 1. Generation von Konsumenten, heute um die 30 Jahre alt, als „verloren“
gilt.
Aktuell haben wir nicht nur mit einer wahren Überflutung des Stoffes Crystal Meth in grenznahen
Städten zu Tschechien zu kämpfen, zusätzlich entsteht ein völlig neues Phänomen – das rapide nach
unten sackende Einstiegsalter. Zwölfjährige Konsumenten sind keine Seltenheit mehr. Man kann
sagen, das Problem Crystal Meth hat in den letzten
fünf Jahren eine völlig neue Dimension erreicht.
Dies ist unter anderem, dem „nicht wahr haben
wollen“ der letzten Jahre geschuldet, gepaart mit
Unwissen und der Angst das Image von Städten
und Kommunen könnte beschädigt werden.
Nicht nur die Probleme der körperlichen Schädigung, sondern vor allem die Zerstörung der Persönlichkeit, der geistigen Entwicklungsfähigkeit
und Vitalität, lassen aus einstmals gesunden sozial
integrierten und leistungsfähigen jungen Leuten,
Abhängige werden. Abhängige, in deren Leben die
Beschaffung der Droge die zentrale Rolle spielt und
der alles untergeordnet wird. Das Leben hat keinen
Tag-Nacht-Rhythmus mehr, Körperpflege, sowie Essen und Trinken, die Unterhaltung von sozialen Kontakten werden nebensächlich, nach einer gewissen
Zeit, brechen Schul- bzw. Arbeitstätigkeit vollständig ein. Welche Perspektive haben solche jungen
Menschen, die eigentlich „ihr ganz Leben noch vor
sich haben“? Wer kann sie in diesem Zustand noch
erreichen? Welche Möglichkeiten haben Lehrer, Eltern, Freunde, sie aus diesem vernichtenden Teufelskreis herauszuholen? Welche Interventionsmöglichkeiten haben Kinder- und Hausärzte, Sozialarbeiter
Positionen | Projekte | Publikationen
und Psychotherapeuten um mit den Betroffenen
und deren Angehörigen, das „heiße Eisen“ der Abhängigkeit zu thematisieren und sinnvolle Interventionsmöglichkeiten anzubieten, die dann auch von
dem Abhängigen angenommen werden?
Dieser Kosmos, in dem sich alles um die Auswirkungen von Crystal Meth dreht, ist Hauptinhalt meines
Romans „Zone C“. Aus der Sicht des Abhängigen
Sten beschreibe ich die sinn- und hoffnungslose,
körperlich und psychisch zerstörerische Wirkung
der Droge, die oft zwiespältigen und erfolglosen
Befreiungsversuche und das emotionale und soziale Scheitern des Protagonisten. In voller Absicht
wähle ich dafür eine „krasse“, schonungslose, an die
Jugendsprache erinnernde Form, um mit diesem
Stilmittel gerade Jugendliche und hier besonders in
ihren Reifungskrisen sensibel für dieses Thema zu
machen.
Mit dem Protagonisten und seinem jugendlichen
sozialen Umfeld finden die Schüler, Reibungs- und
Identifikationsfiguren, die sie aus ihren eigenen
Peergroup-Erfahrungen kennen. Brüche in der
Lebensgeschichte, wie die Scheidung von Eltern,
Verlust von wichtigen Bezugspersonen und Freunden, verarbeite ich ebenso in dem Roman, wie die
Auseinandersetzung mit jugendtypischen Themen.
Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem
woher und wohin, nach stabilen tragenden sozialen Kontakten und den Erfahrungen der ersten
Liebe sind für mich im Kontext mit der destruktiven
Wirkung von Crystal ein Spannungsbogen, der den
Roman trägt.
Durch zahlreiche Lesungen an Schulen in SachsenAnhalt, Sachsen und Thüringen ist mir bewusst
geworden, dass Lehrer und Schulsozialarbeiter das
Thema aufgenommen haben. Auch wenn es in den
meisten Schulen noch kein offenes Crystal-MethProblem zu geben scheint, so sind sich Pädagogen
und Sozialarbeiter einig, dass Handlungsbedarf
besteht. Wir entlassen die Jugendlichen nach
ihrer schulischen Laufbahn in eine Lebenswelt, die
andere, immer komplexere Herausforderungen für
sie bereithält. Es gilt die Heranwachsenden fit zu
machen für die Anforderungen unserer Zeit. Ohne
Banalisierungen oder hilflosen Dämonisierungskampagnen.
In den schulischen Veranstaltungen profitiere ich
zusätzlich von meiner Profession als diplomierter
Sozialarbeiter. Neben meiner Rolle als Autor, kann
ich somit fachlich auf die Fragen der Schüler reagieren und die aktuellen Nöte einschätzen. Ziel sind
Information und Aufklärung, die klare Benennung
des Problems und Selbststärkung der Jugendlichen. Gemeinsam suche ich mit den Schülern nach
Präventionsansätzen von Sucht, denn Abhängigkeit
beginnt nicht mit dem harten Konsum von Crystal
Meth, sondern häufig durch innere Schieflagen und
seelische Verletzungen. Ein gesundes Selbstwertgefühl ist wohl der stabilste Präventionsansatz. Doch
dies braucht Zeit und Nachhaltigkeit, auch, da in
naher Zukunft mit einer Abschwächung des Problems nicht zu rechnen ist.
Anmerkung der Herausgeber:
Das Buch „Zone C“ von Sebastian Caspar ist 2014
im KLAK Verlag Berlin erschienen; eine Rezension
finden Sie auf S. 121 dieser Ausgabe. Weitere Informationen zum Thema des Buches auf der Website
www.sebastiancaspar.de. Anfragen an den Autor
bezüglich Lesungen sind über die Mailadresse
[email protected] möglich.
Gundula Barsch, Professorin für Suchtproblematik
und Soziale Arbeit an der Hochschule Merseburg,
hat 2014 die Ergebnisse einer ersten sozialwissenschaftlichen Studie zum Lebens- und Konsumalltag
von Crystal-Konsumenten in den mitteldeutschen
Bundesländern publiziert. Für Lehrkräfte, die sich
vertieft mit der Problematik beschäftigen wollen,
sei dieses Buch, das auch Bewältigungsstrategien, Ausstiegsprozesse und Hilfsbedürfnisse der
Betroffenen thematisiert, dringend empfohlen. Es
ist unter dem Titel „‘CRYSTAL-METH‘ – Einblicke in
den Lebens- und Konsumalltag mit der Modedroge
‚Crystal‘“ bei Pabst Science Publisher, Lengerich,
unter der ISBN 978-3-89967-910-6 erschienen.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Weiterhin stehen in der LISA-Mediathek seit Jahresbeginn 2015 unter der Registriernummer 9/15 zwei
Beratungsordner zur Drogen- und Suchtproblematik für die Ausleihe zur Verfügung, die ebenfalls von
Gundula Barsch im Rahmen studentischer Projekte
erarbeitet worden sind. Sie enthalten wertvolle
Informationen, Unterrichtsvorschläge, Projekte und
Arbeitsblätter.
Positionen | Projekte | Publikationen
Eva Scherf
Mehr Zeit für Träume?
Ein Gespräch mit dem Autor Christoph Werner zu dessen Roman
„Marie Marne und das Tor zur Nacht“
(Eine Rezension des Buches finden Sie hier im Lesefutter auf S. 139!)
Für wen haben Sie das Buch geschrieben? Titelheldin
und der Fantasy-Charakter deuten darauf hin, dass
Sie an Kinder und Jugendliche als Adressaten gedacht
haben, obwohl der Verlag es nicht als Jugendbuch
ausweist.
C.W. Ganz konkret habe ich es für meine Tochter
geschrieben, die damals so um die 10 war (ihr habe
ich das Buch ja schließlich auch gewidmet). Natürlich war sie Harry-Potter-Fan und mit ihr zusammen
habe ich dann die Filme angeguckt, die ich toll fand.
Mein Roman ist also – gerade in seinen FantasyElementen – schon ganz bewusst als Jugendbuch
konzipiert, obwohl ich natürlich auch unabhängig
davon, allein schon als Puppentheater-Mann, ein
Faible fürs Phantastische habe.
Micheal Ende hat nicht im Kopf rumgespukt beim
Schreiben? Sowohl in der „Unendlichen Geschichte“
als auch in „Momo“ sind es ja ebenfalls Kinder, die
die Welt retten, und gerade in „Momo“ spielt die Zeit
ebenfalls eine zentrale Rolle.
C. W. Komischerweise war mir dieser Bezug beim
Schreiben selbst gar nicht bewusst, erst später bin
ich darauf hingewiesen worden. Da wird jedoch
den Menschen die Zeit gestohlen, während man
in meinem Buch zusätzliche Zeit kaufen kann. Und
dann ist ja auch „Marie Marne“, keine High-FantasyGeschichte wie „Momo“ oder „Herr der Ringe“, die
komplett in einer Phantasie-Welt angesiedelt ist,
sondern bei mir ergibt sich das Phantastische aus
der Realität, die immer präsent bleibt. So ist das ja
schon beim Erfinder dieses Geschichten-Typs, bei E.
T. A. Hoffmann.
Da sind wir bei den beiden Ebenen des Romans.
In der Realebene wird eine ganz normale TeenieGeschichte erzählt: Eine 13-Jährige, die gern mehr
Zeit verbringen würde mit ihrem Vater, der immerzu
telefoniert; ihr Alltag in der Schule und ihre Freundinnen; die sich anbahnende Liebe mit einem Jungen.
Entscheidend auf dieser Ebene ist aber die VaterTochter-Beziehung: Marie setzt alles daran, ihn zu
retten. Nachdem ihr dies gelungen ist, spielt der Vater
plötzlich keine Rolle mehr im Roman, das ist etwas
schade.
C. W. Aber folgerichtig. Schließlich geht es dann um
die Errettung der Welt, da haben Eltern, auch Väter,
nichts mehr zu suchen. Die Weltrettung ist immer
eine Sache der Jungen, nicht der Alten!
In der zweiten Ebene des Buches, den Träumen, wimmelt es nur so von phantastischen Figuren und Motiven: mythischen, wie Mr. Phisto, Zyklop oder Zentaur,
aber auch ganz eigenen: das Tor zur Nacht z. B.,
die Schlafenergie, die im ADI-Wert gemessen wird,
Schlafbarrieren, die zum Schutz der Träumenden errichtet werden können oder die Benandanti, eine Art
Wächter über das Gleichgewicht zwischen realer und
Traumwelt. Woher nehmen Sie solche Einfälle?
C. W. Teils auch aus eigenen Träumen, mit denen ich
mich – lange vor dem Buch – eine Zeitlang intensiv
auseinandergesetzt habe, weil mich das einfach
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Positionen | Projekte | Publikationen
interessierte. Da habe ich nicht nur die Klassiker der
Traumtheorie gelesen, sondern auch selbst Traumtagebuch geführt und festgestellt, dass man seine
Träume durchaus auch steuern, d. h. auf bestimmte
Dinge ansetzen kann. Das tut ja auch Marie, die
sozusagen zielgerichtet träumt: erst, um das Tor zur
Nacht zu öffnen, später, um es wieder zu schließen.
Solche weltumspannenden Unternehmen, denen
wir uns mehr oder weniger freiwillig ausliefern,
gibt es ja schon.
Und die Botschaft des Buches? Dass man seine Träume nicht einfach wie Müll wegwerfen soll (dies tun
ja alle, die sich im Roman Zeit kaufen), sonst droht
letztlich der Untergang der Welt?
C. W. Ja. Mich und meine Frau kann man nämlich
buchen – kostenlos. Wir kommen dann für zwei
Stunden in den Unterricht, um aus dem Roman zu
lesen und im Anschluss daran mit den Schülern kreativ zu arbeiten. Das hat bisher immer großen Spaß
gemacht – nur in Sachsen-Anhalt sind wir bisher
nur einmal eingeladen worden. Aber das kann sich
nun ja ändern.
C. W. So kann man das natürlich formulieren. Für
mich war auch die Ambivalenz des Zeitproblems
wichtig: Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir
immer effizienter mit unserer Zeit umgehen müssen. Manager oder auch junge Mütter leiden unter
mangelnder Zeit wie Maries Vater, der sich Zeit wie
eine Art Party-Droge kauft. Das Problem ist, dass er
und Marie damit in die Hand eines weltweit agierenden Unternehmens geraten, welches maximalen
Profit erstrebt und das Leben zu beherrschen droht.
Als Unterrichtslektüre ist das Buch ab 6./7. Klasse zu
empfehlen. Haben Sie einen Tipp für die Unterrichtsgestaltung?
Angefragt werden kann Christoph Werner unter
Tel. 0345 / 5110 544 oder per Mail: Sylvia.Werner@
buehnen-halle.de
Positionen | Projekte | Publikationen
Paul D. Bartsch
Über Zeitschriften niederschwellig einsteigen
Im Medienmix, aus dem sich Kinder und Jugendliche heute bedienen, nehmen Lesetexte zwar
längst nicht mehr den dominierenden, im Schnitt
aber noch immer einen erfreulich breiten Raum
ein. Die aktuelle JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest ermittelte für
die 12- bis 19-Jährigen einen Wert von 39 Prozent,
die täglich oder zumindest mehrmals pro Woche
Bücher lesen. Allerdings ist die Geschlechterverteilung ungleich: Während die Mädchen zu 51 Prozent
(gegenüber 11 Prozent Nie-Leserinnen) in diese
Kategorie gehören, trifft das nur auf 28 Prozent der
Jungen (bei 26 Prozent Nie-Lesern) zu.
Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.php?id=631
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Positionen | Projekte | Publikationen
Ein ähnliches Bild bieten die 6- bis 13-jährigen Kinder, die zuletzt 2012 in der KIM-Studie untersucht
wurden: Hier geben 14 Prozent der Mädchen das
Bücherlesen als ihre Lieblingsfreizeitbeschäftigung
an, aber nur 4 Prozent der Jungen.
Quelle: KIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.php?id=548
Positionen | Projekte | Publikationen
Im Vorschulalter ist das übrigens noch nicht so –
die 2012 erstmals durchgeführte Studie miniKIM
belegt, dass jeweils 58 Prozent der 3- bis 5-jährigen
Vorschulkinder ein Lieblings(bilder)buch besitzen!
Bei den bevorzugten Inhalten kommen allerdings
geschlechtsspezifische Vorlieben bereits zum Tragen.
Quelle: miniKIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.
php?id=565
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Positionen | Projekte | Publikationen
Gegenüber den Werten von 2010 ergaben sich für
die 6- bis 13-Jährigen insgesamt wie auch in den
einzelnen Altersstufen teils deutliche Zuwächse
beim Lesen – der einzige Rückgang zeigt sich wiederum bei den Jungen.
Quelle: miniKIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.
php?id=565
Positionen | Projekte | Publikationen
Genau hier setzt das aktuelle Leseförderprojekt
"Zeitschriften in die Schulen" der Stiftung Lesen
an, das im Jahr 2014 bundesweit mit einer Million
Zeitschriften locken konnte. Während des bundesweiten "Zeitschriftenmonats" nach den Osterferien
2014 hatten alle angemeldeten 16.700 Schulklassen
einen Monat lang ein kostenloses Zeitschriftenpaket für den Einsatz im Unterricht erhalten. Beteiligen konnten sich erstmals auch die Grundschulen.
Zum Paket gehören – zusammengestellt nach
Altersgruppen – Illustrierte, Wissens-, Wirtschaftsund Politikmagazine wie "Geolino", "Bunte", "Spiegel" und "Dein Spiegel" oder die "Wirtschaftswoche" sowie Jugend- und Sportzeitschriften wie die
"Bravo" oder der "Kicker". Ziel des Projekts ist es,
Kindern und Jugendlichen, die sonst wenig lesen,
niedrigschwellige Zugänge zum Lesen zu ermöglichen; die Auswahl der Titel dürfte auch zu vermutende Freizeit- und Informationsinteressen von
Jungen treffen.
Für die Einbindung der Zeitschriftenlektüre in den
Unterricht stellt die Stiftung Lesen auch Materialien
mit Hintergrundinformationen und methodischdidaktischen Anregungen zur Verfügung. Weitere
Informationsmöglichkeiten zum Projekt sowie die
Anmeldung für das jeweils neue Projektjahr über
diese Kontaktdaten:
Kontaktdaten
Stiftung Lesen
Römerwall 40
55131 Mainz
Fon: 06131.28 89 00
Fax: 06131.23 03 33
E-Mail: [email protected]
Web: www.stiftunglesen.de
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Positionen | Projekte | Publikationen
Jürgen Jankofsky
Autorenbegegnungen – Autorenpatenschaften
Vor 60 Jahren kam der Hannoveraner Pädagoge
Friedrich Bödecker auf die Idee, Autoren mit ihren
Büchern in Schulen zu schicken, um in Begegnungen mit Schülern, mit Lesungen und Diskussionen,
zielgerichtet zum Lesen anzuregen. Eine fruchtbare
Idee offenbar, denn mittlerweile gibt es in jedem
Bundesland (außer Berlin) einen Friedrich-BödeckerKreis, der jahrein jahraus Autorenbegegnungen
organisiert, im Durchschnitt etwa 7.000 pro Jahr
bundesweit. Eine Studie der TU Dortmund kommt
zu dem Schluss: „dass eine Autorenbegegnung
zwar kein Allheilmittel gegen die sich verstärkende
Leseunlust bei Kindern und Jugendliche ist, aber
einen ernst zu nehmenden Ansatz zur Lese(r)förderung darstellt: Autorenbegegnungen holen mehr
Literatur anders in die Schule!“ (Conrady „Lebendige
Literatur“, Westermann, 2008, S. 57)
Im Rahmen des Programms „Kultur macht stark.
Bündnisse für Bildung“ des Bundesministerium für
Bildung und Forschung begründete der Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise nun die Initiative „Autorenpatenschaften – Literatur lesen und
schreiben mit Profis“: Professionelle Kinder- und
Jugendbuchautoren führen 8- bis 18-Jährige an das
Lesen und Schreiben literarischer Texte heran. Die
Kinder und Jugendlichen entdecken mit Hilfe von
professionell Schreibenden neue Ausdrucksformen
und können sich damit neue Erfahrungshorizonte erschließen. Vor allem in Schreibwerkstätten
entwickeln die Teilnehmer eigene Texte, welche in
einem intensiven Entstehungs- und Wandlungsprozess entworfen, diskutiert, bearbeitet und
vorgestellt werden. Durch das Projekt soll die Leseund Schreibkompetenz und auch die persönliche
Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gestärkt
werden.
Im Gegensatz zu einer „klassischen“ Autorenbegegnung, die in der Regel zwei Schulstunden, besten-
falls einen Schultag dauert, ist die Laufzeit einer
„Autorenpatenschaft“ auf ein Jahr ausgerichtet.
Das ergibt neue Ansätze, neue Chancen und nicht
zuletzt, um auch bildungsbenachteiligte Kinder und
Jugendliche Literatur erleben zu lassen, sogar selbst
aktiv zu werden: mit einem Profi-Autor zu lesen,
vertrauensvoll mit seiner Hilfe zu schreiben, so eigene (ungeahnte) Möglichkeiten zu entdecken und
sich (nachhaltig) zu erschließen, neue Kompetenzen
zu erwerben also!
Am Ende jeder Autorenpatenschaft gibt eine
Publikation vor allem mit Texten der „Patenkinder“, doch auch auswertenden Kommentierungen
und Begleitmaterialien Einblicke in das jeweilige,
gemeinsame Projektjahr – nicht zuletzt, um zur
Weiterführung und Nachahmung anzuregen. (s. a.
www.boedecker-buendnisse.de)
In Sachsen z. B. begründete der Bundesverband
der Friedrich-Bödecker-Kreise ein lokales BildungsBündnis in Döbeln: Viert- bis Sechstklässler der
Schlossbergschule (Schule zur Lernförderung) verfassten mit Hilfe der „Autorenpatin“ Sylvia Eggert
diese „werbeträchtigen“ Zeilen:
Lesen ist ein Abenteuer
mit Drache, Hexe, Ungeheuer.
Wenn wir lesen ist es schön,
die tollsten Abenteuer zu bestehn.
Lesen ist ganz wundervoll
und Bücher die sind supertoll.
Geschichten ändern unsre Welt
und machen dich zum Bücherheld.
Durch Bücher kriegt man was fürs Leben,
weil sie unsere Bildung heben…
Positionen | Projekte | Publikationen
Und die Schriftstellerin und Pädagogin Renate
Schimmel, involviert in die Hamburger „Autorenpatenschaft“, urteilt: „Es sind Texte entstanden, die
mitnehmen ins Leben. Gedanken, die Zustimmung
finden oder Ablehnung. Sehnsüchte, Wünsche und
Erfahrung, die in Worte gefasst werden. Texte, die
von kleinen oder großen Momenten der Erfüllung
erzählen. Poetische, nachdenkliche, erzählende oder
biografische.
Das Schreibprojekt 'Kultur macht stark' hat die
Schüler wirklich stark gemacht. Ihnen Zutrauen im
Umgang mit Sprache vermittelt, ihnen gezeigt, dass
sie etwas zu sagen haben. Ganz gewiss werden
ihnen diese neu hinzugewonnenen Fähigkeiten auf
ihrem weiteren Lebensweg helfen.“
Schon seit einiger Zeit sind Landesverbände der
Friedrich-Bödecker-Kreise immer wieder auf Suche
nach neuen Wegen zur Lese- und Schreibförderung,
zur Unterstützung beim Erwerb von Lesekompetenz. So ruft der Friedrich-Bödecker-Kreis SachsenAnhalt seit 1992 Schüler alljährlich zum Schreiben
eigener Texte auf, seit 1997 stets unter dem Motto
„Unzensiert & unfrisiert“ und in Kooperation mit
dem FBK-Bundesverband auch bundesweit. (s. a.
www.fbk-lsa.de)
Allein im Schuljahr 2013/14 wurden 5.250 Texte
eingesandt, Texte aller Altersgruppen, aller Formen, aller denkbaren Themen. Dieser Schreibaufruf
entspricht also offenbar (und nach wie vor) einem
Bedürfnis Heranwachsender, sich mittels (mehr
oder weniger) literarischer Texte auszudrücken,
das Medium Sprache zu nutzen, um sich und die
sie umgebende Welt besser verstehen zu lernen.
Um dem zu entsprechen, arbeitet der FBK seit
Jahren mit dem weltweit einzigartigen Archiv
für Kindertexte an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg zusammen. Hier werden alle
Texte eingestellt und stehen beispielsweise für die
Lehrer-Ausbildung zur Verfügung, hier erfährt dieser Schreibaufruf wissenschaftliche Begleitung. Die
fantasievollsten, ehrlichsten, interessantesten Texte
werden Jahr für Jahr in einer Anthologie veröffentlich, deren Buchpremiere am Welttag des Buches
in den Franckeschen Stiftungen zu Halle gefeiert
wird. Dann ist der große Saal der Stiftungen stets
überfüllt, dann könnte man jedoch eine Stecknadel
fallen hören, wenn von Schülern verfasste Texte
anderen Schülern vorgelesen werden… Überhaupt
scheint bei Altersgenossen eine erstaunliche Akzeptanz für Texte von Schülern zu bestehen, gibt
es auch immer wieder Resonanz, dass Anthologien
mit Texten schreibender Schüler selbst bei „Lesemuffeln“ Leseinteresse wecken würden. Auch auf
diesem Wege könnte also mehr Literatur anders in
die Schule geholt werden…
Aus der jüngsten FBK-Anthologie („Wenn die Erde
Worte hätte“, Dorise, 2014, S. 176 – siehe auch
Besprechung auf S. 106) zu guter Letzt noch ein Gedicht der 9-jährigen Anne Möbius aus Merseburg:
Ein Haus kann man bauen,
Einen Kaugummi kauen,
Ein Auto kann lenken,
Ich kann denken,
Ein Gedicht kann man schreiben,
Und es wird im Gedächtnis bleiben.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Thomas Rackwitz
Intro zum Text „Das Meer“
Ende 2005 las ich, dass die mir (bis dato nur virtuell)
bekannte Stefanie Müller mit dem Jugend-KulturPreis des Landes Sachsen-Anhalts ausgezeichnet
wurde. Stefanie hatte ich in einem Internetforum
kennengelernt, in dem es um Literatur ging, was
aber inzwischen das Zeitliche gesegnet hat. Hier
wurden selbst geschriebene Texte zerpflückt.
Rückblickend lässt sich sagen, dass das Niveau des
Forums recht unterschiedlich war, es gab etliche
Autoren zum Vergessen, aber auch Autorinnen
wie Simone Kornappel, die sich inzwischen einen
Namen gemacht haben. Lange Rede, kurzer Sinn:
Ich nahm erst zu diesem Zeitpunkt (auch wenn
ich schon einige Jahre lang geschrieben hatte) zur
Kenntnis, dass es auch in Sachsen-Anhalt Möglichkeiten für junge Autoren gibt, an eine breitere
Öffentlichkeit zu gelangen. So nahm ich mir vor, im
Folgejahr selbst am Wettbewerb teilzunehmen und
war am Ende sehr überrascht, als mir Herr Olbertz
den Preis schließlich überreichte. Das Preisgeld kam
genau zur richtigen Zeit, war ich doch finanziell zu
diesem Zeitpunkt ziemlich ramponiert.
Viel wichtiger waren jedoch die Kontakte, die
daraus erwuchsen. Jürgen Jankofsky lud mich
damals ein, an der Schreibwerkstatt in Sonneck
teilzunehmen, was ich auch gerne annahm. Dort
lernte ich (auch für mich) wichtige Autoren wie
Wilhelm Bartsch, Richard Pietraß, André Schinkel,
Diana Kokot, aber auch viele oft sehr talentierte
Gleichgesinnte wie Sascha Kokot, Michael Spyra
oder auch Juliane Liebert kennen. Insbesondere die
Kritik in den Schreibwerkstätten empfand ich als
sehr anregend und konstruktiv. Um noch einmal
daran zu erinnern: Ich wusste zuvor nicht, dass es
derartige Möglichkeiten im Land gab und würde es
wohl auch heute nicht wissen, hätte ich nicht den
von der LKJ betreuten Jugend-Kultur-Preis erhalten.
Neben der Schreibwerkstatt in Sonneck wurde ich
auch auf die Schreibwerkstätten von Torsten Olle,
Wilhelm Bartsch und den halleschen Dichterkreis
(damals noch im Hühnermanhattan) aufmerksam
gemacht, die allesamt mein Schreiben gewissermaßen mitgeprägt haben.
Abgesehen von den Schreibwerkstätten erhielt ich
auch die Möglichkeit, Lesungen durchzuführen.
Einige fanden im Rahmen von Duo literare statt. In
dieser Reihe lasen gestandene Autoren mit Novizen zusammen, was natürlich alles andere als
abträglich ist. Ferner durfte ich auch im Rahmen
des Bücherfrühlings in Haldensleben (u. a. mit Paul
Bartsch und Jürgen Jankofsky) lesen. 2008 erhielt
ich das Walter-Bauer-Stipendium der Städte Merseburg und Leuna, was wiederum neue Lesungen
usw. mit sich brachte, bevor ich 2009 und 2011
jeweils ein Stipendium des Landes für meine Arbeit
an einem Sonettenkranz erhielt. Noch wichtiger als
die Auszeichnungen und Stipendien war jedoch der
Umstand, dass einige Texte von mir ins Bulgarische
und Armenische übertragen wurden und ich inzwischen selbst Texte aus dem Bulgarischen übertragen durfte.
Über die gesamten Jahre meines Schaffens hatte
ich es nicht gewagt, Prosa zu schreiben, da ich des
Öfteren las, Lyriker seien nicht in der Lage zu plotten. Aber Ende 2013 überwand ich meine eigene
Scheu und versuchte es einfach mal, was zur Folge
hatte, dass einer der Texte mit der Sonneck-Sommergabe ausgezeichnet wurde. Hier wurde mir
nicht nur ein erfahrener Mentor (Wilhelm Bartsch)
an die Seite gestellt, sondern ich durfte auch meine
Erzählung vor etwa 100 Zuhörern im Rahmen des
MDR-Musiksommers zum Besten geben. Zusätzlich
Positionen | Projekte | Publikationen
durfte ich auch einige Gedichte aus meinem im Juli
1
2014 im MDV erschienen Gedichtband lesen, der es
nicht leicht hatte. Aufgrund bürokratischer Zwänge
(deren Sinn ich bis heute nicht verstehe) war es mir
nicht möglich, die Druckkosten beim Land zu beantragen, weshalb ich mich bei der Kunststiftung des
Landes darum bewarb, welche mein Vorhaben als
nicht förderungswürdig einstufte. Ich muss zugeben, ich bin immer noch sauer auf die Kunststiftung
(es wurden zwar des Öfteren [auch bei anderen
Gelegenheiten] Texte von mir abgelehnt [auch das
gehört dazu], aber hier kann ich es bis heute nicht
nachvollziehen) und werde künftig auch keine Bewerbungen mehr bei der Kunststiftung des Landes
einreichen. Zum Glück erklärte sich der MDV trotz
des hohen unternehmerischen Risikos dazu bereit,
die Lyrikbände nun einmal mit sich bringen, den
Lyrikband dennoch zu verlegen. Ich war schon drauf
und dran, das Projekt einfach einzustampfen, als
die Absage der Kunststiftung kam! Aber der Mitteldeutsche Verlag zerstreute meine eigene Unsicherheit, indem er mir das Vertrauen aussprach. Dieses
Vertrauen ist mir verdammt wichtig. Und dieses
Vertrauen habe ich auch von vielen Personen (wie
Axel Schneider) oder auch von anderen Vereinen
wie dem Friedrich-Bödecker-Kreis erfahren, ohne
das es sicher auch den Text "Das Meer" nicht geben
würde.
Thomas Rackwitz
Das Meer
Großvater hatte mir einmal erzählt, Feuersmünde beherberge die Ausläufer eines Ufers, dessen
Meer sich in Luft aufgelöst hätte. Ich war noch nie
am Meer gewesen. Habe noch nie sein Rauschen
gehört. Kenne die gewaltige Brandung nur aus den
Geschichten, die mir Großvater erzählte. Manchmal bildete ich mir ein, der Ort hätte sein eigenes
Meer, als wäre das Moos der Häuserwände mit den
Algen aus den Geschichten verwandt, als wäre im
Apfelgehäuse hoher Seegang, bevor man sich aufmachte, den Apfel mit den Zähnen zu zermalmen.
Ich leckte mir nicht selten über die Lippen, um zu
überprüfen, ob sie durch den mir entgegenwehenden Wind salziger schmecken würden.
In Wirklichkeit war Feuersmünde nichts weiter als
Brachland, was ich mir lange Zeit nicht eingestehen
wollte. Die Bauruinen bildeten den Ortskern. Meine
Kindheit verbrachte ich oft vor den eingeworfenen
Fenstern der verwitterten Ortskirche. Niemals hatte
ich es gewagt, über die Schwelle zu treten. Schließ1
Rackwitz, Thomas: an der schwelle zum harz. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014; siehe auch Rezension auf S. 131.
lich hatte mir Großvater versichert, ich trüge zu
viele Dämonen in mir, die ich dadurch leichtsinnig
entfesseln könnte. Er war ein gläubiger Mensch.
Nur glaubte er nicht an Gott, sondern ausschließlich an Bacchanten. Nur wenn er betrunken war,
pflegte er sich zu unterhalten. Vermutlich hatte er
deshalb nicht den besten Ruf im Ort, war er doch
des Öfteren aufgrund seiner Trunksucht aufgefallen. Einmal hatte er Frau Schwanengitter in den
Briefkasten gepinkelt und sich dabei erwischen
lassen. Sie strafte mich fortan genauso mit Verachtung wie ihn. Mit der Zeit wurden es immer mehr
Einheimische, die uns verachteten und sich von uns
abschotteten, als trügen wir etwas Lepröses an uns,
bis wir schließlich im gesamten Ort in Ungnade
gefallen waren. Meinen Schulkameraden wurde
der Kontakt zu mir untersagt. So hörte ich auf, zur
Schule zu gehen. Knochenhaar setzte sich jedoch
über derartige Verbote hinweg. Er hatte seine
eigenen Regeln. Mit ihm plünderte ich manchmal
Großvaters Weinvorräte. Aus Angst vor Großvaters
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Positionen | Projekte | Publikationen
Reaktion streckte ich danach stets die angetrunkenen Flaschen mit Wasser und versuchte, die Korken
wieder in die Flaschen zu drücken, in der Hoffnung,
er würde es nicht merken.
Eines Tages kam auch Knochenhaar nicht mehr zu
mir. Ich beschloss, ihn aufzusuchen. Er hatte mir
erzählt, er wohne zusammen mit seinen Eltern am
Rande des seiner Ansicht nach langsam implodierenden Ortes. Die Luft war hier dünner. Die Regentropfen verschwisterten sich. An dem von Efeu
umrankten Haus waren noch Einschusslöcher aus
dem letzten großen Krieg zu erkennen. Anstelle von
Knochenhaar empfing mich jedoch dessen Vater
Schlierentrunk, dem ich nur dieses eine Mal begegnete. Knochenhaar hätte es niemals gegeben, hatte
er mir gesagt. Ich hätte mir ihn nur eingebildet und
auch dieses Gespräch hätte niemals stattgefunden.
Mag sein, tröstete ich mich. Vielleicht hatte ich mir
auch nur eingebildet, Eltern gehabt zu haben. Großvater jedenfalls tat so, als hätte es sie nie gegeben,
als ich ihn auf sie ansprach. Das Meer des Ortes verebbte schlagartig in diesem Augenblick. So machte
ich mich auf, um Muscheln zu sammeln, bevor die
nächste Flut sie wieder mit sich reißen würde. An
dem Abend übergab ich Großvater meine Beute, so
als müsste ich mir damit ein Abendessen verdienen.
Das sind keine Muscheln, meinte er nur beiläufig,
ohne den Blick von der Flasche abzuwenden. Ich
wusste nicht, wie Muscheln aussehen und bat ihn,
mir das richtige Meer, sein Meer zu zeigen. Er war
außer sich in seinem Schweigen. Manchmal war ich
froh, nicht so viel wie Großvater über sein Meer zu
wissen, das draußen ist, außerhalb von Feuersmünde, fernab meiner Vorstellungskraft. Er war verbittert. Seine Wege führten ihn nur noch zurück zu
den Orten, die er kannte. Die er noch kennen wollte.
Das Meer konnte nicht mehr dazugehören, so lange
hatte er es seinen Erzählungen nach schon nicht
mehr gesehen.
Mit der Zeit verbrachte ich immer mehr Tage in
Großvaters Weinkeller und trank geflissentlich
für Knochenhaar mit, ohne dabei an Großvater zu
denken. Inzwischen füllte ich die Flaschen nicht
einmal mehr auf, um meine Abhängigkeit zu vertu-
schen, sondern ließ sie einfach verschwinden oder
bestückte sie mit Botschaften für die Nachwelt.
Irgendwann käme ich schon noch zum Meer und
so hätte ich wenigstens die nötigen Requisiten.
Berauscht wie ich war kamen mir die eigenartigsten Dinge in den Sinn. Ich stellte mir vor, mit einem
Boot in einen archaischen Hafen einzulaufen, der
sich unter der Wasseroberfläche befände, bevor ich
kurz darauf unter der Falltür des Meeres verschwinden würde. So wie Knochenhaar. So wie meine
Eltern. Alle waren sie verschwunden, ohne dass ich
wusste, wo sie sich jetzt befinden. Auch ich wollte
verschwinden, wollte Feuersmünde den Rücken
kehren, um im Meer wieder aufzutauchen, denn
brannten Großvaters Backpfeifen je älter er wurde,
umso stärker in meinem Gesicht. Seinem allmählichen körperlichen Verfall setzte er eine immer ausgefeiltere Technik entgegen. Er hatte mich ertappt,
wie ich seine Vorräte plünderte, und maßregelte
mich eher um seines Weines willen und weniger
wegen des zu erzielenden pädagogischen Effekts.
Kein Meer war es wert, sich an seinen Flaschen zu
vergreifen. So setzte er mich vor die Tür. Seitdem
lebt er nur noch als Erinnerung in mir fort. Seine
Stimme habe ich inzwischen vergessen.
Die Zeit war gekommen, sein Meer aufzusuchen.
Die Wege auf der aus seinem Atlas herausgerissenen Karte deckten sich nicht mit seinen Geschichten. In seinen Geschichten hatte er die immer
gleichen Wege beschrieben, die es inzwischen nicht
mehr gab. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Vielleicht war das Meer nur eine Idee, um das
Schreckliche, das ihm womöglich widerfuhr, in Worte zu fassen. Vielleicht hat jeder sein eigenes Meer,
das nur er ergründen kann oder in dem er ertrinken
muss. Großvater hat mir nicht viel beigebracht. Ich
habe jedoch von ihm gelernt, alle Wege führen ins
Meer, aber genauso ins Leere.
Anmerkung der Herausgeber:
Wir danken Thomas Rackwitz, der uns diesen Text
zum Abdruck zur Verfügung gestellt hat, und gratulieren herzlich zur Verleihung des Stadtschreiberstipendiums 2015 der Stadt Halle (Saale)!
Positionen | Projekte | Publikationen
SCHREIBAUFRUF 2014/2015
des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V. in Kooperation mit dem Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise e. V.
Unzensiert und unfrisiert: Erzählt uns was!
Wir rufen wieder alle Schüler und Schülerinnen zu
einem großen Schreibwettbewerb auf. Ein einengendes Thema oder eine Formvorgabe hierfür gibt
es auch in diesem Jahr nicht. Es ist alles möglich:
vom Verlauf eines mit allen fünf Sinnen erlebten
Tages, von der Beschreibung einer Reise, bis zu
Erfahrungen mit dem „ersten“ oder dem „letzten
Mal“: zum ersten Mal eine Sechs, zum ersten Mal
im Krankenhaus, zum ersten Mal verliebt oder zum
letzten Mal geraucht …Versucht ganz natürlich zu
erzählen und nicht zu schwatzen. Versucht auch,
wenn es sein muss, gegen den Strich zu erzählen:
zum Beispiel über Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen oder wie es sich mit zerstörter Freundschaft, mit enttäuschter Liebe, mit den Tränen, mit
der Wut, mit den eigenen tagtäglichen Problemen
oder denen der Eltern beziehungsweise den Erwachsenen überhaupt lebt. Keiner kann euch vorschreiben, worüber ihr schreiben sollt.
Um Erinnerungen festzuhalten, könnte ein Brief
oder eine Tagebuchnotiz eine passende Form sein
– Erinnerungen an die Großeltern eventuell, die
viel wussten und vieles verzeihen konnten, an das
Lieblingstier oder einen ganz besonderen Moment
... Auch Portraits eurer Banknachbarin, des Freundes, der alten Frau von nebenan, des Lehrers, der
Trainerin und vieler anderer Mitmenschen sind
möglich. Ja, man könnte sogar die leblosen Dinge
zu Wort kommen lassen: ein Stein ist gar nicht so
leblos, wie viele denken... Auch große Jubiläen oder
Jahrestage könnten Anregungen geben, so z. B. „25
Jahre deutsche Wiedervereinigung“ und „25 Jahre
Sachsen-Anhalt“.
Wir freuen uns auf eure Einsendungen. Unser
Aufruf gilt für das gesamte Schuljahr und endet am
letzten Schultag vor den Sommerferien (in SachsenAnhalt 10.07.2015). Dann wählt eine Jury im Archiv
für Kindertexte der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg die interessantesten, ehrlichsten,
originellsten Arbeiten für ein Lesebuch aus. Wenn
ihr an einer Veröffentlichung eures Textes in diesem
Lesebuch interessiert seid, sollte dieser allerdings
nicht länger als 2-3 A4-Seiten sein. Alle eingereichten Texte werden in das Archiv für Kindertexte
aufgenommen und stehen dort auch Forschungszwecken und entsprechenden Publikationen zur
Verfügung. Einige Einsender werden sogar zu einer
Schreibwerkstatt in den Herbstferien eingeladen
oder bekommen Gelegenheit, ihre Texte öffentlich
vorzutragen.
Schickt eure Texte bitte mit den Angaben Name,
Vorname, Anschrift, Alter/Klasse, Schule an die
FBK-Kontaktstelle
van’t-Hoff-Str. 1
06237 Leuna
Fax: (03461) 809248
E-Mail: [email protected]
Web: www.fbk-lsa.de
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Positionen | Projekte | Publikationen
Bitte sendet möglichst Kopien ein, da wir all eure
Texte unmöglich zurücksenden können. Es wäre
außerdem schön, wenn ihr die Texte auch in digitaler Form einreicht, da wir so besser mit ihnen
weiterarbeiten können.
An jedem 2. Mittwoch im Monat besteht ab 16.00
Uhr sogar die Möglichkeit, im Krokoseum der
Franckeschen Stiftungen zu Halle (06110 Halle,
Franckeplatz 1, Historisches Waisenhaus) mit Euren
Ideen oder Texten einen erfahrenen Schriftsteller zu konsultieren. Und im Programm von MDR
FIGARINO, dem Kinderfunk des Mitteldeutschen
Rundfunks, werdet Ihr immer wieder Hinweise auf
unseren Aufruf entdecken.
25 Jahre Deutsche Einheit und
25 Jahre Wiedergründung des Landes
Sachsen-Anhalt – Erzählt uns was!
Schreibaufruf des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V.
und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt
Wir rufen alle Schüler und Schülerinnen zu einem
großen Schreibwettbewerb auf. Eine Formvorgabe
gibt es hierfür nicht, wohl aber ein motivierendes
Thema: wir erinnern an 25 Jahre Deutsche Einheit
und 25 Jahre Wiedergründung unseres Landes
Sachsen-Anhalt.
Darüber kann man vielfältig erzählen. Was fällt
Euch bei diesem Thema ein, woran denkt Ihr, wenn
es um unser Bundesland geht, was bewegt Euch?
Was erzählen Eure Eltern und Großeltern? Es gibt sicher vieles zu berichten, vom Verlauf eines mit allen
fünf Sinnen erlebten Tages, von der Beschreibung
einer Reise oder einer besonderen Begegnung.
Versucht ganz natürlich zu erzählen und nicht
zu schwatzen. Versucht auch, wenn es sein muss,
gegen den Strich zu erzählen: zum Beispiel über
Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen oder wie es
sich mit Freundschaft, mit Liebe, aber auch mit den
Tränen, mit der Wut, mit den eigenen tagtäglichen
Problemen oder denen der Eltern beziehungsweise
den Erwachsenen überhaupt lebt. Und natürlich
wären Visionen interessant: was meint Ihr, wie
könnte oder wie sollte unser Land in 25 Jahren aussehen?
Um Gedanken festzuhalten, könnte auch ein Brief,
eine (fiktive) E-Mail oder Tagebuchnotiz eine pas-
sende Form sein, selbstredend auch Gedichte und
vielleicht ein Dialog. Schaut Euch einfach um!
Manchmal können sogar alte Mauern und Steine
erzählen.
Wir sind sicher, ihr werdet schon herausfinden, worüber ihr gern schreiben wollt.
Unser Aufruf gilt für das gesamte Schuljahr und
endet am letzten Schultag vor den Sommerferien,
am 10.07.2015). Dann wählt eine Jury im Archiv für
Kindertexte der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg die interessantesten, ehrlichsten,
originellsten Arbeiten für ein Lesebuch aus. Wenn
Ihr an einer Veröffentlichung Eures Textes in diesem
Lesebuch interessiert seid, sollte dieser allerdings
nicht länger als 2-3 A4-Seiten sein. Alle eingereichten Texte werden in das Archiv für Kindertexte
aufgenommen und stehen dort auch Forschungszwecken und entsprechenden Publikationen zur
Verfügung. Einige Einsender werden sogar zu einer
Schreibwerkstatt in den Herbstferien eingeladen
oder bekommen Gelegenheit, ihre Texte öffentlich
vorzutragen.
Positionen | Projekte | Publikationen
Schickt Eure Texte in Sachsen-Anhalt bitte mit den
Angaben Name, Vorname, Anschrift, Alter/Klasse,
Schule an die
FBK-Kontaktstelle
van’t-Hoff-Str. 1
06237 Leuna
Fax: (03461) 809248
E-Mail: [email protected]
Web: www.fbk-lsa.de
An jedem 2. Mittwoch im Monat besteht ab 16.00
Uhr sogar die Möglichkeit, im Krokoseum der
Franckeschen Stiftungen zu Halle (06110 Halle,
Franckeplatz 1, Historisches Waisenhaus) mit Euren
Ideen oder Texten einen erfahrenen Schriftsteller zu
konsultieren.
Wir freuen uns auf Eure Einsendungen.
Jürgen Jankofsky
Friedrich-Bödecker-Kreis
in Sachsen-Anhalt e. V.
Maik Reichel
Landeszentrale für
politische Bildung
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Positionen | Projekte | Publikationen
Übersicht der nachfolgend besprochenen Bücher
Dimitar Atanasov/Jürgen Jankofsky/André Schinkel (Hrsg.): So wie
ich hier stehe. 28 Schriftsteller
aus Plovdiv, dr. ziethen verlag,
Oschersleben 2014
Walter Bauer: Die Stimme. Geschichte einer Liebe, Lilienfeld
Verlag, Düsseldorf 2014
Friedrich-Bödecker-Kreis in
Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.):
Von seltenen Vögeln und anderen Ungehorsamkeiten. Texte
schreibender Schüler zum Thema
„Reformation und Politik“,
dr. ziethen verlag, Oschersleben
2014
Friedrich-Bödecker-Kreis in
Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.):
Unser Salzlandkreis – Unterwegs
mit Tom und Sarah. Bernburg
(Saale) 2014
Friedrich-Bödecker-Kreis in
Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.):
oda – Ort der Augen (Ausgaben
1/2014 bis 4/2014), dr. ziethen
verlag, Oschersleben 2014
Jana Büttner/Ludwig Schumann
(Hrsg.): Ihr da! Einblicke und
Ausblicke – Texte aus dem und
in den Knast, Buchverlag für die
Frau, Leipzig 2014
Sebastian Caspar: ZONE C. KlakVerlag, Berlin 2014
Daniela Danz: V. Gedichte, Wallstein Verlag, Göttingen 2014
Rüdiger Fikentscher (Hrsg.): Lernkulturen in Europa. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
Jürgen Jankofsky: Ortungen IV.
Reisen und Ziele 2010 – 2014,
dr. ziethen verlag, Oschersleben
2014
Jürgen Jankofsky/Sonny Thet:
Anna und Sovanni - Eine
deutsch-kambodschanische
Geschichte. dorise-Verlag, Erfurt
2014
Jürgen Jankofsky (Hrsg.): ENTRÈE
ELYSÈE! Texte junger Autorinnen
und Autoren aus Sachsen Anhalt, dorise-Verlag, Erfurt, 2013
Jürgen Jankofsky/Eva Maria Kohl/
Diana Kokot (Hrsg.): Wenn die
Erde Worte hätte. Texte schreibender Schüler, dorise-Verlag,
Erfurt 2014
Jurij Koch: Oma Kata-Marka und
die Streithähne. Lychatz Verlag,
Leipzig 2014
Diana Kokot (Hrsg.): Ich sehe was,
was Du nicht siehst. Texte aus
der Grundschule HohenbergKrusemark, dorise-Verlag, Erfurt
2013
Christoph Kuhn: Im Gegenlicht.
Erzählungen, Verlag Typostudio
SchumacherGebler, Dresden
2014
Christoph Kuhn/Hans-Jörg Schönherr: 1986 | 1996 Sprüche aus
Asche. Mitteldeutscher Verlag,
Halle 2014
Cornelia Marks (Hrsg.): Traumland
Lauchistan. Hasenverlag, Halle
2014
Ernst Ottwalt: Ruhe und Ordnung.
Roman aus dem Leben einer nationalgesinnten Jugend, Hasenverlag, Halle 2014
Gunter Preuß: Dreie kommen
durch die Welt. Lychatz Verlag,
Leipzig 2014
Thomas Rackwitz: an der schwelle
zum harz. Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
Sabine Raczkowski/Gudrun Pilz/
André Schinkel (Hrsg.): Der
größte Regenbogen der Welt.
dorise-Verlag, Erfurt 2014
Renate Sattler (Hrsg.): Geschichten
aus der Salzblumenstadt. doriseVerlag, Erfurt 2013
Sylke Scheufler: Die Suche nach
dem Drachenring. Lychatz Verlag, Leipzig 2008/14
Positionen | Projekte | Publikationen
Sylke Scheufler: Gefangen in der
Eiswelt. Lychatz Verlag, Leipzig
2014
Ludwig Schumann: Wasserhautseele. Auch Liebesgedichte, BuchVerlag für die Frau, Berlin 2014
Mario Schneider: Die Frau des
schönen Mannes. Erzählungen,
Mitteldeutscher Verlag, Halle
2014
Simone Trieder/Lars Skowronski:
Zelle Nr. 18. Eine Geschichte von
Mut und Freundschaft, be.bra
verlag, Berlin 2014
| 105
Christoph Werner: Marie Marne
und das Tor zur Nacht. Osburg
Verlag, Hamburg 2014
Schulformübergreifende Lektüreempfehlungen
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V.
in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Luthergedenkstätten (Hrsg.)
Von seltenen Vögeln und anderen
Ungehorsamkeiten
Texte schreibender Schüler zum Thema „Reformation und
Politik“
dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014
ISBN 978-3-86289-076-7
Das Buch umfasst eine Textsammlung schreibender Schüler der
Schuljahrgänge 3/4 und 10 bis 12 aus vier unterschiedlichen Schulen Sachsen-Anhalts zum Themenjahr „Reformation und Politik“
innerhalb der Lutherdekade. Das unter Leitung des Friedrich-Bödecker-Kreises Sachsen-Anhalt initiierte Schreibprojekt, welches
von verschiedenen Künstlern unterstützt wurde, bietet Anregungen für die Auseinandersetzung mit dem Thema „Reformation und Politik“ im Unterricht.
Im Kapitel „Die im Dunkeln“ beschäftigen sich die Schüler mit der von Luther so dringend geforderten
Nächstenliebe und zeigen ihr tiefes Mitgefühl mit den Flüchtlingen, die eine gefahrvolle Reise über das
Mittelmeer auf sich nehmen. Sie beschreiben die Umstände der Überfahrt, reflektieren aber kaum die Ursachen der Flüchtlingswelle nach Europa.
Besonders die Arbeiten zum „Tischgespräch mit Luther“ zeugen vom weitreichenden politischen Interesse der Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse des LMG Wittenberg. In ihren Texten beziehen sie sich
auf aktuelle politische Probleme und erweitern die Tischrunde durch Einladungen an Wladimir Putin, Papst
Franziskus und weitere bedeutende Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Kritisch hinterfragen sie deren
Meinungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen und fordern Antworten auf drängende Fragen
unserer Zeit. Im Unterricht ließe sich in der gemeinsamen Arbeit mit Jugendlichen der „Gesprächskreis“
durchaus erweitern oder mit anderen Methoden, wie zum Beispiel kontroversen Debatten zu bestimmten
Themen, ausbauen.
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Positionen | Projekte | Publikationen
In der Auseinandersetzung mit dem Flugblatt „Hallo Ossis!“ ist zu diskutieren, ob der Einsatz dieses wütenden Pamphlets aus dem Jahr 2003 elf Jahre später noch Sinn macht oder ob den Jugendlichen damit eine
überholte Diskussion aufgezwungen wird. Gerade unter der jungen Generation, das zeigt zum Beispiel die
Allensbacher Repräsentativumfrage im Auftrag der „Hochschulinitiative Neue Bundesländer“ (2012), ist das
Thema „Ossi–Wessi“ schon sehr in den Hintergrund getreten. 74 Prozent der befragten jungen Leute fühlen
sich demnach als Deutsche. Zudem ist diese Schreibanregung vor dem Hintergrund der Förderung einer
gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mehr als fraglich.
Die veröffentlichten Texte zur Auseinandersetzung mit der DDR machen in der Mehrzahl betroffen. Gerade
hier darf man bezweifeln, dass dabei „unverstellte Sichten von Kindern und Jugendlichen“ (Klappentext)
wiedergegeben werden. Umso wichtiger ist deshalb ein sorgsamer und tiefgründiger Umgang mit der DDR.
Politiker als Traumberuf!? Die wenigen (!) veröffentlichten Texte sind als Briefe an die Eltern formuliert. Sie
sollen sich doch bitte keine Sorgen machen, wenn ihr Kind in die Politik zieht. Alles wird gut!
Die sehr fantasievollen Arbeiten von Grundschülern scheinen beim ersten Lesen das Thema zu verfehlen.
Doch lassen wir uns einmal von den Kindern an die Hand nehmen und tauchen mit ihnen in die Welt der
Märchen und Wunder ein, wird schnell klar, dass sie dieses Thema sehr wohl in ihren Geschichten berühren. Sie glauben an ihre Superkräfte, sie glauben daran, ihre Wünsche und Hoffnungen erfüllen zu können.
War dies nicht immer schon eine unabdingbare Voraussetzung für Veränderungen gewesen? Egal, ob man
sich gegen die Allmacht eines Papstes auflehnt, sich aus den Fesseln der Barbarei befreit oder es mit einer
Gruppe Übermächtiger aufnimmt, der Glaube an die Superkräfte vermag Unmögliches zu meistern. Doch
was sind diese „Zauberkräfte“? Der Glaube an sich selbst, Liebe und Verantwortung, Gottvertrauen oder
Nächstenliebe? Die Geschichten der Kinder bieten viele Anregungen, gemeinsam mit ihnen darauf eine
Antwort zu finden.
Zum besseren Leseverständnis wäre eine Altersangabe am jeweiligen Text wünschenswert, denn die gewählte Variante im Anhang des Buches erschließt sich nicht sofort.
(MF)
+++++
Jürgen Jankofsky/Eva Maria Kohl/Diana Kokot (Hrsg.)
Wenn die Erde Worte hätte. Texte schreibender
Schüler
dorise-Verlag, Erfurt 2014
ISBN: 978-3-942401-60-9
Was wären wir nur ohne unsere Sprache, ohne auch nur ein einziges Wort? Wir wären verloren! So stellt es auch Anna-Lena Schiemann in ihrem Text „Wenn die Erde Worte hätte“ heraus, der dem
diesjährigen Sammelband von Texten schreibender Schüler seinen Titel gab. Zum 28. Mal schon erscheint nun dieses Buch des
Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V., welches Kindertexte nach ausführlicher Begutachtung mehrerer Jurymitglieder auswählt und durch Veröffentlichung ihnen eine besondere
Positionen | Projekte | Publikationen
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Wertschätzung zukommen lässt. Die Texte stellen eine Auswahl der insgesamt 3900 eingesandten Texte
des Schreibwettbewerbs „Unzensiert und unfrisiert“ des Schuljahres 2012/13 dar, die in jeweils sehr unterschiedlichen Situationen entstanden sind: Einige Texte wurden in der Schule geschrieben und als Klassensatz von der Lehrperson eingesandt, andere entstanden in Projekten, AG’s oder auch zu Hause in der Freizeit.
Somit zeigt sich in jedem Jahr nicht nur eine Vielfalt an Themen, sondern auch an Textsorten. Über lyrische
Formen wie Gedichte, Rätsel, Nonsens-Reime und ABC-darien entstehen auch kleine Dialoge sowie epische
Texte sehr unterschiedlicher Länge des fantastischen, realistischen oder auch problemorientierten Genres.
Vor allem ältere SchülerInnen setzen sich häufig mit Problemen von Natur und Umwelt, Liebe, Neid, Leben
und Tod oder der Zukunft auseinander. Letztgenanntes Thema greifen beispielsweise Tim Kohlmann in seinem Text „Zukunft“ (S. 172) und Lisa Schulze in ihrem Text „Online“ (S .190) auf sehr unterschiedliche Art und
Weise auf. Während Tim auf nachdenkliche Weise über Wünsche, Träume, Hoffnungen und Mitbestimmung
sinniert, entsteht bei Lisa ein humoristisch anmutender Text über die unterschiedlichsten sozialen Netzwerke, die durch das World Wide Web entstanden sind. In einer immer hektischer werdenden Steigerung
im Verlauf des Textes wird jedoch auch die Schnelllebigkeit unserer modernen Gesellschaft sowie ein Nachdenken über die neue Smartphone-Generation, die satt im Hier und Jetzt das Leben über ein Zwischenmedium zu leben scheint. „Oh, mein Gott – was passiert jetzt in der Welt, wenn ich nicht online bin? Offline.“,
endet Lisas Text und lässt das Offline-Sein dem Tode nahe kommen.
Neben den Kindertexten, die nach verschiedenen Themenbereichen, wie Tiere, das Jahr, Fantasie, Gefühle
oder die Zeit geordnet wurden sind auch Texte, Porträts und Tagebucheinträge aus dem Euro-Camp 2013
sowie Texte der Landesschreibwerkstatt im Kiez Güntersberge zu lesen. Zudem illustrieren von Kindern angefertigte schwarz-weiße Holzschnitte die Texte, sodass es zu einer sehr ansehnlichen Buchfassung kommt,
welche die Kreativität und auch Mühen der SchreiberInnen in ansprechender Weise würdigt.
(NR)
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Positionen | Projekte | Publikationen
Lektüreempfehlungen für die Primarstufe
Schulschreiber in Sachsen-Anhalt
Seit vielen Jahren initiiert der Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. das Projekt „Schulschreiber
in Sachsen-Anhalt“. In Kooperation mit Grund- oder Sekundarschulen werden Kinder und Jugendliche
unterrichtsbegleitend an das kreative Schreiben und literarische Lernen herangeführt. Dafür kommt über
einen längeren Zeitraum eine AutorIn an die Schule und arbeitet sozusagen als „OberschulschreiberIn“
mit ausgewählten Kindern der Schule. Diese können im Dialog und Austausch mit der AutorIn neue Blickwinkel auf das Schreiben entwickeln, mit Sprache spielen lernen, Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein
beim eigenen Schreiben entwickeln und – im allerbesten Sinne – ihre eigene Schreibkompetenz entfalten.
Im Jahr 2013 fanden Schulschreiberprojekte an der Grundschule „An der Klosterwuhne“ Magdeburg, der
Sekundarschule „Maxim Gorki“ Schönebeck und natürlich auch an der Friedrich-Bödecker-Grundschule
Laucha statt. Die entstandenen Textsammlungen zu den einzelnen Projekten sollen hier kurz vorgestellt
werden. Sie dokumentieren nicht nur die geleistete Arbeit, sondern können als Lesebuch auch in Kindern
die Lust am Lesen und die Neugier auf eigene Schreiberfahrungen wecken.
Sabine Raczkowski/Gudrun Pilz/André Schinkel (Hrsg.)
Der größte Regenbogen der Welt
dorise-Verlag, Erfurt 2014
ISBN: 978-3-942401-68-5
Sabine Raczkowski wurde 1964 in Zerbst geboren. Nach einer
Ausbildung zur Tischlerin und einem Ingenieurstudium der Holztechnik in Dresden lebt sie als Schriftstellerin in Magdeburg. Sie
schreibt Krimis, Gedichte, Lieder, Prosa für Kinder und Erwachsene.
André Schinkel, geboren 1972 in Eilenburg (Sachsen), ist gelernter Rinderzüchter. Studiert hat er Germanistische Literaturwissenschaft und Prähistorische Archäologie. Im Moment lebt
und arbeitet er als Doktorand, Autor und Lektor in Halle und in
Bitterfeld-Wolfen. 1998 erhielt er den Georg-Kaiser-Förderpreis
des Landes Sachsen-Anhalt, 2006 den Joachim-Ringelnatz-Nachwuchspreis für Lyrik. Weitere Auszeichnungen folgten.
Gudrun Pilz ist Deutschlehrerin an der Grundschule „An der Klosterwuhne“ in Magdeburg. Sie führt das
Schulschreiberprojekt auch nach dessen offiziellem Ende an der Schule weiter.
Positionen | Projekte | Publikationen
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Dieses Büchlein ist als Gemeinschaftsprojekt der beiden Autoren und der Deutschlehrerin entstanden. Die
wöchentliche Schreibgruppe erhielt 14-tägig Besuch von André Schinkel oder Sabine Raczkowski. Die restlichen Treffen führte die Deutschlehrerin der Grundschule Gudrun Pilz durch. Die Vielfalt dieser offensichtlich anregungsreichen Atmosphäre findet sich in den Texten der beteiligten Zweit-, Dritt- und Viertklässler.
Diese schreiben über Realistisches und Fantastisches, Sachliches und Sprachspielerisches in Prosa- und Gedichtform. Es finden sich eigenartige Gestalten wie das Zirkus-Huhn und die Schmuggelmaus, neben großen Gefühlen und Nachdenklichkeiten über die Welt, die oft witzig und leichtfüßig daherkommend doch
ganz tiefe Gedanken offenbaren:
Eine Leseprobe:
Das laufende Handtuch
Aus einem Fenster sprang ein Handtuch. Es hatte die Faxen dicke. Es wollte nicht immer Pops abtrocknen. Als es
aus dem Fenster sprang und auf der Straße landete, rief es: „Hallo Welt, hier bin ich!“ Leider lag es am nächsten
Tag zerknorkelt in einer Mülltonne. „Buh!“, rief ein fast aufgegessener Pfannkuchen. „Du riechst so nach Popo!“
Da kam eine alte Jacke in die Mülltonne, die ein großes Loch in der Mitte hatte. Handtuch und Jacke wurden
Freunde. Das Handtuch stopfte das Loch in der Jacke und beide gingen auf Weltreise.
(Anny Talina Koch)
Renate Sattler (Hrsg.)
Geschichten aus der
Salzblumenstadt
dorise-Verlag, Erfurt 2013
ISBN: 978-3-942401-62-3
Renate Sattler wurde 1961 in Magdeburg geboren,
wo sie heute auch lebt. Nach ihrem Studium der
Angewandten Kulturwissenschaft in Meißen war
sie in Kulturpolitik und politischer Bildung tätig.
Seit 2007 ist sie freiberufliche Autorin und seit 2011
Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller – Landesverband Sachsen-Anhalt.
Elf Schülerinnen und Schüler der sechsten und siebenten Klassen der Sekundarschule „Maxim Gorki“ in
Schönebeck sind für das Ergebnis der vorliegenden Publikation verantwortlich, gemeinsam mit der Autorin
Renate Sattler und den Lehrkräften vor Ort. Als Entdeckungsreise wird das Schulschreiberprojekt beschrieben, und in der Tat scheint eine solche stattgefunden zu haben. Von Schulentdeckungen, Tieren und Hobbys
wird berichtet, den genauen Blick für das Wesentliche schulend artikuliert und dabei viel Persönliches verraten. Von der Heimat, ihren Schönheiten, aber auch ihren Gefahren wie zum Beispiel dem Elbehochwasser
des vorletzten Jahres, wird erzählt. Oft tritt hier das Unspektakuläre hervor, in überraschender Form, weil
in einem Kinderleben wichtig geworden; nun persönlich bedeutsam und unaustauschbar. Die Kraft des
Schreibens als Möglichkeit des Nachdenkens über sich selbst und die Welt wird dabei kultiviert.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Cornelia Marks (Hrsg.)
Traumland Lauchistan
Hasenverlag, Halle 2014
ISBN: 978-3-939468-89-9
Dr. Cornelia Marks, geboren 1969 in Erfurt, war Bibliothekarin, Zeitungsredakteurin und Deutschlehrerin. Nach einem Studium der Slawistik und Germanistischen Literaturwissenschaft, promovierte
sie an der MLU Halle bei Prof. Dr. Angela Richter
zum Thema „Poetik und Erkenntnis. Zur Schaffens­
evolution des serbischen Schriftstellers Miloš Crnjanski“. Seit 2007 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und Lektorin und als Dolmetscherin bei psychotherapeutischen Sitzungen im PSZ Halle. Ihr Werk umfasst eigene Texte und Nachdichtungen.
Die dritte Schulschreiber-Publikation zeigt sich im schönen Kleid und bereits in fast traditioneller Weise als
jährlicher Gruß aus dem süd-sachsen-anhaltinischen Laucha; hier zuerst einmal vorgestellt als Lauchistan,
das lässt ja schon Faszinierendes erwarten. In diesem Jahr war es Cornelia Marks, die mit 16 Schulschreibern
aus der vierten Klasse auf Erkundung ging, Sprache erprobte, spielte und philosophierte, artikulierte etc.
Das Ergebnis ist ein hübsches Büchlein, das viele Texte der Kinder vereint. Rezepte für Lieblingsessen und
wunderbare Tage, Träume, Nonsens, Briefe und vieles mehr findet sich hier. Doch auch die Bebilderung fällt
auf. Zeichnungen von Leonard Marks und Fotos ergänzen die Texte und erweitern die Lektüre. So lädt das
Buch zum Entdecken und Erkunden ein.
Zusammenfassung: Insgesamt zeigen die Schulschreiberbücher wieder einmal, wie produktiv Kinder unter
Anleitung professioneller Autorinnen und Autoren sein können. Die Bedeutung einer frühen literarischen
Bildung, die aber nicht im Geniekult verharrt, sondern zum Mit- und Selbermachen einlädt, ist sicherlich
nicht zu unterschätzen. Für Lehrerinnen und Lehrer bieten die Bücher zudem jede Menge Anregungen, wie
vergleichbare Projekte umzusetzen sind. Viele Ideen können übernommen werden und erleichtern den
Start.
(MR)
+++++
Diana Kokot (Hrsg.)
Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Texte aus der Grundschule Hohenberg-Krusemark
dorise-Verlag, Erfurt 2013
ISBN: 978-3-942401-61-6
„Ich sehe was, was du nicht siehst“, den Namen
des bekannten Kinderspiels wählte Diana Kokot
als Titel für die von ihr herausgegebene Anthologie mit Texten von Kindern aus der Grundschule in
Hohenberg-Krusemark.
Positionen | Projekte | Publikationen
| 111
Vielleicht auch deshalb, weil dieser Satz viel mit Phantasie zu tun hat, die uns Dinge sehen lässt, die andere nicht wahrnehmen. Diana Kokot hat die Phantasie von neun Kindern in wöchentlich stattfindenden
Schreibwerkstätten angeregt und nimmt uns mit auf eine beeindruckende Reise, in der wir Einblicke in das
Leben der Schülerinnen und Schüler erhalten, uns vorstellen, wie das Leben als Maus, als Apfel, als Baum
oder wahlweise als Junge oder Mädchen ist.
Am Anfang des Buches befindet sich ein Bild von der Berufung zu Schulschreibern, das gespannt werden
lässt, was diese Jungen und Mädchen, die stolz die Ernennungsurkunde vor der Brust halten, für Geschichten schreiben werden.
Die ersten Texte geben spannende Einblicke in das Leben der Kinder, sie berichten von den schönen und
nicht ganz so guten Seiten des Lebens und ihren größten Wünschen. Dabei geht es oft erstaunlich ernsthaft
zu, wenn Beziehungen zu Freunden, zur Familie oder auch zu Tieren thematisiert werden.
Im Verlauf des Buches werden die Texte immer phantastischer. Zu Beginn sind sie eher realistisch, wie AnnaLenas Erzählung über die Ferien im Zeltlager, Pauls Ausflug in den Heidepark oder verblüffend, wie Chris-Jeremys Text von einem vermeintlichen Pechtag, an dem der Hamster scheinbar gestorben ist und dann doch
wieder putzmunter wird – ein echter Glückstag. Phantastisch sind die von den Kindern erfundenen Tiere,
wie bspw. der Kobrawal von Karl-Friedrich, die Schlangenkatze von Johann oder der Walwurm von Liam.
Nicht nur die Texte, in denen ein Tag als Junge oder Mädchen beschrieben wird, halten manch heiteren Lesemoment parat. Lea resümiert: „Am nächsten Tag war ich zum Glück wieder ein Mädchen, aber mein Fuß
tat mir noch sehr weh vom vielen Fußballspielen“. Der spielerische Umgang der Kinder mit den Märchen
zeugt vom souveränen Umgang der Schulschreiber mit anderen Texten wie z. B. in dem Märchen von Lukas,
in dem sich der Apfel Jürgen unglücklich in Rapunzel verliebt, die allerdings schon mit dem Frosch liiert ist.
Aber auch lyrische Formen wie „Rappelzappel-Gedichte“ finden hier ihren Platz „Es war einmal ein Traum,
der hing an einem Baum. Und wer ihn pflückt, der wird verrückt.“ (Irmrun).
Viele Fotos vermitteln einen Einblick in die Schreibwerkstätten und von der Freude, die den Kindern das
Schreiben bereitet. Die von Irene Lepps stammenden Illustrationen bereichern das Buch und treten in ein
vergnügliches Wechselspiel zu den Kindertexten.
Hier liegt ein Buch vor, das zu lesen Spaß macht, dabei dem Witz und der Leichtigkeit, aber auch der Ernsthaftigkeit und Reife in den Texten nachzuspüren, und das Lust macht, selbst zu schreiben, am besten gemeinsam. Der erste Satz könnte lauten: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“
Diana Kokot, geboren 1955, studierte Journalistik, arbeitete u. a. als Lokalredakteurin und Pressesprecherin und ist seit 2003 freiberufliche Autorin, Journalistin und Herausgeberin verschiedener Anthologien. In
der Altmark ansässig, schreibt sie Lyrik, Erzählungen, Krimis und Texte für Kinder. Bekannt ist sie auch für
ihre Schreibwerkstätten und Kreativprojekte im schulischen und außerschulischen Raum. Engagiert ist sie
zudem in den Landesvorständen des Friedrich-Bödecker-Kreises und des Fördervereins der Schriftsteller in
Sachsen-Anhalt.
(SZ)
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Positionen | Projekte | Publikationen
Jürgen Jankofsky/Sonny Thet
Anna und Sovanni – Eine deutsch-kambodschanische Geschichte
dorise-Verlag, Erfurt 2014
ISBN: 978-3-942401-70
Jürgen Jankofsky, seit vielen Jahren als Autor für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bekannt, Geschäftsführer des FriedrichBödecker-Kreises Sachsen-Anhalt und auch dessen stellvertretender Bundesvorsitzender, setzt auch 2014 die Reihe seiner
„Anna-Geschichten“ fort; war es 2009 die Freundschaft mit dem
tunesischen Jungen Achmed, so folgten 2011 das deutsch-armenische Kinderbuch „Anna und Armen“ und 2012 „Anna und Amo“
als Geschichte einer deutsch-ghanaischen Freundschaft. Mit
„Anna und Sovanni. Eine deutsch-kambodschanische Geschichte“ nimmt er dieses Mal seine Leser mit auf die Reise nach Südostasien. Wie auch bei den anderen Anna-Büchern gibt es neben
Jankofsky einen weiteren Autor, hier ist es Sonny Thet, kambodschanischer Musiker, Cellist, der 1969 vom
Prinzen Sihanouk nach Weimar zum Musikstudium geschickt wurde. Nach erfolgreichem Abschluss an der
dortigen Hochschule für Musik gründete er 1971 zusammen mit Christoph Theusner die bekannte Gruppe
Bayon. Sonny Thet ist vor allem dafür bekannt, dass er Elemente der Khmer Pentatonik mit Jazz, Klassik und
Pop gekonnt verbindet, was ihn weit über die deutsche Landesgrenze hinaus berühmt machte. Der Autor
Sonny Thet erscheint in der Geschichte auch als Akteur, nämlich als Großvater Sovannis, der den Mitschülern von Anna die Kultur seines Heimatlandes nahe bringt und zum Verständnis fremder Völker beiträgt.
Was an diesem Buch – wie auch an den anderen Büchern dieser Reihe – zuerst ins Auge fällt, ist sein Layout:
es kann von beiden Seiten gelesen werden, einmal in deutscher Sprache und einmal in Khmer, der Sprache,
die in Kambodscha gesprochen wird. Und diese geheimnisvollen Schriftzeichen ziehen, zusammen mit den
leuchtenden Farben der Umschlaggestaltung, sofort den Betrachter in ihren Bann und laden zur Lektüre ein.
Die Fabel ist schnell erzählt: Der kambodschanische Junge Sovanni kommt als neuer Schüler in die Klasse
von Anna, die ihm offen und freundlich entgegentritt und alles über sein Herkunftsland Kambodscha wissen will.
Aber nicht alle Kinder nehmen Sovanni mit offenen Armen auf: einige von Annas Mitschülern rufen ihn
„Schlitzauge“ und begegnen ihm mit Ablehnung, was Annas Zorn hervorruft. Das ändert sich erst, als die
Klasse aufgefordert ist, ein Programm für das Schulfest einzustudieren, bei dem ein fremdes Land vorgestellt werden soll. Natürlich schlägt Anna Kambodscha vor und die Kinder erfahren im Laufe der Arbeit an
diesem Programm mehr und mehr über das südostasiatische Land, seine Geschichte, das Essen, Sitten und
Bräuche, Musik… von Sovannis Großvater, dem Musiker, in dem der Leser den Co-Autor der Geschichte, Sonny Thet erkennt und der hier seine eigene Geschichte erzählt. Und natürlich wirkt er mit seiner Musik im
Programm selbst mit und trägt so zum Gelingen und schließlich zur Erweiterung der kulturellen Erfahrungen aller Schülerinnen und Schüler der Schule von Anna bei.
Das Wissen um fremde Kulturen ist die Voraussetzung für Verständnis und Veränderung von Haltungen; um
dieses zu erreichen, sind Geschichten wie „Anna und Sovanni“ bestens geeignet.
(MM)
Positionen | Projekte | Publikationen
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Jurij Koch
Oma Kata-Marka und die Streithähne
Mit Bildern von Thomas Leibe
Lychatz Verlag, Leipzig 2014
ISBN 978-3-942929-73-8
Vor zwei Jahren taten sich erstmals ein beliebter Autor aus der
Lausitz und ein begnadeter Illustrator aus Halle zusammen und
gestalteten gemeinsam das Buch „Bauer Sauer und der Maulwurf Ulf“. Nun arbeiteten Sie gemeinsam am Buch „Oma KataMarka und die Streithähne“.
Es ist eine jener typischen Jurij-Koch-Geschichten, die aus dem
Leben erzählen. Da ist Oma Kata-Marka und sie hat einen Hühnerhof. Oma Kata-Marka hat eine Schar von Hühnern: rote, braune, schwarze, weiße und schwarz-weiße.
„Zu ihrer Schar gehört auch der Hahn Tobi. Tobi fühlte sich als
Hühnerkönig. Er war stark und stolz. In seinem rechten und linken Flügel glühten feuerrote Federn […] Auf dem Kopf trug Tobi einen Hahnenkamm wie alle Hähne und
Hennen. Manchmal ähnelte der Hahnenkamm einer rosaroten Mütze, die mal rechts, mal links auf dem
Kopf saß …“.
Aber eines Tages schlüpft aus einem Ei eines schwarz-weißen Huhnes der Hahn Paul. Hahn Paul mit dem
veilchenblauen Kamm und der Liebling aller Junghennen ist für Hahn Tobi ein Widersacher. Mit List und Tücke versucht jeder, der Hahn des Hühnerhofes zu werden. Bis eines Tages der Habicht Kralle den Hühnerhof
bedroht…
Die Geschichte ist eine sehr kurzweilige Erzählung, die mit Hilfe vielfältiger Verben (wälzen, schnappen,
jammern, schreien, barmen, …) und treffender Adjektive (verdächtig gefährlich, glühend feuerrot, schön und
geschickt, veilchenblau, …) die Helden zum Leben erweckt. Die Schriftgröße und Schriftart lädt auch Leseanfänger zum Lesen ein.
Die Bilder von Thomas Leibe spiegeln in hervorragender Weise die Inhalte der Erzählung wider. Große, über
das gesamte Buchformat gestaltete Bilder verdeutlichen die Emotionen der Helden des Buches. Hahn Tobi
mit seiner braunkarierten Weste und einer goldenen Taschenuhr, Hahn Paul mit drei großen blauen Sternen
und die flippige Oma, mal obenrum nur mit BH und mal im flotten Sportdress, sind besonders gut getroffen.
Aufgrund der farbigen Gestaltung der einzelnen Seiten, dem immer dunkler werdenden Hintergrund steigt
von Seite zu Seite die Spannung in der Geschichte.
Ein Buch, das Kinder nicht nur gern lesen, sondern sich auch mit Genuss anschauen werden.
(APW)
114 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Gunter Preuß
Dreie kommen durch die Welt
Mit Illustrationen von Thomas Leibe
Lychatz Verlag, Leipzig 2014
ISBN: 978-3-942929-07-3
„Da galoppieren drei Gestalten in wehenden Gespensterhemden
auf drei edlen Gäulen durch die Straßen.“ (S. 5) Was können sie in
dem kleinen Städtchen Ruhewohl nur suchen?
Sie haben gehört, dass hier die bezaubernde Bäckerstochter Ottilie Zahnlücke wohnt, die nicht nur gern isst, sondern auch gut
backen kann. Eine solche Frau wäre für die Gespenster gerade
richtig. Jeder will sie zur Frau haben. Doch zuvor gilt es, die holde
Jungfrau aus den Fängen des bösen Geistes Eduard vom Schwarzen Nebel befreien. Spornstreich schwingen sich die Gespenster
auf ihre Rösser und reiten los. Im Geisterwald bei der großen Eiche finden sie Schwarzer Nebel, der sich prompt in einen Drachen
verwandelt. Den können sie mit vereinten Kräften besiegen, doch als sich der böse Geist nun in einen Tiger
verwandelt, möchten sie am liebsten wegrennen. Dabei stellen die Drei fest, dass sie keine Füße haben. So
lachen sie über sich selbst und das ist etwas, das der böse Geist gar nicht ertragen kann. So verwandelt er
sich in eine Maus und wird prompt von dem gefräßigsten Gespenst verspeist. Ottilie ist nun befreit, doch sie
denkt nicht daran, die Gespenster zu küssen. Sie braucht etwas „Handfestes“ und heiratet den Fleischersjungen. Da schwingen sich die Gespenster erneut auf ihre Rösser und versuchen ihr Glück an einem anderen
Ort.
So merkwürdig wie märchenhaft wirkt die fantastische Geschichte von Gunter Preuß, die mit vielen Motiven
aus den klassischen Volksmärchen arbeitet. Vor allem die Zahl Drei wird immer wieder als formgebendes
Element für die Geschichte benutzt. Die drei Gespenster Hieb, Stich und Stoß besitzen jeweils drei besondere Eigenschaften, ebenso wie ihre drei Pferde. Hier knüpft Preuß an die Erzähltradition der Volksmärchen
an. Auch erinnert die Verwandlung des bösen Geistes in eine Maus stark an das Märchen vom Gestiefelten
Kater. So collagiert Preuß auf inhaltlicher, aber auch auf sprachlicher Ebene seinen Text aus verschiedenen
Referenztexten. Sprachlich bedient er sich zahlreicher Alliterationen, wie man bereits im eingangs zitierten
Satz lesen kann. Die Dreigliedrigkeit findet sich häufig in den Sätzen wieder, so „nuscheln, flüstern, schnauzen“ die Gespenster, oder sie „hauen, stechen, stoßen“. Kreativ arbeitet Preuß auch mit den Namen der
Orte oder Figuren, die immer sehr konkret auf bestimmte Eigenschaften verweisen und so märchentypisch
Charakteristika darstellen, wie z. B. das Städtchen Ruhewohl oder die Burg Gallenstein.
In den mal ganzseitigen, mal vignettenartig in den Text eingebundenen Illustrationen von Thomas Leibe
wird die Charakteristik der drei doch recht unterschiedlichen Gespenster besonders deutlich. Einer schmal
und dünn, mit gezwirbeltem Schnauzbart. Die anderen beiden eher grob, der eine muskelbepackt und der
zweite gefräßig mit besonders großem Mund. Dass die Drei dennoch ein gemeinsames Ganzes bilden zeigen die gleichen Haar- und grünen Hautfarben und die ähnlichen Gewänder. Mit viel Humor und übertriebenen Gesten wirken die Gespenster wie Karikaturen, die durch ihren spielerischen Charakter sehr gut mit
dem Text harmonieren.
So gelingt es Preuß und Leibe eine Geschichte zu schaffen, die als Text zwischen Texten auf sprachlicher,
bildnerischer und inhaltlicher Ebene mit seinen Elementen spielt, viel Witz durch Übertreibungen zeigt und
so zum Lesevergnügen wird.
Positionen | Projekte | Publikationen
| 115
Gunter Preuß, der heute bei Leipzig lebt, wurde 1940 geboren. Er lernte zunächst Fernmeldemechaniker
und studierte schließlich von 1970-74 am Leipziger Literaturinstitut “J. R. Becher”. Seitdem arbeitet er als
freischaffender Schriftsteller. Gunter Preuß schreibt in Prosa, Dramatik und Lyrik für Kinder, Jugendliche
und Erwachsene. Mit seinen Büchern für Kinder möchte er ihnen „die Augen für die Realwelt öffnen“ (Preuß,
Interview 1983) und ihnen Verantwortung im Umgang mit ihr geben, so beispielsweise in seinen Romanen
„Stein in meiner Faust“ und „Tschomolungma“. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, so erhielt
er 1986 den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste, 1999 den Brüder-Grimm-Preis und 2000 den
Gellert-Preis.
Der Illustrator Thomas Leibe wurde 1977 in Halle an der Saale geboren. Als Porträtkarikaturist zeichnete er
zunächst im Auftrag des Eulenspiegel, arbeitete mit Helge Schneider zusammen und illustrierte für die
Lokalpresse. Ob Anglerwitze für eine deutsche Angler-Fachzeitschrift oder Schweizer-Börsen-Magazin-Cartoons, vielfältig sind seine Arbeitsfelder. Seit 2010 illustriert er für den Lychatz Verlag Kinderbücher. Aktuell
lebt Thomas Leibe mit seiner Familie in Halle und arbeitet freiberuflich als Pressegrafiker und Journalist.
(AR)
+++++
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. in Zusammenarbeit mit dem Salzlandkreis und unterstützt durch die Stiftungen
der Salzlandsparkasse (Hrsg.)
Unser Salzlandkreis – Unterwegs mit Tom und
Sarah
Ein Sachbuch nicht nur für Grundschülerinnen und -schüler
Bernburg (Saale), 2014
Mit dem Sachbuch „Unser Salzlandkreis – Unterwegs mit Tom
und Sarah“ wird eine Übersicht über den Salzlandkreis vorgestellt, die spannend und unterhaltsam zugleich ist. Beim ersten
Kontakt mit dem von Heike Lichtenberg illustrierten Buch wird
man durch die farbige und kindgemäße Aufmachung zum Blättern angeregt. Man ertappt sich dabei, dass man schnell etwas
Interessantes findet und sich in die Texte, die Birgit Herkula beisteuert, vertieft.
Zunächst lockt den Leser eine Flaschenpostnachricht, die Tom an
der Elbe findet und die ein Junge namens Max geschrieben hat, der aus Bernburg nach Hamburg zieht, weil
seine Eltern dort eine neue Arbeit gefunden haben. Dieser ist traurig, dass er seine Heimat verlassen muss
und er wünscht sich, dass der Finder ihm über sich und seine Erlebnisse im großen Salzlandkreis schreibt.
Diese Nachricht begeistert Tom und seine Schwester und schon sind sie auf Tour. „Stellvertretend für ihre
Freunde und Mitschüler entdecken Tom und Sarah mit ihren Eltern und Großeltern den Salzlandkreis – ihre
Heimat“, heißt es im Vorwort auf S. 7. Fast zum Schluss des Buches findet der Leser einen Antwortbrief von
diesem Entdeckerteam an Max, indem in kindlicher Sprache die Inhalte und Anliegen des Buches zusammengefasst werden – ein schöner Rahmen.
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Positionen | Projekte | Publikationen
„Viel Wissenswertes findet sich in diesem Buch, das prallvoll mit historischen Geschichten und aktuellen
Informationen, mit Fotos und Grafiken, mit interessanten Beiträgen über bedeutende Ereignisse und gemeinsame Traditionen“ ist. Die Lesenden „erfahren […] etwas über Natur und Landschaft, Städte und Dörfer,
Geschichte und Gegenwart, Moderne und Tradition, Wirtschaft und Politik, Kunst und Kultur und vieles andere mehr […] und erhalten damit einen wunderbaren Einblick in die Vielfalt und Schönheit dieser Region“
(alles S. 7).
Das Redaktionsteam hat sich um eine klare Strukturierung bemüht und arbeitet mit immer wiederkehrenden Symbolen und Farben in einer Informationsspalte am Rande der Seiten. Dort stehen Tipps zum Nachmachen und für Erkundungen, Erklärungen zu Begriffen und vor allem Fragen, die die Kinder zum Weiterverarbeiten der Informationen sowie zu eigenen Schlussfolgerungen anregen. Sie werden motiviert, über
eigene Erlebnisse zu erzählen oder zu schreiben, sich in andere Personen hinein zu versetzen, Rezepte und
Experimente auszuprobieren oder eigene vorzustellen, Planungsarbeiten vorzunehmen und vieles mehr.
Man könnte sagen, es handelt sich auch um ein tolles „Mitmachbuch“, da es so handlungsorientiert und
phantasieanregend geschrieben ist.
Mehrere Verzeichnisse regen die Schülerinnen und Schüler zu gezieltem Nachschlagen und das farbige Kartenmaterial zum Orientieren in Sachsen-Anhalt und im Salzlandkreis an.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das vorliegende Sachbuch bestens für einen Einsatz, vor allem in
den Fächern Deutsch und Sachunterricht der Jahrgangsstufen 3 und 4 geeignet ist, sich die inhaltlichen und
prozessbezogenen Kompetenzen der Lehrpläne dieser Fächer damit leicht entwickeln lassen und auch das
differenzierte Arbeiten in verschiedenen Anforderungsbereichen mit dem Material möglich ist.
Im Vorwort zum Buch kann man lesen, dass alle Grundschulen des Salzlandkreises dieses Sachbuch erhalten sollen. Es wäre großartig, wenn sich viele Lehrkräfte von dem vorliegenden Material anstecken ließen,
es regelmäßig und fächerübergreifend in die Unterrichtsplanung einbezogen werden könnte oder es zum
Blättern den Schülerinnen und Schülern auch in den Pausen zur Verfügung stehen würde. Eventuell ergeben sich Exkursionen für den Unterricht und Anregungen für die Freizeitgestaltung in den Familien und es
gelingt, wie im Vorwort des Buches beschrieben, „… neben der Wissensvermittlung auch dazu beizutragen,
diese Region und ihre Einwohner zu verbinden.“
Es muss noch gesagt werden, dass dieses Buch nicht nur Leserinnen und Leser des Salzlandkreises anspricht,
denn auch mich hat es interessiert und fasziniert. Ich war erstaunt, was es in meinem Nachbarkreis so alles
zu erkunden gibt, und sicher werde ich den einen oder anderen Ausflug unternehmen.
Vielleicht machen es andere Kreise in Sachsen-Anhalt nach und es wird auch da so ein tolles „Heimatbuch“
geschrieben. Oder es entsteht eine Fortsetzung im Internet, die auf S. 117 im vorliegenden Buch angesprochen wird.
Die Bücher gibt es kostenlos über die Bildungsakademie des Salzlandkreises am Standort Aschersleben,
Augustuspromenade 44; telefonisch zu erreichen unter 03473/9203-0.
Die Schulen werden ermuntert, sich einen Klassensatz zu sichern.
(IW)
Positionen | Projekte | Publikationen
| 117
Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufen
Dimitar Atanasov/Jürgen Jankofsky/André Schinkel (Hrsg.)
So wie ich hier stehe
28 Schriftsteller aus Plovdiv
dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014
ISBN 978-3-86289-089-7
Dass der Friedrich-Bödecker-Kreis Sachsen-Anhalt unter der Geschäftsführung von Jürgen Jankofsky nicht nur Autorenbegegnungen mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus unserem
Bundesland ermöglicht und fördert, sondern die Literatur auch
als Element des internationalen und damit interkulturellen Brückenbaus versteht, dürfte sich herumgesprochen haben. Zeugnis
von der Kontinuität dieses Engagements legt auch dieses Doppelbuch-Projekt ab, das die langjährigen deutsch-bulgarischen
Kontakte manifestiert: Vor nunmehr zwanzig Jahren wurde zwischen Sachsen-Anhalt und der bulgarischen Region Plovdiv ein
Protokoll zur umfassenden Zusammenarbeit unterzeichnet, das
auch dem kulturellen Austausch gebührenden Raum eröffnet; in Plovdiv selbst existiert seitdem sogar eine
Begegnungsstätte mit Sachsen-Anhalt. Gegenseitige Autorenbesuche gab es in der Vergangenheit zahlreich; Arbeitskontakte und Freundschaften sind daraus hervorgegangen. Die Industriestadt Plovdiv selbst
gilt als wichtiges Zentrum des literarischen Lebens in Bulgarien, zudem ausgestattet mit einer reichen Verlagslandschaft.
Nun also präsentieren sich auf 190 Seiten im handlichen Hardcover lyrische und Prosatexte von 28 bulgarischen Autoren erstmals auf Deutsch, um die kommunikative Grundfunktion von Literatur wahrzunehmen,
die von den Herausgebern im Vorwort so beschrieben wird: „Wer sich mit Literatur befasst, ist auf ein Gegenüber aus und bereit, sich zu verständigen.“
Leider fehlen im bulgarischen Kanon die jungen Stimmen; es dominieren die heute 50- bis 70-Jährigen; eine
einzige Autorin unterschreitet mit dem Geburtsjahrgang 1971 diese Generationsgrenze. Den Texten indes
tut das erfreulicherweise keinen Abbruch; sie kommen in einer überwiegend frischen Sprache daher, was
zweifellos auch den Übersetzungen geschuldet ist, für die namhafte Autorinnen und Autoren unseres Bundeslandes verantwortlich zeichnen: Juliane Blech, Christine Hoba, Simone Trieder, Margarete Wein, Wilhelm
Bartsch, Christian Kreis, Werner Makowski oder André Schinkel, um nur einige zu nennen.
In den kurzen Prosatexten ist manches zu erfahren vom Leben im heutigen Bulgarien, so etwa in „Kerekin“
von Velitschka Nastradinova oder in Stefan Bonevs „Kapitäne“. Die lyrischen Stimmen sind – wie in einer
Anthologie nicht anders zu erwarten – vielfältig und variantenreich, eingebunden in strenges Versmaß und
Reime oder in freien Rhythmen daherkommend. Die inhaltliche Palette reicht vom schlichten Liebesgedicht
(„Nicht das Ende der Liebe schmerzt. / Doch dass es mir nicht weh tut, tut weh.“ – Sofia Nestorova, S. 89) bis
zum programmatischen Bekenntnis: „Ich bin dazu verurteilt fortzuschwimmen. / Diese Verse sollen in den
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Positionen | Projekte | Publikationen
Ohren donnern / Der Planetenbürger – und sie sollen / Instrumente sein
im kosmischen Orchester“, heißt es etwa in Minko Tanevs „Der Gong“ (S.
94, Nachdichtung: Wilhelm Bartsch). Für den Literaturunterricht zweifellos
eine Fundgrube, die natürlich zunächst die wache, aber lohnende Lektüre
erfordert.
Im Gegenzug sind Texte von 35 Poeten und Schriftstellern aus Sachsen-Anhalt – von Wilhelm Bartsch und Dirk Bierbaß über Birgit Herkula und Diana
Kokot bis zu Peter Winzer und Uli Wittstock (und darunter auch einige so
um die 30) – auf Bulgarisch erschienen und künden nun in der Partnerregion vom reichen literarischen Leben in Sachsen-Anhalt. Ein schöner Brückenschlag, der in den Interlese-Veranstaltungen des Friedrich-BödeckerKreises seine jährlichen Fortsetzungen finden wird.
(PDB)
+++++
Walter Bauer
Die Stimme. Geschichte einer Liebe
Mit einem Nachwort von Jürgen Jankofsky.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2014
ISBN 978-3-940357-43-4
Geboren wurde Walter Bauer 1904 als Arbeiterkind in Merseburg.
Nach einer Ausbildung zum Lehrer zunächst arbeitslos, Gelegenheitsarbeiten als Zeitungskorrespondent und Volksschullehrer.
1930, als sein berühmtestes Buch, „Stimme aus dem Leunawerk“
erscheint, lebt Bauer in Halle. Kann trotz anfänglichem Schreibverbot in der Nazizeit Romane, Gedichte, Kinderbücher und Lebensbilder berühmter Persönlichkeiten publizieren. Wird 1940
eingezogen, aus der Kriegsgefangenschaft 1946 nach München
entlassen. Unzufrieden mit den deutschen Nachkriegsverhältnissen wandert er 1952 nach Kanada aus, nimmt als fast 50-Jähriger
ein Studium auf und unterrichtet ab 1959 bis zu seinem Tod 1976
an der Universität Toronto deutsche Sprache und Literatur. Sein
Werk umfasst über 80 Bücher.
Das schmale, schön editierte kleine Büchlein erzählt über 90 Seiten lang die Geschichte eines Mannes, der in der Nachkriegszeit von Deutschland nach Kanada auswandert,
um hier ein neues Leben zu beginnen. Doch das ist zunächst reduziert auf ein kleines Zimmerchen in der
Großstadt, aus dem er morgens zur Arbeit in der Fabrik aufbricht und in das er abends zurückkehrt, um zu
lesen und zu schlafen. Zu seinen Nachbarn und Kollegen hat er nur flüchtigen Kontakt. Er ist aus jedem Zusammenhang herausgenommen, ohne im Zusammenhang mit etwas zu leben […], auf einer schmalen Scheide
zwischen zwei Kontinenten und so zwischen Vergangenheit und Zukunft; vielleicht auch zwischen zwei Mühlsteinen.“
Positionen | Projekte | Publikationen
| 119
So beschreibt der Ich-Erzähler, der unverkennbare Züge von Walter Bauer selbst aufweist, das Gefühl eines
Einwanderers, der ohne das Netz leben muss, das seinen möglichen Fall auffängt: Wer hier fällt, stürzt bis
zum Grunde. Das ist 1961 geschrieben, aber höchst aktuell: Es ist nicht nur der Akzent, der den Tschechen,
Polen, Jugoslawen, Esten verrät; es ist die Unruhe in ihnen, die Heimatlosigkeit. Als Deutscher, der als Wehrmachtssoldat selbst in die Barbarei hineingepresst war, fühlt sich der Erzähler noch einsamer als andere
Einwanderer. Aus dieser Situation erlöst ihn die Liebe zu einer kanadischen Schauspielerin, die er in der
Bibliothek kennenlernt und die englischsprachige Dichter auf Schallplatten spricht. Ihre Stimme bricht den
Panzer der Isolierung auf und eröffnet ihm den Zugang zum neuen Kontinent: ihre Stimme war Leben, geöffnet nun von den in Versen atmenden Stimmen der Dichter. Und mir schien, als hörte ich zum ersten Mal Englisch, es war von tiefer, mächtiger, subtiler Schönheit. Damit füllt sich ihm auch die neue Sprache mit neuer
Bedeutung, das Wörterbuch wird ihm plötzlich zum Buch des Lebens.
Der Ich-Erzähler erzählt seine Geschichte einem deutschen Austauschstudenten, der ihn in Kanada besucht.
Dieser formale Kunstgriff schafft einmal historische Distanz zum Erlebten, zum anderen Raum für Erinnerungen und lebensphilosophische Reflexionen. Dass der Angesprochene in der Erzählung nicht das Wort
erhält, sondern der Text formal ein Monolog des älteren Mannes bleibt, lädt dazu ein, ihn in der unterrichtlichen Auseinandersetzung aufzubrechen, etwa indem die Schüler sich in die Perspektive des Austauschstudenten versetzen und Fragen an den Erzähler formulieren. Ansatzpunkte dafür liefert sowohl die Liebesgeschichte als auch die Migrationserzählung.
Es ist gut, dass der Verlag und Jankofsky den Text aus dem Dunkel der Literaturgeschichte ausgegraben haben und dass er jetzt greifbar ist.
(ES)
+++++
Jana Büttner/Ludwig Schumann (Hrsg.)
Ihr da! Einblicke und Ausblicke – Texte aus dem
und in den Knast
Eine besondere Anthologie
BuchVerlag für die Frau, Leipzig 2014
ISBN 978-3-89798-470-7
Eine besondere Anthologie (wie der Untertitel besagt) ist dies
zweifellos. Eine, deren Texte nicht allein nach ästhetischen Maßstäben zu bewerten sind, denn der Elfenbeinturm dieser Dichter
hat vergitterte Fenster und fest verschlossene Türen. Die hier versammelten Texte dienen durchweg der Kommunikation: mit dem,
der drinnen ist, mit dem da draußen und – nicht zuletzt – mit sich
selbst. Dass dies nicht heimlich im Kassiber, sondern öffentlich
auf literarische Weise geschieht, also durch eine absichtsvoll artifiziell geformte und genutzte Sprache, ist Verfremdung (nichts
weniger als Alltagskommunikation nämlich) und Annäherung
(im Ausdruck des ansonsten Unsagbaren) zugleich in Bezug auf einen Erfahrungsraum, der den meisten
Menschen zeitlebens erspart bleibt: Straffälligkeit, Verurteilung, Knast. Dieses spannende Aufeinander-zu-
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Positionen | Projekte | Publikationen
schreiben derer, die einsitzen, und derer, die außen vor sind, darf nach der Lektüre als durchweg gelungen
gewertet werden. Die drinnen – das sind Strafgefangene ganz unterschiedlicher Generationen; jüngere aus
der Justizvollzugsanstalt Raßnitz im Saalekreis, ältere aus der JVA Burg im Jerichower Land. Sie haben zweifellos viel Zeit dort – zum Grübeln, zum sich Langweilen oder eben auch zum Schreiben. In beiden Anstalten
gibt es Schreibwerkstätten; die für die Anthologie ausgewählten Texte legen Zeugnis davon ab, was diese
Form des schreibenden Nachdenkens über sich selbst ganz offensichtlich für die Betroffenen bedeutet. Der
Leser erfährt keine Hintergründe – weder das Alter noch die begangenen Straftaten oder die gefällten Urteile spielen eine Rolle. Einzig der Mensch selbst tritt aus den ganz unterschiedlichen Texten – Lyrik, Kurzprosa, Reflexionen oder szenische Skizzen – hervor, die mitunter in ihrer drastischen Offenheit schockieren, da
sie weder den Verfasser noch den Leser schonen. „Mein Tod wird meine Erlösung. / Es war eure Falschheit,
/ die sie rief: / Meine schwarze Seele“, endet Andy Rockenschuhs lyrischer Text „Rasierklingen – Poesie“
(S. 93ff). In seinem die Anthologie beschließenden eher essayistischen Text „Integrieren oder Ausstoßen?“
wird derselbe Rockenschuh dann mögliche Perspektiven nicht nur andeuten, sondern einfordern: „Wir sehnen uns danach, eine zweite Chance zu erhalten, um zeigen zu können, dass dieses Leben hier drin, das
Nachdenken über die Tat uns verändert hat. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir möchten
unsere Zukunft wieder gestalten. Deshalb will ich es noch mal laut und deutlich sagen: Auch wir gehören
zu unserer Gesellschaft.“ (S. 201)
Kommunikationspartner von außen sind – neben Autorinnen und Autoren unseres Landes wie Sabine Raczkowski, Jana Büttner, Helmut Bürger oder Ludwig Schumann – Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen
9 bis 11 aus der Magdeburger IGS „Willy Brandt“ sowie der Sekundarschule „Hinrich Brunsberg“ Tangermünde. Die Jugendlichen reflektieren in ihren fiktionalen Texten Alltagssituationen und Verhaltensweisen, die
strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Häufig in der Ich-Form verfasst, vermitteln diese
Texte noch in der subjektiven Verteidigungshaltung die Erkenntnis ihrer Figuren, für ihr Handeln selbst verantwortlich zu sein. Häufig ist Alkohol im Spiel, Frust, Wut und Gewalt. Doch es bleibt der Funken Hoffnung,
dass es nach Verbüßung der Strafe einen Neuanfang geben werde. Hier begegnen sich die Texte und Sichten
derer, die draußen sind, mit denen da drinnen.
Die vom Friedrich-Bödecker-Kreis und der Landeszentrale für politische Bildung geförderte Anthologie,
der einzig die winzige Schrift anzukreiden wäre, sollte unbedingt Eingang in den Unterricht finden. Der
Ethikunterricht oder der Wahlpflichtkurs Rechtskunde finden hier unverbrauchtes Material, das emotionale
Zugangsmöglichkeiten zu schwierigen Themen wie Verbrechen und Gesetz, Schuld und Sühne, Strafe und
Neuanfang ermöglicht. Auch wenn es zweifellos nicht ganz einfach ist, dürfte es lohnend sein, diese Angebote zu erproben.
(PDB)
Positionen | Projekte | Publikationen
| 121
Sebastian Caspar
ZONE C
Klak-Verlag, Berlin 2014
ISBN 978-3-943767-23-0
Die Herstellung von Amphetaminen, zu denen auch das Rauschmittel Crystal Meth gehört, hat weltweit zugenommen, so kann
man es u. a. dem Weltdrogenbericht der Vereinten Nationen
entnehmen. Auch in Deutschland ist die Zahl der Konsumenten
rasant angestiegen, in einigen Regionen Deutschlands ist der
Konsum von Crystal Meth besonders hoch: in jenen Ländern, die
in der Grenzregion zu Tschechien liegen. Dort wird die Modedroge in kleinen Laboren billig hergestellt und dann für wenig Geld
nach Deutschland gebracht. Sachsen gehört zu diesen Ländern,
Sachsen-Anhalt, Thüringen sowie Bayern. Ein Gramm Crystal kostet zwischen 60 und 80 Euro, verglichen mit illegalen Rauschmitteln ist das günstig. Die Wirkung und der Preis – das ist eine fatale Kombination, so der Notfallmediziner und Chefarzt Hendrik Liedtke am Krankenhaus St. Elisabeth und
St. Barbara Halle im Interview in der Mitteldeutschen Zeitung vom 14.11.2014. Ebenfalls in diesem Artikel
wird bekräftigt, dass die Konsumenten zu jeder sozialen Gesellschaftsschicht gehören, es somit keine Droge für Loser und Aussteiger ist. Das künstlich hergestellte Amphetamin macht euphorisch, führt zu einem
gesteigerten Rede- und Bewegungsdrang, zu einem erhöhten Sexualverhalten, es stört den Schlaf- und
Wachrhythmus; der Konsum kann auch aggressiv und gewalttätig machen. Methamphetamine schluckten
bereits deutsche Soldaten in den 1930er und 1940er Jahren. Als Pervitin hatten diese Tabletten zwar eine
deutlich geringere Wirkstoffkombination als heute, doch sie unterdrückten das Angstgefühl und machten
die Soldaten skrupelloser und leistungsfähiger. Die Herstellung synthetischer Drogen hat auch ein populäres filmisches Vorbild: in der amerikanischen Fernsehserie „Breaking Bad“ wird jemand aus Geldnot zum
Drogenhersteller, ohne vorher ein krummes Ding gedreht zu haben.
Crystal Meth bereitet den Suchtforschern zunehmend Sorge. Gefährlich ist vor allem die psychische Abhängigkeit: Crystal kann zu Hirnschäden, Angstzuständen und Psychosen führen. Erst mit zunehmendem Konsum zeigen sich die körperlichen Folgen der Abhängigkeit. Im Internet gibt es viele Berichte über die Droge
und die Abhängigkeit. Dabei liest man immer wieder, dass sich die Experten über die wirksame Prävention
uneins sind. Für die einen sind abschreckende Bilder verstörend, andere sprechen auf Informationsbroschüren an und wieder andere lassen sich vielleicht von glaubhaft wirkenden Romanen beeinflussen. Da für die
meisten Jugendlichen der Drogenkonsum in der Schulzeit beginnt, ist der von Sebastian Caspar geschriebene Roman für den Einsatz im Unterricht der Oberstufe zu empfehlen. Er nimmt den Leser mit in die Welt
eines Drogenabhängigen, in dessen falsches Gefühl vom Glücklich sein, erzählt von der Einsamkeit und des
immer stärkeren Abstumpfens eines Menschen, dessen Leben immer weiter durch Crystal zerstört wird.
Bereits die Gestaltung des Covers weist auf‘s Thema hin: farblose Kristalle, etwas größer als Salz.
Der Autor stammt aus Weißenfels, jobbte mehrere Jahre in Australien, Indonesien und China, jetzt lebt er in
Leipzig, ist als Sozialarbeiter tätig. In „Zone C“ schildert er auf 153 Seiten das Leben des 19-jährigen CrystalAbhängigen Sten. Der Protagonist und Ich-Erzähler lebt mit seiner depressiven Mutter – der Vater hat beide
verlassen, um mit einer anderen Frau in Asien ein neues Leben zu beginnen – in einer nicht näher beschriebenen recht tristen Kleinstadt im Osten Deutschlands. „Ja, diese Stadt hängt in ihren letzten Atemzügen und
ich bin immer noch hier.“ (S. 15) Seinen Job hat er verloren. „Beim Nachsinnen über eine berufliche Zukunft, die
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Positionen | Projekte | Publikationen
ja angeblich sogar Spaß machen kann, herrscht gähnende Leere in meinem Kopf… Ach, warum bin ich nicht
irgendwo im Dreck geboren? Wäre das ein Segen. Am Tag zwanzig Kilometer zu einer Wasserstelle laufen zu
müssen, bringt einen bestimmt auf andere Gedanken. Ich komme mir immer öfter so überflüssig vor…“ (S. 19).
Sein Opa, den er mochte, ist gestorben. Seine Freundin Asic, die mit ihm gemeinsam Crystal konsumiert hat,
trennt sich von ihm, geht zum Studium in den Westen und entkommt damit vermutlich dem Drogensumpf.
„Ich weiß, dass ich es nicht schaffe loszukommen. Loszukommen von dem ganzen Scheiß, doch ich wünsche es
mir für Asic…, dass Asic heil aus der Nummer rauskommt.“ (S. 47) Sten vermisst Asic sehr und er hat seither
mehr oder weniger bedeutungslosen Sex. „Auf C ist man nicht fähig zu lieben. Auf C ist man roh, ungeschliffen, ohne aufgesetztes und erlerntes Rollenverhalten, so missbraucht man sich und das Gegenüber. Man ist
allein, an schlimmen Tagen sogar so sehr, dass man spürt, sich selbst verlassen zu haben.“ (S. 28)
Sten fühlt sich mit all den Dingen überfordert, er droht an der Wirklichkeit zu zerbrechen und entkommt
dem Alltag, indem er Drogen konsumiert. Doch diese Erlösung ist nur kurzfristig und die vernichtende Abhängigkeit nimmt weiter zu, Line um Line. Seinen Stoff bezieht er von Kumar. Dessen Freundin Lousenne
beschafft sich ihre Drogen im Asylantenheim, bezahlt diese mit ihrem Körper. Einzig mit seinem Freund
Monti verbringt er unbeschwerte Zeiten, doch auch das ist trügerisch.
Die Sprache des Romans ist direkt, teilweise drastisch, so wie die Sprache des Milieus. Aber sie ist auch
poetisch: „Ich wende mich zu dieser traurigen Frau und betrachte ihr Kind, eine Unschuld, welche mit blauen
Augen hoch in den Kosmos blickt.“ (S. 17) Über diesen interessanten Schreibstil gelingt es dem Autor, dass der
Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten Sten eintauchen und mitfühlen kann.
Es ist kein Buch, das ausschließlich auf die Gefahren durch Drogenmissbrauch hinweist, sondern es ist eher
das Porträt einer verzweifelten und hoffnungslosen Jugend, die trotz aller Möglichkeiten ohne Perspektive
ist. Es fordert den Leser dazu auf, sich Gedanken zu machen, beispielsweise darüber, welche Gründe es für
Sucht gibt, wie gut Eltern sich um die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern, ob es mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter im schulischen Umfeld geben müsste und Fragen nach der Verantwortung von
Politik und Gesellschaft für die Zukunft der nachfolgende(n) Generation(en) zu stellen, aber natürlich auch
nach der Verantwortung jedes Einzelnen für das eigene Leben und die eigene Zukunft.
(SG)
Positionen | Projekte | Publikationen
| 123
Daniela Danz
V. Gedichte
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
ISBN 978-3-8353-1377-4
Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren. Sie studierte
Kunstgeschichte und Deutsche Literatur unter anderem in Halle, wo sie in der Kunstgeschichte auch promovierte. Bisher veröffentlichte Daniela Danz, die als freie Autorin in Kranichfeld/
Thüringen lebt, Lyrik, Prosa und Essays. Seit 2013 ist sie zudem als
Leiterin des Schillerhauses in Rudolstadt tätig.
Das Vaterland ist obsolet geworden: Im Zeichen Europas und der
Globalisierung wird es ein zunehmend fremder Begriff, allenfalls
beim Absingen der Nationalhymne noch in den Mund genommen: blühe, deutsches Vaterland! Historisch belastet ist der Begriff außerdem, seitdem man für Führer, Volk und Vaterland gestorben ist. So dass selbst die gerade wiedererwachten Retter des
Abendlandes lieber auf das harmlos klingende Synonym patriotisch ausweichen.
Was also ist das Vaterland heute? Daniela Danz hatte den Mut, es zum Thema ihres dritten Gedichtbandes
zu machen, das sie im Titel mit dem Kürzel „V“ aufruft: ein spröder Titel, zumal für einen Gedichtband, so
spröde, wie uns Heutigen die Sache selbst; eine Art V-Effekt, der Distanz signalisiert. Genau so setzt das
erste Gedicht auch ein: DAS IST DAS LAND VON DEM MAN SAGT / dass alles hier aufhört und alles anfängt;
ein leeres Land, das die Dichterin morgens bekniet und abends verbellt. Von Liebe zu diesem Land ist da keine
Rede, und auch die Definition des Begriffs aus „Zedlers Universallexikon“, die Danz der folgenden Gedichtgruppe voranstellt, spricht nur distanziert davon: Man hälts insgemein dafür, daß dem Menschen von Natur
eine Liebe gegen sein Vaterland eingepflanzt sey, und daß in Krafft solcher Liebe er seinem Vaterlande, da ihm
zumahl die erste Lufft, Nahrung und Erziehung gegeben, mit gar besondern Pflichten verbunden sey.
principium ist diese erste Abteilung überschrieben, die in fünf kurzen Prosatexten den mythischen Ursprung
des Vaterlandes umkreisen. Am Anfang des Mythos stehen DIE HELDEN, die einander bekämpfen, würgen
und abschlachten, dann setzen die Männer Pfähle und legen so die Grenzen der lyrisch als wir auftretenden
Gemeinschaft fest, deren Raum damit DER KREIS ist: ein Raum ohne Dach, in dem es nach Winter riecht.
Auch wenn dann DIE EINZELNEN auftreten, wird er nicht heimeliger, denn sie kommen als Bedrohung der
Gemeinschaft, die in den BIENEN das Inbild der Einigkeit sieht. In DIE STELE, dem fünften Text, zerbricht diese
archaisch-mythische Gemeinschaft; just in dem Moment, da sie sich ein Erinnerungsmal setzen und auf der
Stele ihren Grundspruch eimeißeln will, entsteht Streit: Wir begannen, die Häuser voreinander zu verschießen. Es wurde nur noch wenig geredet.
Schwer und dumpf sind diese Bilder, wie die Pfähle, mit denen sich die mythische Gemeinschaft ihren Anfang und ihre Grenzen setzte. Die folgenden Gedichte, meist freie Verse oder odenhafte Strophen, springen
in die Gegenwart, in den Raum zwischen Leißling und Weißenfels oder ins ehemalige Sperrgebiet bei Eisenach – patria heißt dieser Teil des Bandes, wo es um Deutschland geht, das, im Gegensatz zur mythischen
Vorzeit, genauere Grenzen hat, dessen Hügel und Almen wie abgeschliffen und gefaltet sind. Im Gedicht
HIER erscheint es im Bild eines alten sterbenden Mannes, dessen Atem die Zeit in kurze Stücke brach, vor
dem wir dürftig stehen und nichts von uns was bis hinüber reichte. Wenn Danz Deutschland sagt, hat sie
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Positionen | Projekte | Publikationen
immer auch den Brandgeruch der Erinnerung in der Nase: Wie geht erinnern ohne zu vergessen, das muss
jede Generation wieder lernen, in deren Namen das Gedicht „WIR LEBEN. WIR SIND FÜR ALLES.“ spricht und
in dem sich auf Deutschlands Leichtigkeit die Bilder der Erinnerung wie Ruß legen. Von außen besehen aber,
für Flüchtlinge, die staatenlosen Schneebienen mit einer riesigen Gier / auf alles Süße, ist Deutschland DER
GUTE STAAT.
Mit ihnen, für die das Bild der Dohle stehen mag, die im dritten Teil des Bandes angesprochen wird, begibt
sich die Dichterin im dritten Teil des Bandes, überschrieben mit limen, auf eine Reise, über die Grenzen hinweg, nach einem neuen Vaterland. Um in cunabula, der letzten Gedichtgruppe, anzukommen in der Heimat
(denn das ist die Übersetzung des lateinischen Wortes) und am Ende auszublicken auf eine Landschaft, die
sie nach dem halleschen Stadtteil FROHE ZUKUNFT benannt hat; eine Landschaft; umgrenzt / vom fassbaren
Glück des Gewöhnlichen, aber offen wie ein Fenster. Und um schließlich zu loben den Staat, in dem ich den
Ort zu leben wählen kann.
Wie schon in pontus, ihrem vorherigen Band, handelt es sich auch in V letztlich um politische Lyrik; teilweise
mit ganz direkten politischen Bezügen. Das kommt nicht platt-plakativ daher, sondern reflexiv- intellektuell, in ungewohnten, zum Teil schwer nachvollziehbaren Bildern. So werden Schüler auch der Sek II sie wohl
kaum auf ihre Lebenswirklichkeit übertragen können. Am ehesten vielleicht in einem kurzen Text aus der
Abteilung patria, der eine Quintessenz des Bandes sein könnte. In ihm wird das Bild der Linde aus dem romantischen Volkslied von Wilhelm Müller Am Brunnen vor dem Tore aufs Heute transponiert, als LOOP (so
wird in der Musikbranche ein oft wiederverwendetes Muster bezeichnet). Für die als STUNDE NULL evozierte Gegenwart ist es eine Art Abschiedslied vom Vaterland – nicht wehmütig wie das Original, sondern eher
heiter-ironisch. Da lohnt der Gedichtvergleich!
STUNDE NULL.: LOOP
Die Linde hat all ihre Blätter verloren
Und vom Sommer blieb nichts als
Der Wunsch dem alten Deutschland
Noch einmal den Kopf zu kraulen
Und zu versprechen dass seine Enkel
Sich besser erinnern werden – was nützt
Ein Gedicht wo die anwachsenden
Berge der Dinge zum Jodeln zwingen
(ES)
Positionen | Projekte | Publikationen
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Rüdiger Fikentscher (Hrsg.)
Lernkulturen in Europa
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
ISBN 978-3-95462-312-9
Es ist bereits der zehnte, der Jubiläumsband also der von Rüdiger
Fikentscher im Mitteldeutschen Verlag herausgegebenen Reihe
„Kulturen in Europa“, der sich mit der „eigentlichen Herausforderung des 21. Jahrhunderts“ (so der Text auf dem Einband) befasst,
mit der Bildungsgesellschaft in ihrer heutigen Vielfalt und ihrer
historischen Dimension. Das Dutzend Aufsätze namhafter Autorinnen und Autoren (darunter zahlreiche Vertreter der halleschen
Universität wie Ursula Rabe-Kleberg, Reinhard Kreckel, Thomas
Müller-Bahlke oder Altbischof Axel Noack) widmet sich herausgehobenen Aspekten der europäischen Bildungsgeschichte und
gibt auf den rund 200 Seiten der handlichen Broschüre einen informativen Überblick, der natürlich nicht auf Vollständigkeit angelegt sein kann, wohl aber wesentliche
Epochen (wie die griechische und römische Antike, das Mittelalter oder den aufklärerischen Aufbruch des
18. Jahrhunderts) und inhaltliche Leitlinien in knapper Form vorstellt. So erfährt man etwa, dass im Gymnasion der griechischen Polis vor allem der körperliche Wettstreit und eine unerbittliche Konkurrenz im Mittelpunkt standen, die die Bildungsstätten als „eine Mischung von preußischer Kadettenanstalt, Kinder- und
Jugendsportschule der DDR und moderner Oberschule mit musischer Ausrichtung“ (S. 19) vorstellbar machen. Oder dass die Frage „Sind Frauen studierfähig?“ noch im Jahr 1895 höchst ernsthaft untersucht und
diskutiert wurde (S. 146ff). Mal richtet sich der Fokus auf ausgesprochen regionale bzw. lokale Aspekte wie
etwa den Realienunterricht an der pietistischen Lehranstalt August Hermann Franckes oder das von Basedow begründete Dessauer Philantropinum; andererseits wird dabei stets nach der Brücke in unsere Gegenwart gesucht, und der Blick über unseren abendländischen Tellerrand ist durch die Beschäftigung mit jüdischer (S. 85ff), islamischer (S. 114ff) oder arabischer (S. 184ff) Lernkultur ebenfalls garantiert. Einziges Manko
aus meiner Sicht ist die fehlende Betrachtung aktueller skandinavischer Lernkulturen, die dem allgemeinen
Verständnis nach Maßstäbe setzen hinsichtlich einer vom Sozialstatus oder dem Geschlecht unabhängigen Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen (nur bei Rabe-Kleberg findet sich ein diesbezüglicher
Hinweis). Spannend auch die aktuelle pädagogogische Diskussionen aufgreifende Auseinandersetzung von
Ingo Juchler mit PISA und der – seiner Auffassung nach – einseitigen Ausrichtung „schulischer Bildungsbemühungen an ökonomischen Nützlichkeitserwägungen …, die das Leitmotiv pädagogischen Handelns in
der Demokratie, die Erziehung zur Mündigkeit, zu konterkarieren droht“ (S. 179). Sicher, man wird nicht jede
in der Anthologie geäußerte Meinung teilen; anregend sind sie allemal.
Auch wenn es in Sachsen-Anhalt den in anderen Bundesländern angebotenen gymnasialen Wahlkurs zur
„Pädagogik“ leider nicht gibt, eignet sich das schmale Büchlein doch in hervorragender Weise als Studienmaterial der gymnasialen Oberstufe für die Wahlkurse „Psychologie“ oder „Philosophie“ ebenso wie
für Lehrinhalte der Fächer Geschichte, Ethik, Sozialkunde, Griechisch oder Latein – ganz abgesehen davon,
dass man von der unterhaltsamen Lektüre keinesfalls dümmer werden kann… Und auch Lehrkräften, die
mehr über das Woher und Wohin ihrer eigenen Profession erfahren wollen, seien die informativen Aufsätze
wärmstens empfohlen.
(PDB)
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Jürgen Jankofsky
Ortungen IV. Reisen und Ziele 2010 – 2014
dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014
ISBN 978-3-86289-075-0
Die römische IV im Titel verweist darauf, dass Jankofsky (geb. 1953) nicht
erst am Übergang ins siebente Lebensjahrzehnt zum Globetrotter geworden ist; Rezensionen seiner zuvor erschienenen Ortungs-Bände
finden sich auch in früheren Lesefutter-Ausgaben. Und natürlich bleibt
sich der Autor auch im vierten Band treu: Wer touristische Reisebeschreibungen erwartet, ist hier (weitgehend) fehl am Platze. Zwischen
Tagebuchnotiz, analogem Blog und literarischem Essay changiert der
mäandernde Textfluss, um mal kaskadenhaft über die Tage hinwegzuspringen, mal aufgestaut zu werden zu einem verbreiterten, vertieften
Eintauchen in die subjektiv gebrochene Wirklichkeit, die allein – so wird
ein gewisser Samuel Johnson (es bleibt offen, ob es sich um den großen britischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts handelt?) einleitend zum
Sinn des Reisens zitiert – „unsere Fantasien … zu korrigieren“ vermag: „Statt uns die Welt vorzustellen, wie
sie sein könnte, sehen wir sie, wie sie wirklich ist“. Dieser Anspruch treibt ganz offensichtlich auch Jankofsky
um, den nicht die exotische Hochglanzoberfläche interessiert, sondern der Blick hinter diese Kulissen. Der
fällt besonders spannend dort aus, wo der Normalo wie du und ich eher nicht seine Zeit verbringen (würde): Armenien, Georgien, Berg-Karabach, die (so der Nachrichten-O-Ton) abtrünnige Kaukasus-Region etwa,
oder die nach eigenem Verständnis letzte Sowjetrepublik Transnistrien, wo Jankofskys Beobachtungen aus
dem Jahr 2013 bereits die Ukraine-Krise ahnen lassen, aber auch Mittel- und Südamerika, wo der Blick weniger dem weißen Palmenstrand gilt, sondern eher der Kriminalität, der Armut, der Arbeit und dem Schmutz.
Viele der Reisen haben bei Jankofsky ohnehin einen literarischen, ja einen kulturpolitischen Hintergrund:
Der Landesgeschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises ist seit Jahrzehnten bemüht, internationale Autorenkontakte zu knüpfen und zu pflegen, was in Zeiten klammer Kassen (man lese die ernüchternden Zeilen auf S. 89) zweifellos eine wahre und nicht immer von Erfolg gekrönte Sisyphusaufgabe ist. Doch da wir
seit Albert Camus wissen, dass wir uns den unermüdlichen Steineroller als glücklichen Menschen vorstellen
dürfen, kann wohl auch Jankofsky gar nicht anders als gerade im scheinbaren Nichts- und Niemandsland
literarische Brücken zu bauen, so fragil und gefährdet sie auch sein mögen.
Und selbst Regionen, die in der Tourismusbranche einen guten Klang haben wie Sri Lanka oder die Malediven, werden historisch wie politisch reflektiert, sodass sich die Schilderungen der Landschaft und der Leute
immer wieder mischen mit gut recherchierten Informationen zu den Hintergründen und Zusammenhängen. Für einen ambitionierten Geografie- und/oder Geschichtsunterricht stellt Jankofskys Buch damit eine
Fundgrube dar, wenn auch keine ganz leicht zu erschließende – ein Inhaltsverzeichnis fehlt (aus Prinzip?)
ebenso wie ein Orts-, Personen- oder Schlagwortregister. Das macht die Lektüre selbst zu einer spannenden
und entdeckungsreichen Reise, was wiederum den Deutschunterricht bereichern kann, offenbart das Buch
doch auch die Vielfalt der Möglichkeiten, mit Sprache zu arbeiten und dabei die Präzision des Ausdrucks
keinesfalls der künstlerischen Poesie opfern zu müssen. Ich bin sicher, dass in einigen Jahren Jankofskys
Ortungen mit der römischen Fünf da fortsetzen, wo dieses Buch nach gut 140 unterhaltsamen Seiten endet.
(PDB)
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| 127
Jürgen Jankofsky (Hrsg.)
ENTRÉE ELYSÉE! Texte junger
Autorinnen und Autoren aus
Sachsen Anhalt
dorise-Verlag, Erfurt 2013
ISBN: 978-3-942401-63-0
„Entrée Elysée!“ lautete das Thema eines
Schreibaufrufes vom Friedrich-BödeckerKreis Sachsen-Anhalt e. V. anlässlich des
50. Jahrestages der Unterzeichnung des
deutsch-französischen
Freundschaftsvertrages im Jahr 2013. In Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg wurden für die
vorliegende Anthologie 26 deutsche und acht französische Texte ausgewählt, in denen sich individuelle
Erfahrungen junger Leute mit der französischen Kultur und Geschichte widerspiegeln. Ohne Form- und
Genre-Vorgabe stellen die Texte vom Elfchen bis zum mehrseitigen Erlebnisbericht ein eindrückliches
Zeugnis von unvoreingenommener Begegnung mit der benachbarten Kultur dar. Die jungen Autor/-innen
nähern sich ihren Themen auf sehr individuelle und kreative Weise: Freundschaft, Verliebtsein, Sinn- und
Identitätssuche, Begegnungen, Landschaftsimpressionen, Sehnsucht, aber auch die Schrecken des Krieges
werden in Texten und Gedichten beschrieben. Freundschaften haben keine Grenzen, auch keine Ländergrenzen, Sprachgrenzen oder Kulturgrenzen, so bilanziert Pauline optimistisch, die beim Schüleraustausch
eine Freundin fürs Leben gewonnen hat. In ‚Le mouton‘ – das Schaf – wird die ‚wundervolle melodische‘
Sprache gerühmt und in den acht französischen Beiträgen eindrücklich gezeigt, wie sich damit experimentieren lässt. Im ‚Deutsch-Französischen Elfchen‘ greifen Neuntklässler/-innen stabile deutsch-französische
Klischees auf; während eine andere Autorin auf wenigen Zeilen gekonnt ein atmosphärisches Bild einer
Begegnung von de Gaulle und Adenauer entwirft, bei der sich politische Konflikte in privaten Ressentiments
entladen. Im Bericht über ihre Seminarfahrt ‚Terres, Hommes et Mémoires‘ beschreibt Laura auch historische Stationen, die den unfassbaren Schrecken des Krieges offenbaren: Mont Valerian mit Exekutionsstelle für Widerständler und Abschiedsbriefen der Opfer, Verdun und das Gebeinehaus von Douaumont. Der
Bericht berührt durch die bemüht sachliche Beschreibung, die durch die Verwendung weniger Adjektive
gebrochen wird. Die 15-jährige Franka aus Gräfenhainichen überrascht in ihrem Text ‚La Deutsche, der Francis et der Voleur‘ mit der Vermischung beider Sprachen. Sie kombiniert deutsche und französische Wörter
und ermöglicht darüber auch Lesern ohne französische Sprachkenntnisse, in ihrer Geschichte den Dieb zu
finden. Wenn Pauline schreibt, dass ‚Welten und Grenzen durchbrochen werden können, denn der Mut etwas zu tun, ist die Brücke. Des amis sont comme: Freunde sind wie Sterne‘, bleibt der Leser voller Hoffnung
zurück, dass das, was auf politischer Ebene auch nach 50 Jahren Elysée-Vertrag konflikthaft bleibt, Jugendlichen beider Länder über Austausch und Kommunikation gelingen möge.
Jürgen Jankofsky arbeitet seit Jahren für und mit Kindern. Das Werk des in Leuna lebenden Schriftstellers
(Jahrgang 1953) umfasst viele Bücher für Kinder, aber auch Bücher, die er mit Kindern gemeinsam erarbeitet und/oder für sie zusammengestellt hat. Seit 2000 ist er Geschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises
Sachsen-Anhalt e. V. und seit 2006 stellvertretender Vorsitzender der Bundesvereinigung der Friedrich-Bödecker-Kreise. Außerdem ist er Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und in der Europäischen
Autorenvereinigung KOGGE.
(SK)
128 |
Positionen | Projekte | Publikationen
Christoph Kuhn
Im Gegenlicht. Erzählungen
Verlag Typostudio SchumacherGebler, Dresden 2014
ISBN 978-3-941209-29-9
Der Autor Christoph Kuhn sammelte seine ersten Schreiberfahrungen in Dresden. 1951 in der Elbmetropole geboren schloss sich
der gelernte Augenoptiker einem „Zirkel schreibender Arbeiter“
an. Während der Zeit seiner beruflichen Tätigkeit an den Augenkliniken in Dresden und Halle trat er in zwei Foto-Lyrik-Ausstellungen bereits als Lyriker an die Öffentlichkeit. Zwischen 1984
und 1987 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut
Leipzig und engagierte sich bis 1989 in kirchlichen ökologischen
Arbeitsgruppen in Dresden und Halle. Seit 1989 arbeitet Christoph Kuhn als freier Autor. Er lebt in Halle, wo er 1995 auch Stadtschreiber war. Seine Erinnerungen an das Leben in der DDR und
die Friedliche Revolution bilden den Hintergrund zu den Themen,
die der Autor in unterschiedlichen literarischen Formen aufgreift. 2014 erschien in der Dresdener edition
petit dieser neue Erzählband.
„Gewinnen, kann Verlieren sein, Verlieren Gewinnen“ stellt der Dresdner Fotograf Bernhard fest, der mit seinen Bildern von den Ereignissen des Herbstes 1989 in der Fremde großen Erfolg hatte, doch den Verlust der
Heimat nicht verwinden konnte. Der Rückgewinn der Heimat wiederum ging einher mit dem Verlust seiner
sicheren Existenz. Nun wird auch die Industrieruine, in der er sich eingerichtet hatte, gesprengt.
Die Erfahrung der engen Verflochtenheit von Gewinn und Verlust vereint alle Protagonisten in Christoph
Kuhns themenreichem Erzählband „Im Gegenlicht“. Sie leben in einer bequemen, modernen und geordneten Welt, deren Kehrseite sich mehr und mehr ins Bewusstsein drängt. Manchmal geschieht dies durch
äußere Anstöße, wie im Falle eines seltsamen Handy-Diebes, der den übereifrig Telefonierenden die Regeln
zwischenmenschlicher Kommunikation ins Gewissen ruft, manchmal verselbstständigen sich die von den
Figuren selbst in Gang gesetzten Entwicklungen, wie im Fall des Musikers Jan, der doch eigentlich nur seiner
Freundin zu einer ruhigen Nacht verhelfen wollte.
Christoph Kuhn bleibt in seinen Erzählungen oft nah an seinen Figuren, lässt uns das Geschehen um sie her
mit ihrem Blick wahrnehmen, wie in der Geschichte um die Baumschützerin Lea, mit der wir das Ringen um
den Erhalt der Rotbuche am Bauplatz der Dresdner Waldschlösschenbrücke miterleben. Gerade die dichte,
sachliche und schnörkellose Sprache der Erzählungen lässt dabei eindringliche Bilder entstehen. Selbst die
fiktive Reflexion eines Computers über sein wachsendes Selbst-Bewusstsein oder der stumme Rachefeldzug der Pflanzenwelt eines Hausgartens – zwei erzählerische Miniaturen – wirken so erstaunlich realistisch.
Wo sich Alltagsszenerie und fiktives Geschehen gleichnishaft durchdringen, wie in der Auftakterzählung
„Der Besuch“, bietet sich breiter Spielraum für Interpretationen, die zur Diskussion herausfordern. Wie absurd Gewinn und Verlust ineinander verwoben sein können offenbart jedoch vor allem die Titelerzählung
„Im Gegenlicht“. Hier muss der Protagonist dem Verlust seines Lebens entgegensehen und gewinnt es fast
gleichzeitig für die verbleibende Zeit in höchster Intensität zurück. Die plötzliche Nähe des Todes macht
ihm das Glück deutlich, zu leben. Der Erzählband ist mit schwungvollen Pinselzeichnungen von Andreas
Hegewald, die ganz eigene Akzente setzen, sehr angenehm gestaltet. Er bietet dem an aktuellen Lesestoffen interessierten Deutschunterricht sowohl Möglichkeiten zu interessanten literarischen Diskussionen als
auch Anregungen für textproduktive Verfahren. Insbesondere die Kürze der Texte lädt dazu ein, im Rahmen
des Unterrichts mit ihnen umzugehen.
(AA)
Positionen | Projekte | Publikationen
| 129
Hans-Jörg Schönherr/Christoph Kuhn
1986 | 1996 Sprüche aus Asche
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
ISBN 978-3-95462-333-4
Achtung – dies ist kein Bild-Text-Band
im herkömmlichen Sinne! Hier eröffnen
sich vielmehr durch Wort und Bild unterschiedliche, gleichwohl verwandte Perspektiven auf eine Gesellschaft und ihr
Selbstverständnis, zu dem wir alle beitragen: durch Erinnerungen, durch Er- und
Verklärungen, durch Hin- wie Wegschauen, durch selbstkritische Reflexion oder
selbstherrliche Ignoranz. Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt und die Landeszentrale für politische Bildung haben die Herausgabe dieses
aufschlussreichen Buches dankenswerterweise unterstützt, was – aus schulischer Perspektive – eigentlich
schon die Richtung vorgibt: Hier erfolgt politische Sozialkunde am konkreten Beispiel, was sowohl die pointierten, mitunter an Reiner Kunzes entlarvende Prosa der 1970er Jahre erinnernden Texte von Christoph
Kuhn als auch die für sich sprechenden Fotografien betrifft. Durchgängiges Prinzip der Fotos des 1950 in
Dresden geborenen Hans-Jörg Schönherr ist der 10-Jahres-Vergleich von Lokalitäten im mitteldeutschen
Raum, wobei das zwischen den Aufnahmen liegende Jahrzehnt die friedliche Revolution von 1989, das Ende
der DDR, die deutsche Einheit von 1990 und den damit verbundenen grundlegenden gesellschaftlichen
Wandel beinhaltet: Abbruch, Aufbruch und Umbruch im persönlichen wie im politischen Leben. Bewusst
ausgespart in diesen Bildern wird der dem Wandel unterworfene Mensch – hier sind es allein die Orte und
vor allem die ihnen eingeschriebenen Botschaften, seien es Parteilosungen oder Werbeslogans, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zum jeweiligen Kontext so entlarvend wirken, dass es keiner zusätzlichen
Verbalisierung bedarf. Für diese Ironie einen Blick, der die Wahrnehmung schärft und die Kritikfähigkeit, zu
entwickeln sollte ein guter Ansatz für den Unterricht sein!
Christoph Kuhn, 1951 ebenfalls in Dresden geboren, lebt seit langem als freier Autor in Halle. Es ist durchaus
nicht kalauernd gemeint, wenn ich sage, dass sein ursprünglicher Beruf als Augenoptiker der Genauigkeit
seines Blicks zugutekommen dürfte. Kuhns Texte gehören jedenfalls seit Längerem zum profiliertesten, was
die Literatur unseres Bundeslandes zur eigenen jüngeren Geschichte beizutragen hat. Seine Zusammenarbeit mit dem Fotografen Schönherr reicht übrigens bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück.
Diese „Sprüche aus Asche“ siedelt der Autor zwischen alltagsbezogener Lakonie („Kreuzwort“, „Der Abreißkalender“ oder „Deckname Sommer“) und fast philosophischer Reflexion („Vom Dunklen ins Licht?“ oder
„Die Notwendigkeit der Erinnerung“) an. „Es ist nötig, sich zu erinnern – nicht nur an Ereignisse und Fakten, sondern auch an die damit verbundenen Gefühle“, schreibt Kuhn programmatisch, an Faulkners „Das
Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ erinnernd oder an Heines Erkenntnis, der heutige
Tag sei ein Resultat des gestrigen. Die Lektüre und Betrachtung dieses wichtigen Buches bietet dafür die
Möglichkeit und offenbart zudem (man lese aufmerksam den Text „Die Notwendigkeit der Erinnerung“ ab
S. 81) Erkenntnisse, aus welchen Quellen sich Politikverdrossenheit, Argwohn gegenüber den etablierten
Medien und Zulauf für Pegida heute speisen. Und wenn Kuhn dort vor einer Zukunftsangst, die sich mit
Geschichtsvergessenheit verbindet, warnt, so ist dies von höchster Aktualität und Brisanz, denn „Jugendli-
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Positionen | Projekte | Publikationen
che wissen erschreckend wenig von jüngster Zeitgeschichte“, weiß der Autor, der häufig und gern zu Gast
in Schulen ist, aus eigener Erfahrung. Dieses Buch könnte zu einer Verbesserung dieser unbefriedigenden
Situation beitragen, gerade weil es einen über das Faktische hinausgehenden Zugang zur Thematik ermöglicht. Insofern wünscht man sich eine Fortsetzung dieser Publikation im Dezennienschritt, um – quasi als
literarisch-fotografische Langzeitstudie – Entwicklungen sichtbar zu machen, die bei aller zeitgeschichtlichen Dimension einer gewissen Komik oft nicht entbehren.
(PDB)
+++++
Ernst Ottwalt
Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben einer
nationalgesinnten Jugend
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Eger
Hasenverlag, Halle 2014
ISBN 978-3-945377-03-1
Ernst Ottwalt, geboren 1901, kommt 1916 als Gymnasiast nach
Halle, wo er als Mitglied des Freikorps an den Märzkämpfen teilnimmt. Danach wendet er sich dem Marxismus zu und wird in
Berlin zum linken Autor und Publizisten, Zusammenarbeit u. a.
mit Bertolt Brecht. 1933 geht Ottwald ins Exil, zunächst in Dänemark und Prag, später in Moskau, wo er 1936 verhaftet wird und
1943 in einem stalinistischen Straflager stirbt.
Durch und durch autobiografisch ist dieser Roman über einen
Gymnasiasten, der, um der Schule zu entgehen und sich wichtig
zu fühlen, im März 1919 dem Freikorps Halle beitritt. Denn die
„Latjer“ (Ottwalt übernimmt hier den halleschen Ausdruck) beherrschen die Straße, was dem Bürgersohn
Angst macht, vielleicht nur vor der feindlichen Leere, die hinter dem Begriff Revolution droht. Dass wir z. B. in
einigen Tagen keinen Kaiser mehr haben werden – das ist ihm, als bekäme man plötzlich keine Luft mehr. So
wartet er zusammen mit anderen Pennälern, Studenten und jungen Angestellten im Fabrikviertel Halles
darauf, Heldentaten zu vollbringen, ist dort aber zunächst weit ab vom Schuss und verbringt die meiste Zeit
mit Faulenzen, Karten spielen und Saufen. Als die Lage sich beruhigt, lässt er sich vom Freikorps als Spitzel
anwerben, der die Vorbereitung der nächsten Arbeiteraufstände ausspionieren soll. Auch wenn er dabei
auf Kommunisten trifft, die sein bisheriges Weltbild in Frage stellen, kämpft er in den Märzunruhen noch
einmal gegen sie, für Ruhe und Ordnung.
Das alles wird aus der Ich-Perspektive des Gymnasiasten Ottwalt erzählt, der die des später zum Kommunisten gereiften Autors weitgehend außen vor lässt. So bleibt den Lesern der Versuch ideologischer Vereinnahmung und der politisch besserwisserischer Gestus so vieler kommunistischer Autoren erspart. Das 1929
erstmals erschienene Buch ist ein gut geschriebener Tatsachenroman, authentisch in der Darstellung einer
ganzen Generation Jugendlicher, die, im Kaiserreich sozialisiert, sich in den Unruhen der Zeit zunächst an
das Überkommene klammerte. Diese begrenzte Perspektive wird erst im letzten Kapitel des Romans aufgehoben, wenn der gereifte Erzähler am Ende der Weimarer Republik auf einen Freund aus seiner FreikorpsZeit trifft, der nun selbst Kinder militärisch drillt: für die Befreiung Deutschlands…
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Dass Ottwalt auch da nicht agitiert, sondern die Fakten und das Bild für sich sprechen lässt, empfiehlt diesen Roman bzw. Auszüge daraus nicht nur für den Deutsch-, sondern auch für den Geschichtsunterricht der
Sekundarstufe II. Für den sind neben dem Text selbst vor allem die Beigaben eine wahre Fundgrube. Denn
der Herausgeber Christian Eger hat ein fulminantes Nachwort geschrieben, das auf einer umfassenden,
auch bisher unbekannte Quellen einbeziehenden Recherche beruht. Über die Ästhetik Ottwalts und seine
berührende Biografie hinaus öffnet sich dem Leser das Spektrum der linken deutschen Literaturszene in den
1920er Jahren bis hin zum Schicksal deutscher Kommunisten, die dann nach Moskau emigrierten, um hier
darauf zu hoffen, dass sie vom ständig drohenden Zugriff des NKWD verschont bleiben. Eger hat die Darstellung dieser Situation vertieft und angereichert durch eine Fülle von Anmerkungen, die den Hintergrund
dieser bedrückenden Atmosphäre erhellen, in der Denunziation und Verrat nahe lagen. Dem fällt auch Ernst
Ottwalt zum Opfer: Wegen „Agitation gegen den Sowjetstaat“ wird er zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt,
stirbt aber bereits 1943 in einem Straflager bei Archangelsk; der genaue Ort, Zeitpunkt und Umstände bleiben unbekannt.
Ergänzt wird der Text außerdem durch Abbildungen und Dokumente: Fotos von Ernst Ottwalt und seiner Familie sowie den Kämpfen in Halle, zeitgenössische Rezensionen, Stimmen zum Roman und Briefe, die – nach
dem Tod des Autors – sein tragisches Schicksal kommentieren. Am treffendsten 1964 der Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz: Ottwalt sei im großen Kraftakt der Verdrängung unserer jüngsten Vergangenheit von der einen Seite vergessen, weil er einmal Kommunist war, und von der anderen Seite geflissentlich
totgeschwiegen, weil er zu jenen aufrechten Kommunisten gehörte, denen es bestimmt war, zu den Opfern
des Stalinismus zu werden.
Dass ausgerechnet der kleine hallesche Hasenverlag nicht nur den Text wieder zugänglich gemacht, sondern der Herausgeber Christian Eger ihn für uns heute gediegen kommentiert hat, ist eine editorische Großtat – für die nicht einmal öffentliche Fördergelder in Anspruch genommen wurden!
(ES)
+++++
Thomas Rackwitz
an der schwelle zum harz
gedichte
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
ISBN 978-3-95462-340-2
Der 1981 in Halle geborene und heute freiberuflich in Blankenburg
am Harz lebende Thomas Rackwitz gehört zu den profiliertesten
Lyrikern seiner Generation hierzulande. Davon zeugen nicht nur
Stipendien und Preise, auf die der auch als Übersetzer und Lektor
Tätige verweisen kann, sondern auch seine zuvor erschienenen
Gedichtbände „in halle schläft der hund beim pinkeln ein“ oder
„grenzland“ (beide 2009 – siehe auch „Lesefutter 2010“). Schon
als Jugendlicher wurde Rackwitz durch das engmaschige Netz
der Literaturförderung des Landes aufgefangen; was er diesen
Kontakten verdankt, kann man in dieser Lesefutterausgabe ab
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Positionen | Projekte | Publikationen
S. 98 nachlesen. Und auch die Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, um diesen neuen Gedichtband
an die Öffentlichkeit zu bringen.
Eröffnet wird er durch den bereits bekannten, fein geflochtenen Sonettenkranz auf seine Geburtsstadt, in
der ein Hund beim Pinkeln einschläft und die Henker zu den Arbeitslosen zählen – formal überzeugend,
sprachlich variabel und voller praller Bilder, die nicht nur den Ortskundigen erreichen dürften. In den folgenden Abschnitten des Gedichtbandes überwiegen freie Rhythmen; dazwischen finden sich Prosagedichte,
aber auch Sonette. Rackwitz beherrscht eine breite formale Palette, wobei gerade die scheinbaren verbalen
Stilbrüche durch Drastik wie Komik überzeugen.
Auch im titelgebenden, den Gedichtband beschließenden Zyklus „an der schwelle zum harz“ – und im Titelgedicht selbst – findet Rackwitz prägnante Bilder, die geradezu synästhetische Wahrnehmungen ermöglichen: „müdes licht das laub ist von schnee gezeichnet / in den dürren baumkronen harren raben / aus und
krächzen hämisch in der verbotnen / sprache der toten“ (S. 49), oder „der geruch vergangener osterfeuer
/ hing noch an den bäumen des abgelegnen / waldes es war frühling der nebel wirkte / trostlos veraltet“
(S. 69). Reimlos zwar, doch formal streng gekleidet in jeweils zwölf Zeilen und drei Strophen, schlagen diese
36 Texte den Bogen von Halle, von Korbetha, von der Saale hinüber zum Brocken, zur Walpurgis, nach Allrode oder Mägdesprung, um schließlich Sonneck zu erreichen, wo Rackwitz dank eines Stipendiums an den
Texten arbeiten konnte. Man kann diesen poetischen Flug also durchaus geografisch verorten, ohne sie der
inneren Landschaft zu berauben. Rackwitz selbst nennt diese Texte in seinem kurzen Nachwort „intuitive
Gedichte […], die sich im Rausch scheinbar wie von selbst geschrieben haben“ (S. 78). So wirken sie auch
beim Lesen: natürlich und ungekünstelt, unangestrengt, geschmackvoll im Sinne des Wortes. Die bedachtsame Sprachmelodie unterstützt die melancholische Grundstimmung der poetischen Bilder; ein „Anmutszeugnis“, wie der Dichter Rackwitz es selbst nennt – man kann sich dem schwerlich entziehen.
So empfehle ich diesen schmalen Gedichtband dringlich dem ambitionierten Literaturunterricht der oberen
Klassenstufen, zumal er neben der Qualität der Texte (die den Mitteldeutschen Verlag trotz des bei Lyrikpublikationen immanenten verlegerischen Risikos überzeugt haben) auch beredtes Zeugnis ablegt vom erfreulichen Entwicklungsweg eines durch Sachsen-Anhalts Literaturförderung entdeckten Talents, das nicht
zuletzt dank dieser Förderung längst zum überregional wahrgenommen Dichter gereift ist. Dass gerade
deshalb eine (vom Friedrich-Bödecker-Kreis gern unterstützte) Autorenbegegnung den Unterricht zusätzlich bereichern kann, liegt auf der Hand.
(PDB)
Positionen | Projekte | Publikationen
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Sylke Scheufler
Die Suche nach dem Drachenring
Lychatz Verlag, Leipzig 2008
ISBN 978-3-942929-71-4
Sylke Scheufler war schon als Kind eine Leseratte und fand frühzeitig Gefallen daran, Geschichten und Gedichte zu erfinden. Seit
1998 ist die gebürtige Wolgasterin als freiberufliche Autorin tätig. Zunächst schrieb sie vor allem Märchen und Kurzgeschichten für Kinder, die unter anderem in der Zeitschrift „Bussi Bär“
erschienen. Schärfste Kritiker waren ihre beiden Söhne, die sich
ansonsten aber mehr für Computer und Spielekonsolen interessierten als für ein gutes Buch, wie die Autorin berichtet.
2008 reagierte die Schriftstellerin darauf und schrieb mit dem direkten Blick auf ihre Söhne und gleichgesinnte Kinder ihren ersten Fantasyroman. „Die Suche nach dem Drachenring“ erschien
zunächst im Verlag Traumland und wurde 2014 im Lychatz Verlag
neu aufgelegt.
Phil Marten, der junge Held der Geschichte, ist in einer beneidenswerten Situation: Seine Eltern arbeiten
in der Abteilung Forschung und Entwicklung einer Firma, die Computerspiele herstellt. Die Spiele, die sie
konzipieren und umsetzen, darf er oft als erstes Kind testen, was ihm den Neid einiger Mitschüler einbringt.
Das ist sein Glück, denn nach einem verunglückten Selbsttest der Eltern mit einer neuen Spielegeneration,
in die man sich mittels Selbst-Digitalisierung hineinbegeben kann, kann nur noch ein Mitschüler helfen,
der auch einmal am Test teilnehmen wollte und unfreiwillig Zeuge des Verschwindens der Programmierer
wurde. Gemeinsam mit Phil reist er nun ebenfalls in die Welt des Spiels, um Phils Eltern zu finden und zurückzubringen.
Als geübte Computerspieler stellen sie kaum Fragen, sondern lassen sich bereitwillig von Aufgabe zu Aufgabe führen, um die Chance zu bekommen, Phils Eltern wiederzusehen. Während Phil seine Begabung sehr
schnell unter Beweis stellen kann, ist Leo der tapsige, furchtsame Begleiter, dessen Treue und Anhänglichkeit aber unentbehrlich für Phils Erfolg ist. Die Abenteuer der beiden Jungen in der Drachenringwelt gehören zu den Klassikern der Computerspiele. Autorennen, Monsterkämpfe und Drachenflüge erscheinen aber
dennoch ganz anders in der Vorstellung, dass die Protagonisten des Buches an ihnen beteiligt sind, denen
ja nur ein Leben zur Verfügung steht. Obgleich nicht mit Schleim, Monsterinsekten, giftigen Reptilien und
hinterlistigen Pflanzen gespart wird und sich die Jungen geheimnisvoller Verfolgung ausgesetzt sehen, enthält die Drachenringwelt doch auch behütende Elemente. Schutznetze sichern Helden und Spielfiguren,
einfühlsame Bewohner und engagierte Lehrer stehen an ihrer Seite und die Organisation der Schule, in der
sich die Besucher zu Kämpfern ausbilden lassen, legt großen Wert auf Wellness und leistungssteigernde
Verpflegung. Dass diese im Lauf des Geschehens durch Pizza und Pasta ersetzt wird, ist eine der augenzwinkernden Beigaben des Romans, dessen leichter, mit Wortspielereien durchsetzter Ton die Lektüre vergnüglich macht. „Alles in Butter“ beruhigt Leo, der Antiheld, seine Gastgeberin, als er vor lauter Angst vor der
nächsten Prüfung seine Teetasse in die Butterschüssel fallen ließ.
Neben fantasievollen Kreaturen wie Kugel-Schrei-Bären und Quacksen agieren zahlreiche Figuren, die wie
gute Bekannte erscheinen. Die Fahrlehrer Maik Heckerle und Timmy Reitkönig, der narbenübersäte Selbstverteidigungslehrer Heino Kinsky und die schöne Elisa Mai sind wie fast alle Figuren des Romans charakterlich festgelegt, lassen sich leicht einordnen und weichen kaum von ihrer „programmierten“ Rolle ab.
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Positionen | Projekte | Publikationen
Hintergründe zu ihrem Verhalten ergeben sich nur durch die Enthüllung einiger Beziehungen zwischen
ihnen am Ende der Geschichte. Dieses ist erreicht, als Phil mit seinen Eltern den Rückweg in die Wirklichkeit
antritt, obwohl sie erfahren haben, dass es dort Kräfte gibt, die sie für immer im Spiel eingeschlossen sehen
wollen und die technischen Möglichkeiten dazu inzwischen entwickelt haben. Zwischen den Welten endet
„Die Suche nach dem Drachenring“. So bleiben viele Fragen offen, durch die der Roman auf eine Fortsetzung
verweist, die mit „Gefangen in der Eiswelt“ 2014 erschien.
+++++
Sylke Scheufler
Gefangen in der Eiswelt
Lychatz Verlag, Leipzig 2014
ISBN 978-3-942929-72-1
Der zweite Band der Romanserie von Sylke Scheufler, in der die
programmierten Welten von Computerspielen zu realen Handlungsorten werden, legt an Tempo und Spannung gewaltig zu.
Dem dreizehnjährigen Phil und seinen Eltern ist es vorerst nicht
vergönnt, in ihr Leben zurückzukehren. Ihre Rückreise aus der
Welt des Drachenringspiels endet in kalter, düsterer Natur. Nur
langsam wird ihnen klar, dass sie – offensichtlich durch eine weitere Manipulation ihres unbekannten Feindes – in einem anderen Computerspiel gelandet sind, dessen Entwicklung vor einiger
Zeit gestoppt wurde. „Winterspaß“ wird zu einem Albtraum für
die Familie. Da eine Rückkehr aus der digitalen Welt an die Nutzung des jeweiligen Spiels gebunden ist, stehen die Chancen dafür sehr schlecht, denn es existiert nur ein Datenträger mit dem letzten Arbeitsstand im Tresor der Firma,
für die Phils Eltern tätig waren.
Andererseits wird das Spiel immer einmal wieder aktiviert, so dass sich die Anstrengungen der Protagonisten darauf richten, ihren Digitalisierer zur rechten Zeit startklar zu haben. Doch der wird ihnen bereits zu
Beginn der Geschichte entrissen, denn anders als in der Drachenringwelt sind ihre Gesichter in der Eiswelt
bereits bekannt. In der klimatisierten, doch sonst mittelalterlich wirkenden Kuppelstadt, in der die menschlichen Bewohner der Spielwelt hausen, wird mit ihren Porträts vor Eindringlingen gewarnt, deren einziges
Ziel es sei, die Eiswelt zu zerstören. Phil gelingt es trotzdem, seine kranke Mutter in einem Krankenhaus
unterzubringen, in dem auch der Vater bleibt, während er auf eigene Faust versucht, den Digitalisierer wiederzubekommen. Aberglaube, Korruption, Manipulation und Magie stehen ihm dabei im Wege.
Die eigentliche Computerspielhandlung wird im Gegensatz zur „Suche nach dem Drachenring“ hier zur
Nebensache. Phil muss sich Verbündete unter den Wesen der Spielwelt suchen und sich gleichzeitig ständig gegen Anfeindungen und Übergriffe von Menschen, Tieren und Pflanzen erwehren. Neben dem „trial
and error“-Prinzip des versierten Computerspielers gelingt es ihm, behutsame Wege im Kontakt zu seiner
Umgebung zu beschreiten, die auch in diesem Roman wieder von fantasievollen Geschöpfen belebt ist.
Seine Empathie verschafft ihm unter anderem Zugang zu den gefährlichsten Raubtieren und zur diskreten
Naturschutzbewegung der Eiswelt. Er schenkt sein Vertrauen einem Außenseiter und geht damit bis zuletzt
ein hohes Risiko ein. Lediglich im Kontakt zur beeindruckenden Flora der Eiswelt fehlt ihm meist die nötige
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Feinfühligkeit. Doch auch hier lässt ihn die Autorin, die in den letzten Jahren auch an zwei Kräuterbüchern
mitgearbeitet hat, ein wenig lernen.
Auf das Wissen und Können der Eltern greift der Teenager im Verlaufe des Romans so gut wie gar nicht zurück. Die Aufgabe der Befreiung lastet allein auf ihm. Viel Zeit hat er dafür nicht, denn bald zeigt sich, dass
ein Computervirus die Eiswelt immer weiter auslöscht, je länger das Spiel aktiv ist.
Die Geschichte des Spielers vor dem Monitor, dessen Verhalten das Romangeschehen unabsichtlich beeinflusst, bringt als weitgehend typografisch abgesetzte Parallelhandlung die reale Welt mit ihren Problemen
immer einmal wieder in Erinnerung, bleibt jedoch skizzenhaft. Nach der in rasanten Wendungen endlich
geglückten Rückkehr der Familie Marten in ihr modernes und witziges, von zahlreichen intelligenten Geräten geprägtes Haus sind noch immer viele Fragen offen, die den angekündigten dritten Teil der Romanserie mit Spannung erwarten lassen. Phil, der seinen Freund Leo noch aus der Drachenringwelt zurückholen
möchte, wird sich entscheiden müssen, ob er zukünftig auf den Digitalisierer, der sich inzwischen zu einer
gefährlichen Waffe in den Händen böswilliger Zeitgenossen entwickelt hat, verzichten möchte. Das eröffnet der Fortsetzung der Geschichte eine neue Dimension. Als Futter für hungrige Leseratten ist das Buch
bestens geeignet.
(AA)
+++++
Mario Schneider
Die Frau des schönen Mannes. Erzählungen
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014
ISBN 978-3-95462-194-1
Mario Schneider wurde 1970 in Neindorf geboren. Er studierte
Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Heute lebt
und arbeitet er als Autor, Regisseur und Filmkomponist in Halle. Bekannt ist er durch seine preisgekrönten Dokumentarfilme
„Helbra“, „Heinz und Fred“ sowie „Mansfeld“. Der vorliegende Erzählband ist sein literarisches Debüt.
In den siebzehn Erzählungen geht es thematisch um die Facetten
der Liebe in verschiedenen Konstellationen, Lebensabschnitten
und Perspektiven. In der Titelgeschichte bewundert der Erzähler
die Würde und Schönheit eines älteren Paares und dies in einem
sehr intimen Raum einer Sauna. Er beschreibt die Schönheit des
Mannes als „südländischer, braun gebrannter Typ“ und stellt sich
dabei vor, dass dieser Mann gewiss im Leben alles erreicht hat und einen zufriedenen Lebensabend genießt.
Auch die Frau ist für den Erzähler eine sehr schöne Frau. Es ist die einfühlsame Beschreibung eines Beobachters, ohne dass er dabei voyeuristisch im Wortsinn wirkt. Durch die Aussage des schönen Mannes, dass seine
Frau an einem Dienstag operiert wird und er von Krebs spricht, wird die Stimmung der Erzählung traurig,
zeigt das Unausweichliche aber dennoch mit Zuversicht. Dem Autor gelingt es hier wie auch in vielen der
anderen Geschichten, Tabus, Sehnsüchte, Illusionen, Selbstzweifel und Hoffnungen sprachlich sensibel zu
beschreiben.
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Positionen | Projekte | Publikationen
In der Erzählung „Sebastian“ schildert er die Erinnerungen eines Mannes beim Verlust seines Bruders in
Kindertagen und den nicht vergehenden Schmerz bis in die Gegenwart. Die kindliche, spielerische Reaktion
seines Sohnes nachdem dieser erfahren hatte, dass sein Vater einen Bruder besaß und verlor, lassen eine
tiefe menschliche, teils religiöse Zuversicht anklingen. Auch in der etwas längeren Geschichte „Geburtstag“
geht es um Verlust, hier von Liebe in einer Familie. Eine Tochter klagt Vater wie Mutter auf einer von ihr besprochenen CD an, dass sie den Bezug zu ihnen verloren hat. Ihre Erinnerungen an eine angeblich glückliche
Kindheit zeigen schmerzhaft, wie beruflicher Erfolg des einen Partners, die Vereinsamung des Anderen und
das Nichtvermögen darüber zu reden, eine Familie langsam zerstört und man nicht zu einer gemeinsamen
Sprache findet, auch nicht an einem besonderen Tag wie einem Geburtstag.
Die Erzählungen haben oft kein Happy End. Mario Schneider möchte nicht belehren und auch keine denkbar
einfachen Schlüsse ziehen. Seine Beschreibungen sind Bilder, die Hoffnungen und Wünsche projizieren und
den Leser das Geschilderte mit seinen eigenen Maßstäben und Erfahrungen bewerten lassen. Dies ist für
den Rezipienten ein Gewinn.
Mit einer sehr anschaulichen und behutsamen Erzählweise in den Geschichten gelingt es dem Autor meisterhaft, innere Vorstellungen, Gefühle und Empfindungen zu beschreiben. Dies macht den Erzählband zu
einer literarischen Überraschung. Man kann gespannt sein, was in den nächsten Jahren von Mario Schneider zu erwarten ist, sein dokumentarisches Gespür wird ihm dabei gewiss helfen. Die vorliegenden Erzählungen zeigen es.
Für anspruchsvolle Leserinnen und Leser in den höheren Schuljahrgängen ist dieser Erzählband sehr zu
empfehlen. Natürlich benötigt man zum Verständnis der Geschichten ein gewisses Maß an Lebenserfahrung und vor allem literarisches und mediales Vorstellungsvermögen.
(FK)
+++++
Ludwig Schumann
Wasserhautseele. Auch Liebesgedichte
BuchVerlag für die Frau, Berlin 2014
ISBN 978-3-89798-469-1
Der 1951 in Erfurt geborene Ludwig Schumann ist trotz seiner
reichlich sechs Lebensjahrzehnte ein höchst produktiver und
umtriebiger Künstler. Der studierte Theologe lebt heute in Zeppernick, einem Ortsteil von Möckern im Jerichower Land. Er hat
eine Werbeagentur geleitet und ist seit 2004 freiberuflich tätig.
Seine Publikationsliste beeindruckt durch Umfang und inhaltliche, formale und thematische Vielfalt; zudem ist Schumann häufig mit Kolleginnen und Kollegen der schriftstellerischen Zunft,
aber auch mit Musikern und bildenden Künstlern in gemeinsamen Projekten aktiv. Mit WASSERHAUTSEELE legt er nun einen
Lyrikband vor, der schon in seiner äußeren Form geeignet ist, jedem Verfechter von eBook-Readern den Wind aus den Segeln zu
nehmen: das kleinformatige Hardcoverbuch ist liebevoll gestaltet, nutzt die Typographie als Stilmittel und
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bietet zudem mit den visuellen Impressionen von Anne Rose Bekker zusätzliche Assoziationsmöglichkeiten
– wirklich gelungen!
Inhaltlich bietet es „ein fröhliches Leiden an der Lebenslust“, wie Schriftstellerfreund Albrecht Franke im
kurzen Nachwort feststellt. Das ist – schon aufgrund der reifen Erfahrungswelt, der metaphorischen Dichte
und auch durch die teils drastisch-erotische Sprache – nicht unbedingt unterrichtsgeeignet. Doch wo sich
beispielsweise lyrikinteressierte Jugendliche im Literaturzirkel oder einer Schreibwerkstatt ernsthaft mit
literarischen Gestaltungen beschäftigen, ist die Auseinandersetzung mit Schumanns bildhafter Poesie zwischen lakonischem Dreizeiler und mehrseitigem Prosagedicht durchaus zu empfehlen. Mich hat – neben
den Texten „vom winter“, „geheimnisfrau“, „kleines liebeslied“ oder „von der vergeblichkeit“ – besonders
das achtstrophige Gedicht „weshalb ich dich bewundere“ angesprochen mit so einprägsamen Versen wie
„mir fehlt / zuallererst / dein lachen im haus“ oder „du kannst / die welt in dein herz / verpacken und sie
besser / machen als sie zu sein / scheint und lichtvoll / als wäre die hoffnung / fleisch geworden“, um
schließlich so zu enden: „ich leb / mehr aus dir als du dir / vorstellen kannst und wohne / auf deinem lachen
welches / das haus freundlich macht / und meiner unruhigen seele / einen käfig schenkt“.
Diese Zeilen enthalten zahlreiche Sentenzen, die man sich einrahmen könnte.
(PDB)
+++++
Simone Trieder/Lars Skowronski
Zelle Nr. 18
Eine Geschichte von Mut und Freundschaft
be.bra verlag, Berlin 2014
ISBN 978-3-89809-117-6
Mit dem Beschuss der Westerplatte vor Danzig begann am
1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Ohne Kriegserklärung
überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Hitler gab den Angriff
als Verteidigungsaktion aus und verwies auf den angeblich polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz vom Vorabend. Den
jedoch hatte die SS inszeniert. "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" Diesen Satz sprach Adolf Hitler am Vormittag des
1. September 1939 im Berliner Reichstag. Es begann ein Krieg, der
sechs Jahre dauerte und über 55 Millionen Menschen das Leben
kostete. Auch die 24–jährige Krystyna Wituska, angeklagt wegen
Spionage, Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat, wurde 1944 hingerichtet. Sie ist eine von vielen, die für die
Untergrundorganisation Armia Krajowa tätig waren. Auch Maria
Kacprzyk und Lena Dobrzycka haben im Untergrund gearbeitet. Diese drei jungen Polinnen saßen eine Zeitlang gemeinsam in der Zelle mit der Nummer 18, im Gefängnis von Berlin-Moabit und warteten dort auf
ihre Verurteilung. Sie bilden den Mittelpunkt dieser Geschichte von Mut und Freundschaft während der
nationalsozialistischen Diktatur. Hedwig Gimpe, eine der dienstverpflichteten Wärterinnen, hatte die drei
jungen Frauen in ihr Herz geschlossen. Sie war berührt vom Schicksal der Polinnen, die ihre Kinder hätten
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sein können und versuchte den jungen Frauen Trost und Beistand zu geben, indem sie ihnen Lebensmittel,
Zigaretten oder Medikamente zukommen lässt, Post weiterleitet. Ein lebensgefährlicher Einsatz. Wichtig
wird für die Drei (von den Gimpes Kleeblatt genannt) auch der Briefwechsel mit Gimpes Tochter Helga. Sie
ist 16 Jahre alt, Mitglied im Bund Deutscher Mädel, doch nahm sie mit Verachtung wahr, wie der „braune Bazillus“ die Gleichaltrigen infizierte (S. 17). Die Nachrichten ins Gefängnis mussten natürlich sofort nach dem
Lesen vernichtet werden, aber die Kassiber „nach draußen“ wurden von Helga aufbewahrt. Darin schildern
Krystyna, Maria und Lena ihren Gefängnisalltag, erzählen von Hunger und Langeweile, von ihrer Angst und
Verzweiflung, von Folter und Verhören, aber auch von der Solidarität untereinander. Für die Häftlinge andererseits war Helga das „Mädchen aus einer anderen Welt“. Aus einer Welt, in der es ein Zuhause gab, eine
Mutter. Eine Welt, die auch sie gehabt hatten, die der Krieg zerstört hatte und die sie wahrscheinlich nie wieder
erleben würden. Das Heimweh begleitete sie ständig, ihr wichtigstes Gesprächsthema abends im Bett war die
Erinnerung an zu Hause (S. 18). In ihren Briefen dachten Helga und die Kleeblätter auch über die Zukunft nach.
… Mit Lena diskutierte Helga offenbar auch Rassentheorien (S. 159).
Helga konnte die 150 Seiten Kassiber sowie Marias Moabiter Tagebuch über den Krieg retten. Auf dieses Material konnten die Autoren des Buches zurückgreifen, ebenso wie auf diverse offizielle Dokumente, zudem
führten sie Gespräche mit Zeitzeugen und deren Verwandten. So erfährt der Leser nicht nur vom Schicksal
der drei jungen Frauen, sondern erhält auch Einblick in das Leben anderer Mitgefangener in Moabit.
Lena und Maria überleben den Krieg, sind gesundheitlich aber nicht stabil. Lena ist nach dem Krieg eine gebrochene Frau. Ihre Tochter schildert sie als düstere, depressive und schweigsame Person, die ungern schrieb,
nie deutsch sprach, und auch auf Polnisch nie von ihrer Vergangenheit erzählte (S. 189). Ebenso leidet Maria
unter Depressionen, doch sie schafft es immer wieder aus diesen Phasen rauszukommen.
Auch die Gimpes überleben den Krieg und so bleibt ein Kontakt, zumindest mit Maria, bestehen. Doch es ist
zeitweise kein einfaches Verhältnis, nach einem zweieinhalbjährigen intensiven Gedankenaustausch kurz
nach Kriegsende wurde die Korrespondenz für mehrere Jahre unterbrochen. Helga lebte mit ihrer Mutter
sehr zurückgezogen. … Gesellschaftlich wie privat waren sie vereinsamt (S. 199).
Doch was bleibt, ist eine berührende Geschichte über Mut und Freundschaft zwischen Menschen, deren
Völker sich in der finsteren Zeit der Naziherrschaft mit Hass begegneten. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Maria immer wieder…Glück, dass ihr Anwalt sie ernst nahm und verteidigte. Glück, dass die Richter im Prozess
vieles zu ihren Gunsten werteten… Deshalb kann sie die Deutschen nicht hassen, nicht, wenn man so viel Güte
und Menschlichkeit erlebt hat…(S. 215).
Die historischen Ereignisse werden in diesem Buch personalisiert und emotionalisiert. Das Nachfühlen
und Nachempfinden von Geschichte kann zu Kitsch und Klischees verkommen, zu erleben beispielsweise in zahlreichen O-Tönen von Fernsehproduktionen der privaten als auch öffentlich-rechtlichen Sender,
in denen die Zeitzeugen eine Autorität besitzen, als handle es sich um die wahre Deutung von Geschichte.
Die Geschichte dieses Buches verdeutlicht, wie Solidarität zwischen Menschen entstehen kann, wie man
Menschlichkeit bewahren, Hass und Ideologie überwinden kann. Als Leser erhält man Raum eigene Fragen
zur Geschichte zu entwickeln, eigene Bezüge herzustellen, Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart zu
entdecken. Wie schnell ein Konflikt eskalieren kann, wie fragil Frieden und Demokratie sind, sieht man am
Beispiel der Ukraine, an den vielfältigen Erscheinungen von Re-Nationalisierungen oder dem Anschlag auf
das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar 2015.
Vermittlung von Geschichte sowie die Entwicklung des Bewusstseins und Verständnisses für Geschichte
bleiben eine wichtige Aufgabe des Unterrichts und so ist die (ggf. auszugsweise) Lektüre nicht nur für den
Deutsch-, sondern auch für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II zu empfehlen.
(SG)
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Christoph Werner
Marie Marne und das Tor zur Nacht
Osburg Verlag, Hamburg 2014
ISBN 978-3-95510-037-7
Christoph Werner, geboren 1964 in Dessau, ist Regisseur und
Leiter des Puppentheaters Halle. Er hat nicht nur Puppenspiele
verfasst, sondern auch zwei Bände Erzählungen veröffentlicht
(Josefs Geschichte, 1997; Glücklicher Tod eines Rebellen, 2009).
„Marie Marne…“ ist sein erster Roman.
Erzählt wird die Geschichte der 13-jährigen Marie, deren Vater
erfolgreicher Musikproduzent und immer in Zeitnot ist. Deshalb
ist er Stammkunde einer Firma mit dem harmlosen Namen ADI,
der für All Day Industries steht. Sie verkauft ihm Träume, die ihm
ermöglichen, danach 13 Tage ohne Schlaf durchzuarbeiten. Dieses
Mal aber geht es schief: Er findet aus seinem Traum nicht mehr
heraus und nur Marie kann ihn erlösen, indem sie in einem ihrer
eigenen Träume unter großen Gefahren das Tor zur Nacht öffnet, ohne zu wissen, dass sie damit auch alle
Albträume freilässt, welche die Menschen überfallen und ihnen den Schlaf rauben. Die Welt droht ins Chaos
zu stürzen und Marie muss ein zweites Mal in die gefährliche Unterwelt hinabsteigen, um das Tor zur Nacht
wieder zu schließen.
Priscilla rennt durch die Straßen ihrer Kindheit. Die Straßen sind dunkel, still und menschenleer. Schneller!
Schneller! Sonst entwischt es! So setzt der Roman ein und das, worauf hier Jagd gemacht wird, sieht aus
wie ein Äffchen, entpuppt sich jedoch einen Abschnitt später als Orakel, das seine Ahnung von dem, was
geschehen wird, preisgibt: Die ungeträumten Träume werden brennen und nichts wird sein, wie es war…
Ein furios-geheimnisvoller Auftakt, der neugierig macht und den Fantasy-Charakter der Geschichte betont.
Der betrifft vor allem die Träume Maries, in denen es nur so wimmelt von phantastischen Motiven: Da gibt
es nicht nur das Tor zur Nacht und das Meer der Träume, sondern auch Zyklopen und Zentauren, einen Geige spielenden Frosch, die Nächtige, die das Tor zur Nacht bewacht, oder eine Doppelgängerin Maries, mit
der sie sich vereinigen muss, um das Tor wieder schließen zu können. Jugendliche Leser mit ihrer Lust am
Phantastischen kommen hier auf ihre Kosten. Dass Marie neben den eigenen Träumen auch noch die anderer Personen träumen muss, um in den Besitz von Gegenständen zu gelangen, mit denen das Tor geöffnet
werden kann, hält den Plot in der ersten Romanhälfte etwas auf, zumal diese Figuren so plötzlich, wie sie
auftauchen, auch wieder aus der Geschichte verschwinden.
Im Gegensatz zu den Träumen erscheint das, was auf der Realebene des Buches passiert, zunächst ganz
normal: Eine selbstbewusste 13-Jährige, die gern mehr Zeit verbringen würde mit ihrem Vater, der immerzu
telefoniert; ihr Alltag in der Schule und ihre Freundinnen; die sich anbahnende Liebe mit einem Jungen.
Spannend wird diese Geschichte in dem Maße, wie sich auch hier Elemente des Sonderbaren einschleichen:
Eine Firma, die etwas verkauft, mit dem man die Biologie des Menschen (in diesem Fall sein Bedürfnis nach
Schlaf) aushebeln kann, scheint im Zeitalter von social freezing gar nicht mehr so irreal; Maries zufällig entdeckte Fähigkeit, 113 Tage ohne Schlaf wachbleiben zu können, hingegen ist so ungewöhnlich, dass ADI sie
sich gern zunutze machen würde. Und so tritt das Böse auf den Plan: in Gestalt eines schwarz gekleideten
Mannes, dem Christoph Werner den bezeichnenden Namen Mr. Phisto gegeben hat, während sein hinter
ihm stehender Chef, Dr. Puck, in der Tarnkappe des smarten Geschäftsmannes daherkommt.
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Das ist spannend erzählt, mit viel Einfühlungsvermögen für die jugendliche Heldin. Eine Coming-of-AgeStory vor allem für Mädchen, jenseits von Ponyhof-Klischees. Das betrifft auch den Schluss des Romans:
Marie hat durch ihren Mut, ihre innere Stärke und mit Hilfe von Freunden zwar die Menschen von ihren
Albträumen wieder erlöst und ist damit erwachsen geworden – als Zeichen dessen schneidet sie sich am
Ende ihren Zopf ab. Doch das Böse ist damit nicht endgültig aus der Welt: Was würde jetzt geschehen? heißt
es im Kapitel davor. Egal, was es war, Untersuchungen durch den Senat, Anklagen vor allen Gerichten der Welt,
Wertverlust der ADI-Aktion an der Börse, Dr. Puck würde all das überstehen …
Mit seinen 245 Seiten ist der Roman ein echter Tipp für lesehungrige Mädchen, die ein bisschen mehr erwarten als bloße Fantasy. Und für den Deutschunterricht eine gute Gelegenheit, mit dem Autor selbst ins
Gespräch zu kommen (vergleiche das Interview mit Christoph Werner, S. 89).
(ES)
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Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.)
oda – Ort der Augen
dr. ziethen verlag, Oschersleben
Jahrgang 2014 (4 Hefte)
Sarah Kirsch, die bedeutende, 1935 im heutigen Thüringen geborene und längere Zeit in Halle lebende Dichterin, die seinerzeit im
Nachklang der Biermann-Ausbürgerung die DDR verließ, ist 2013
im Schleswig-Holsteinischen Heide verstorben. Ihrem Andenken
ist das erste Jahrgangsheft der traditionsreichen „Blätter für Literatur aus Sachsen-Anhalt“ gewidmet. Wilhelm Bartsch gibt sehr
persönliche Einblicke in seine intensive und freundschaftliche Arbeitsbeziehung zu Sarah Kirsch, ergänzt um Auszüge aus Briefen
und einen tief schürfenden Essay zu Sarah Kirschs Gedicht „Die
Entrückung“. Zugleich bilden die handschriftlichen Briefe von Sarah Kirsch den bildkünstlerischen Beitrag, der die schmale Zeitschrift stets auch zu einem visuell-ästhetischen Genuss werden
lässt.
Etwas kleiner gerät der Abschied, der im zweiten Heft dem Spur- ISBN: 978-3-86289-074-3
der-Steine-Verfasser Erik Neutsch (auch er ist 2013 verstorben) gewidmet ist; Martin Weskott, der legendäre Buchretter-Pfarrer, hat zwei kluge Seiten zu der Faszination, die
Neutsch für den Isenheimer Altar und seinen legendenumwehten Maler Mathis empfand, beigesteuert.
Daneben gibt es reichlich frische Literatur vornehmlich mitteldeutscher Autoren (mit bundesweiten Ausrissen) zu entdecken: Daniela Danz und Thomas Böhme, Konrad Potthoff und Simone Trieder, Gunter Preuß
oder Margarete Wein sind vertreten.
Das dritte Heft des Jahrgangs bietet zudem die Begegnung mit bulgarischer Literatur, so etwa Texte von
Peter Anastasov oder Stefan Bonev, die auch in der Anthologie „So wie ich hier stehe“ enthalten sind (siehe
auch S. 117).
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Heft 4 bietet schließlich – neben wiederum zahlreichen neuen literarischen Texten – auch die Dankesrede,
die Sascha Kokot anlässlich der Entgegennahme des Georg-Kaiser-Förderpreises des Landes Sachsen-Anhalt gehalten hat. Sie ist im Kontext der Laudatio von André Schinkel, die Sie hier im Lesefutter 2015 ab S. 51
nachlesen können, äußerst empfehlenswert, zeichnet sie doch den konsequenten und vielfältig begleiteten
Weg eines jungen Dichters in unserem Lande nach.
Insgesamt also wieder ein reicher oda-Jahrgang, ein überquellender Fundus für einen spannenden Literaturunterricht abseits eines ein- wie ausgefahrenen Literaturkanons. Dafür ist dem Kultusministerium
Sachsen-Anhalt, das die Publikation verlässlich fördert, zu danken (alle Gymnasien des Landes kommen
dadurch kostenfrei in den quartalsweisen Genuss hochwertiger Kunst!), vor allem aber dem engagierten
Redakteur André Schinkel, der das bemerkenswert hohe Niveau der Literaturzeitschrift (nicht zuletzt dank
der Vielzahl guter Autorinnen und Autoren) seit Jahren zu halten vermag. Möge dies so bleiben!
(PDB)
ISBN: 978-3-86289-084-2
ISBN: 978-3-86289-085-9
ISBN: 978-3-86289-086-6
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Positionen | Projekte | Publikationen
Autorenverzeichnis dieser Publikation
(in alphabetischer Folge; die Abkürzungen beziehen sich auf die Lektüreempfehlungen):
• Adelmeyer, Annette; Referentin in der Fachgruppe 21, LISA Halle (AA)
• Ballod, Matthias; Prof. Dr., Professur für Fachdidaktik Deutsch am Germanistischen Institut der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg
• Bartsch, Paul D.; Prof. Dr., Fachgruppenleiter am LISA Halle und Professor für „Erziehungswissenschaft:
Kindheit und Medien“ an der Hochschule Merseburg (PDB)
• Caspar, Sebastian; Sozialpädagoge und Autor, lebt in Leipzig
• Domhardt, Elke; Schriftstellerin, Mitglied des Förderkreises der Schriftsteller Halle (Saale)
• Fenkl-Ebert, Sulamith; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“
• Franz, Martina; LISA Halle, Fachgruppe 23, Koordinatorin für das Lutherjubiläum 2017 (MF)
• Grätz, Sabine; Referentin in der Fachgruppe 24, LISA Halle (SG)
• Jankofsky, Jürgen; Autor, Geschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V. (JJ)
• Kirchner, Frank; Referent in der Fachgruppe 21, LISA Halle (FK)
• Kirchner, Sabine; Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (SK)
• Kohl, Eva Maria; Prof. Dr., em. Professorin für Grundschuldidaktik/Deutsch am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (EMK)
• Langer, Ralf; Referent im Fachbereich 4 des LISA Halle
• Peter-Wehner, Andrea, LISA Halle, Koordinatorin des Projektes BiSS (APW)
• Rackwitz, Thomas; Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Blankenburg (Harz)
• Ritter, Alexandra; Dr. des., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (AR)
• Ritter, Michael; Prof. Dr., Vertretungsprofessur am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MR)
• Rönicke, Nadine; Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und
Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (NR)
• Scherf, Eva; Dr. phil., Germanistin und Pädagogin i. R. (ES)
• Schinkel, André; M.A., Schriftsteller, Redakteur der Literaturzeitschrift „Ort der Augen“
• Stošić, Bettina; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“
• Walesch, Ines; Lehrerin, z. Z. abgeordnet an das LISA für Aufgaben in der Lehrerfortbildung
• Wielebinski, Erika; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“
• Zielinski, Sascha; Doktorand und Lehrbeauftragter am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (SZ)
Notizen