Medien und Unterricht 30 LESEFUTTER 2015 Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht POSITIONEN, PROJEKTE UND PUBLIKATIONEN ZUR FÖRDERUNG DER LESEKOMPETENZ www.bildung-lsa.de Medien und Unterricht 30 Lesefutter 2015 Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht Positionen, Projekte und Publikationen zur Förderung der Lesekompetenz Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (LISA) in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. Anmerkung: Die geschlechterdifferenzierende Schreibweise der einzelnen Autorinnen und Autoren in Bezug auf Berufs- und Tätigkeitsbeschreibungen wurde weitgehend beibehalten. Wo aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt wurde, ist stets das weibliche Pendant mit gemeint. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen zudem die Meinungsäußerung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser dar. Impressum Herausgeber: Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (LISA), Riebeckplatz 9, 06110 Halle in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. Thiemstraße 7, 39104 Magdeburg Titelfoto: Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“ Redaktion: Prof. Dr. Paul D. Bartsch Layout: Doreen Eckhoff Druck: druckhaus köthen GmbH & Co. KG LISA Halle (Saale) 2015 (1501) – 1. Auflage – 1.600 Inhalt Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Positionen Eva Maria Kohl/Alexandra Ritter Tabubrecher und Wahrheitssprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Michael Ritter Das Wunderbare von nebenan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Matthias Ballod „Ich hab dann mal versucht zu Googeln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 André Schinkel Hinter den Gärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ralf Langer Geschichten von Flucht und Beharrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Frank Kirchner Der neue Fachlehrplan Deutsch am Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Projekte Frank Kirchner Vorwärts mit BiSS: Auftakt und erste Entwicklungsschritte zur gezielten Sprachdiagnostik und Sprachförderung an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Bettina Stoçic, Sulamith Fenkl-Ebert, Erika Wielebinski Lesewelt Halle – da lesen doch welche vor, oder?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Annette Adelmeyer Gleim-net: social networking im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Sabine Grätz Scherbenpark. Ein preisgekröntes Buch für den Unterricht entdecken – auch als Film und Theaterinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Elke Domhardt Literatur im öffentlichen Raum: Straßenbahngedichte rollen durch Halle! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Sebastian Caspar „Zone C“ – ein Buch, das Augen öffnet und Diskussionen auslöst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Eva Scherf Mehr Zeit für Träume? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Paul D. Bartsch Über Zeitschriften niederschwellig einsteigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Jürgen Jankofsky Autorenbegegnungen – Autorenpatenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Thomas Rackwitz Intro zum Text „Das Meer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Thomas Rackwitz Das Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Unzensiert und unfrisiert: Erzählt uns was!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 25 Jahre Deutsche Einheit und. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 25 Jahre Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt – Erzählt uns was!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Publikationen Übersicht der nachfolgend besprochenen Bücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Schulformübergreifende Lektüreempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Lektüreempfehlungen für die Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Autorenverzeichnis dieser Publikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Editorial Editorial Lesen gefährdet die Gesundheit… Wie bitte? Ja, tatsächlich, oder genauer: Das abendliche Schmökern im Bett auf einem aktiv beleuchteten E-Book-Reader beeinflusst den Melatoninhaushalt des Menschen und verschiebt seinen Schlaf-WachRhythmus. Das haben Forscher jüngst in einer Studie herausgefunden: „Die Teilneh1 mer fühlten sich in der Früh matter und weniger erholt.“ Also ehrlich – ich habe als Kind oft mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen. Und ich erinnere mich, danach in der Früh oft matter und weniger erholt gewesen zu sein. Damit relativiert sich das nun festgestellte Gefährdungspotenzial doch erheblich. Aus meiner Sicht gefährdet Lesen vor allem die Dummheit – als warnender Aufkleber sollte das auf jedem Buchdeckel prangen. Und von mir aus auch auf der Rückseite des E-BookReaders. Nun aber zum eigentlichen: Die inzwischen 9. Ausgabe des „Lesefutters“ liegt vor Ihnen! Und wer mit den Anfängen vergleicht, der wird nicht nur quantitativen Zuwachs feststellen können: Aus dem anfänglichen Informations- und Rezensionsmedium ist inzwischen eine vielfältige und anregende Publikation rund um das Lesen, den Umgang mit Literatur und Medien sowie die literarische Bildung in ihrem Wandel geworden. Letzteren – also den Wandel des Lesens in der digitalen Gesellschaft – hat kürzlich der SPIEGEL zum Titelthema gemacht: „Die Zukunft des Lesens“ (Heft 50/2014). Und bei all den Veränderungen, die da auszumachen sind, bleibt auch dem SPIEGEL das beruhigende Fazit: „Letztlich stimmt mithin, was Eltern und Lehrer 2 von jeher behaupten: Lesen erweitert den Horizont.“ In diesem Sinne – so hoffen die Herausgeber des „Lesefutters“ – mögen auch die diesjährigen Beiträge und Empfehlungen wiederum funktionieren. Denn – so lesen wir in der PSYCHOLOGIE HEUTE – „so wie Meteorologen eine Computersimulation nutzen, um komplexe Vorgänge des Klimas zu verstehen, helfen Romane, Geschichten und Dramen, die Komplexität des 3 Lebens zu begreifen.“ Im einleitenden Teil POSITIONEN reflektieren Mitherausgeberin Alexandra Ritter und die inzwischen emeritierte hallesche Professorin Eva-Maria Kohl die politische Dimension der Kinder- und Jugendliteratur an Beispielen aus den vergangenen viereinhalb Jahrzehnten auf höchst aktuelle und anregende Weise. Michael Ritter ist zu danken, dass er den zu Unrecht weithin vergessenen Dichter Franz Fühmann, einen 1 http://www.augsburger-allgemeine.de/digital/Forscher-warnen-Licht-von-E-Book-Readern-schadetunserem-Schlaf-id32416922.html (Aufruf: 29.01.2015) 2 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-130754215.html 3 Hänssler, Boris: Die Macht des Gedruckten. In: Psychologie heute, Beltz, Weinheim, März 2015, S. 64. |5 6| Editorial der bedeutendsten und integersten Literaten der DDR, wieder ins Bewusstsein hebt und zeigt, dass seine märchenhaften Kindererzählungen durchaus auch heute noch mit Gewinn im Unterricht gelesen und behandelt werden können. Der Deutschdidaktiker Matthias Ballod, der mit seiner Affinität zur digitalen Medienwelt frischen Wind in die Lehrerbildung der Martin-Luther-Universität gebracht hat, steuert einen Aufsatz zu kompetent-reflexiven Internetrecherchen im Unterricht bei, die eben mehr sind als mal eben so zu googeln. Das hat engen Bezug zu modernen Lehrplanvorgaben, und so ergänzt sich sein Beitrag gut mit dem von Frank Kirchner, der den neuen Deutsch-Lehrplan für die Gymnasien und Fachgymnasien unseres Landes vorstellt. Davor widmet sich Ralf Langer, Fortbildungsreferent am LISA, dem Thema Flucht in der aktuellen Literatur. Zudem würdigt er den Roman „Kruso“, für den Lutz Seiler (der übrigens in Halle Germanistik studiert hat) im Vorjahr den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Ein paar Kategorien tiefer ist der Georg-Kaiser-Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt für Literatur angesiedelt – gleichwohl gibt es auch hier einen verdienten Preisträger für 2014: Sascha Kokot, dessen Lyrik auch im „Lesefutter“ vergangener Jahre rezensiert worden ist. Die Laudatio von André Schinkel ist selbst ein Stück dichter und höchst lesenswerter Literatur geworden! Der Mittelteil PROJEKTE bietet einen Rundumschlag, dessen Bogen vom Landesprojekt innerhalb des Förderprogramms „Bildung durch Sprache und Schrift BiSS“ über die ehrenamtliche Leseinitiative „Lesewelt“ der Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis, ein social-networking-Projekt des Gleimhauses Halberstadt oder die multimediale Empfehlung zu „Scherbenpark“ von Alina Bronsky bis hin zu den halleschen Straßenbahngedichten oder einem Gespräch mit dem Autor Christoph Werner zu dessen Jugendroman „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ reicht. Besonders hervorheben möchte ich den Beitrag des in Weißenfels geborenen und in Leipzig tätigen Sozialpädagogen Sebastian Caspar, der mit „Zone C“ nicht nur ein wichtiges Buch zum Thema Crystal Meth geschrieben hat, sondern auch hierzulande sehr aktiv in Schulveranstaltungen mit Jugendlichen über Drogenmissbrauch und Präventionsmöglichkeiten diskutiert. Die PUBLIKATIONEN schließlich enthalten wie gewohnt ausführliche Hinweise auf Bücher, die für die Behandlung im Unterricht empfohlen werden können, von Autorinnen und Autoren unseres Landes – die literarische Palette reicht vom Lyrikband über verschiedene Prosagenres bis hin zum Sachbuch. Ansonsten ist es wie beim Fußball – nach dem „Lesefutter“ ist vor dem „Lesefutter“: In unserer kleinen Redaktionsgruppe laufen bereits die Vorüberlegungen für die Jubiläumsausgabe im Jahr 2016. Sehr gern nehmen wir dazu Ihre Anregungen und vielleicht sogar auch Ihre Beiträge entgegen. Wir freuen uns darauf! Prof. Dr. Paul D. Bartsch LISA Halle Fachgruppenleiter Dr. des. Alexandra Ritter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik Jürgen Jankofsky Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. Geschäftsführer Positionen | Projekte | Publikationen Eva Maria Kohl/Alexandra Ritter Tabubrecher und Wahrheitssprecher Realistische Kinder- und Jugendliteratur von 1970 bis heute 1. Durch das Schnipselgestrüpp „Mutter sagt nichts. Vater schweigt. Der Fernseher plappert. Wenn der Fernseher mal nicht lärmt, ist es still. […] Im Zimmer des Jungen liegen Zeitungen auf dem Boden. ,Das ist praktischer‘, sagt Vater. Ein Teppich aus Papier. ,Der kostet nichts.‘ Mutter holt die Zeitungen aus dem Mülleimer im Hof.“ (Friese/ Duda 2010, o. S.) Es ist eine von Armut geprägte soziale Wirklichkeit, die sich zu Beginn des Buches Schnipselgestrüpp auftut. Die Eltern mit ausdruckslosen Gesichtern, vor sich hin starrend, und demgegenüber der sinnentleert plappernde Fernseher; ein Parallelismus, der ein Bild einer Prekariatsfamilie zeichnet, wie es sie auch in unserer Gesellschaft nicht selten gibt. Materielle und soziale Armut werden in Bild und Text offenbar. Die Familienmitglieder scheinen sich wenig füreinander zu interessieren und auch der namenlose Junge bleibt in seiner eigenen Welt, optisch deutlich getrennt von den Eltern Abb. 1: Friese – Schnipselgestrüpp (vgl. Abb. 1). Er nutzt die Zeitungen, seinen Teppich aus Papier, um die ihn faszinierenden Dinge auszuschneiden und die Schnipsel bruchstückhaft wieder zusammenzusetzen. Damit erschafft er sich eine fantastische Welt, die zur Zuflucht und zum Spielraum wird. Am Ende des Buches kann er auch seinen Vater für dieses Spiel gewinnen und so wird die Kluft der anfangs fast absoluten Sprachlosigkeit der Familienmitglieder überwunden und soziale Gemeinschaft hergestellt. Dieses Bilderbuch von Julia Friese und Christian Duda zeigt zum Teil symbolhaft und in poetischer Sprache soziale Missstände ohne zu werten. Eine Kindheit wird im Spiegel der Kinderliteratur gebrochen und dennoch sind die realistischen Bezüge unübersehbar (vgl. Ewers 1995). In diesem Artikel möchten wir uns mit dem Gegenstand und der Entwicklung realistischer Kinderliteratur auseinandersetzen und anhand von Beispielen unterschiedliche Formen des realistischen Erzählens für Kinder vorstellen. |7 8| Positionen | Projekte | Publikationen 2. Realistisch erzählen für Kinder Kinderliteratur wird oft als intentionale, direkt für Kinder verfasste Literatur beschrieben. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um die Literatur, die von Kindern gelesen wird. Ewers unterscheidet die intentionale Kinderliteratur noch einmal in positiv oder negativ sanktionierte Kinderliteratur. Mit negativ oder nicht sanktionierter Kinderliteratur ist Literatur gemeint, die sich vor allem an kommerziellen Interessen auf dem Buchmarkt orientiert, während man bei positiv sanktionierter Kinderliteratur auch von einem pädagogischen ,Hintergedanken‘ sprechen kann, der in der Literatur zum Tragen kommt. Es werden pädagogische Ansprüche und Kindbilder der jeweiligen Zeit auf die Literatur übertragen (vgl. Ewers 2005, S. 2 ff.). Auch der größte Teil der realistischen Kinderliteratur lässt sich zur positiv sanktionierten zählen. Zwar möchte sie ohne idealistische oder phantastische Überhöhungen die Welt zeigen, so wie sie ist (vgl. Payrhuber 2011, S. 106). Dennoch hat sie häufig den pädagogischen Anspruch, politische Verhältnisse oder geschichtliche Ereignisse Kindern verständlich zu machen und dadurch Meinungsbildung zu betreiben. Dabei sind es innerhalb der realistischen Kinderliteratur oft politische Themen, wie der Umgang mit Macht, die Auswirkung von totalitären Systemen, Kriegs- und Leidenserfahrungen, Zeitgeschichte und der Umgang mit anderen Kulturen, die vermittelt werden sollen (vgl. Gansel 2010, S. 91). Dabei muss man aber feststellen, dass die Kinderliteratur in diesem Zusammenhang nicht statisch den Veränderungen der Gesellschaft entgegentritt, sondern auf neue Probleme einer sich verändernden Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen eingeht und nach adäquaten neuen Darstellungs- und Erzählweisen sucht, die im Folgenden beleuchtet werden sollen. 3.Realistische Kinderliteratur im Wandel „Ausgelöst und beschleunigt durch die innerhalb der Kinderladenbewegung geführten Diskussionen zur Theorie der antiautoritären Erziehung und deren Umsetzung in die Praxis, beginnt von 1970 an eine so stürmische und tiefgreifende Veränderung im Bereich der Kinderliteratur, des Kinderliedes und des Kindertheaters, dass man heute im Rückblick auf die Jahre 1970 bis 1973 von einer einschneidenden Zäsur in der Kinderkultur spricht.“ (Klaus Doderer 2005, zit. n. Gelberg 2005, S. 19). Neben den grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen der BRD in den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren, die mit der Emanzipationsbewegung, Studentenbewegung und antiautoritären Erziehung nur knapp abgesteckt werden sollen, verändert sich auch die Beziehung zur Kinderliteratur. Die Kinderliteratur wird gesellschaftlich anerkannter, was sich auch durch die Einrichtung von Preisen für Kinder- und Jugendliteratur (z. B. Buxtehuder Bulle (1971); Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis (1977)), die Einrichtung von Lehrstühlen für Kinder- und Jugendliteraturforschung und die Gründung des mittlerweile renommierten Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt am Main (1963) zeigt; weitere Gründungen folgten. In dieser Zeit profiliert sich auch die realistische Kinderliteratur als – wie Gansel es bezeichnet – moderner realistischer Kinderroman (vgl. Gansel 2010, S. 91 ff.; 107 ff.), der in unterschiedliche Subgattungen unterteilt werden kann, die sich zeitlich nacheinander entwickelt haben, heute aber durchaus nebeneinander und als Mischformen in- und miteinander existieren und in den folgenden Punkten kurz dargestellt werden. Die Entwicklung der realistischen Kinderliteratur in der DDR verläuft hingegen etwas anders. Sie wird im Punkt 3.4 erläutert. 3.1. Die Anfänge: problemorientierte Kinderliteratur der BRD in den 1970er Jahren Mit dem Genre des modernen Kinderromans ab 1970 ist die realistische Kinderliteratur nicht im zeitlichen Sinne zeitgenössisch, gegenwärtig und aktuell geworden, sondern in der Art des Erzählens (vgl. Gansel 2010, S. 108). Bezogen auf den Gegenstand ist mit Kümmerling-Meibauer jedoch ein Rückschritt zu konstatieren; nämlich hin zur Instrumentalisierung der Kinder- und Jugendliteratur Positionen | Projekte | Publikationen im Rahmen politisch-gesellschaftlicher Erziehung (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, S. 71). Die Kinderliteratur erhielt nun einen klaren Auftrag: Bereits die Kleinsten sollten schon von Anfang an mit politischen Themen in Kontakt kommen und so zu mündigen Bürgern erzogen werden. Man distanzierte sich deutlich von den Schonräumen, die den Kindern durch die Literatur geboten wurden. Vielmehr wollte man Kinder befähigen, Konflikte und soziale Missstände zu erfassen. Mündigkeit und Gleichberechtigung sind die zentralen Prinzipien dieser Literatur für Kinder und bleiben auch über die weiteren Entwicklungen hinweg erhalten. An dieser Stelle muss natürlich zwischen den faktischen Lebensbedingungen der Kinder und den gesellschaftlichen Bildern und Klischees von Kindheit unterschieden werden. Auch wenn wir von realistischer Kinderliteratur sprechen, handelt es sich um eine Fiktionalität, die durchwirkt ist von den Bildern und Erfahrungen der AutorInnen und ihrer eigenen Kindheit. Daher ist es wohl kein Zufall, dass zunächst die Autorengeneration der in den 1930er Jahren Geborenen sich der problemorientierten Literatur zuwendet und möglichst unsentimental, realistisch erzählen möchte (vgl. Ewers 1995, S. 39). Mit ihren Werken plädieren AutorInnen wie Peter Härtling, Christine Nöstlinger und Ursula Wölfel für die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen. Im Vorwort von Ursula Wölfels Die grauen und die grünen Felder ist zu lesen: „Diese Geschichten sind wahr, darum sind sie unbequem: Sie erzählen von den Schwierigkeiten der Menschen, miteinander zu leben und wie Kinder in vielen Ländern diese Schwierigkeiten erfahren […]. Wahre Geschichten haben nicht immer ein gutes Ende. Sie stellen viele Fragen, und jeder soll die Antwort selber finden. Die Geschichten zeigen eine Welt, die nicht immer gut ist, aber veränderbar.“ (Wölfel 1970, 1; zit. n. Gansel 2010, S. 104). Kinder brauchen keinen Schonraum, so ihre These, sie sind in der Lage sich bereits frühzeitig mit Problemen der Gesellschaft, aber vor allem auch mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen, und genau das möchte die Kinderliteratur dem kindlichen Leser zurückspiegeln. Realistische Kinderliteratur, das sollte dem Leser bewusst sein, ist immer auch eine Fiktion, die eine Möglichkeit der Identifikation und Distanzierung anbietet. Zugrunde liegt der Literatur ein Bild vom Kind, das als eigenständiges und mündiges Wesen aktiv in die Wirklichkeit eingreifen kann (vgl. KümmerlingMeibauer 2012, S. 71). Zunächst ging es inhaltlich noch um Konflikte und Strukturen der Gesellschaft, die an exemplarischen Beispielen thematisiert wurden; auch zeitgeschichtliche Themen aus der Perspektive der Beherrschten gerieten in den Blick mit dem Wunsch nach Abbau vorurteilsbelasteter Deutungsschemata. Doch bald wurde den AutorInnen klar, dass die Kinder vielmehr noch ein Bedürfnis nach der Aufklärung von Problemen und Strukturen innerhalb der Familie, Schule und der peer group hatten. Die Kinderliteratur wendet sich im Laufe der 1970er Jahre demnach verstärkt der Darstellung der kindlichen Lebensverhältnisse im Alltag mit den entsprechenden Sorgen und Nöten zu. Diese werden wenig beschönigend gezeigt. Im Zuge der Forderung nach realistischen Darstellungen in der Kinderliteratur wurden auch fortlaufende neue Tabuthemen in die Kinderliteratur integriert (Gewalt, Tod, Sexualität, Drogen, Behinderung). Gerade ein Autor wie Peter Härtling verzichtet an dieser Stelle auf das Happy End zugunsten eines offenen Ausgangs, der ganz entsprechend des gerade gezeichneten Kindbildes aktiv zum Weiterdenken anregt. Dies ist eine typische Form des Erzählens der Erwachsenenliteratur, die hier von Härtling und auch anderen AutorInnen in die Kinderliteratur übertragen wird. Es werden zunehmend auch die Veränderungen in der Familie und in den Familienstrukturen dargestellt – die Mutter geht arbeiten, der Vater bleibt zu Hause (z. B. Kirsten Boie: Mit Jakob wird alles anders; Christine Nöstlinger: Gretchen Sackmeier). Auch setzt sich Christine Nöstlinger in Wir pfeifen auf dem Gurkenkönig intensiv mit der dominanten Rolle des Vaters als Patriarch auseinander. Anliegen der Bücher ist – wie die Themen auch deutlich zeigen – eine Aufklärung bezüglich anderer Rollen- und Familienverhältnisse in dieser Zeit. Auch werden alternative Lebenskonzepte vorgestellt. Die Kinderfiguren entsprechen allerdings oftmals dem Wunsch der AutorInnen nach selbstbewussten, ver- |9 10 | Positionen | Projekte | Publikationen nünftigen Kindern, die mit Weitblick mit den neuen Familienstrukturen umgehen können. Themen der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur in dieser Zeit sind beispielsweise: Dritte Welt: Wölfel: Die grauen und die grünen Felder (1970); Pausewang: Die Not der Familie Caldara (1978)/ Jugendkriminalität: Noack: Rolltreppe abwärts (1970)/ Drogen: Bayer: Trip ins Ungewisse (1971); Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1979) / Jugendalkoholismus: Ladiges: Hau ab, du Flasche (1978) / Behinderung: Härtling: Das war der Hirbel (1973); Von der Grün: Vorstadtkrokodile (1976) / Gewalt: Schaaf: Plötzlich war es geschehen (1977) / Alter/Tod: Lindgren: Brüder Löwenherz (1973); Donnelly: Servus Opa, sagte ich leise (1977); Härtling: Oma (1975) 3.2. Der Blick nach Innen in der psychologischen Kinderliteratur der 1980er Jahre Am Ende der 1970er-Jahre findet eine Schwerpunktverlagerung auf die Darstellung kindlicher und jugendlicher Innenwelten im psychologischen Kinderroman statt (vgl. Gansel 2010, S. 118). Man spricht vom psychologischen Realismus. Diese Kinderliteratur stellt die Innenwelt der Protagonisten dar, die zum Teil stark von äußeren Problemen beeinträchtigt ist. Die Intention der Vermittlung von Erziehungsvorstellungen mit dieser Kinderliteratur ist kaum erkennbar; Tabuthemen werden mit einer Offenheit und zugleich in einer moralisch neutralen Haltung angesprochen; ein Phänomen, was man bisher nur aus der Erwachsenenliteratur kannte. Dieser veränderte Anspruch an Kinderliteratur, die die Innenwelt des Kindes exploriert, führte auch zu einer Veränderung der Erzählmittel: subjektiviertes, mehrperspektivisches personales Erzählen wird praktiziert, häufiger auch erlebte Rede und innere Monologe. Vorreiter dieser Art des Erzählens finden sich in der skandinavischen Kinderliteratur, z. B. mit Tormod Haugens Die Nachtvögel (1976). Dieses Buch gibt Einblicke in das vielschichtige, zerrüttete Seelenleben eines 8-Jährigen, der von Angst und Wahnvorstellungen geplagt wird. In der deutschsprachigen Literatur gilt Ben liebt Anna (1979) als Prototyp des psychologischen Kinderromans und der Autor Peter Härtling als wichtigster Autor dieser Subgattung. Er hat die Psychologisierung und Individualisierung der Figurendarstellung eingeleitet und wählt bewusst für seine Bücher dieselben literarisch anspruchsvollen Darstellungsmittel wie man sie in Romanen für Erwachsene findet (mehrperspektivisches Erzählen mit inneren Monologen, z. B. bei Oma oder Ben liebt Anna). Die kindlichen Leser sind in dieser Literatur Gesprächspartner auf Augenhöhe, denen nicht immer die eine perfekte Lösung geboten werden kann. Sie werden nicht mit glatten, einfachen Lösungen abgespeist, sondern zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema angeregt. „Die ‚emanzipatorische‘ Funktion der Kinderliteratur von Peter Härtling erweitert die soziale Wirklichkeitserkundung um die psychologische Dimension und damit um die Erkenntnis der psychologischen Hintergründe und Motive des menschlichen Handelns und der eigenen Subjektivität.“ (Daubert 2011, S. 92). Neben Peter Härtling sind es AutorInnen wie Renate Welsh, Kirsten Boie und Mirjam Pressler, die sich dieser Literatur zuwenden. In vielen Werken wird als Schauplatz die Familie gewählt und es entstehen psychologische Familienromane, die sich vor allem in den 1990er-Jahren weiterentwickeln. Dabei sind die Übergänge sowohl zur emanzipatorischen Mädchenliteratur als auch zum Adoleszenzroman fließend. Themen der psychologischen Kinder- und Jugendliteratur sind beispielsweise: sexueller Missbrauch: Talbert: Messer aus Papier (1992); Hassenmüller: Gute Nacht, Zuckerpüppchen (1992) / homoerotische Beziehungen: MeißnerJohannknecht: Leanders Traum (1994) / Atom- und Kriegskatastrophen: Pausewang: Die Wolke (1987); Pausewang: Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) / Rechtsradikalismus: Pausewang: Die Meute (2006) / Depression: Boie: Mit Kindern redet ja keiner (1990); Welsh: Diesteltage (1997) / Außenseiter/ Heimkinder: Pressler: Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (1994); Mebs: Sonntagskind (1983); Jutta Richter: Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen (2000) / Gewalt: Moeyaert: Bloße Hände (1996); Boie: Nicht Chicago. Nicht hier Positionen | Projekte | Publikationen (1999) / Behinderung: Welsh: Drachenflügel (1988); Fox: Paul ohne Jakob (2001) / Emanzipation: Chidolue: Lady Punk (1985) 3.3 Zum Lachen und zum Weinen – komische und tragisch-komische Familienromane in den 1990er-Jahren Im Laufe der 1980er bis 1990er-Jahre kommt neben den ernsthaften kindlichen Themen eine neue komische Kinderliteratur auf, die weniger die Risiken und Krisen gegenwärtiger Kindheit in den Blick nimmt, als die Chancen der jeweiligen kindlichen Situationen (vgl. Daubert 2011, S. 97). Gansel spricht hier von „einer neuen Stufe der Erkundung aktueller Wirklichkeit“ (Gansel 2010, S. 126), die Kindheit mit Gelassenheit und Selbstironie zeichnet. Diese skeptische-ironische Grundhaltung ist kennzeichnend für die komische (bzw. tragisch-komische) Kinderliteratur. Diese Art der Darstellung von Wirklichkeit und kindlichem Alltag favorisiert zum einen stärker das Lesevergnügen, bietet aber auch eine psychologische Entlastung der LeserInnen durch situativen, sprachlichen Humor. Nicht selten greifen die Romane auch andere Gattungen mit auf und arbeiten in die Handlung Merkmale und Motive von Detektivgeschichten (z. B. Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten) bzw. Abenteuergeschichten (z. B. Engström: Ihr kriegt mich nicht) ein. Als bekannte und erfolgreiche AutorInnen dieser Literatur sind vor allem Christine Nöstlinger, Uwe Timm, Marie-Aude Murail und Andreas Steinhöfel zu nennen. In den meisten Fällen sind komische Kinderromane zumeist komische Familienromane, die die veränderte Lebenswelt, Rollenbilder und Beziehungsmuster als Folie für komische Darstellungen nutzen, obwohl – und das muss man an dieser Stelle einwenden – auch die Defizite der kindlichen Situationen in den Blick genommen werden, auch wenn man sie nicht beklagt, sondern witzig-ironisch bewertet (vgl. Gansel 2010, S. 127). Der komische Familienroman möchte eine Pluralisierung der Familienformen (Ein-Eltern-Familien, Patchworkfamilien, homoerotische Lebensgemeinschaften) und gleichzeitig auch die Instabilität familiärer Gebilde (Trennung, Scheidung, Wieder- verheiratung) zeigen; Themen die eine Vielzahl von Kindern heute bewegen. Es werden auch geschlechtsspezifische Rollenbilder (neue Väter, neue Mütter), gewandelte Verhältnisse zwischen den Generationen ( jugendliche Eltern, früherwachsene Kinder) und veränderte Erziehungsziele und Erziehungsstile thematisiert. Die 1990er-Jahre sind gekennzeichnet durch eine Entdramatisierung des Generationskonflikts, beispielsweise ist die Auflehnung gegen Fremdbestimmung und gegen autoritäre familiäre Strukturen, wie man sie noch bei Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig findet, für die moderne Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit kein Thema mehr (vgl. Gansel 2010, S. 126). Dagegen wird häufiger die Problematik von Trennung und Scheidung sowie die Auseinandersetzung mit neuen Lebenspartnern und Stiefgeschwistern thematisiert. Auffallend ist das Ausmaß an Selbstverständlichkeit, mit der abweichende Familienformen gesehen und dargestellt werden. Die damit verbundene Tendenz zur Normalisierung und Liberalisierung spiegelt aber nur begrenzt die Wirklichkeitserfahrungen der Kinder wider, gleichzeitig werden Mediennutzungen und Konsumkindheiten noch wenig beleuchtet (vgl. Ewers 1995, S. 47). Nichtsdestotrotz prägen die komischen Familienromane ein gutes Eltern-Kind-Verhältnis, wie beispielsweise in Kirsten Boies Nella Propella, obwohl durchaus immer wieder Probleme im Familienleben von Mutter und Tochter auftauchen. Andererseits wird die Utopie der vollständigen, heilen und harmonischen Familie abgelöst durch den Blick auf andere Aspekte harmonischen Zusammenlebens, die weit über die Grenzen des alten Familienmodells hinausgehen: Partnerschaft, Liberalität, Toleranz, Akzeptanz von persönlichen Freiräumen, emotionale Wärme, Solidarität, Hilfsbereitschaft und Engagement. Die traditionelle Familie wird oft als Karikatur, als spießiges Gegenmodell zum toleranten, liberalen, kreativen und verständnisvollen Familienklima aufgezeigt (z. B. bei Andreas Steinhöfels: Paul Vier und die Schröders). Hier besteht die Gefahr einer neuen Klischeebildung, die kritisch verfolgt werden sollte (vgl. Daubert 2011, S. 98). | 11 12 | Positionen | Projekte | Publikationen Komische oder tragisch-komische Kinderromane sind nicht eindeutig Themen zuzuordnen, spielen aber häufig innerhalb einer Familie. Beispiele sind: Nöstlinger: Der Zwerg im Kopf (1989), Boie: Nella Propella (1994), Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008), Härtling: Mit Clara sind wir sechs (1991), Murail: Simpel (2007), Kuijer: Wir alle für immer zusammen (2001) Deutlich zeigt die Darstellung des modernen realistischen Kinderromans, dass er permanent auf sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse reagiert und Bezug nimmt. Während der problemorientierte und psychologische Kinderroman der 1970er und 1980er Jahre auf die Aufklärung der Wirklichkeit abzielte und versuchte, die Außen- und Innenwelt der Kinder realistisch zu erfassen und darzustellen, gleichzeitig aber dadurch auch die Schattenseiten der Gesellschaft zum Vorschein zu bringen, stellt der komische Kinderroman Spaß und Lebenslust in den Mittelpunkt ohne schönzufärben oder zu idealisieren (Gansel 2010, S. 128). Er greift aktuelle Bilder von Kindheit auf und verarbeitet sie mit anspruchsvollen, stilistischen Erzählmitteln, die zum Teil aus der Erwachsenenliteratur übernommen werden. Auch wenn es in der Darstellung von Kindheit Brechungen und auch Lücken gibt, wie Ewers feststellt (vgl. Ewers 1995, S. 47). Gerade diese Brechungen scheinen vor allem die Bearbeitung schwieriger, z. T. tabuisierter Themen attraktiv zu machen. 3.4.Ein Blick zurück: Die Kinder literatur in der DDR Bisher ist von „Tabubrechern und Wahrheitssprechern“ in der Kinderliteratur gesprochen worden, die seit den 1970er Jahren hauptsächlich im westdeutschen Raum publiziert wurde. Welche Tendenzen und Entwicklungslinien lassen sich für die in der DDR geschriebenen Kinderbücher beobachten? Realistische Kinderliteratur findet sich in der DDR bereits in den 1950er Jahren, als in den westdeutschen Kinderbüchern noch eine Art heile Welt konstruiert wurde, die die Kinder vor Konflikten und Problemen aller Art bewahren sollte und sie in einen Schonraum verwies, der nur den Kindern vorbehalten schien. Die nach dem Krieg in der DDR entstehenden Kinderbücher dagegen standen zunächst stark im Zeichen der Bekämpfung des nationalsozialistischen Gedankengutes und verstanden sich als Erziehungshilfe beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung (vgl. Richter 1995 und Lüdecke 2006). Wer schrieb die neuen Kinderbücher, auf welche Literatur konnte zurückgegriffen werden? Zu den ersten Autoren der neu gegründeten Verlage gehörten heimkehrende Exilanten – linksbürgerlich oder sozialistisch – wie Bertolt Brecht, Alex Wedding, Ludwig Renn oder Friedrich Wolf. Die Kinderlieder und Gedichte Brechts, die in der Tradition der proletarisch-revolutionären Literatur geschriebenen Geschichten von Alex Wedding und Auguste Laszar oder die Tiermärchen des Dramatikers Friedrich Wolf (Die Weihnachtsgans Auguste ist noch heute als witzig-liebevolle Weihnachtsgeschichte bekannt) waren neben Werken des klassischen Erbes und Übersetzungen sowjetischer Kinderliteratur das „Gründungskapital“ der beginnenden sozialistischen Kinderliteratur der DDR. Über Preisausschreiben des Ministeriums für Kultur wurden neue, junge Autoren geworben. So kam in den 1950er-Jahren Erwin Strittmatter zur Kinderliteratur und es begannen Alfred Wellm, Karl Neumann, Benno Pludra und später Gerhard Holtz-Baumert für Kinder zu schreiben. Strittmatters Tinko, bei seinem Erscheinen heftig umstritten, kann man noch heute als einen ästhetisch anspruchsvollen Kinderroman lesen, der poetisch und realistisch zugleich von existenziellen Konflikten zwischen den Generationen während der Zeit der Bodenreform erzählt. Die frühen Erzählungen von Wellm, Neumann oder Pludra spielen fast alle auf dem Dorf, sind von den literarischen Strukturen her relativ simpel konstruiert und erzählen, wie der Einzelne in die Gemeinschaft von Kindern und Erwachsenen findet und sich darin als gesellschaftlich nützlich erweisen kann. In der Kinderliteratur der 1960er-Jahre lässt sich beobachten, dass der Einzelne aus dem Kollektiv herauszutreten beginnt und die Verantwortung der Gemeinschaft für den Einzelnen zunimmt. Ganz langsam bekommt das Individuum eigenwilligere Konturen (z. B. bei Pludra: Reise nach Sundevit (1965); Positionen | Projekte | Publikationen Pludra: Lütt Matten und die weiße Muschel (1963)), märchenhaft-phantastische Sujets werden ausprobiert (Fühmann: Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (1960)), es darf herzhaft gelacht werden (Holtz-Baumert: Alfons Zitterbacke (1958)). Die 1970er und 1980er-Jahre bringen dann den Aufbruch und die Reise der literarischen Helden zu sich selbst. Die Erzählstrukturen werden offener, die Konfliktgestaltungen verschärfen sich. Nach wie vor ist Benno Pludra einer der wichtigsten Kinderbuchautoren in der DDR (Insel der Schwäne (1980); Tambari (1969); Das Herz des Piraten (1985)), vom Umfang seines Werkes ist er vielleicht vergleichbar mit Peter Härtling, aber in seinem literarischen Stil finden sich stärker mythische und märchenhafte Bezüge. Dies findet man auch bei anderen Autoren dieser Zeit. Alfred Wellm schreibt die berührende Geschichte von Karlchen Duckdich (1977) und Gerhard Holtz-Baumert schickt seine jugendlichen Helden auf die Abenteuer der Landstraßen (Trampen nach Norden (1975)). Mit Peter Abrahams Das Schulgespenst (1978) und Uwe Kants Der kleine Zauberer (1974) vor allem aber mit den Erzählungen von Christa Koczik kommen nun auch verstärkt phantastische Erzählweisen in die Kinderliteratur der DDR. Sie erzählt von dem viel zu langsam agierenden, nachdenklichen Jungen Moritz, der in einer Litfaßsäule wohnt und mit einer Katze spricht (Moritz in der Litfaßsäule (1980)) oder von einem auf einem Fensterbrett landenden Engel, dem die Flügel gestutzt werden sollen (Der Engel mit dem Schnurrbart (1983)). Diese Figuren können sicher am ehesten als „Tabubrecher“ im o. g. Sinne bezeichnet werden. Wahrheitssprecher sind aber auch der Bauernjunge Tinko, die sich ständige verwandelnde Meta Morfoss in der surrealen Geschichte von Peter Hacks oder der Junge Umberto in einem der letzten in der DDR erscheinenden Kinderbücher von Günther Saalmann. Jakob heimatlos (1999) von Benno Pludra ist schon ein Grenzgänger zwischen den Welten, wie der Titel bereits suggeriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Besonderheit der Kinder- und Jugendliteratur der DDR darin besteht, sich von Anfang an und durch alle | 13 Phasen hindurch immer als Teil der Nationalliteratur zu verstehen (vgl. Richter 2005/Steinlein 2006). Sie ist nicht mehr nur – wie traditionell üblich – intentionale Literatur, d. h. auf eine bestimmte Lesergruppe bezogene und für sie geschriebene Literatur, vielmehr kann ihre Entwicklung immer im Zusammenhang mit der für Erwachsene gesehen werden. Bestimmte Veränderungen von Inhalten, Formen, Themen, Figurenkonstellationen, Handlungsräumen u. Ä. können in der Literatur für Kinder genauso wie in der für Erwachsene beobachtet werden. Das vielleicht hervorstechendste Politikum der Kinderliteratur der DDR ist jenes, das Karin Richter so benennt: „Kinder- und Jugendliteratur der DDR bindet in allen Phasen ihrer Entwicklung kindliches Leben in die dominanten gesellschaftlichen Prozesse ein. So zeigt sich in der Auseinandersetzung kindlicher Helden mit Vätern oder Großvätern niemals nur ein familialer Konflikt, sondern sie bedeutet das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher gesellschaftlicher Auffassungen.“ (Richter 1995, S. 32) 4. Literatur als Erfahrungsraum Kinder brauchen Geschichten. Sie sind der Raum, in dem Kinder ihre Erfahrungen verarbeiten können. Wie kann politisches Lernen mit Kinderbüchern, mit erzählten und gelesenen Geschichten befördert werden? Wie kann sich dadurch die Erfahrungsfähigkeit der Kinder entwickeln? Beispielhaft sollen mit Alfred Wellm, Albert Wendt und Andreas Steinhöfel drei Autoren vorgestellt werden, mit deren literarischen Helden sich Kinder damals und heute identifizieren könnten, wenn sie eigene ähnliche Erfahrungen verarbeiten oder fremde Erfahrungen kennenlernen wollen. 1977 schrieb Alfred Wellm die Erzählung Karlchen Duckdich. Sie ist 1992 noch einmal in der Klassikerausgabe von DDR Kinderliteratur des Verlages Faber und Faber publiziert worden. Erzählt wird, wie Kristina und ihr großer Bruder Karlchen versuchen, sich in der großen Stadt (es könnte Berlin sein) zurechtzufinden, nachdem sie das Dorf Vierfelde und die Großmutter Zumba verlassen mussten - ein Vorgang, der auch heute noch 14 | Positionen | Projekte | Publikationen Abb. 2: Wellm – Karlchen Duckdich Kindern widerfährt, wenn sie gezwungen sind, vertraute Kindheitsorte zu verlassen und sich an neuen Orten einrichten zu müssen. Karlchen läuft mit seiner kleinen Schwester durch die fremden Straßen (vgl. Abb. 2). Alles ist anders, als sie es gewohnt sind. Sie fürchten und wundern sich sehr. Kristina glaubt, dass die Schaufensterpuppen verzauberte Königstöchter sind. Karlchen glaubt das nicht, aber er widerspricht ihr nicht, sondern erfindet sogar noch etwas dazu: den König der Dolomiten, dessen Schloss hinter dem blauen Zaun steht. Am blauen Zaun lauern die großen Jungen, die sie hänseln und verhauen wollen. Karlchen beschützt seine Schwester und lenkt sie mit den erfundenen Märchen ab. Auch am Abend sind die Kinder allein. Vor dem Einschlafen darf Kristina immer drei Fragen stellen, die man ihr beantworten muss. Eines Abends will sie von ihrem Bruder wissen, ob die Schaufensterpuppen wirklich verzauberte Königstöchter sind und es wirklich den König der Dolomiten gibt und sein Schloss hinterm blauen Zaun. Der Bruder muss zu- geben, dass alles nur erfunden ist. Enttäuscht und traurig wendet sich die Schwester ab. Die Märchen sind entzaubert. Aber in der Nacht schleicht sie zu ihrem Bruder. Er muss ihr schwören, dass sie am nächsten Tag wieder in die Dolomitenstraße zu den schönen verzauberten Königstöchtern gehen. Der Bruder verspricht es. Die Märchen kehren zurück (vgl. Kohl, 2014, S.132). Die Erzählung ist eine Bruder- und SchwesterGeschichte und ähnelt darin klassischen Volksmärchen wie Hänsel und Gretel oder Brüderchen und Schwesterchen, in denen sich Geschwisterpaare in einer Notlage befinden, die sie gemeinsam bewältigen müssen. In den Volksmärchen hilft den Kindern, dass sie fest aneinander glauben und alle Prüfungen, die ihnen das Schicksal auferlegt, tapfer bestehen. Die eigentliche Lösung des Konfliktes vollbringt allerdings das Wunder, das zur rechten Zeit zur Stelle ist, wenn sich die Kinder genügend Mühe gegeben haben. In Karlchen Duckdich gibt es kein märchenhaftes Wunder, das rettend eingreift. Hier rettet die Kinder nur, wenn man überhaupt von Rettung sprechen kann, dass sie in der Lage sind, ihre eigene Phantasie produktiv werden zu lassen. Die eigene kindliche Phantasie kann und muss einen Schutzraum bieten vor der Fremdheit und Einsamkeit, die die Geschwister in der Großstadt erleben. Eine andere Hoffnung gibt es nicht. Das erscheint bitter, aber Wellm erzählt es ohne jeden Vorwurf und sucht keine Schuldigen. Tröstlich bleibt, wie liebevoll die Geschwister miteinander umgehen und wie sie dem Zauberlicht der Märchen vertrauen, das der Autor behutsam anknipst. Alfred Wellm nutzt dieses poetische Credo bereits in einer schon 1966 geschriebenen Geschichte über das Mädchen Heika (Wellm: Das Mädchen Heika), das große Mühe hat, lesen zu lernen und dessen Not erst die Buchstaben des Märchenbuches lindern helfen. Auch die späteren Texte Wellms (Wellm: Das Mädchen mit der Katze; Wellm: Der kleine Wruk) verweisen immer wieder auf die Kraft und die Magie der eigenen Phantasie, einer zutiefst menschlichen Fähigkeit, die gepflegt und behütet werden will. Positionen | Projekte | Publikationen Abb. 3: Wendt – Sauwetterwind Fünf Jahre nach Alfred Wellms Karlchen Duckdich wird zum ersten Mal Albert Wendts Hörspiel Der Sauwetterwind, im Rundfunk der DDR gesendet; 2005 schreibt Wendt die Prosafassung des Stückes, sie erscheint im Leiv Verlag in Leipzig. Der Sauwetterwind kann wie die meisten Stücke Albert Wendts als Märchendramatik bezeichnet werden, tatsächlich erscheinen die Geschichten im märchenhaften, oft allegorischen Gewand, in ihrem Inneren aber haben sie alle einen sozialkritischen und höchst politischen Kern. Insofern muss eine Aufteilung in realistische oder phantastische Kinderliteratur hier wie in den meisten anderen Beispielen immer wieder fragwürdig erscheinen. Ein zwölfjähriger Junge – Herrmann genannt – fährt mit seinem Drahtesel jeden Morgen aus dem Dreihäuserdorf über die Felder und Wiesen zur Schule. Der Weg ist lang, das Fahrrad – ‚Herr von Knacke‘ genannt – ist alt und klapprig, und eines Morgens bläst zudem ein so heftiger Wind, der zum Sauwetterwind anschwillt, dass der Junge zu spät und klitschnass zum Unterricht kommt und von der besorgten Lehrerin auf den Ofen gesetzt wird, um wieder zu trocknen. Dazu allerdings muss er vor der versammelten Klasse seine Hosen ausziehen, wogegen sich der Junge erbittert wehrt. Die Demütigung erträgt er nur, indem „Herrmann auf dem Throne“ sich wünscht, tot zu sein. Der Tod kommt zu dem Jungen, aber er weigert sich, ihn mitzunehmen und hüllt ihn vielmehr in den Mantel des Schweigens. Von nun an spricht der Junge kein Wort mehr. Alle bemühen sich um ihn, der Schuldirektor wagt sogar einen Selbstversuch, indem er sich auch die Hosen ausziehen und auf den Ofen setzen lässt. Auch er verstummt, als er zu ahnen beginnt, was im Inneren des Jungen vorgegangen sein muss. Erlöst wird der Junge schließlich von der Frühlingsbrise, die er beim Heimradeln trifft und die sanft über die Felder weht und wärmt und ihn kitzelt und zum Lachen bringt, sodass er sein Schweigen aufgeben muss. Demütigungen von Kindern sind ein uraltes Thema der Literatur, in Albert Wendts Geschichten finden sie sich immer wieder. Sie werden bei ihm nie bagatellisiert oder weggetröstet, sie sind so schlimm, wie sie sind. Darin ähnelt seine Poetik der von Wellm. Aber es gibt immer einen Hauch Hoffnung, der Lösungsmöglichkeiten zumindest andeutet. Darin wiederum ähneln seine Geschichten allen guten großen Kindergeschichten. In einer der zuletzt veröffentlichten Geschichten Albert Wendts Bummelpeters Weihnachtsfest (2000 erschienen und seit 2013 auch auf einer Berliner Bühne als Weihnachtsmärchen gespielt), erzählt Wendt, wie ein kleiner Junge am Heiligabend vergeblich an vielen Türen des Dorfes klopft, nachdem er in den zugefrorenen Dorfteich gefallen ist. Niemand öffnet ihm, alle schicken ihn nach Hause. Aber nach Hause kann er nicht, denn die Tante kommt erst spät von der Arbeit. So kriecht er schließlich (Analogien zur alten christlichen Weihnachtsgeschichte sind unübersehbar) zu den Schafen in den Stall und wärmt sich an ihrem Fell. Halbtot findet ihn der Schäfer und schleppt ihn ins Krankenhaus, wo eine resolute Krankenschwester („mir stirbt am Heiligabend kein Kind“) ihn wieder aufpäppelt. Der Held überlebt knapp, die Notsitua- | 15 16 | Positionen | Projekte | Publikationen tion, das versteht man gut beim Lesen, kann jederzeit und an jedem Ort der Welt wieder eintreten. Andreas Steinhöfel ist heute einer der meistgelesensten und beliebtesten Kinderbuchautoren. Sein Werk für Kinder und Jugendliche ist sowohl inhaltlich als auch formal sehr vielschichtig. Immer wieder erprobt er neue Genre und neue Erzählweisen. Mit gekonntem Sprachwitz, unsentimentaler und gleichzeitig emphatischer Erzählweise räumt er mit gängigen Klischees im Kinderbuch radikal auf. Die Helden in den Büchern Steinhöfels sind überwiegend Außenseiter: Kinder, die ihren Eltern egal sind, Ungeliebte, Scheidungskinder, seelisch Obdachlose, Vaterlose, Geschlagene. Oft sind sie mit einem Handicap versehen (zu dick, zu langsam, zu aufmüpfig, zu klug). Tapfer machen sie sich dennoch immer wieder auf den Weg, lachen sich ihre Angst weg und verteidigen ihre Defizite. Der Autor teilt mit ihnen die Hoffnung, dass doch noch alles gut werde und verrät sie nie (vgl. Kohl 2013, S. 9ff). Abb. 4: Steinhöfel – Rico Eines seiner bekanntesten Werke dürfte die Trilogie um das ungleiche Jungenpaar Rico und Oskar sein, die in einem Berliner Kiez leben und die gemeinsam abenteuerliche Situationen erleben und bewältigen. Mit Rico und Oskar präsentieren sich neue, ungewöhnliche Figuren, die es so in der Kinderliteratur noch nicht gegeben hat. Sie agieren in einem sensibel ausgeleuchteten sozialen Milieu auf humorvolle und sehr ehrliche Weise. Während der langsame, in der Förderschule unterrichtete Rico, der sich selbst als „tiefbegabt“ bezeichnet, eigentlich immer gut gelaunt und voller phantasievoller Ideen ist, überlegt der zarte, sensible und überschlaue Oskar, ein offensichtlich „hochbegabtes“, aber sehr einsames Kind, nicht so lange, urteilt messerscharf, aber oft nervig. Rico hat gelernt seine Defizite zu verteidigen und mit den oft schwierigen Umständen seines Familienlebens klarzukommen. Als er Oskar trifft, entspinnt sich zwischen beiden eine Freundschaft, die beiden Jungen über vieles die Augen öffnet. Die hier gezeigten Beispiele sind von ihren Autoren auf ganz verschiedene Weise in die Kinderbuchwelt buchstabiert worden: leise und poetisch, trotzig und kurios, traurig und komisch. Es wird mit phantastischen Mitteln (Schnipselgestrüpp, Der Sauwetterwind), mit Elementen aus dem Märchen (Karlchen Duckdich) oder entsprechendem Witz (Rico, Oskar und die Tieferschatten) die soziale Wirklichkeit gespiegelt und auch gebrochen. Karlchen Duckdich, der kleine Herrmann, Bummelpeter, Rico und Oskar sind von Autoren konstruierte, fiktive literarische Figuren, mit denen ihre kindlichen Leser in der Zeit ihrer Lektüre eine Beziehung aufbauen können, die durchaus in die lebendige Welt hinüberreicht. In ihrem Kern sind es allesamt Sozialstudien, die Lebensmodelle einer Gesellschaft beschreiben, die ein Miteinander und Füreinander der Menschen Kinder und Erwachsene - dringend brauchen. Positionen | Projekte | Publikationen Literatur Daubert, Hannelore (2011): Moderne Kinderromane. In: Lange, Günter (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen – Gattungen – Medien – Lesesozialisation und Didaktik. Baltmannsweiler, S. 87-105. Ewers, Hans-Heino (1995): Veränderte kindliche Lebenswelten im Spiegel der Kinderliteratur der Gegenwart. In: Daubert, Hannelore/Ewers, Hans-Heino (Hrsg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Braunschweig, S. 35-48. Ewers, Hans-Heino (2005): Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Ein Beitrag zu ihrer Definition und zur Terminologie ihrer wissenschaftlichen Beschreibung. In: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1, Baltmannsweiler, S. 2-16. Friese, Julia/Duda, Christian (2010): Schnipselgestrüpp. Zürich. Gansel, Carsten (2010): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 4. überarb. Aufl., Berlin. Gelberg, Hans-Joachim (2005): die Worte die Bilder das Kind. Über Kinderliteratur. Weinheim. Steinlein, Rüdiger / Strobel, Heidi / Kramer, Thomas (Hrsg.) (2006): Handbuch zur Kinder-und Jugendliteratur der SBZ/DDR. Von 1945-1990. Stuttgart. Kohl, Eva Maria (2014): Kinder & Märchen. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze. Kohl, Eva Maria (2013): Leute, redet miteinander! Laudatio auf Andreas Steinhöfel. In: JuLit Heft 4/2013, S. 9-11. Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt . Lüdecke, Marianne (2006): Realistische Erzählungen und Romane mit Gegenwartsstoffen und zeitgeschichtlichen Themen. Überblick 1945 bis 1965. In: Steinlein, Rüdiger / Strobel, Heidi / Kramer, Thomas (Hrsg): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR. Von 1945-1990. Stuttgart. Richter, Karin/Plath, Monika (2005): Lesemotivation in der Grundschule. München. Richter, Karin (2005): Kinder- und Jugendliteratur in der DDR. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinderund Jugendliteratur Hohengehren. S. 137-156. Richter, Karin (1995): Die andere Kinderwelt. Ein Blick ins Kinder- und Jugendbuch der DDR. In: Arbeitskreis für Jugendliteratur e. V. (Hrsg.): Zwischen Bullerbü und Schewenborn. Auf Spurensuche in 40 Jahren deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur. München, S. 29-46. Ritter, Alexandra & Michael (2013): Sichtungen im "Schnipselgestrüpp". Einblicke in ein Forschungsprojekt zur (Re-)Konstruktion von (literarischen) Sinnstrukturen bei der Rezeption von Bilderbüchern im pädagogischen Kontext. In: Kruse, Iris/Sabisch, Andrea (Hrsg.): Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel, Denkspiele, Bildungskonzepte. München, S. 125-136. Wellm, Alfred (1977): Karlchen Duckdich. Kinderbuchverlag, Berlin. Wendt, Albert (2005): Der Sauwetterwind. Leiv Verlag, Leipzig. Wendt, Albert (2010): Bummelpeters Weihnachtsfest. Jungbrunnen Verlag, Wien. | 17 18 | Positionen | Projekte | Publikationen Michael Ritter Das Wunderbare von nebenan Franz Fühmanns märchenhafte Kindererzählungen im Spiegel sich verändernder poetischer Konzeptionen Annäherungen Zwei Zitate Franz Fühmanns am Anfang dienen als Einstieg: „Instrumentalcharakter von Literatur, [...] das heißt wieder deren Reduzierung auf Publizistik oder Didaktik, und das wieder heißt für die Literatur, der Gesellschaft statt durch Reichtum und Stärke durch Verarmung und Schwäche zu dienen.“ (Fühmann 1993a, 50) „Die Kinder sind das dankbarste Publikum, das intelligenteste, das kritischste, das verständigste, das aufgeschlossenste, das sachkundigste, kurzum, das ideale Publikum. Für Kinder zu schreiben [...] das ist einfach eine Freude und eine Wohltat. Ich mach’s also nicht zuletzt aus dem ganz egoistischen Grunde, weil ich mich dabei erhole, weil es mir unheimlichen Spaß macht.“ (Fühmann, zit. nach Heinze 1998, 290) Der erste Kommentar ist als Wort an künftige Kollegen dem gleichnamigem Vortrag aus dem Jahr 1972 vor der Sektion Literatur und Sprachpflege der Akademie der Künste der DDR entnommen und richtet sich nicht explizit an AutorInnen von Kinderliteratur. Das Interview mit Josef Herrmann Sauter, dem das zweite Zitat entstammt, datiert auf das Jahr 1971. Mit Franz Fühmann äußert sich hier ein Autor, dessen Schriften für Erwachsene und Kinder in der DDR am Anfang der 1970er Jahre einen hohen Stellenwert einnehmen und der auch in der BRD Interesse zu wecken beginnt, das sich 1982 sogar in der Verleihung des Geschwister-Scholl- Preises manifestiert. In beiden Aussagen schwingt ein starkes Bestreben mit, Literatur für Kinder (wie auch die für Erwachsene) nicht lediglich als Werkzeug pädagogisch-ideologischer Einflussnahme zu verstehen. Kinder als Adressaten von Literatur werden dabei im Blick des Autors als Gegenüber auf Augenhöhe wahrgenommen, ohne dass jedoch die Unterscheidung von den erwachsenen LeserInnen aufgehoben wird. Diese große Wertschätzung des Schriftstellers Fühmann manifestiert sich gerade in dieser Zeit auch literarisch in seinen – explizit an Kinder und Jugendliche gerichteten – anspruchsvollen Märchensammlungen und ambitionierten Mythen- und Epennacherzählungen/-adaptionen, z. B. die internationale Märchensammlung Das Tierschiff (1965), die adaptierten Shakespeare-Märchen (1968), die Neufassungen der antiken Stoffe Androklus und der Löwe (1966) und Das hölzerne Pferd: Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus (1968) – 1974 wird Prometheus folgen – und die mittelalterlichen Epen Reineke Fuchs (1964) und Das Nibelungenlied (1971). Diese akkomodativen Bearbeitungen der klassischen Stoffe erfahren bis heute viel Aufmerksamkeit; beispielhaft zu erwähnen sind die aufwendigen Neuerscheinungen der griechischen Mythen mit Bildern von Angela Hampel (2004) und Susanne Janssen (2011). Fühmann gelingt es in diesen Arbeiten, philosophische Tiefe und vielschichtige Darstellungen menschlicher Erfahrungen in Formate zu übersetzen, die bereits Kinder und Jugendliche nachhaltig faszinieren können. Allerdings gehören zum Werk des Kinderbuchautors Franz Fühmann auch Texte wie die Geschichte Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte (1959). Bereits der Titel dieses Positionen | Projekte | Publikationen Buches – das ebenfalls noch heute im Buchhandel verfügbar ist – lässt Brüche und Widersprüche in der poetischen Konzeption Fühmanns erahnen, wenn sich hier struwwelpedriateske Belehrungsliteratur andeutet. Sicherlich ist ein genauerer Blick angebracht, doch wirft diese erste Beobachtung Irritationen auf, die einen exemplarischen Zugang zu den Eigenarten des literarischen Werkes von Franz Fühmann eröffnen. Diesen nutzend möchte der folgende Beitrag Kontinuitäten und Brüche in der kinderliterarischen Darstellungskonzeption des Autors verfolgen. Exemplarische Aufmerksamkeit erfahren dabei lediglich die eigenständigen märchenhaften Erzählungen wie auch einige Puppenspiele Franz Fühmanns. Die literaturtheoretischen und philosophisch-ideologischen Leitlinien dieser Texte werden in biografischer Perspektive beleuchtet und besonders mit Blick auf gravierende individuelle und weltanschauliche Krisensituationen am 1 Ende der 1960er Jahre diskutiert. Aus der Kindheit im Märchenwald zum Märchendichter der ersten Stunde Für den 1922 im böhmischen Rokytnice nad Jizerou (damals Rochlitz an der Iser) geborenen Apothekersohn Franz Antonia Josef Rudolf Maria Fühmann wird die Heimat des Riesengebirges zum prägenden Stoff seiner Literatur. Dort, wo Rübezahl zuhause ist, wächst der junge Fühmann in einer Welt auf, in der die Märchen Wirklichkeit zu sein scheinen. „Auf einem Hügelchen unten im Tal ein winziges Wäldchen wie ein verirrter Igel: Der Märchenwald meiner Kindheit. Dort die tapferste Tat meines Lebens: Allein abends am Hexenhaus vorbei. [...] Ich komme [...] aus einer Landschaft her, wo die Märchen einfach zu Hause sind.“ (Fühmann, zit. nach Heinze 1998, 13f) Gepaart mit der deutsch-nationalen Gesinnung des Vaters und der zum Fanatismus und Spiritismus neigenden katholischen Religiösität der Mutter (vgl. 1 Die zahlreichen Märchen- und Mythennacherzählungen und -adaptionen müssen hier aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben, was thematisch zwar vertretbar ist, aber keinesfalls als Wertung missverstanden werden soll. Decker 2009, 28ff) liegt hier ein wichtiger Wurzelgrund für die streng polarisierenden Weltanschauungen, denen sich Franz Fühmann in seinem Leben immer wieder zuwenden wird. Der Ausbruch aus der Familie führt in die Gefolgschaft der Nationalsozialisten. Nach Kriegsdienst und Gefangenschaft wird er als bekehrter Stalinist ins befreite Deutschland zurückkehren und in der DDR – dem Deutschland seiner Wahl, diese Entscheidung wird er trotz aller Verwerfungen bis zu seinem Tod verteidigen – widmet er sich als politischer Funktionär in der NDPD der Kulturpolitik. Ab 1958 bis zu seinem Tod ist er als Schriftsteller ausschließlich freiberuflich tätig. In den sich hier andeutenden biografischen und weltanschaulichen Brüchen des Franz Fühmann bleibt das Märchen eine Konstante, die in den Fünfzigerjahren auch den Einstieg in die schriftstellerische Arbeit prägt. Bereits früh fördert der Vater Fühmanns das sprachlich-literarische Talent seines Sohnes, erste Gedichte erscheinen auf dessen Betreiben bereits in den Kriegsjahren in verschiedenen Zeitschriften. In den Jahren seines Parteidienstes sind es ebenfalls vor allem Gedichte, die neben ersten Novellen und Erzählungen den Schriftsteller Fühmann als Dichter ins Blickfeld der Republikkultur rücken. Die beiden Gedichtbände Die Nelke Nikos (1953) und Aber die Schöpfung soll dauern (1957) enthalten aber auch eine Vielzahl an Gedichten, die Märchenstoffe adaptierend das neue poetische und weltanschauliche Selbstverständnis Fühmanns offenbaren. In enger Verbindung dieser beiden Ebenen ist es eben das Märchen, das Fühmann selbst zur Konzeption seiner Lyrik (vgl. Fühmann 1993b, 486) erklärt. „Alle Märchen werden Wirklichkeit werden...“ (Maurer 1954, zit. nach Krätzer 1998, 51) fasst Georg Maurer die Haltung zusammen, die jene Gedichte ausdrücken, und ebenjener Optimismus, diese Hoffnungsgläubigkeit spricht aus den Texten, in denen sich Fühmann nach den schockierenden Jahren des Nationalsozialismus einer neuen Zukunft zuwendet, die nun das Paradies verspricht, das bereits in seiner Kindheit als Utopie omnipräsent war, in den zerrütteten Beziehungen der Eltern Fühmann jedoch Rhetorik und Wunschtraum bleiben musste. | 19 20 | Positionen | Projekte | Publikationen Und doch sind Fühmanns Gedichte keine naiven Realitätsentwürfe. Es sind Versuche der Neudeutung, in denen gerade das große Bekanntheitspotenzial der Märchen als intertextueller Stoff mit hohem tradierten Sinnpotenzial umgedeutet werden soll. In seinem Gedicht Der Müller aus dem Märchen (Fühmann 2008, 288) nimmt er die Perspektive des feudalistisch unterworfenen Proletariers ein, der eher aus Hilflosigkeit vor der majestätischen Erscheinung des Fürsten als aus bösem Willen seiner Tochter die Fähigkeit bescheinigt, Stroh zu Gold spinnen zu lassen. Das Resümee in den letzten beiden Zeilen ein deutscher Müller, bieder und brav, den der Keulenschlag des Königs traf. pointiert diese Entlastung noch einmal. Das Lob des Ungehorsams (ebd. 293f) thematisiert die fatalen Folgen blinden Gehorsams, aber auch die Kraft des eigenen Willens, indem das Geislein als Widerpart der mütterlichen Autorität reinszeniert und damit aber seine Rettung ermöglicht wird. Biografische Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zur Fühmann bis an sein Lebensende quälenden Selbstbefragung nach den Grenzen des eigenen Gehorsams – gerade mit Blick auf die Gaskammern von Auschwitz: Hätte er vor ihnen gehorcht? – schwingen hier deutlich mit. Lob des Ungehorsams Sie waren sieben Geißlein Und durften überall reinschaun, Nur nicht in den Uhrenkasten, Das könnte die Uhr verderben. Hatte die Mutter gesagt. Es waren sechs artige Geißlein, Die wollten überall reinschaun, Nur nicht in den Uhrenkasten, Das könnte die Uhr verderben, Hatte die Mutter gesagt. Es war ein unfolgsames Geißlein, Das wollte überall reinschaun, Auch in den Uhrenkasten, Da hat es die Uhr verdorben, Wie es die Mutter gesagt. Dann kam der böse Wolf. Es waren sechs artige Geißlein, Die versteckten sich, als der Wolf kam, Unterm Tisch, unterm Bett, unterm Sessel, Und keines im Uhrkasten, Sie alle fraß der Wolf. Es war ein unartiges Geißlein, Das sprang in den Uhrenkasten, Es wusste, dass er hohl war, Dort hat’s der Wolf nicht gefunden, So ist es am Leben geblieben. Da war Mutter Geiß aber froh. Abb. 1: © Rostock: Hinstorff, 2013 Positionen | Projekte | Publikationen Mit dem Lob des Ungehorsams liegt auch ein erster Text vor, der – wenn auch erst deutlich später – als Literatur für Kinder begriffen wurde. 1971 nahm Hans-Joachim Gelberg das Gedicht in sein erstes Jahrbuch der Kinderliteratur (Gelberg 1971) auf. 2013 erschien es als Bilderbuch mit Illustrationen von Kristina Andres im Hinstorff-Verlag (Fühmann/Andres 2013). Fühmann selbst begriff sich zu dieser Zeit jedoch noch nicht als Schriftsteller für Kinder. Seine Gedichte richteten sich an Erwachsene. Seit 1958 schrieb er keine Gedichte mehr, jedoch erschien noch 1962 sein Lyrikband Die Richtung der Märchen, der als Auswahlband zahlreiche Märchengedichte Fühmanns versammelte. In diesem Band zeigt sich der Prozess der sich aus der starken Verwobenheit Fühmanns mit den Stoffen der Märchen entwickelnden poetisch-konzeptionellen Verdichtung einer Poetologie. Und es deutet sich an, dass das Märchen nicht nur die lyrische Konzeption Fühmanns darstellte. Denn längst waren nun die beiden Bücher erschienen, mit denen Fühmann ganz gezielt die Bühne der Kinderliteratur betreten hatte, die sich aber nahtlos an die bisherigen konzeptionellen Leitlinien der „gleichnishaften Lehrstücke“ (Krätzer 1998, 51), wie Jürgen Krätzer Fühmanns Märchenlyrik der Fünfzigerjahre bezeichnet, anschließen. die Moritz wegen seiner Abneigung zu Sauberkeit nur ungenügend oder gar nicht zu lösen vermag. Schließlich spitzt sich der Konflikt derart zu, dass Moritz im Affekt mit der Zerstörung des Märchenlandes durch eine Bombe droht und postwendend von der Schmutzhexe ins Schmutzland entführt wird. Während Moritz zuerst begeistert mitgeht, regt sich bald Abneigung gegen die neuen Lebensverhältnisse. Mit der Hilfe von Frau Piepermann und den Kindern, nicht zuletzt aber auch seiner eigenen Courage wegen, können die Schmutzhexe schließlich befreit und die Prinzessin erlöst werden. Diese zieht am Ende mit ins Kinderheim, wo auch der geläuterte Moritz wieder gern unterkommt. Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte (1959) Mit seiner ersten Kindergeschichte, die 1959 als Bilderbuch (mit Bildern von Inge Friebel) im Kinderbuchverlag Berlin erscheint, ist Fühmann auch in diesem Literatursegment sofort erfolgreich. Der bereits namhafte Autor erzählt die Geschichte des Jungen Moritz, der in einem Kinderwochenheim lebt, das „außen gelb und innen violett“ (Fühmann 1959, o. S.) ist. Zum Leidwesen der anderen Kinder und der Leiterin des Kinderheims Frau Piepermann mag Moritz sich nicht waschen. Als ein König auftaucht, der die Kinder bittet, seine verwunschene Prinzessin zu befreien – sie schläft einen Zauberschlaf – wird Moritz dennoch ausgewählt, an der Befreiung mitzuwirken. Auf dem Weg ins Märchenland warten drei Aufgaben auf die Kinder, Abb. 2: © Rostock: Hinstorff, 2012 Diese Geschichte, die auf Anregung seiner Tochter Barbara entstand (Fühmann 2008, 340), verarbeitet in unterschiedlicher Weise die Strukturen und Motive des Märchens. Bereits der Titel verweist auf das Märchen Vom Büblein, das sich nicht waschen wollte | 21 22 | Positionen | Projekte | Publikationen (Bechstein, zit. nach Wardetzky 2006, 583). Wie bei Bechstein gerät auch Moritz durch sein abweichendes Verhalten in die Fänge des Bösen. In seinem Falle ist es aber die Gemeinschaft, das Kollektiv, mit deren Hilfe Moritz das Böse überwinden kann und seine Erfüllung in der Reintegration in die Gruppe und der Übernahme von deren Wertmaßstäben findet. Auffälliger jedoch fällt die starke Vermischung realistischer und phantastischer Gestaltungsstrukturen und Motive ins Auge. So stellt der Handlungsort der Rahmenerzählung ein Kinderwochenheim dar, wie es in der DDR der Fünfziger- und Sechzigerjahre durchaus üblich war. Auch die institutionellen Strukturen zeigen, dass die Handlung im jungen Arbeiter- und Bauernstaat verortet ist. Moritz ist bei Auftauchen des Königs Pionier vom Dienst und als alle Kinder das Kinderheim verlassen, muss der König diesen Posten übernehmen. Mit dem Thema Sauberkeit sind nicht nur ein prinzipieller Hygienemaßstab und eine Erziehungsaufgabe in der Kindheit benannt. Ebenso tangiert das Thema ein zentrales Gebot der Jungpioniere: „WIR JUNGPIONIERE treiben Sport und halten unsere Körper sauber und 2 gesund.“ Insofern wird hier auch ein Kernthema der institutionalisierten sozialistischen Erziehung in den Blick gerückt. Schließlich eröffnet sich noch ein weiterer, auf den Autor bezogener Realitätsbezug. Auch dessen eigene Tochter Barbara, die ebenfalls in einem Kinderwochenheim aufwuchs, taucht in der Figur der Bärbel als eine der Hauptfiguren neben Moritz in der Geschichte auf. Der realistische Rahmen verbindet sich jedoch schon bald mit märchenhaften Elementen und Strukturen. Der plötzlich im Kinderheim auftauchende König stellt nicht nur ein historisch überholtes Relikt in der Kinderheimszenerie dar, er gibt sich auch sofort als Herrscher des Märchenlandes zu erkennen. Während die Kinder auf seine Existenz einigermaßen überrascht reagieren, ist die Existenz dieses Landes für Frau Piepermann keine Überraschung. Sie besitzt sogar eine Landkarte 2 http://www.documentarchiv.de/ddr/jp-gebote.html [abgerufen am 09.01.2014] davon, kann den Kindern im Gegensatz zum König den Weg erklären und ruft sogar vorsorglich den Pförtner des Landes an, um die Ankunft der Kinder anzukündigen. Während der König nur von Berufs wegen nicht in die DDR gehört, bleiben fantastische Elemente dann auf das Märchenland beschränkt. Sprechende Tiere und andere Zauberwesen existieren nur dort. Auch andere märchentypische Gestaltungsmittel werden in differenzierter Form gebraucht. Flächenhafte Figurentypen treten nur in den klassischen Märchencharakteren auf. Auch werden diese in vielfältiger Form überzeichnet ironisiert bzw. im Falle der Prinzessin auch normalisiert und von der realistischen Gemeinschaft der Heimkinder assimiliert. Die Eindimensionalität der Handlungsebenen wird eindeutig durchbrochen, wenn realistische und fantastische Handlungsorte wie in der fantastischen Erzählung parallel verortet und ein Übergang zwischen den Welten institutionalisiert wird. Die Formelhaftigkeit der Sprache wird durch klassische Märchenwendungen und situationsdeiktische Rahmenverweise märchentypisch realisiert, aber auch hier mit eher zeitgenössischen Formen von Alltagssprache kombiniert. Sublimation als Wirklichkeitsentfremdung betrifft ebenfalls lediglich die märchenseitigen Charaktere und Handlungssituationen; das Kollektiv der Kinder handelt sachlich und vernunftorientiert und im Rahmen der realen Gestaltungsmöglichkeiten. Märchentypische Abstraktionen und Polarisierungen finden sich schließlich in der Handlungsstruktur, die im Märchenland mit der dreifachen Aufgabenbewältigung dem bekannten Wiederholungsmuster des Märchens folgt, wobei bei der dritten Sequenz nicht der Befreiungsschlag, sondern die Katastrophe folgt. Auch die polarisierenden Wertzuschreibungen des Guten und Bösen beschränken sich auf das Märchenland. Im Kontext des Kinderheims verkommt der König zur albernen Figur, seine Tochter wird ein Kind unter vielen. Positionen | Projekte | Publikationen Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (1960) Nur ein Jahr später erscheint Fühmanns zweites Kinderbuch, das als Trompeterbüchlein (Illustratorin ist wieder Inge Friebel) ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin realisiert wird. Noch stärker als beim Moritz strebt Fühmann hier die Legierung realistischer und märchentypischer Gestaltungsstrukturen an, was markant bereits in den einleitenden Sätzen deutlich wird: Mitten in unserem schönen Land, sieben Wälder und sieben Genossenschaftsfelder hinter der Hauptstadt Berlin, liegt die kugelrunde Stadt Käsebrot, und mitten in der kugelrunden Stadt Käsebrot ist ein großer grüner Platz, und mitten auf dem großen grünen Platz ist ein buckeliger brauner Baum, und mitten auf dem buckeligen braunen Baum ist ein dicker knorriger Ast, und mitten auf dem dicken knorrigen Ast ist ein breites bleisilbernes Blatt, und mitten auf dem breiten bleisilbernen Blatt ist ein kuscheliges blaues Nest, und mitten in dem kuscheligen blauen Nest ist ein feuerrotbäuchiges Vöglein mit einem vollmondgelben Rücken, einem seerosengrünen Schwanz und einem veilchenblauen Köpfchen, und mitten in dem veilchenblauen Köpfchen stecken über einem zuckerweißen Schnäbelchen zwei winzige purpurne Äuglein, und wenn die winzigen purpurnen Äuglein sich auftun, dann sehen sie gerade in den Schlafsaal des Kinderwochenheims der kugelrunden Stadt Käsebrot. (Fühmann 1960, 5f) Geschickt gelingt Fühmann die Verortung der Handlung in der DDR, mit der jedoch gleichermaßen eine fantastische Wirklichkeitsentfremdung einhergeht: Die Entfernungsangabe zu Berlin trägt deutlich dysfunktionale und unbestimmte Züge und wird zudem von der märchentypischen Symbolzahl Sieben klar fantastisch überzeichnet. Die schrittweise Fokussierung des Handlungsaugenmerks gleicht einem filmischen Zoom, erinnert aber ebenso an formelhafte Geschichtenstrukturen. Das Vögelchen zeigt sich als offensichtlich irreales Exemplar seiner Art und wird im Folgenden auch als einzigartiges, bedingt magisches Wesen vorgestellt. Am Ende seiner schrittweisen Fokussierung wird der Blick plötzlich gewendet, indem der auf die Augen des Vögelchens hin orientierte Leser nun mit dessen Augen in die Wirklichkeit der DDR schaut und sich hier wieder klar in kinderkulturellen Kontexten realistischer Form wiederfindet. Fühmann selbst gibt an, dass auch die kugelrunde Stadt Käsebrot ein Vorbild gehabt habe: Bitterfeld mit seiner glockenförmigen Dunsthaube und dem üblen Geruch der Chemieindustrie (Fühmann, zit. nach Heinze 1998, 99). Als Primäradressatin kann wiederum Tochter Barbara angenommen werden. Abb. 3: © Berlin: Kinderbuchverlag 1960 Die Geschichte entspinnt sich im Folgenden als Kriminalroman, in dem das wunderbunte Vögelchen eines Tages verschwunden ist, was die für seine Sicherheit verantwortlichen Kinder des Kinderheims zur Kontaktaufnahme mit der Polizei bewegt. Gemeinsam mit zwei Volkspolizisten gehen die drei Kinder Sonja, Lutz und Bärbel [!] auf Fahndung. | 23 24 | Positionen | Projekte | Publikationen Das Vögelchen wird schließlich nach längeren und genau erläuterten Recherchen auf einem Jahrmarkt beim Zirkusmagier Sassafraß ausfindig gemacht. Die Lage spitzt sich dennoch zu, denn Lutz beginnt in Eigeninitiative zu fahnden und gerät in die Gewalt von Sassafraß. Durch das Geschick der Volkspolizisten und mit Hilfe des wunderbunten Vögelchens werden schließlich alle Bösewichte gefasst, Lutz wird befreit und der Fall abgeschlossen. Das Buch zeichnet sich durch das deutliche Bemühen aus, Einblicke in die Arbeitsweisen der Volkspolizei zu bieten; ein Thema, mit dem Fühmann sich im Nachgang der Bitterfelder Konferenzen und im Rahmen einer Recherche über die Arbeit eines Abschnittsbevollmächtigten ohnehin gerade beschäftigt hatte. Dieses zweite Kinderbuch knüpft strukturell an die Geschichte vom Moritz an, modifiziert die Realisierung der Verknüpfung realistischer und fantastischer Elemente jedoch anders. Ein Nebeneinander zweier Welten mit unterschiedlichen Wirklichkeitsstrukturen gibt es nicht. Das wunderbunte Vögelchen als einziges wirklich fantastisches Wesen gehört ausschließlich nach Käsebrot. Es vollzieht die Handlung mit und agiert vernünftig und beherzt, kann sich aber nur in der Sprache der Vögel ausdrücken, die für die Menschen leider nicht zu verstehen ist; nur der Autor übersetzt für die Leser des Buches. Der zweite Märchencharakter, der Magier Sassafraß entpuppt sich als Jahrmarktsschwindler, der über keinerlei fantastische Fähigkeiten verfügt. Auch die Volkspolizisten und die Kinder müssen mit den herkömmlichen Mitteln auf die Fahndung gehen und selbst das wunderbar anmutende Haus Allwissend entpuppt sich als eine schlichte, wenn auch erstaunlich gut ausgestattete Informationszentrale. Das Fantastische, am Anfang noch andeutungsweise omnipräsent, wird im Verlauf der Handlung sukzessive marginalisiert. Demgegenüber werden Republik und Gesellschaft vom ersten Satz an idealisiert dargestellt („Mitten in unserem schöne Land...“). Die Volkspolizisten stellen sich als verständnisvolle Freunde und Helfer in den Dienst der Kinder, sie geben nebenbei bereitwillig und geduldig, aber konsequent und dienstbeflissen Einblick in ihre Arbeit. Bösewichte haben in diesem Staat keinen Platz. Sassafraß entpuppt sich nicht nur als ein solcher, sondern als Waffenbesitzer zudem als Militarist. Er gibt an, mit Lutz in ein anderes Land fahren zu wollen, in dem niemand nach Lutz fragen würde und wo er für ihn arbeiten müsse. Deutlich scheinen hier polarisierende Zuspitzungen einer schwarz-weiß-gemalten Ost-West-Problematik auf, zumal der Landeswechsel von der DDR zur BRD zum Zeitpunkt des Bucherscheinens noch realistisch möglich war; die Grenze wurde erst 1961 geschlossen. Demgegenüber zeigen sich die Repräsentanten des ‚besseren Deutschlands’ nicht nur als moralische Vorbilder, sondern auch als klügere und nachsichtigere Menschenfreunde. Sassafraß wird zugestanden, dass auch er sich ändern könne und auch die beiden Volkspolizisten müssen zugeben, dass sie nicht ohne Fehl und Tadel sind. Insofern verliert sich hier die Flächenhaftigkeit und Abstraktheit der Protagonisten. Auch der Erzählstil entfernt sich deutlich vom formelhaften Märchen. So weist die prinzipielle Ähnlichkeit in der Gestaltung der beiden märchenhaft-realistischen Kindererzählungen doch auch deutliche Unterschiede auf. Die pointiert-ironische Überzeichnung der typisierten Märchenmotive, und die damit einhergehende Relativierung der platten Moral des Titelkonflikts, wie sie in der Geschichte von Moritz prägend war, weicht in der Suche nach dem wunderbunten Vögelchen einer versachlichenden Wirklichkeitsdarstellung, die zwar mit Märchenmotiven spielerisch umgeht und dabei die von Maria Lypp herausgearbeitete Einfachheit kinderliterarischer Stoffe (vgl. Lypp 1984) beispielhaft erreicht, jedoch mit deutlich höherem Realitätsanspruch gesellschaftliche Probleme konkret und modellhaft reinszeniert. Was bei Moritz noch als leichtfüßige Fantasterei daherkam und neben dem erhobenen Zeigfinger auch ein Augenzwinkern beigab, wird im zweiten Versuch zur stark ideologisierten Erziehungsliteratur, die sich auch dem kinderliterarischen Mainstream der DDR wieder stärker annähert. Positionen | Projekte | Publikationen Zeitgenössische Kontroversen: Fühmanns Kinderbücher in der DDR Fühmann scheint sich dieser Problematik bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen der beiden Bücher selbst bewusst zu sein. Ihr großer Erfolg – beide sind bis heute verfügbar (neu aufgelegt im Hinstorff-Verlag) und Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen wird 1964 sogar verfilmt – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Spektrum der Kinderliteratur ihrer Zeit eine ambivalente Stellung einnehmen. Nach einer verstärkten Publikation von Märchen in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre (vgl. Wardetzky 2006, 579f) – diese galten vorerst als unbedenklich und repräsentierten kulturhistorische Wurzeln vor dem deutschen Sündenfall – waren die kinderliterarischen Tendenzen der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der DDR durch eine starke gesellschaftspolitische Ausrichtung der Literatur geprägt. Das Kind in der Gesellschaft, als Teil des Kollektivs, und in dieser Funktion in direkter Verantwortung bei der Realisierung der sozialistischen Gemeinschaft wurde zum Leitbild der Literatur für Kinder (vgl. Richter 2011, 59ff). Damit einher ging eine klare Orientierung auf realistische Literatur. Das Wunderbare schien in diesem Kontext keinen Platz mehr zu haben. Während in Fühmanns Geschichten dieses gesellschaftspolitische Bemühen deutlich erkennbar ist, versucht er dennoch die für seine Zeit gänzlich untypische Verbindung realistischer und fantastischer Motive. Die Einzigartigkeit dieser Verbindung drückt sich exemplarisch im Verlagsgutachten zum Moritz aus: Diese Verquickung von Wirklichkeit und märchenhafter Phantasie – von der wir bisher erfahrungsgemäß annehmen mußten, daß sie unmöglich sei – ist Fühmann nicht nur deshalb gelungen, weil er ein wirklicher Dichter ist, sondern auch weil er die Welt der Kinder in ihrer ganzen Vielfalt kennt und deshalb überzeugend gestalten kann. (Verlagsgutachten, zit. nach Heinze 1998, 94) Doch löst eben dieses Phänomen nicht nur Begeisterung aus! Gerade unter Pädagogen wurde die Frage, ob eine Vermischung von Realität und Fantastik der Darstellung und Ausgestaltung des sozialistischen Realismus gerecht werden kann, kontrovers diskutiert. Ein König als Pionier vom Dienst ging vielen dann doch zu weit. Fühmann selbst setzt sich mit solchen Argumenten immer wieder intensiv 3 auseinander. Für ihn ist die von ihm vorgenommene Verbindung kein Zeichen von Innovation, sondern ein originäres Merkmal der Märchen, wobei die Realität der Märchentexte durch ihre schriftliche Fixierung, die gleichzeitig eine Fixierung ihres Alltags in der Zeitgeschichte darstellt, eine für spätere Generationen verfremdete (vgl. Fühmann 2008, 327f). Der König und der Müller waren am Beginn des 19. Jahrhunderts Figuren des Alltags. Damit war auch der Realitätsgrad der Märchen für die Adressaten dieser Zeit ein anderer, als im 20. Jahrhundert. Dennoch weist auch Fühmann darauf hin, dass diese Alltagsfiguren natürlich keiner realistischen Darstellung im Märchen unterliegen, sondern typisiert Funktionsträger mit tradierter Motivstruktur und widerspruchsfreier Anlage darstellen. Aus diesem Grund eignet sich das Märchen mit seinem Figurenensemble und Handlungsrepertoire in besonderer Weise, exemplarische Probleme und Themen des Alltags mit der nötigen Distanz von der Alltagserfahrung pointiert zu verarbeiten, ohne die Wirklichkeit unnötig zu verfälschen. Demgegenüber böten – so schreibt er 1975 in seinem Essay Das mythische Element in der Literatur – die widerspruchsfreie Darstellung von märchenhaft überzeichneten Alltagsfiguren wie Brigadieren, Genossenschaftsbauern und Volksarmisten kaum die Möglichkeit, ein glaubwürdiges Problemszenario zu gestalten. 3 Davon zeugen auch Briefwechsel mit Lehramtsstudierenden, in denen er in den Sechzigerjahren detailliert über seine Intentionen bei der Gestaltung der beiden Bücher Auskunft gibt. Einzusehen sind einige dieser Briefe bei Heinze 1998 und Fühmann 2008. | 25 26 | Positionen | Projekte | Publikationen Gerade dieses in Szene setzen des Märchentyps für die exemplarische Ausgestaltung von Kinderalltag scheint im Moritz ausgezeichnet gelungen zu sein, weil die Flächenhaftigkeit der Märchenfiguren dort an das Märchenland gebunden ist und sie im Alltag – ironisiert oder normalisiert – zu Individuen werden (im Falle der Prinzessin) oder aber als fantastische Elemente ihre mangelnde Passung zum gesellschaftlichen Alltag selbst deutlich zum Ausdruck bringen (so der König). Dieser Kunstgriff geht in der Suche nach dem wunderbunten Vögelchen verloren, da hier eben diese Trennung aufgehoben wird und Fühmann die von ihm später deutlich kritisierte Glättung von Widersprüchen in der Figurenkonstruktion von Alltagsfiguren (insbesondere in den idealisierten Volkspolizisten) selbst realisiert. Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Widersprüchen in der poetischen Konzeption, die nur unter biografischen Gesichtspunkten verständlich gemacht werden kann. Abb. 4: © Manfred Böttcher: Porträt Franz Fühmann. Um 1970. Pinsel, Tusche. Vom Märchen zum Mythos Die beiden Kindergeschichten bleiben vorerst die einzigen eigenständigen Texte Fühmanns für Kinder. Einerseits wendet er sich im Rahmen des Bitterfelder Wegs umfangreichen Recherchen im sozialistischen Arbeitsalltag zu, andererseits dominieren wieder Arbeiten in der Literatur für Erwachsene. Die in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre publizierten Texte wenden sich eher an ein jugendliches Publikum; der Mythos wird Fühmanns favorisiertes jugendliterarisches Genre. Das zunehmende Lebensalter der Tochter Barbara mag daran nicht unerheblichen Anteil haben. Jedoch zeichnet sich auch ab, dass die Märchenkonzeption mit ihrer immanenten Hoffnungsutopie immer weniger mit dem von Fühmann wahrgenommenen sozialistischen Alltag in der DDR zu tun hatte. Ideologische und kulturpolitische Differenzen mit den Mächtigen des Landes nehmen zu. Fühmann selbst stürzt mehr und mehr in eine persönliche Krise. Später wird er die Ereignisse des Prager Frühlings als Wendepunkt in seinem Leben bezeichnen. An der „Grenze des Zerbrechens“ (Fühmann, zit. nach Richter 1992, 233) begibt er sich im Herbst 1968 auf Alkoholentziehungskur, die einen erfolgreichen Lebenswandel einleitet. Auch in philosophisch-ideologischer Perspektive findet Fühmann nun die Kraft für einen Neuanfang und verfolgt konsequent die poetologischen Widersprüche, die ihn in den letzten Jahren mehr und mehr haben verzweifeln lassen. Das hat gravierende Auswirkungen auf seine schriftstellerische Arbeit; auch die für Kinder. Bis zu seinem Tod 1984 entstehen neue Geschichten, die deutlich den Wandel des Autors belegen, und dennoch wichtige Traditionslinien seiner Arbeit fortführen. Ein zentrales Thema von Franz Fühmanns umfangreich geführten und essayistisch dokumentierten poetologischen Reflexionen betrifft das Verhältnis von Märchen und Mythen; den beiden Genres, denen er als Entwicklungsformate in seiner eigenen Schriftstellerbiografie zentrale Bedeutung zuschreibt. Dem noch unschuldig klingenden Satz aus Androklus und der Löwe (1966) „Aber das waren alles nur Märchen“ (Fühmann, zit. nach Decker 2009, 216) kann nachträglich einige Bedeutung Positionen | Projekte | Publikationen zugemessen werden, denn er markiert das vorläufige Ende von Fühmanns Märchenproduktion. Immer überzeugter wendet er sich dem Mythos als Alternative zu, der die suspekt gewordenen gesellschaftspolitischen Verhältnisse der DDR besser abzubilden scheint. Die einfache Losung „Das Gute wird siegen!“ ist mit den Verhältnissen in der DDR nicht mehr vereinbar. Der überzeugte Sozialist Fühmann gerät damit – wie viele seiner Zeitgenossen – in einen elementaren Widerspruch. Seine philosophisch-ideologischen Grundpositionen mag er nicht ändern, stellen sie für ihn doch die beste aller Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens dar. Mit der erlebten Wirklichkeit, die mit diesen Positionen kongruent zu sein behauptet, kann er sich jedoch immer weniger identifizieren. In den polaristisch strukturierten Argumentationsmustern der DDR-Ideologen ist Kritik an den Zuständen des real existierenden Sozialismus jedoch gleichbedeutend mit der reaktionär-konterrevolutionären Infragestellung der DDR. Die Ereignisse im Rahmen des Prager Frühlings machen die Hoffnungen auf Reformen zunichte. Auch der Machtwechsel an der Spitze der DDR am Beginn der Siebzigerjahre – Erich Honecker löst Walter Ulbricht ab; er verspricht auch eine offenere Kulturpolitik ‚ohne Tabus’ – weckt nur kurz Hoffnungen auf Besserung und macht bald einer großen Resignation Platz. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 stellt schließlich eine weitere wichtige Zäsur dar. Fühmann gehört zu den zwölf Erstunterzeichnern eines Protestbriefs gegen diese Maßnahme. Von nun an ist das Verhältnis des Autors zur politischen Elite nachhaltig zerrüttet. Anders als viele seiner KollegInnen geht Fühmann nicht nach Westdeutschland, er sieht sich in der DDR aber immer schwierigeren Arbeitsverhältnissen ausgesetzt. Solche „koordinierte[n] Differenzierungs- und Zersetzungsmaßnahmen“ (Formulierung aus Fühmanns Stasiakte, Heinze 1998, 362) machen das Publizieren zunehmend schwieriger. Öffentliche Auftritte sind mehr und mehr nur noch in alternativkulturellen Zusammenhängen möglich; zum Beispiel im Forum der Kirchen der DDR. Die Vehemenz der persönlichen Diffamierung, der sich Fühmann zunehmend ausgesetzt sieht, wird exemplarisch an der Reaktion Abb. 5: © Rostock: Hinstorff, 1998 auf sein Engagement für geistig behinderte Menschen deutlich. Während er selbst in einem Brief an seine Schwester schreibt: „... mein schönstes Erlebnis beim Vorlesen überhaupt: ich hab vor etwa 100 geistig schwerbehinderten Menschen gelesen [...] und die haben mir fünfviertelstunden zugehört, haben gelacht, sich gefreut, sind glücklich gewesen [...]. Das werd ich ausbaun...“ (Brief vom 23.4.1980, ebd., 307) wertet die Stasi dieses Engagement als Zeichen von Fühmanns zunehmender Unzurechnungsfähigkeit. In seiner Stasiakte wird am 17.3.1982 notiert: „Genosse [Name geschwärzt] teilte weiter mit, daß er den Eindruck gewonnen hat, daß Fühmann zunehmend Verhaltensweisen eines Geistesschwachen annimmt. Er beobachtete, daß sich Fühmann hingezogen fühlt, zu Personen, die sich bereits in psychiatrischer Behandlung befinden. [...] Er beabsichtigt, über Geistesgestörte und für Geistesgestörte zu schreiben.“ (ebd., 315) | 27 28 | Positionen | Projekte | Publikationen Als Fühmann in dieser Zeit an Krebs erkrankt, ist er bereits zutiefst frustriert. Ein Jahr vor seinem Tod beendet er sein Testament mit den Worten: „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ (Fühmann, zit. nach Decker 2009, 410) Gerade in den letzten Jahren wendet sich Fühmann jedoch wieder verstärkt den Märchen zu. Er schreibt Puppenspiele und Märchen auf Bestellung. Auch märchenadaptierende Radiohörspiele sind dabei, die er aber explizit an ein erwachsenes Publikum adressiert. Diese Texte fundieren auf poetologischen Überlegungen, die Fühmann besonders in seinem Ungarn-Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens (1973, 1993b) und in seinem Essay Das mythische Element in der Literatur (1975, 1993e) äußert. Die Märchenkonzeption auf dem Prüfstand Für Fühmann beantwortet sich die Frage nach der Beziehung von Märchen und Mythen aus der Perspektive der Herkunft ihrer Themen und Motive, wie auch aus deren Vertextung und Markierung. Sowohl Märchen als auch Mythos beruhen demnach auf archaischen und elementaren Menschheitserfahrungen, wobei der Mythos diese symbolisch verarbeitet, das Märchen hingegen weitgreifendere Neukompositionen von Versatzstücken dieser Erfahrungen vornimmt (vgl. Fühmann 1993e, 92). Während im Mythos existenzielle Themen wie Verrat, Verlangen, Treue und Gewalt in ihrer Ambivalenz vereint im Protagonisten dargestellt werden, äußern sich im Märchen polarisierende Persönlichkeitsmerkmale in unterschiedlichen Handlungsträ- gern. Der Held des Mythos ist nicht gut oder böse, er ist innerlich gespalten und hin und her gerissen. Und er handelt auch so. Seine Taten sind geprägt von inneren Konflikten und das Scheitern an eigenen Idealen gehört zum Sieg immer mit dazu. Am Beispiel der griechischen Sagen führt Fühmann dies vor Augen. Der Göttervater Zeus im Prometheus (1974) wird als Herrschender selbst zum Despoten und die Helden des Kampfes um Troja (1968) haben keine weiße Weste. Die Frage nach gut und böse stellt sich in den Facetten des Handelns, nicht aber in der Trennung der konkreten Figuren. Das Märchen ist für Fühmann eine Weiterverarbeitung dieser Mythenstoffe, ein Produkt zweiter Hand, das sich dadurch auszeichnet (vgl. Fühmann 1993e, 486), dass es die Ambivalenzen menschlicher Erfahrungen in stereotypen Funktionsfiguren trennt und polarisierend abstrahiert. Damit pointiert das Märchen moralische Wertesysteme durch eine flächenhafte Konstruktion seiner Figuren- und Handlungsanlage, es entfremdet seine Motive jedoch von der konkreten und widersprüchlichen Erfahrung des Alltags und mechanisiert Moral als starres System. Die sublime Überzeichnung von Menschheitsthemen im Märchen ist für Fühmann die logische Konsequenz. „Die Märchen sind Kaleidokopsbilder von Mythensplittern, bunt, flächig, entzückend und auswechselbar“ (ebd., 486). Andererseits muss er auch einräumen: „Aber oft sind Märchen Juwelen, die Mythen nur Rohdiamanten“ (ebd., 492). In Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der eigenen Biografie, mit seinen Selbstzweifeln und seinen gescheiterten Hoffnungen verlegt sich Fühmann mehr und mehr auf das Schleifen von Rohdiamanten. Die nüchterne Suche nach dem eigenen Ich führt er im Mythos weiter, denn: „[d]as Märchen lehrt träumen, der Mythos leben“ (ebd., 487). Die Träume scheinen gescheitert, das Leben wird zur Hauptaufgabe. So verstummt mit dem Utopisten Fühmann auch der Märchenerzähler; jedoch nicht für immer. Positionen | Projekte | Publikationen Hof des Sultans, das keiner kohärenten Geschichte zu folgen scheint. Ein getürmter Sklave setzt einen Drachen auf den Sultan an unter dem Vorwand, zum Feuerspeien brauche er dessen Genehmigung. Doch statt den Sultan zu töten, wird der Drache Oberdiskutierer am Hof. Was diskutieren meint, bringt der Ritter auf den Punkt: Ritter: Wir sagen unsere Meinung, und die meine gilt. Drache: Und wenn das der Andre nicht gelten läßt? Ritter: Dann zieh ich mein gutes, wackeres Schwert! Abb. 6: © Rostock: Hinstorff, 1999 Der glückliche Ritter von Trinitat (1976, 1999) 1976 erhielt Fühmann von dem mit ihm befreundeten Jungen Joachim Damm (damals 10 Jahre) den Auftrag, ein Puppenspiel zu schreiben „mit einer dicken Dame, einem Sultan, einem Ritter, einer Prinzessin, einem orientalischen Zauberer und einem Drachen und Sklaven“ (Heinze 1998, 293). Fühmann führt die Bestellung prompt aus und legt nur kurze Zeit später Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer (1976, 1999) vor. Das Puppenspiel ist zu diesem Zeitpunkt lediglich für Joachims Theater bestimmt und erscheint erst 1999 posthum mit Bildern von Egberth Herfurth. Die Geschichte ist eine schräge Persiflage auf den Alltag der DDR. Noch ungetrübt von der kurz bevorstehenden Ausbürgerung Wolf Biermanns inszeniert Fühmann ein buntes Durcheinander am In dieser Diktion karikiert Fühmann die zur Rhetorik verkommene materialistische Dialektik. Im märchenhaften Szenario gänzlich ungebräuchliche Begriffe, wie Tonnenideologie und Prognostik, aber auch konkrete Elemente des DDR-Alltags, wie eher appellativ wirkende Spruchbanner zur Meinungsbildung des Volkes, stellen hier eine explizite Brücke zur Wirklichkeit dar. Feinsinnig, und doch bar jeder Subtilität inszeniert Fühmann für seinen jungen Auftraggeber einen Blick auf die DDR, der bei aller Kritik von einem versöhnlichen Grundtenor geprägt ist. Für Fühmann ist es nach Langem eine erste Rückkehr zu den Motiven des Märchens im Schreiben für Kinder. Weiterhin etabliert es mit dem Auftragswerk ein Format, das er in den Folgejahren noch mehrmals auflegen wird. | 29 30 | Positionen | Projekte | Publikationen Märchen auf Bestellung (1981, 1993) Die Märchen Von der Fee, die Feuer speien konnte; Anna, genannt Humpelhexe und Der Drache und der Schmetterling sind als Auftragswerke auf Anregung von Kindern geschrieben und in einer Sammlung 4 1981 (hier 1993d) veröffentlicht worden. In diesen Texten wird die Rückkehr des Märchenautors zu seinen Anfängen als Schreiber für Kinder deutlich: Es war einmal ein Wald, in dem es niemals schneite. Dieser Wald lag nicht im glühenden Afrika und auch nicht im heißen Indien, er lag gar nicht weit weg von der Stadt Berlin, hinter dem zweiundzwanzigsten Hügel zwischen Sachsen und Mecklenburg. Heute lebt kein Baum dieses Waldes mehr, aber einige Ururururenkel der Dachse, die damals dort gesiedelt haben, sind heute genauso alt wie ihr. (Fühmann 1993d, 291) Dieser Anfang der Geschichte Von der Fee, die Feuer speien konnte erinnert deutlich an den Einstieg in Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (Fühmann 1960, vgl. Teil 1 dieses Beitrags in kjl&m 2.2014). In einem Wechselspiel von Verfremdung und Lokalisierung inszeniert Fühmann eine offensichtlich irreal-märchenhafte und doch an konkrete Orte und Zeiten gebundene Szenerie. Bis hin zum Gebrauch der Zahlensymbolik – waren es 1960 noch sieben Wälder und Genossenschaftsfelder sind es nun zweiundzwanzig (Fühmanns magische Zahl, vgl. Richter 1992, 73) Hügel – knüpft Fühmann hier an eigene Erzähltraditionen an, die eben das für ihn typische hybride Realitätsmärchen erkennen lassen. Und doch nehmen die erzählten Handlungen einen völlig anderen Verlauf. In besagter Geschichte wird von der Fee Anna Susanna Lachdochmal berichtet, die in einem kleinen Stück Waldes durch einen Zauber einen ewigen 4 In neueren Veröffentlichungen, zum Beispiel der Hörspiellesung durch Elke Heidenreich (Fühmann/Heidenreich 2004) und den Bilderbuchausgaben mit Bildern von Jacky Gleich (Fühmann/Gleich 2004) wird zudem das Märchen von Doris Zauberbein hinzugefügt. Sommer etabliert hat. Als der Winterkönig hinter diese Posse kommt, erzwingt er gegen Anna Susannas Willen den Einzug des Winters, der die unvorbereiteten Tiere und Pflanzen hart trifft. In letzter Not zieht die Fee aus zu den Drachen, um von ihnen das Feuer speien zu lernen. Doch sie ist zu schwach und kann nur mit der Hilfe der anderen Drachen den Winter einstweilen vertreiben. Ab dem kommenden Jahr lässt sie dem Wetter schließlich seinen Lauf. Gemeinsam ist allen diesen Märchen auf Bestellung, dass sie von Außenseitern erzählen. Wieder geht es um bekannte Motive wie Sauberkeit und Gemeinschaft, doch anders als beim Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte (Fühmann 1959) ist es nun nicht das Kollektiv, das das Individuum assimiliert, sondern der Einzelne sucht seinen Weg jenseits der gängigen Traditionen. Verantwortung für sich selbst und andere wird zur obersten Prämisse und zur Herausforderung in einer Welt, die die eigenen Lebensentwürfe nicht akzeptieren kann und möchte. Hier nun forciert Fühmann ganz deutlich alternative Lösungen, die pragmatisch, doch ohne Selbstaufgabe sind. Sie sind frei von Utopien, machen aber das beste aus den Gegebenheiten. Dazu gehört auch, die eigenen Grenzen – wie im Fall von Anna Susanna – zu entdecken und akzeptieren zu lernen. Dass das nicht Selbstaufgabe bedeuten muss, illustrieren die Protagonisten der Märchen auf Bestellung eindrücklich. Abb. 7: © Rostock: Hinstorff, 2002 Positionen | Projekte | Publikationen Schlipperdibix und klapperdibax! (1984, 1985) In seinen letzten Lebensmonaten in der ersten Jahreshälfte 1984 – körperlich geschwächt, dennoch unermüdlich produktiv – legt Franz Fühmann noch einmal zwei Märchen für Kinder vor; wieder in der bereits erprobten Form des Puppenspiels. Diese an die Puppenspieltradition Poccis anknüpfenden Stücke sind Neufassungen bekannter Märchenstoffe voller intertextueller und zeitgeschichtlicher Querverweise. Im Spiel von der glücklichen Flucht des Prinzen Schaukelpferd vom Spielzeugland mit der Prinzessin Dana von Gurkistan aus der Burg des Zauberers Khalakuck ist es das von Fühmann bereits in seinem Essay Das mythische Element in der Literatur (1993e, 92) besprochene Motiv der von einem Zauberer geraubten und von einem Prinzen befreiten Prinzessin, das den Stoff der Geschichte bietet. Das in den Märchen vieler Kulturen auffindbare Motiv und die – wie in allen ihren Vorlagen – in einer rasanten und von vielen Verwandlungen geprägten Verfolgungsjagd gipfelnde Erzählung münden im Falle Fühmanns auf dem Döbelner Markt vor einem Stand mit Spreewälder Neuen Sauren Gurken – wieder erkennbar die typische Verknüpfung realistischer und märchenhafter Elemente, hier eher in einer Zwei-Welten-Lösung, auch wenn kein expliziter Übergang von Realität und Märchenwelt markiert wird. Die kuriosen Bezüge zum DDR-Alltag gipfeln in der Ignoranz der Döbelner Bewohner, die sich weigern, die Fantastik der Situation anzuerkennen. Der anwesende Volkspolizist mischt sich mit einer ganzen Reihe an in ihrer Rationalität grotesk wirkenden Verboten in die Verfolgungsjagd des Zauberers ein, bleibt dabei aber weitgehend wirkungslos. Im zweiten Märchenspiel der Sammlung Vom Kaspar, der Königin Tausendschön und der noch tausendmal schöneren Prinzessin Schneewittchen wird das beliebte Grimmsche Märchen neu erzählt. Wie kaum an anderer Stelle wird hier die radikale Wandlung des Schriftstellers Fühmann deutlich. War ihm gerade dieses Märchen in seinen lyrischen Texten der Fünfzigerjahre noch als Sinnbild der Geschichte des deutschen Volkes erschienen (vgl. Krätzer 2008, 354), bearbeitet er es in seinem Vortrag Ein Wort an künftige Kollegen (1972, Fühmann 1993a) mit Blick auf den sich in der DDR immer stärker abzeichnenden Generationenkonkflikt in der Kulturpolitik. In diesem Puppenspiel deutet er das Märchen wiederum um, indem er die Mutter Königin (Fühmann nimmt die Grimmsche Veränderung der Mutter zur Stiefmutter wieder zurück) und Schneewittchen in einer Entwicklungsperspektive miteinander vergleicht. Das zuerst verfolgte Schneewittchen schlüpft aus seiner Opferrolle, als es zur Königin ernannt wird – die Handlung unterscheidet sich mitunter deutlich von der Grimmschen Vorlage, ein Prinz wird nicht benötigt – und zeigt sich nun selbst von der Macht korrumpiert als egoistische und skrupellose Herrscherin. Das Märchen endet fast gespenstisch mit einem sich senkenden Vorhang und der Aussage der neuen jungen Königin Schneewittchen: Also weißt du, lieber Spiegel, ich werde dir jetzt mein geheimstes Geheimnis anvertraun. Weißt du, ich möchte gar zu gern heiraten, und der schönste Prinz von der Welt muss es sein, und wir werden die tollste Hochzeit haben und werden das glücklichste Paar von der Welt sein und eine Hochzeitsreise nach Cottbus machen, und wir wollen zusammen das schönste Kind haben, das die Welt je gesehen hat, natürlich ein Mädchen, eine richtige Prinzessin, und sein Leib soll so weiß wie Schnee sein, und die Backen so rot wie lebendiges Blut, und die Haare so schwarz wie Ebenholz, ja, das wünsche ich mir, ja, so wird es sein! (Fühmann 1985, 102) Wenige Monate vor seinem Tod hat der Schriftsteller Fühmann nun endgültig den Glauben an die erlösende Zukunft verloren. Zwar scheint das Credo Die Märchen werden Wirklichkeit wieder zu gelten, doch wird aus dem propagierten Wunschtraum ein allzu realer Alptraum, der die Erfahrung des erlebten Scheiterns einer Gesellschaftsutopie in trostlose Verzweiflung auflöst. Die komische Figur des Kaspar, der in beiden Spielen eine zentrale und fast immer arglose und gut gelaunte Rolle spielt, wird dabei zum Sinnbild des spießigen Kleinbürgers, der die Unlebbarkeit dieses Lebens mit oberflächlicher | 31 32 | Positionen | Projekte | Publikationen guter Laune und jeder Menge Nebensächlichkeiten überspielt. Seine Rolle scheint wie ein Einwurf des Autors, der die Unsäglichkeit der verfremdeten Handlung durch die hinzugefügte Rolle weniger moderiert, als sarkastisch pointiert. Franz Fühmann: Vom Scheitern als Methode?! Was am Lebensende als Rückkehr zu den frühen märchenhaften Kindererzählungen (vgl. dazu Teil 1 dieses Beitrags in kjl&m 2.2014) einerseits erscheint, stellt sich andererseits als Ende eines fatalen Spannungsbogens heraus, in dem ein Autor seine eigenen poetischen Konzepte radikal infrage stellt, worin sich letztendlich auch die Frustration über das eigene und das gesellschaftliche Scheitern artikuliert. Der in seinem Testament formulierte Schmerz dieses Scheiterns, ist gerade in den letzten Texten, fast körperlich spürbar. Noch die Märchen auf Bestellung zeigen einen trotzigen Glauben an den Einzelnen, wenn schon das Kollektiv sich nicht als besserungsfähig herausstellt. Dieser Optimismus ist in den letzten Erzählungen scheinbar verloren gegangen. Nicht vergessen werden darf, dass hier ein Todkranker schreibt, der nach langer Krankheit auch seine eigenen Kräfte schwinden sieht. Doch kann diese Relativierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ganze Werk Fühmanns in den letzten Jahren mehr und mehr von diesem Bewusstsein des Scheiterns geprägt ist. Nicht zuletzt sein letztes großes Projekt, die Herausarbeitung seines poetischen Zuhauses unter der Erde im Bergwerk muss er 1983 (Fühmann 1993f) aufgeben und als Fragment veröffentlichen. Und doch ist es eben dieses Scheitern, das als Vermächtnis des Autors Fühmann insbesondere in Erinnerung bleibt. Die Erinnerung an einen Charakter, der sich selbst schreibend aus radialer Ideologisierung herauslöst und darin letztendlich selbst Freiheit findet, fördert eine Literatur zutage, die diese Freiheit authentisch zu artikulieren versteht. Was beim Glücklichen Ritter von Trinitat und den Märchen auf Bestellung noch explizit in Erscheinung tritt, ist selbst in den letzten Puppenspielen hinter der impliziten Warnung und der Provokation noch zu spüren. Auf dem Sterbebett schreibt Fühmann schließlich noch drei Hörspiele für das Radio, die die Märchen Das blaue Licht, das Rumpelstilzchen und Vom Machandelboom adaptieren (Fühmann 2008). Diese düsteren – explizit an Erwachsene adressierten – Texte stellen den Schlusspunkt der Märchenproduktion Fühmanns dar. Die radikale Abkehr vom eigenen naiven Zukunftsoptimismus in schwarz-weißer Realitätsgestaltung hat Franz Fühmann allein schriftstellerisch viele Wege gehen lassen. Als Texte für Kinder verdienen neben den Märchen auch die Mythen und seine Sprachspielbücher Aufmerksamkeit; einzigartig Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel (1978). Sein essayistisches Schreiben für Erwachsene liest sich demgegenüber in einer Zusammenschau als eine verzweifelte Suche nach dem eigenen Ich, das er lange unter vielfältigen Einflüssen und einer für ihn beängstigenden Biografie verschüttet sah. Dass er am Ende dieses Ich in seinen Texten – auch in denen für Kinder – findet, kann vermutet werden. Die düstere Prognose, die sich dabei ergibt, ist daher durchaus auch als Gewinn zu betrachten; das Scheitern wird letztendlich zum möglichen Erfolg. Beeindruckend ist, dass Fühmanns Schreiben über diese Brüche hinweg starke Kontinuitäten aufweist. Allein die für ihn charakteristische Verquickung und Legierung realistischer und märchenhafter Elemente und die einzigartige Inszenierung des Wunderbaren in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem eigenen Erleben finden sich in den frühen wie den späten Texten für Kinder als wiederkehrende Gestaltungsmittel immer wieder. Das Märchen – seine poetologische Konzeption – hat sich demnach über die Zeit hin nie wirklich überholt. Eher sind es die eigenen Perspektiven des Franz Fühmann, die am Ende seines Lebens andere sind als die des jungen Fühmann. Das Märchen erweist sich hier wie dort als ein produktiver Rahmen, in dem – unabhängig von der ideologischen Beeinflussung – für Fühmann das gilt, was er in seinem Ungarn-Tagebuch im Märchen immer gesehen zu haben glaubt: „tua res agitur [...] deine Sache wird hier erzählt“ (Fühmann 1993e, 481f). In dieser Perspektive sind die Märchen für Fühmann immer auch ein Einblick in seine ei- Positionen | Projekte | Publikationen gene Welt gewesen. Von dieser Authentizität leben die Texte bis heute. Und dass sie immer noch von ungebrochener Aktualität sind, beweist auch das kontinuierliche Interesse an den Geschichten. Dem Hinstorff-Verlag gilt es an dieser Stelle abschließend zu danken, der das Erbe Fühmanns immer wieder – oft auch in Kombination mit ausgezeichneten Bild- und KlangkünstlerInnen – in wunderbaren Büchern und anderen Medienformaten einer Öffentlichkeit zugänglich erhält. Fühmann, Franz: Schlipperdibix und klapperdibax! Zwei Kasperlstücke. Rostock: Hinstorff 1985. Literatur Fühmann, Franz: Märchen auf Bestellung. In: Fühmann, Franz: Reineke Fuchs, Märchen nach Shakespeare, Das Nibelungenlied, Märchen auf Bestellung. Rostock: Hinstorff 1993d, S. 287-314. Primärliteratur Fühmann, Franz: Die Nelke Nikos. Berlin: Verlag der Nation 1953. Fühmann, Franz: Aber die Schöpfung soll dauern. Berlin: Aufbau 1957. Fühmann, Franz: Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte. Berlin: Kinderbuchverlag 1959. Fühmann, Franz: Ein Wort an künftige Kollegen. In: Fühmann, Franz: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981. Rostock: Hinstorff 1993a, S. 44-55. Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Fühmann, Franz: Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993b, S. 281-506. Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Fühmann, Franz: Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993c, S. 281-506. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In: Fühmann, Franz: Essays, Gespräche, Aufsätze 19641981. Rostock: Hinstorff 1993e, S. 82-140. Fühmann, Franz: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß. Rostock: Hinstorff 1993f. Fühmann, Franz: Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen. Berlin: Kinderbuchverlag 1960. Fühmann, Franz/Herfurth, Egbert: Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer. Rostock: Hinstorff 1999. Fühmann, Franz: Die Richtung der Märchen. Berlin: Aufbau 1962. Fühmann, Franz/Gleich, Jacky: Doris Zauberbein. Rostock: Hinstorff 2004. Fühmann, Franz: Reineke Fuchs. Berlin: Kinderbuchverlag 1964. Fühmann, Franz/Hampel, Angela: Prometheus. Frankfurt/Main: Edition Büchergilde 2004. Fühmann, Franz: Das Tierschiff. Berlin: Kinderbuchverlag 1965. Fühmann, Franz/Heidenreich, Elke: Märchen auf Bestellung. Hörbuch. Rostock: Hinstorff 2004, CD. Fühmann, Franz: Androklus und der Löwe. Berlin: Kinderbuchverlag 1966. Fühmann, Franz: Märchen für Erwachsene. Hörspiele, Essays und andere Texte. Rostock: Hinstorff 2008. Fühmann, Franz: Das hölzerne Pferd: die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Berlin: Neues Leben 1968. Fühmann, Franz/Janssen, Susanne: Prometheus. Die Titanenschlacht – Die Sage von Trojas Fall – Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus. Rostock: Hinstorff 2011. Fühmann, Franz: Shakespeare-Märchen. Nacherzählung. Berlin: Kinderbuchverlag 1968. Fühmann, Franz/Andres, Kristina: Das Lob des Ungehorsams. Rostock: Hinstorff 2013. Fühmann, Franz: Das Nibelungenlied. Berlin: Verlag Neues Leben 1971. Gelberg, Hans-Joachim (Hrsg.): Geh und spiel mit dem Riesen. Erstes Jahrbuch der Kinderliteratur. Weinheim: Beltz & Gelberg 1971. Fühmann, Franz: Prometheus. Die Titanenschlacht. Berlin: Kinderbuchverlag 1974. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In: Fühmann, Franz: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff 1975. Fühmann, Franz: Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel. Berlin: Kinderbuchverlag 1978. Heinze, Barbara (Hrsg.): Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen. Rostock: Hinstorff 1998. | 33 34 | Positionen | Projekte | Publikationen Sekundärliteratur Decker, Gunnar: Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Rostock: Hinstorff 2009. Krätzer, Jürgen: Fühmanns Lyrik: Das Scheitern der „Märchenkonzeption“. In: Krüger, Brigitte/Bircken, Magrid/ John, Helmut (Hrsg.): Jeder hat seinen Fühmann. Zugänge zu Poetologie und Werk Franz Fühmanns. Frankfurt/Main: Peter Lang 1998. Krätzer, Jürgen: Dem Grund zu. Nachwort. In: Fühmann, Franz: Märchen für Erwachsene. Hörspiele, Essays und andere Texte. Rostock: Hinstorff 2008, S. 347-359. Lypp, Maria: Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt/Main: 1984. Richter, Hans: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Berlin: Aufbau 1992. Richter, Karin: Kinder- und Jugendliteratur der DDR. In: Lange, Günter (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider 2011, S. 58-86. Wardetzky, Kristin: Märchen. In: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/Kramer, Thomas (Hrsg.): Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Stuttgart: Metzler 2006, Sp. 555-628. Positionen | Projekte | Publikationen Matthias Ballod „Ich hab dann mal versucht zu Googeln“ Kompetent-reflexive Internetrecherchen im Deutschunterricht Wenn wir unseren Schülern, aber auch uns etwas vorzuwerfen haben, dann, dass wir uns zu wenig auskennen mit einem Arbeitswerkzeug, das wir tagtäglich vielfach nutzen. Wie arbeiten Internet-Suchmaschinen? Wie werden Treffer gewichtet? Wie lassen sich Suchanfragen verbessern? Kann man Google in den Unterricht integrieren und warum kann ein Suchergebnis kaum besser sein, als die Eingabe ins Suchfeld? Warum also vertrauen wir viel zu oft blind einer Maschine, ohne vorher unseren Verstand zu fragen? 1Die Herausforderung Die ersten 10 Jahre dieses Jahrhunderts waren geprägt von einer schleichenden, aber weit reichenden Medienrevolution. Internet und mobile Endgeräte haben unser aller Leben, im Privaten, beim Arbeiten, aber auch unsere Art zu Lernen nachhaltig und irreversibel verändert. In Schulen, Hochschulen und Bildungseinrichtungen verändern die digitalen Medien Unterrichts- und Sozialformen und unsere persönlichen Zugänge zum Wissen. Google wird dabei – in einem Atemzug mit Wikipedia – als echte Herausforderung benannt, nämlich dann, wenn Schüler oder Studenten reflexhaft nur die ersten Treffer betrachten und Fundstellen bedenkenlos kopieren, um daraus Hausaufgaben oder Hausarbeiten zu collagieren (Paál 2011). Reagieren oder Kapitulieren? Restringieren oder Resignieren? Wikipedia und Google aus dem Unterricht zu verbannen oder im Bildungskontext zu verbieten, ist zu kurz gedacht. Kulturpessimismus steht einer Didaktik nicht gut zu Gesicht. Sie sollte Lösungen anbieten und kreative Wege finden, um Informationskompetenz bei Schülern zu fördern. Pädagogen, Lehrer und Eltern sollten eine kulturpragmatische Haltung annehmen, da Medienrevolutionen schon immer wesentlicher Bestandteil unserer Kulturgeschichte waren und stets die Entwicklung von Zivilisation forcierten. Nach der Entwicklung von Schrift, der Erfindung des modernen Buchdrucks und der technischen Reproduzierbarkeit von Wort und Bild subsumiert die digitale Revolution alle Errungenschaften früherer Medienrevolutionen: „Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität“, so der Medienlinguist Peter Schlobinski (2012). Dieses „Unimedium“ zu verstehen, zu nutzen und zu gestalten, ist ein wichtiger Bildungsauftrag der Schule. Im Hinblick auf einen kompetenten Umgang mit Informationen, sollen Schüler lernen, inwiefern das eigene intellektuelle Vermögen die Qualität der Recherche bestimmt und welche individuellen Kompetenzen die Informationssuche verbessern. Schüler müssen erfahren, wie sie Suchwerkzeuge (Suchmaschinen) nutzen, welchen Begrenzungen das bloße „Googeln“ unterliegt und zudem Alternativen kennenlernen. Allem voraus ist es erforderlich, bei Schülern systematisch Methoden- und Sprachkompetenz auf- und ausbauen, die für zielgerichtetes Recherchieren nötig sind. | 35 36 | Positionen | Projekte | Publikationen 2Informationskompetenz 2.1Dimensionen Obgleich Informationskompetenz kein ganz neuer Terminus ist, bleibt seine Verwendung uneinheitlich. Ursprünglich aus dem Bibliothekswesen stammend, wird er heute zumeist bezogen auf eine allgemeine Internet-Nutzung verwendet. Unglücklich erscheint der häufig synonyme Gebrauch von Medien- und Informationskompetenz. Denn: Die ‚etablierte‘ Medienkompetenz impliziert einen Fokus auf die Instrumente, Dienste und Formen der Kommunikation, während Informationskompetenz eher deren inhaltliche, gestaltende und bewertende Komponente akzentuiert. Ob diese Trennung Medienkompetenz auf der einen und Informationskompetenz auf der anderen Seite nötig und sinnvoll erscheint, mag jeder selbst entscheiden. Zur Diskussion und zum Stand ‚Rund um die Informationskompetenz‘ in Deutschland sei die Veröffentlichung von Gapski/Tekster (2009) empfohlen. Aus (sprach)didaktischer Perspektive orientiere ich mich an folgender Definition: „Informationskompetenz bezeichnet die Fähigkeit, mit beliebigen Informationen selbstbestimmt, souverän, verantwortlich und zielgerichtet umzugehen. [...] Aus Emittentensicht (Informationen zur Verfügung stellen) umfasst Informationskompetenz die Fähigkeit bzw. Fertigkeit, Information zweck-, zielgruppen-, sach- und medienadäquat aufzubereiten und zu vermitteln (präsentieren und kommunizieren). Aus Rezipientensicht (Informationen nutzen) umfasst Informationskompetenz die Fähigkeit bzw. Fertigkeit, Information zu recherchieren und organisieren; analysieren und evaluieren.“ (Ballod 2007, 290) Dass selbst eine so umfassende Definition den informatorischen Anforderungen im 21. Jahrhundert nicht gerecht wird, liegt auf der Hand. Theoretisch gilt es zu unterscheiden zwischen dem Weitergeben und dem Aufnehmen von Informationen, praktisch aber sind wir soziale und kommunikative Wesen und müssen somit permanent beides leisten. Obgleich die Formen kommunikativer Handlungen, Medienangebote, Kanäle und Formate an Komplexität und Vielfalt in den letzten 20 Jahren beträchtlich zugenommen haben (SMS, Chats, Twitter, Posten), steht im Mittelpunkt noch immer mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit – im jeweiligen medialen Rahmen. Mithin handelt es sich um keine ‚neue‘ Kompetenz des Medienzeitalters, sondern eine originär menschliche, kommunikativ-soziale Kompetenz. Diese wird zumindest seit Platons „Phaidros“ in einer langen sprachphilosophischen Tradition (Herder, Humboldt, Weisgerber, Habermas) reflektiert. Aus diesem Grund ist Informationskompetenz in der Schule und im Deutschunterricht zu vermitteln (vgl. Ballod 2005). Im Folgenden soll anhand von Google exemplarisch aufgezeigt werden, wie viel Potenzial das Thema ‚Internet-Suche‘ zur Vermittlung von Informati1 onskompetenz in der Schule bietet. Es wird dabei bewusst auf Stundenkonzeptionen, technische Anforderungen und eine Zuordnung zu Lehrplänen oder Fächern verzichtet. Die Anregungen sind als Bausteine, Ideen-Pool oder als Blaupausen zur methodischen Erprobung und für eigene Ausgestaltungen gedacht. 2.2 Vom Suchen und Finden Professionelles Handeln setzt immer eine Bewusstheit (Awareness) des eigenen Tuns voraus; das gilt auch für das Recherchieren. Eine Informationssuche ist immer ein hypothesengeleiteter Prozess, der auf unbewusstes Vorwissen aufbaut und sprachliches Wissen voraussetzt. Der Prozess der Informationssuche lässt sich als Dreischritt beschreiben: Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung. In der Phase der Vorbereitung geht es zunächst um die Zielklärung, nämlich welche Information zu welchem Zweck gesucht wird (Informationsbedürfnis). Bei der Themenklärung geht es dann um eine klare Fragestellung sowie die Aktivierung des eigenen Vorwissens. Bei der Aufwand-Nutzen-Klärung schließlich ist zu definieren, wann die Suche 1 Als Pendant sei auf den Lesefutter-Beitrag zu Wikipedia (Ballod 2014) verwiesen. Positionen | Projekte | Publikationen als ‚erfolgreich‘ gilt und welche Abbruchkriterien gesetzt werden. Zuletzt folgt die Strategieklärung: Auf welchen Wegen, mit welchen Methoden und in und mit welchen Medien wird gesucht. Der Suchende stellt dazu implizit Annahmen auf, die er während der Suche revidiert, variiert oder optimiert. Je plan-, absichts- und zielvoller die Suche (explizit) vorbereitet wird, desto vielversprechender ist das Ergebnis: „Wozu benötige ich die Information?“ „Was weiß ich bereits darüber?“ „In welchen Quellen könnte etwas zu finden sein?“ „Benötige ich Detail- oder Überblickswissen?“ In der Phase der Durchführung sind die RechercheWerkzeuge den Suchbedürfnissen anzupassen oder gar alternative Wege zu beschreiten. Zum thematischen Einstieg bieten sich noch immer klassische – vielfach digitalisierte – Nachschlagewerke (Lexika, Duden, Enzyklopädien...) an. Die Weiterverarbeitung von Fundstellen sollte ebenfalls systematisch bedacht werden (Archivierung, Dokumentation, Bookmarks…). Bei der Nachbereitung wird ein Rückbezug zur Ausgangsfrage hergestellt, indem die Fundstellen und Treffer analysiert und bewertet werden. Sofern das Rechercheziel nicht erreicht wird, ist die Suche mittels Selektion, Reduktion oder Variation umzugestalten; z. B. durch lokale, temporale, mediale, personale oder thematische Ein- oder AusschlussKriterien (Ballod 2011, 116ff). Mit ein wenig Phantasie werden aus diesen ‚trockenen‘ Verfahrensschritten interessante fachspezifische Aufgabenstellungen für Internet-Recherchen im Unterricht. 2.3 Vom Analysieren zum Bewerten Die nächste Herausforderung liegt darin, relevante Fundstellen aus einer zumeist Unzahl an Treffern herauszufiltern. Eine zuverlässige Relevanzbewertung ist entscheidend, weil nicht alle Fundstellen zu sichten sind. Es bedarf klarer Kriterien zur schnellen Entscheidung. Die ersten 10 Treffer eines Rankings anzuklicken, hilft hingegen kaum weiter, obgleich mutmaßlich am häufigsten praktiziert. Für eine Analyse entscheidend ist es zunächst, die Aussageabsicht des Informierenden ‚herauszulesen‘, um den Informationsgehalt einschätzen zu können. Welche Treffer als ‚wertvoll‘ gelten, hängt aber nicht von bloßen formalen oder inhaltlichen Aspekten (Precision, Recall) ab. Qualitäts- und Relevanzbewertung variieren aufgrund persönlicher (z. B. eigener Intention) oder situativer Faktoren (z. B. Zeitdruck). Aus Schülersicht mögen die meisten Informationen bei Wikipedia hinreichend differenziert und ausreichend relevant erscheinen, aus Sicht eines themenbezogen forschenden Experten kaum. Die Relevanz kann nur von dem jeweils Suchenden im spezifischen Kontext angemessen beurteilt werden, auch deshalb, weil der Informationswert immer an einen subjektiven Neuigkeitswert geknüpft ist. So kann dieselbe Information für eine Person hoch relevant und wichtig sein, für eine andere trivial und unnütz. Selbst aus Sicht des Einzelnen kann aber eine Information zum Zeitpunkt X hochgradig neu und interessant, zu einem späteren Zeitpunkt Y redundant oder irrelevant sein. Zur Qualitätsbewertung von Informationen sind zumindest fünf Kriterien relevant: 1. Aktualität Nicht zwangsläufig sind ‚ältere‘ Informationen per se qualitativ minderwertig (Goethes Werke, Einsteins Relativitätstheorie...). Eine regelmäßige Aktualisierung von Internetseiten signalisiert ‚Wertschätzung‘ und eine gezielte Pflege des Angebots ist im schnelllebigen Medium Internet für Anbieter und Nutzer gleichermaßen unabdingbar. 2. Autorenschaft Das Hauptaugenmerk sollte auf der Sorgfalt beim Nachweis von Quellen liegen. Mögliche Intentionen von Autoren, Herausgebern oder Verantwortlichen der veröffentlichten Informationen sind in die Qualitätsbewertung einzubeziehen. 3. Zielgruppe Auch die Frage, an wen sich das Informationsangebot richtet, kann ein wichtiges Qualitätsmerkmal darstellen. 4. Textsorte Um die Zielrichtung von Informationen zu verstehen, bedarf es grundlegender Textsortenkenntnisse | 37 38 | Positionen | Projekte | Publikationen (Meinung, Kommentar, Bericht, wissenschaftlicher Artikel, Glosse, Satire, Werbung...). 5. Aufbereitung Die Sorgfalt der Informationsgestaltung lässt zumeist gute Rückschlüsse auf die Gesamtqualität zu: Korrektheit und Nachvollziehbarkeit der Aussagen, Vollständigkeit der Quellennachweise, Einbinden von Querbezügen (Verlinkungen), übersichtliche Anordnung textualer und graphischer Elemente. Darüber hinaus ist z. B. die deutliche Trennung von Werbung und redaktionellen Beiträgen ein Gradmesser für Seriosität. Integrierte Orientierungshilfen, Glossare oder Bildnachweise liefern ebenfalls Indizien für die Sorgfalt des Informationsanbieters bei der Gestaltung und Pflege des Informationsangebots (Ballod 2011, 19ff). 3Internet-Suchmaschinen 3.1Grundlagen und Hintergründe Internet-Suchmaschinen sind in der modernen Mediengesellschaft Gatekeeper und universeller Schlüssel zum Weltwissen zugleich. Ohne allgemeine Internet-Suchmaschinen wäre der Zugang zu vielen Informationsquellen verschlossen, Orientierung im weltweiten Datendickicht unmöglich. Suchmaschinen kompetent bedienen? Ist doch kinderleicht! Man muss doch nur ein Wort oder mehrere Wörter in das Suchfeld eintragen. Genauer betrachtet, ist es komplexer. Die Kriterien, nach denen Informationen gefiltert und aufbereitet werden, sind Nutzern höchstens ansatzweise bekannt, im Kern bleiben sie jedoch Betriebsgeheimnis des 2 jeweiligen Anbieters. Alle Suchergebnisse sind kritisch zu reflektieren. Denn: Die vermeintlich ‚weltweite‘ Informationslage ist ‚zensiert‘. Dies schützt uns vor einer nicht zu bewältigenden Informationsfülle (information overkill) oder vor krimineller Kontaktaufnahme 2 Das Ranking, also die sortierte Liste der angezeigten Treffer, wird je nach Suchmaschine von verschiedenen Parametern und Algorithmen bestimmt, im Fall von Google sind es mehr als 200 Kriterien (http://de.wikipedia.org/wiki/Google). Wesentlich für das Ranking ist die Anzahl der Verlinkungen von anderen Seiten auf eine URL sowie Zugriffszahlen und Keywords. via Spam, Viren, Phishing, Trojaner etc. Zugleich aber ist das präsentierte Angebot in mehrfacher Weise gebrochen, verzerrt oder manipuliert. Viele Informationen bekommen wir gar nicht zu Gesicht, teilweise durch unwissentlich gesetzte persönliche Einstellungen bzw. durch Filtermechanismen der Suchmaschine oder aufgrund länderspezifischer Interessenkonflikte (GEMA-Streit in Deutschland, politische Zensur in China). 3.2 Typen von Suchmaschinen Zu unterscheiden sind Web-Kataloge (Portale) und Suchmaschinen. Während in Katalogen Informationen oft redaktionell und mit direktem menschlichen Zutun kategorisiert werden, liefern Such3 maschinen automatisch erzeugte und sortierte Trefferlisten zu freien Sucheingaben. Die algorithmisierten Dienste werden in allgemeine Internet-, Meta- und Spezial-Suchmaschinen eingeteilt. Bei einer Metasuche werden mit einer Anfrage mehrere Suchmaschinen zugleich befragt und die Ergebnis4 se entsprechend gelistet. Spezial-Suchmaschinen sind hingegen – wie es der Name schon sagt – auf spezielle Datenbestände, bestimmte Domänen, einzelne Medienformate oder spezifische Suchanfor5 6 derungen spezialisiert, etwa Nachrichten , Bücher , 7 8 9 Bilder , MP3-Dateien oder Blogs . Darüber hinaus gibt es spezielle Suchmaschinen, die entweder Personen-Suchprofile (z. B. www.yasni. de) oder Zielgruppen (z. B. www.blinde-kuh.de oder www.fragfinn.de) fokussieren. Auch in allen gesellschaftlichen Domänen (Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Politik, Medien,...) existieren redaktionelle Informationsportale und Online-Mediatheken mit spezialisierten Suchfunktionen, die Datenbanken, Sparten oder Themencluster durchforsten. 3 4 6 7 8 5 9 z. B. www.bing.de, www.yahoo.com, www.fireball.de oder www.ask.com z. B. http://meta.rrzn.uni-hannover.de/ z. B. www.rocketnews.com/ z. B. www.gallileus.info/ z. B. www.picsearch.com/ z. B. http://www.netzwelt.de/dl/doppelte-mp3-dateiensuchen-freeware.html z. B. www.blog-sucher.de/ Positionen | Projekte | Publikationen Wichtig zu wissen ist, dass alle Suchanfragen immer nur einen Ausschnitt des gesamten Webs abdecken. Als Deep Web wird der Teil des Internets bezeichnet, in dem Inhalte entweder nicht frei zugänglich sind oder aber von Suchmaschinen nicht indiziert werden (können). Obgleich Google bereits mit seiner Namensgebung (googol = eine Eins mit 100 Nullen) suggeriert, eine unendlich hohe Zahl an Seiten zu ‚kennen‘, gehen die Schätzungen stark auseinander, wie viel mehr Informationen im Internet insgesamt vorhanden sind. Auf bis zu 550 Mal so viele Seiten kommt demnach das Deep Web 10 gegenüber dem Surface Web. 3.3 Funktionsweisen von Suchmaschinen Um mögliche Begrenzungen und Probleme bei der Nutzung von Internet-Suchmaschinen verstehen zu können, ist es nötig, ihre Funktionsweisen bezüglich des Indexierens, des Rankings sowie der Manipulationsmöglichkeiten zu kennen. Hilfreich ist auch, über Marktmechanismen des Internets und des Suchmaschinen-Segments Bescheid zu wissen. Google selbst bietet auf seiner Homepage eine umfassende Erklärung der Funktionalität aus 11 Anwendersicht. Eine Flut an Ratgeberliteratur verspricht zudem Tipps und Tricks: „Der Google-Code“ (Henk van Ess 2011), „Suchmaschinenoptimierung & Usability“ (Broschart 2011), „Die ultimative Google 12 Bibel“ (Kiefer 2010). Das Dienstleistungssegment zur Suchmaschinen-Optimierung (kurz: SEO) hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, denn zugespitzt ausgedrückt gilt: „Wer bei Google nicht gefunden wird, den gibt es nicht!“. Nutzungsanalysen zufolge finden nur die ersten 5 – 30 Treffer große Beachtung. Bei diesen Treffern handelt es sich zudem häufig um erkaufte Rangplätze, während die restlichen kaum oder keine Beachtung finden 10 http://de.wikipedia.org/wiki/Deep_Web http://www.google.com/intl/de_ALL/insidesearch/features/ 12 Selbstverständlich gibt es entsprechende Angebote auch online; z. B. www.suchfibel.de. 11 (Schetsche et al. 2005, 27). Entsprechend hoch ist die Motivation von Informationsanbietern, ihre Internetseiten so zu gestalten, dass diese im Ran13 king weit oben stehen. Unabhängig davon werden auch die Suchalgorithmen ständig verändert und verbessert; oft ohne die Nutzer hinreichend darüber zu informieren. Google hat bei einem einzigen großen Update 2012 insgesamt 53 Änderungen 14 vorgenommen. In der Schule sollten die Verfahren des automatischen Indexierens, die Kriterien des Rankings oder auch beliebte Manipulationsversuche daher thematisiert werden. Schüler können selbstständig recherchieren, welche neuartigen Ansätze von Suchmaschinen (www. wolframalpha.com/), von Möglichkeiten der Trefferaufbereitung (www.kartoo.com/) von FrageAntwort-Modalitäten (www.hiogi.de/) oder von anonymisierbaren Suchanfragen (https://ixquick. com/) erforscht und ausprobiert werden. 3.4 Wissen über Google Faktisch ist für Viele der Zugang zum „Wissen unserer Welt“ gleichbedeutend mit einer Suchanfrage beim Quasimonopolisten „Google“. Laut Marktforschung hat Google bei den Internet-Suchanfragen in Deutschland einen Marktanteil (Stand: Septem15 ber 2014) von 94,8 Prozent. 13 Im Umfeld der Suchmaschinen-Optimierung gibt es eine ganze Palette an Werkzeugen, mit denen man Suchmaschinen bei der Arbeit über die Schulter schauen kann. Vgl. z. B. http://seo-tools-online.de/tools.php 14 http://www.golem.de/news/suchmaschine-53-aenderungen-an-googles-suchalgorithmus-im-april-2012-1205-91601. html 15 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/167841/ umfrage/marktanteile-ausgewaehlter-suchmaschinen-indeutschland/ | 39 40 | Positionen | Projekte | Publikationen Abb. 1: Marktanteile Suchmaschinen in Deutschland Bereits 2004 hielt das Verb googeln Einzug in den Rechtschreibduden und längst hat sich googeln als Synonym für das Recherchieren (im Internet) etabliert. Im Jahr 2014, siebzehn Jahre nach seiner Gründung, kommt das amerikanische Unternehmen auf einen Börsenwert von 400 Milliarden Dollar und gehört damit zu den fünf ‚wertvollsten Unter16 nehmen‘ weltweit. Google befindet sich in einem kleinen Kreis von IT-Konzernen (mit Apple, Amazon, Facebook), der das gesamte Internet nachhaltig prägt und seine Spielregeln maßgeblich bestimmt (Hamann/Rohwetter 2012). Schetsche et al. drücken dies bezogen auf Google sehr drastisch aus, denn „[o]hnehin schon beliebte Seiten werden durch eine gute Positionierung bei Google noch beliebter; bislang unbekannte Seiten hingegen bleiben es weiterhin. […] Suchmaschinen wie Google sind damit zentrale Instanzen der Gleichschaltung der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung in der neuen Welt“ (2005, 23). Ungeachtet dieser scharfen Wertung lässt sich der Schluss ziehen, dass 16 http://www.deraktionaer.de/aktie/apple-zurueck-auf-demthron-83570.htm wir ein Werkzeug, mit dem wir tagtäglich arbeiten, besser kennen(lernen) und unseren Bedürfnissen anpassen sollten, schließlich verwenden wir ja auch keine Gabel, um eine Suppe umzurühren. Personalisierte Einstellungen können dabei Segen oder Fluch sein, denn die individuelle Anpassung von Filtereinstellungen an Informationsbedürfnisse oder Vorlieben hilfreich und unproblematisch, sollten aber freiwillig und bewusst ausgewählt werden. Bei Schülern beliebt sind z. B. die Personalisierung von Startseite, die Anpassung des Layouts sowie des Dienstes Google News. Um so wichtiger erscheint mir, die Firmenphilosophie von Google, mit ihren 10 Grundsätzen zu 17 kennen. Die Selbstauskünfte hierin sind ebenso interessant wie ein Blick in die ausführlichen 18 Nutzungsbedingungen und umfängliche Daten19 schutz-Erklärung. 17 www.google.de/about/company/philosophy/ www.google.de/intl/de/policies/terms 19 www.google.de/intl/de/policies/privacy/ Das Unternehmen Google ist in den letzten Jahren stärkerbemüht, eine gewisse Transparenz zu schaffen, was sich in der Rubrik „Neuigkeiten“ (www.google.de/press/) widerspiegelt, in der beispielsweise Produktveränderungen und Neuentwicklungen angekündigt werden. 18 Positionen | Projekte | Publikationen Eine derart theorielastige Betrachtung eignet sich im Schulkontext nicht als Einstieg, aber sicher zur Vertiefung der Suchmaschinen-Thematik. Da Google die früheren Versionen hinterlegt, bietet sich eine Synopse an, ebenso ein vergleichender Blick auf staatliche Datenschutzrichtlinien oder Nutzungs- bedingungen anderer Konzerne. In einem OnlineDossier der ‚Bundeszentrale für politische Bildung‘ werden aktuelle Entwicklungen im Suchmaschinenmarkt – insbesondere auch Google – diskutiert sowie Konsequenzen für die Wissensgesellschaft und mögliche Reaktionen thematisiert. 20 Abb. 2: Bundeszentrale für politische Bildung: Online-Dossier 4 Internet-Suchmaschinen im Unterricht 4.1Suchverhalten er- und hinter fragen Das Thema ‚Internet-Suche‘ im Unterricht sollte mit einem Befragen der Klasse zu ihren individuellen Nutzungsgewohnheiten beginnen; z. B.: „Wie oft nutzt ihr Google?“ „Wann und zu welchem Zweck nutzt ihr Google?“ „Welche alternativen Suchmöglichkeiten fallen euch ein?“ „Welche erweiterten Sucheinstellungen kennt oder nutzt ihr?“ „Wie wählt ihr die Treffer aus, die euch angezeigt werden?“ „Wie viele Treffer schaut ihr euch überhaupt an?“ „Wie 20 www.bpb.de/gesellschaft/medien/politik-des-suchens/ entscheidet ihr, ob das, was dort steht, relevant bzw. richtig ist?“ Anhand solcher und vergleichbarer Fragen können die unterschiedlichen Antworten der Schüler zusammenfassend visualisiert werden. Indem sie sich über ihre Such- und Internetgewohnheiten austauschen, profitieren alle wechselseitig. Alternativ dazu demonstrieren Schüler (z. B. am Smartboard) Suchanfragen vor der Klasse; entweder unmittelbar (offene Suche) oder nach einer kurzen Vorbereitung (Nachstellen einer erfolgreichen Suche). Selbstverständlich kann der Lehrer auch gezielt Suchanfragen vorgeben oder methodisch in ein WebQuest einbinden. Die Ergebnisse, Fundstellen und Vorgehensweisen werden dann verglichen, kommentiert und bewertet. | 41 42 | Positionen | Projekte | Publikationen Eine erste Erkenntnis sollte sein: Google liefert keine Antworten, sondern Treffer. Selbst Studenten gaben zu, ganze Fragen in das Suchfenster einzutragen, in der Annahme, derartige Fragen seien von anderen sicher schon einmal so gestellt worden. Ein Trugschluss, denn selbst wenn dem so ist oder wäre, erhöht das nicht die Wahrscheinlichkeit ‚passende Antworten‘ zu finden. Nichtsdestotrotz scheint dieses Vorgehen weit verbreitet und kaum hinterfragt. Auf der Hand liegt es daher, die spannenden Entwicklungen in der Künstlichen-IntelligenzForschung oder die neueren Ansätze zum ‚Semantischen Web‘ anschließend zu diskutieren. Spätestens in der Oberstufe lassen sich damit Facetten und Probleme natürlicher vs. künstlicher Sprachen als Rahmenthemen behandeln. 4.2Fragen stellen lernen In einem zweiten Schritt sollte beleuchtet werden, wie man zu richtigen Fragen kommt, diese formuliert und in sinnvolle bzw. suchmaschinenadäquate Suchanfragen ‚übersetzt‘. Der bedeutende Philosoph Kant unterscheidet drei Weisen des Fürwahrhaltens: Glauben, Meinen und Wissen (Kant 1952: B650, A622). Diese Kategorisierung kann Schülern helfen zu erkennen, dass im Internet vielfach kein Wissen vermittelt wird, sondern bloße Glaubenssätze oder persönliche Meinungen geäußert werden. Das bedeutet aber auch: Richtiges Fragenstellen will gelernt sein, wie das folgende Beispiel zeigt. Geben Sie zunächst folgende Frage vor: „Gibt es Gott?“ Schauen Sie sich gemeinsam mit der Klasse die Treffer an und diskutieren Sie, warum es auf diese Frage keine hinreichend eindeutige Antwort geben kann. Gehen Sie nun einen Schritt weiter: „Wird die Welt eines Tages untergehen?“ Auch auf diese Frage finden sich viele, von schlüssigen Antworten weit entfernte, spekulative Aussagen. Eine dritte Frage könnte lauten: „Gibt es das Higgs-Boson-Teilchen?“ Gemeinsam mit den Schülern kann deduktiv hergeleitet, vor allem aber diskutiert werden, dass die Suche nach dem sogenannten ‚Gottesteilchen‘ durchaus wissenschaftlich betrieben wird, dass also Physik, Metaphysik und Weltbilder durchaus in enger Verbindung stehen. Je nach Unterrichtsfach lassen sich daran soziale, historische, ökonomische, ethische oder religiöse Querbezüge herstellen und vertiefen. Für den Deutschunterricht könnte sich eine andere Fährte anschließen: „Wann schreibt man ß, wann ss?“ Die gefundenen Seiten können gemeinsam bewertet, weiterführend bearbeitet (Arbeitsblätter zur Orthographie) oder fachlich diskutiert (Vorgeschichte, Nutzen, Ziele, Umsetzung der Rechtschreibreform) werden. 4.3 Wort-Schätze bergen Die Suchmaschinen-Thematik ist prädestiniert für Wortschatz-Arbeit im Deutsch-, aber auch Fachunterricht. Vor der eigentlichen Suchanfrage bieten sich zur Aktivierung des Vorwissens ein Brainstorming (im Klassenverband) oder das Erstellen einer Mind-Map (in Einzelarbeit) an. Diese bereiten die eigentliche Suche vor, nämlich indem Schüler mögliche Such-, Stich- und Schlagwörter, Begriffe und Phrasen zunächst sammeln, notieren und anschließend ausprobieren. Klassische Wörterbucharbeit (online/offline) kann ebenso hilfreich sein, wie die Nutzung von Thesauren (Wortlisten), die bereits vielfach in OfficeProgramme integriert sind (z. B. in Microsoft Word Y rechte Maustaste: Nachschlagen, Synonyme, Übersetzen...). Neben der Nutzung vorhandener Wortlisten kann die Orthographie (alte, neue, alternative Rechtschreibung) oder Schreibweise (E-Mail, eMail, Email, e-Mail) variiert werden. Als Ebenen weiterer Sprachbetrachtung kommen verwandte Wörter aus zugehörigen Wortfeldern oder Wortfamilien in Betracht. Weitere sprachliche Variationsmöglichkeiten sind: Wechsel der Sprache (deutsch Y englisch), der Sprachebene (Umgangssprache Y Hochsprache), der Wortart (Verb Y Substantiv), Verwendung unterschiedlicher Phrasen, einschließlich der Wortstellung („Kleines Ferienhaus mieten“ Y „Bungalow anmieten klein“). Positionen | Projekte | Publikationen 4.4Eingaben und Einstellungen anpassen Ausgehend von der These, dass eine Informationssuche nur so erfolgreich sein kann, wie eine zuvor geklärte Zielstellung und Strategie, gibt es Hilfestellungen für die Eingabe in das Suchfeld. Die o. a. Ratgeberliteratur hält ebenso Sucheingabetipps (van Ess 2011) bereit, wie zahlreiche Online-Seiten (www. suchfibel.de) oder Suchmaschinenanbieter selbst. Google offeriert seine Hinweise zusammen mit den 21 Sucheinstellungen in einer eigenen Rubrik. 22 Abb. 3: Google-Suchtipps ben oder merkmalssemantische Kategorien in Form von Ober-, Unter- oder Nebenbegriffen herangezogen. Um Suchergebnisse bei zu vielen Treffern einzugrenzen oder bei sehr wenigen auszuweiten, gibt es ebenfalls eine Reihe von Möglichkeiten, die Sucheinstellungen anzupassen. „Google Instant“ ist eine mittlerweile etablierte Standardeinstellung der Suchmaske, die Suchan frage wird bereits während des Eintippens automatisch vervollständigt bzw. durch mögliche weitere Suchbegriffe ergänzt. Diese Funktion lässt sich wie Safe-Search-Einstellungen oder das Löschen früherer Suchanfragen manuell deaktivieren. Um die Veränderungen der Suchergebnisse sichtbar werden zu lassen, sollten Schüler vergleichend mit verschiedenen Einstellungen nach denselben Stichwörtern suchen. Auch die Funktion ‚wörtlich‘ ist anzusprechen, denn Google passt automatisch Rechtschreibung, Synonyme und personalisierte Präferenzen ohne Wissen des Nutzers an. Boolsche Operatoren (und, oder, nicht) nützen Suchanfragen einzuschränken, Trunkierungen diese zu erweitern: Anführungszeichen („...“) bei der Phrasensuche, Sternchen (*) dienen als Platzhalter für Einzelzeichen oder ganze Wörter. Online befassen sich zahlreiche Seiten mit der Anpassung von 23 Suchoptionen. Die Rubrik „Erweiterte Sucheinstel24 lungen“ bietet Optionen zur Ein- oder Ausgrenzung bestimmter Dokumenttypen oder Sprachen. Beispielsweise werden viele wissenschaftliche Texte als *.doc oder *.pdf im Netz veröffentlicht. Zeitraum der Aktualisierung, Sprachgebiet oder Webbereich (*.edu, *.org, *.net) sind ebenfalls nützliche Kriterien. Auch hier kann morphologisches, syntaktisches, semantisches und lexikalisches Wissen hilfreich sein. So können Stammformen, Flexionsformen, Kompositionen oder Derivationen von Suchwörtern ausprobiert werden. Oder: Es werden typische linke und rechte Nachbarn (Kollokationen) mit eingege21 Das Zahnrädchen-Symbol, das erst nach einer Suchanfrage auf der rechten Bildschirmseite oben erscheint, eröffnet neben Suchhilfen eine Palette interner Einstellungs- und Personalisierungsoptionen. 22 http://support.google.com/websearch/bin/answer. py?hl=de&answer=134479 23 http://www.weboptimierung-griesbaum.de/wissen/google-suche---11-suchtipps-fur-die-internet-suche-mit-google. html Vgl. auch http://gregor-moellring.de/anleitungen/ google-besser-suchen-mit-operatoren/ 24 http://www.google.de/advanced_search?q=asdf+movie&h l=de&biw=1600&bih=768&prmd=imvns | 43 44 | Positionen | Projekte | Publikationen 25 Abb. 4: Suchmaschinen und Lernportale für Kinder 4.5 Austesten statt Abschreiben Zum ‚Austesten‘ von Suchmaschinen gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wobei die Sucheingabe zunächst konstant gehalten wird, aber mit unterschiedlichen Sucheinstellungen, zu verschiedenen Zeitpunkten oder mittels verschiedener Suchma26 schinen recherchiert wird. Nachfolgend werden die Treffer und Ergebnisse vergleichend ausgewertet, was speziell bei Suchen mittels Meta- und Spezial-Suchmaschinen aufschlussreich ist. Crossmediale Vergleiche sind ebenfalls möglich: Drei Parallelgruppen müssen dazu zum gleichen Thema recherchieren. Eine Gruppe sucht ausschließlich im Internet mit Google, eine im Internet ohne Google zu verwenden und eine weitere Gruppe startet die Recherche ohne jegliche Internet-Nutzung in der schuleigenen Bibliothek. Zu sehen, wie die jeweiligen Schüler methodisch vorgegangen sind und auf welche Quellen sie stoßen, ist sicher für Lehrer und Schüler gleichermaßen aufschlussreich. 25 Eine Übersicht ist zu finden unter: http://bildungsserver. berlin-brandenburg.de/suchen-und-lernen.html 26 Eine Übersicht ist zu finden unter: www.suchmaschinenonline.de Eine weitere methodische Alternative: Schüler und Lehrer gehen – in einem eher spielerisch, detektivischen Sinne – gemeinsam auf die Suche nach ‚obskuren‘ Themen, nach Fake-Seiten oder sogenannten Hoax. Als Einstieg eignet sich die Wikipedia-Seite 27 zu Fakes. Obgleich das folgende Beispiel nicht taufrisch ist und aus Nordamerika stammt, ist es 28 ein Lehrstück über Gutgläubigkeit von Schülern. Es lohnt sich, die Untersuchung und zugehörige Kommentare ausfindig zu machen. Eine ernsthafte und anspruchsvolle Aufgabe ist die Bewertung von Suchmaschinen für Kinder. Die notwendigen Qualitätskriterien sind im Klassenverband zunächst zu erarbeiten und festzuhalten. Neben den bereits o. a. Kategorien (2.3 Vom Analysieren zum Bewerten) sollten sowohl allgemeine Aspekte der Usability (Wirth 2004) als auch 29 Gestaltungsaspekte von Webseiten herangezogen werden. 27 http://de.wikipedia.org/wiki/Fake http://zapatopi.net/treeoctopus/ 29 z. B. unter: http://wg.e-kompetenz-ratgeber.de/ oder http://www.computerwoche.de/g/die-groessten-fehlerder-website-gestaltung,101812 28 Positionen | Projekte | Publikationen 4.6Google-Dienste aktiv nutzen, Inhalte ergänzen Neben den Suchdiensten (Web, Bilder, Blogs, wiss. 30 Artikel etc.) bietet Google weitere Dienste an, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Google-Maps, Google Übersetzer und Google Earth sind weithin bekannt und laden den Nutzer ein, selbst aktiv zu werden. Wie Google Maps, Google Books und Google Trends im Unterricht genutzt werden könnten, wird nun skizziert. Bei Google Maps ist es leicht, Schüler gemeinsam in Arbeitsgruppen eigene Inhalte (Fotos, Kommentare) ergänzen zu lassen, die dann im Kartenmaterial oder – wo möglich – auch bei Google Streetview erscheinen. Die Ergänzungen können sich auf vorher vereinbarte Bereiche beziehen; die Schule, das Umfeld, den Stadtteil, Sehenswürdigkeiten oder kulturelle Einrichtungen. Google Books ist aus Schülersicht interessant, um eine erste Einführung in ein Buch zu erhalten. Hochwertige und seltene Bücher können online 31 gesichtet, z. T. auch gelesen werden. Autorenverlinkungen ermöglichen die direkte Weiterbeschäftigung mit dem Urheber und erschließen somit Hintergrundinformationen. Da sich über „ähnliche Bücher“ thematische Cluster ergeben, können Themen assoziativ-vernetzt erschlossen werden. Da Schüler oft schon Hase spielten und den Lehrern nur die Igel-Rolle bleibt, sollten Lehrer Google Books nicht länger ignorieren, sondern ausprobieren und gezielt überlegen, wann, wo und wie sie ihn im Fachunterricht (oder auch durch Hausaufgaben) proaktiv einbinden können. Im Deutschunterricht beispielsweise schreiben Schüler eigene Rezensionen zu Büchern. Buchbesprechungen im Forum wiederum können mit denen in anderen Portalen (Amazon, Buchhandel, Portale, Verlage) verglichen werden. Google Trends bietet ein Kaleidoskop statistischer Analysen zu häufigen Suchbegriffen und eine Art besonderen Jahresrückblick. Anhand von Google30 31 http://www.google.de/intl/de/about/products/ Wissenschaftlich Interessierten (Schülern und Lehrern) sei auch der Suchdienst Google Scholar nahegelegt. Suchanfragen werden verschiedenste Themen des vergangenen Jahres – nach Kategorien sortiert aufbereitet. Animierte und interaktive Graphiken laden ein, Statistiken und Verteilungen zu ergründen und themenbezogene Auswertungen in den Unterricht einzubeziehen, frei nach dem Motto: „2014 wurde millionenfach auf Google gesucht. Was sagen diese Suchen über uns aus.“ (https:// www.google.de/trends/2014/). Google-Dienste fordern es geradezu heraus, sich ihnen in Form von Schüler-Wettbewerben zu nähern. Methodisch eignen sich dazu Quiz-Formate ebenso wie WebQuests: Schnelligkeit und Kreativität bei der Suche, Originalität und Qualität der Fundstellen 32 etc. Manche Dienste setzen zwar eine Anmeldung voraus, was unproblematisch ist, sofern Schüler über das o. a. Hintergrundwissen zu Personalisierung und Datenschutz verfügen. 4.7Noch tiefer bohren Bedingt durch die hohe Marktpräsenz von Google ist neben dem Ranking auch das MarketingPotenzial ein Thema für die Schule. Schüler sollten lernen, welche Wege Werbefachleute, Firmen, aber auch Einzelpersonen beschreiten, um zielgerichtet 33 Kunden zu gewinnen. Mithin mangelt es Schülern sowie Lehrern an Verständnis, wie weit Suchergebnisse und die im Umfeld platzierten Anzeigen kommerziell ‚verankert‘ sind und Werbung war und ist immer ein wichtiges Thema im Deutschunterricht; warum sollte die Beschäftigung beim ‚TextBild-Verständnis‘ von Tabakwerbung in Printmedien stehen bleiben. „Google Marketing. Werben mit AdWords, Analytics, AdSense & Co.“ (Rupp 2010) lautet bezeichnenderweise ein Titel. Unter der Rubrik ‚Werben mit Google‘ sind auf der Startseite von Google einige Möglichkeiten dargestellt. Schüler dürften sich sehr interessiert an den Tricks von Profis und den Möglichkeiten kleiner und großer Manipulationen zeigen. Denn ähnlich wie bei Spam und Viren stehen 32 Eine ganz andere Möglichkeit spielerischen Wettbewerbs bietet Fireball: http://www.fireball.de/Dienste/TrafficSpiel. asp 33 Vgl. beispielsweise Google Anzeigen. Online erreichbar unter: http://www.google.de/intl/de/ads/ | 45 46 | Positionen | Projekte | Publikationen findige und windige Gesellen im ständigen Wettstreit mit den Suchmaschinen-Programmierern. Prädestiniert hierfür sind eigene Medienprodukte des Schulumfelds, wie Schülerzeitung, Klassen-Wiki, Schulhomepage oder private Blogs der Schüler. Warum nicht mit den Schülern gemeinsam diese Seiten nach professionellen SEO-Kriterien verbessern? Mehr Hintergrundwissen zur Anwendung zu bringen, wird kaum möglich sein und mit den verschiedenen Talenten in einer Klasse sicher einiges zu leisten sein (Technik, Musik, Graphik, Sprache, Bilder, Keywords...). Zu anspruchsvoll? Dann kommen Online-Initiativen in Betracht, die zu produktiver Mitarbeit anregen, wie beispielsweise klicksafe. de oder internet-abc.de. Weitere Ideen und weiterführende Fragestellungen ergeben sich – je nach Klassenstufe und Unterrichtsfach. Diese lassen sich z. B. während einer Projektwoche in Kleingruppen oder in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften (AGs) behandeln: 34 Abb. 5: Googles „Spielplatz“ 34 http://www.google.com/intl/de_ALL/insidesearch/playground/ 1. „Wenn ihr selbst eine Suchmaschine konstruieren müsstet. Wie würdet ihr vorgehen? Was wäre euch wichtig? Was findet ihr an aktuellen Suchmaschinen praktisch? Was findet ihr verbesserungsfähig?“ 2. „Erstellt einen Fragebogen zu den Nutzungsgewohnheiten bei der Internetsuche und teilt sie in anderen Klassenstufen aus. Befragt verschiedene Personen eures Bekanntenkreises über das, was ihr in diesen Unterrichtseinheiten gelernt habt. Also: Ob sie die personalisierte Suche kennen, wissen wie ein Pageranking entsteht oder welche Alternativen es zu Google gibt.“ Die Ergebnisse können sich die Gruppen im Anschluss wechselseitig präsentieren; z. B. als MindMap oder Plakat, am Smartboard oder mit Powerpoint. Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt und falls Sie nun wirklich noch nicht genug haben und in den Google-Kosmos – mit oder ohne ihre Schüler – abtauchen möchten, dann sind sie auf dem google-eigenen Spielplatz richtig. Positionen | Projekte | Publikationen 4.8 Auf den Plan treten Um Google besser kennenzulernen, mögen die obigen Anregungen nützlich sein. Projektergebnisse oder offen gebliebene Fragen können mittels „Feedback geben“-Button auch direkt an die Google-Entwickler gesendet werden. Denkbar ist auch, dass Schüler ihre Kommentare und Projektergebnisse sogar bei einem Lokaltermin in den Deutschland-Niederlassungen von Google vorlegen. Oder sie bitten Google-Vertreter um ein Interview, um sich vor Ort und aus erster Hand ein 35 Bild von dem Unternehmen zu machen. Denn nicht zuletzt ist Google ein attraktiver Arbeitgeber mit zukunftsträchtigen Berufschancen für kreativhelle Köpfe. Dies alles hilft, Google nicht länger als „Blackbox“ zu sehen, sondern zu erkennen, wie Google im ‚Inneren‘ funktioniert und welche Techniken, vor allem aber welche Menschen dahinter stehen. 5Ausblick War Informationskompetenz ursprünglich die KernDomäne von „Informational Professionals (IPs)“, so avanciert sie heute zu einer übergreifenden Kulturtechnik. Nämlich: Der „Fähigkeit, bezogen auf Herausforderungen in Schule, Hochschule, Wissenschaft, Wirtschaft oder Gesellschaft, Informationsbedarf zu erkennen, Informationen zu ermitteln, zu beschaffen, zu bewerten und effektiv zu nutzen. Denn diese fördert das Grundwissen in Bildung und Berufsleben, führt zu Erfolgen und Innovationen in der Forschung und Entwicklung, ermöglicht Kreativität und Zufriedenheit im Alltag.“ (DGI 2012). Das WWW als Massenphänomen der letzten 20 Jahre symbolisiert dabei nur den Anfang einer digitalen Revolution, in der sich immer mehr Bereiche des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Lebens in die Online-Welt verlagern und sich die ‚digital natives‘ immer stärker organisieren. In die35 http://www.google.de/about/company/facts/locations/ | 47 sem Feld ergeben sich unzählige weitere Themen, die die Lebenswelt der Schüler unmittelbar widerspiegeln und daher in der Schule zu behandeln sind: Urheberrecht, Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung, Informationsethik etc. Nicht wenige Schüler aber auch Lehrer lavieren in einer rechtlichen Grauzone, wenn Sie einfach Bilder aus der Google-Suche übernehmen. Anhand dieses ‚simplen‘ Beispiels lässt sich das ‚Recht am eigenen Bild‘ thematisieren und andere problematische Aspekte („Mobbing in sozialen Netzwerken“, „Das Internet vergisst nichts“ etc.) ‚nachziehen‘. Von besonderer Bedeutung ist es, den Schülern Alternativen und frei nutzbare Quellen (https://creativecommons.org/, https://www.oercommons.org/) aufzuzeigen. 48 | Positionen | Projekte | Publikationen 36 Abb. 6: Creative Commons-Site Die „soziale Macht“ des Netzes im Allgemeinen und der sozialen Netzwerke im Besonderen sind keinesfalls zu vernachlässigen. Dass besonders die Suchmaschinen, respektive Google eine eigene Macht darstellen, liegt auf der Hand und ist mittlerweile ebenfalls Gegenstand vielfältiger Betrachtungen. Es geht in der schulischen Vermittlung nicht um eine Bewertung, sondern um die differenzierte Sicht auf die Entwicklungen und welche Reichweite diese für unser aller tägliches Leben haben. Besonders empfehlenswert ist die Dokumentation „Die geheime Macht von Google“ in der ARD, die Online verfügbar ist und mit dem folgenden Teaser angekündigt ist: „Vier Milliarden User "googeln" sich täglich weltweit durch das Internet. Längst ist Google ist zum Navigator durch den Alltag geworden. Allein in Europa laufen 90 Prozent der Suchanfragen über Google. Google sortiert uns die Welt, sucht für uns und findet - und ist dank des Siegeszugs der Smartphones allgegenwärtig. Google dominiert das Internet - eine ungeheure Macht. Ist die Suchmaschine tatsächlich so objektiv und verbraucherfreundlich, wie sie scheint? Oder verfolgt Google Absichten, die die 37 Interessen der Verbraucher in Wahrheit verletzen?“ 36 37 https://creativecommons.org/ http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/videos/die-story-im-ersten-die-geheimemacht-von-google-100.html Positionen | Projekte | Publikationen In allernächster Zeit werden mittels internetfähiger Smartphones, Flatrates und Cloud-Computing ganze Bücher-, Film- und Datenbank-Bibliotheken jederzeit, überall und für jeden verfügbar sein. Die Bildungsinstitutionen sind in der Pflicht, diese Entwicklungen konstruktiv und kritisch zu begleiten. Die Freiheit des Internets und die Freiheit des Einzelnen werden davon abhängen, ob und wie Schüler zu mündigen (Online)-Bürgern erzogen werden. Die Freiheit des Internets, sein anarchisches Potenzial, die freie Meinungsäußerung und das kreative Chaos sind längst von ökonomischen Interessen infiltriert. Die Eingabe in die Suchmaske von Google „Wie wird die Zukunft des Internets aussehen?“ führt zu vielen unterschiedlichen Prognosen, aber ein Blick in die Ideen-Schublade des Google-Konzerns (Datenbrille, Gesichtserkennung, selbstfahrende Autos, 38 Haussteuerung) lässt womöglich noch tiefer blicken. „Seit Juni 2013 wissen wir, vor allem durch Edward Snowden, dass das Internet ein Überwachungsnetz ist. Inwieweit es ein manipuliertes Netz ist, in dem uns Monopole eine ihnen genehme und kommerziell lukrative "Wirklichkeit" vorgaukeln, ahnen wir vielleicht - eine Beweisführung ist schwer, in Kartellverfahren klingt sie an. Die entscheidende Frage muss sein: Was können wir gegen Überwachung und Manipulation tun? Oder: Wie kann das Netz "repariert" werden?“ (http://searchstudies.org/de/ suma2015.html). So gesehen ist auch die Zukunft der Internet-Suche ein Thema mit vielen spannenden Facetten von höchster gesellschaftspolitischer Bedeutung: Wird es in Zukunft ein Mehr-Klassen-Internet geben oder gar verschiedene, voneinander getrennte Netze? Wie werden sich die wissenschaftlichen und praktischen Fortschritte im Kontext des „Semantic Web“ weiterentwickeln? Wird es, ernsthafte Alternativen zum Quasi-Monopol von Google bei der InternetSuche (zumindest in Deutschland und der westlichen Welt) geben? 38 http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/ wirtschaft_nt/article123843964/Google-kauft-Spezialistenfuer-vernetzte-Haustechnik.html oder DER SPIEGEL-Titel: Google. Der Konzern, der mehr über Sie weiß als Sie selbst. Nr. 2, 11.01.2011. Recherchieren aber bleibt zunächst und in erster Linie eine intellektuelle Tätigkeit, denn die ‚Antworten der Maschine‘ können selten besser sein, als die ‚Fragen der Nutzer‘. Entsprechend bleibt auch die sogenannte Schwarm-Intelligenz (wisdom of crowds) eine schiefe Metapher, solange nicht jeder Einzelne in dieser Gruppe über eine größtmögliche Portion an Wissen, an Kompetenz und an Erziehung verfügt, die man im klassischen Sinne Bildung nennen würde. In den sozialen Netzwerken, als einer neuen Form selbstorganisierender Kultur, spielt Bildung keine große Rolle. Umso mehr sollten Vertreter traditioneller Bildungseinrichtungen neue Wege beim Zugang zu Wissen und innovative Methoden bei der Kultur- und Bildungsvermittlung beschreiten. Zum Artikel Der vorliegende Beitrag entspricht – bis auf einige Aktualisierungen, kleine Anpassungen und Adaptionen – einem Artikel, der 2012 als „Googeln im Unterricht zur Vermittlung von Informationskompetenz“ in: Gapski, Harald/Tekster, Thomas [Hrsg.]: Informationskompetenz im Kindes- und Jugendalter in der Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen (kopaed; Düsseldorf/ München) erschien. Zum Kontakt Prof. Dr. Matthias Ballod MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG Germanistisches Institut Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Luisenstraße 2 06099 Halle (Saale) Durchwahl: 0345 / 5523- 603 Sekretariat: 0345 / 5523- 601 E-Mail: [email protected] Web: www.deutschdidaktik.uni-halle.de | 49 50 | Positionen | Projekte | Publikationen Literaturangaben Hinweis: Alle in diesem Aufsatz aufgeführten InternetQuellen wurden am 11.01.2015 zuletzt geprüft. Ballod, Matthias (2014): Wikipedia im Deutschunterricht nutzen! Reflexiv – Produktiv – Kreativ. In: Lesefutter 2014, LISA Halle, 28-37. Ballod, Matthias (2011): Informationen und Wissen im Griff. Effektiv informieren und effizient kommunizieren, Bielefeld: Bertelsmann. Ballod, Matthias (2007): Informationsökonomie – Informationsdidaktik. Strategien zur gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Informationsbewältigung und Wissensvermittlung, Bielefeld: Bertelsmann. Ballod, Matthias (2005): Dimensionen von Informationskompetenz. In: Computer + Unterricht. Lernen und Lehren mit digitalen Medien, Jg. 15, Nr. 59, 44-46. Broschart, Steven (2011): Suchmaschinenoptimierung und Usability. Website-Ranking und Nutzerfreundlichkeit verbessern, 2., aktualisierte Aufl., Poing: Francis. DGI - Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e. V. (2012): DGI setzt auf Informationskompetenz gegen Informationsüberflutung, Pressemitteilung. Online erreichbar unter: http://www.dgi-info.de/index.php/presse/ pressemitteilungen/475-dgi-pm-strategie Gapski, Harald; Tekster, Thomas (2009): Informationskompetenz in Deutschland. Überblick zum Stand der Fachdiskussion und Zusammenstellung von Literaturangaben, Projekten und Materialien zu einzelnen Zielgruppen, Düsseldorf. Online erreichbar unter: http:// www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Aktuelle_Forschungsprojekte/Informationskompetenz_in_Deutschland_August_09.pdf Hamann, Götz; Rohwetter, Marcus (2012): Vier Sheriffs zensieren die Welt. In: DIE ZEIT, Nr. 32 vom 02. August, S. 19. Kant, Immanuel (1952): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner. Kiefer, Philip (2010): Die ultimative Google Bibel, Düsseldorf: Data Becker. Paál, Gabor (2011): Alles abgeschrieben? Bildung in Zeiten von Google. Radiointerview im Deutschlandfunk. Online erreichbar unter: http://www.dradio.de/dlf/ sendungen/campus/1390910/ Rupp, Susanne (2010): Google Marketing. Werben mit AdWords, Analytics, AdSense & Co., München: Markt + Technik. Schetsche, Michael; Lehmann, Kai; Krug, Thomas (2005): Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens. In: Lehmann, Kai; Schetsche, Michael (Hrsg.): Die Google-Gesellschaft. transcript: Bielefeld. S. 17-39. Schlobinski, Peter (2012): Sprache und Kommunikation im digitalen Zeitalter. Online erreichbar unter: http:// www.mediensprache.net/de/essays/6/ van Ess, Henk (2011): Der Google-Code. Das Geheimnis der besten Suchergebnisse, München: Addison-Wesley. Wirth, Thomas (2004): Missing Links. Über gutes Webdesign, München/Wien: Hanser. Positionen | Projekte | Publikationen André Schinkel Hinter den Gärten Laudatio auf Sascha Kokot aus Anlass der Verleihung des GeorgKaiser-Förderpreises des Landes Sachsen-Anhalt 2014 Lieber Sascha, meine Damen und Herren, der Grund unseres Zusammentreffens ist ein erhebender, denn es setzt sich damit eine Tradition fort, die jeweils zwei Dichter ehrt – einen, dessen aus dem Expressionismus kommendes und bis in die Neue Sachlichkeit hakendes Werk über Jahrzehnte hinweg die Theaterszene Deutschlands geprägt hat; einen, dessen junges Œuvre mit dem vielbeachteten Gedichtband „Rodung“ einen mehr als erfreulichen Ausdruck gefunden hat und der, auch wenn er sich nun der Dinge und des Studiums wegen nach Leipzig verkrümelt hat, aus diesem unserem seltsamen Bindestrichland stammt. Ja, die Verleihung des diesjährigen Georg-KaiserFörderpreises findet eingedenk der Vergabe des etwas namensamputierten Literaturförderpreises an Daniela Danz 2005 nun zum tatsächlich achten Mal statt. Angesichts dessen, was in der Welt wie im Ländchen momentan los … und der Pessimist in uns versucht ist, das Ende der Aufklärung zu befürchten … ist dies eine gute Gegenbewegung. Es lässt auch die Hoffnung bestehen, dass man von der gegenwärtigen Meinung, Universitäten und Theater seien, als jeweils höchste und wichtigste Bildungseinrichtungen, nach den Maßgaben des Markts zu kontrollierende Kuchenbuden, besser heute als morgen abrückt. Um sich zu verständigen auf diesem schlingernden Schiff, das dieser Planet ist, ist es weder nötig, Köpfe rollen zu lassen im Namen irgendeines Götzen, noch mit dem Mundverbot der Frömmler und Siegersprachler zu kommen. Wir sind damit inmitten dessen, was das Ansehen dieses Preises und unserer Zusammenkunft zu seiner Vergabe signalisieren sollte: Man muss sich nicht einig sein, um an den Grundfesten, die uns von den Tausendfüßlern und Planarien unterscheiden, festzuhalten. Eine dieser Festen ist die Kunst. Also: Einerseits ehren wir einen Dichter, dessen Arbeiten von den Nazis für alle Zeit in den Orkus gekippt sein sollten, Georg Kaiser, einen dem Anschein, der Mentalität nach echten Magdeburger, dessen reifer Fleiß ein Dreiviertel-Hundert Stücke, daneben Romane und Gedichte zeitigte. Kaisers Vergessenheit ist selbst ein Lehrstück darüber, wie der Bruch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Biografien der das Centennium Erleidenden eingreift, ein wenig an den Yvan-Goll’schen „Hiob“ erinnernd, mit dem es nicht gut ausgeht. Auf der anderen Seite fördert das Land Sachsen-Anhalt mit einem Preis, der den Namen Kaisers trägt, die nachwachsende Avantgarde, deren Stand im entwickelten Neu-Jahrtausend alles andere als ein leichter ist. Es hätte dem alten Kaiser wohl gefallen, dies zu sehn, ist doch darin eine Lösung eines frühen Konflikts des Dichters, in der Welt zu sein, angedeutet. Jeden der bisherigen Preisträger hat diese Ehre bestärkt. Über Sascha Kokot gibt es einiges zu berichten: Der gebürtige Altmärker, der in Osterburg aufwuchs, in Hamburg lernte, den es nach Australien, schlussendlich nach Leipzig verschlug, wo er am Deutschen Literaturinstitut die Iden und Weihen eines Au- | 51 52 | Positionen | Projekte | Publikationen tors eher vertiefte denn erwarb, mit der nunmehr legendär zu nennenden „Hausdurchsuchung“ eine Lesereihe begründete und sich eine Existenz als Autor und Fotograf aufbaute, ist mit der Nennung seines literarischen Debüts alles andere als rundum erfasst. Diese „Rodung“, 2013 in der hochambitionierten Edition Azur Helge Pfannenschmidts in Dresden erschienen, bildet aber dennoch einen Fonds dessen, worum es Sascha geht und worum der Kunst, wenn sie sich mit dem Spiegel einer Persönlichkeit mischt, zu tun ist, ab. Das ist es auch, was den kleinen Furor in der Szene, wenn man sie so nennen will, erzeugte. Stille, partiell nahezu lautlose Texte sind auf diesen 85 Seiten zu finden, zugleich von einer gewaltigen Schwere und schwangeren Füllung, konstatierende, monolithische Gesänge, sich teils wie Anti-Gesänge gebärdend und nicht selten den Gebrauch von Ironie, wenn sie denn vonnöten sein sollte, lange wägend. Sie haben ihrem Verfasser den Ruf eines ernsthaften Mannes eingebracht, eines Arbeiters mehr im Bergwerk denn auf der Pfaueninsel der Dichtung … und sie haben ihm innerhalb des deutschsprachigen Raums wie auch international – seine Texte wurden in fünf Sprachen übersetzt – Respekt und Gehör verschafft. auch diese Nacht fällt hinter deinem Haus zu Boden du hast freie Sicht tief hinein weißt von den Funkmasten den Rasthöfen wie Transit sich daran entlang spurt mit rotem Licht die Sedimente abfährt das Zurückgelassene nachdunkelt viel hast du dort geborgen dir stur in die Zimmer gestellt Schwemmholz deiner Herkunft nun bleibt dir der Blick vom Balkon auf die halbe graue Stadt die demontierten Gleise der kalten Rodung folgte Stille nach dein Heim ist ein begehbares Wesen in dem unser Fehlen haust Es ist dies das mehr oder minder namensgebende Gedicht in Saschas erster lyrischer Sammlung, unter der Überschrift „Schließer“ ist es als einer der wenigen Texte mit einem Titel versehen. In ihm schießen, glaube ich, alle Aspekte dieses Schreibens in eins: es wird vom Verlassen einer vertrauten Landschaft berichtet, die, gewissermaßen, in den Aggregatzustand der äußeren Weggesunkenheit wechselt, nicht ohne dass man den Ballast seiner Erinnerung daran und letztlich das, was man durch diese Landschaft selbst ist, mitnimmt in die Fremde, das Schwemmholz der Herkunft, und in der man ortlos ist und gefüllt mit dem Alten, gegen das das demontierte Neue brandet und – letztlich fern bleibt wie das, was man verlassen hat: „der kalten Rodung folgte Stille nach“ und „nun bleibt dir der Blick vom Balkon“. Die Dimension ist im Übrigen noch umfänglicher, denn sie greift zurück bis in die Ur-Verluste, die die Prägemarken existentieller Poesie sind. Dieser gedimmte, sonore, tiefernste Klang der Kokot’schen Sprache ließ früh aufhorchen: Dank eines bis heute hervorragend funktionierenden Förder-, im Sport würde man sagen – „Sichtungs“Systems ist man in Sachsen-Anhalt nach wie vor auf bestem Wege in der literarischen Nachwuchspflege. Diesem Status indes entwachsen, sehen wir nun einen ausgeformten, seine Obsessionen, wie es scheint, mählich sortierenden Dichter vor uns, dessen Parlando uns trifft und staunen macht. Die Dichterschaft, meine Damen und Herren, ist eine Zumutung und eine Gnade zugleich, nirgendwo kann man in solcher Dringlichkeit von Dingen sprechen, die sonst womöglich unaussprechlich wären. Die Lyriker-Seele ist stets halbseitig bedroht und auf der anderen Seite zum unbestechlichen Hinsehen verpflichtet. Diese Unbestechlichkeit, in den Worten Müllers die „weggeschnittenen Augenlider“ des Dichters, ermöglicht die der lyrischen Gattung unabdingbare Genauigkeit. Sie hat alle dauerhaften Dichterstimmen durch die Zeiten gebracht, ihr Verlust hat auch Hochbegabte nicht selten an ihrer Sinnsuche scheitern lassen. In den Versen Sascha Kokots aber treffen wir mustergültig auf diesen schwierigen Spagat, er wird durch die besondere Engführung einer unbeschnörkelten Beobachtung des Umliegenden mit Positionen | Projekte | Publikationen dem Agieren des Sprechenden, der ‚Stimme‘ des Gedichts noch aufgeladen. Auffällig, wie gesagt, die große Stille, flussartige Ruhe in diesen Texten, die oft erscheint, als würde darunter ein Brodeln gebändigt, aus dem sich alle existentielle Dichtung speist. Sie tritt mutvoll auf und riskiert zugleich Ratlosigkeit, gegen die dann, in einer weiteren Ableitung quasi, vorzugehen wäre und so fort. Es ist dies eine Art, sich in der Welt zu halten, die eben nichts mit der Ablenkungsmaschinerie der sogenannten Gegenwart, dem schaudererregenden Zeitgeist oder, in die Lyrik gebrochen, dem so vordergründigen, saumseligen Zerkrümeln der Sprache zu tun hat. Hören und vergleichen wir selbst: hinter den Gärten enden die Namen unserer Orte an der unverletzten Gusshaut wir haben vergessen dort zu enttrümmern die ausgelegten Fallen zu kontrollieren die neuen Gebiete begehbar zu machen wir kennen den Flusslauf kaum wo genau die Versinkung liegt die Trasse ihre Schatten parallel dazu wirft unsere Karten sind inzwischen überholt mit ihnen stimmen die Proviantlisten kaum wir wissen nicht was vonnöten sein wird fest steht nur die Kälte zieht an und wir füllen langsam das Schrot in die Patronen Wir hören also und: staunen. Was uns hier mit der größtmöglichen Beherrschung mitgeteilt wird, ist zugleich frappierend und ungeheuerlich, es ist, als stünde es auf dem Kipppunkt einer Erkenntnis, der über das Große, Ganze wie auch über die gewaltige Ratlosigkeit einer anstehenden Epoche spricht. Also doch ein Zeitgedicht? Auch das, aber eben ein entlarvendes. Es ist letztlich zugleich die Zeit, in der „unser Fehlen haust“. Die Literatur als Schwester der Geschichtsschreibung wird immer auch aus der Ära berichten, in der sie entsteht, nicht aber, sich ihr anzudienen, eher wohl, um die Analogie zu ziehen zwischen den Herden der Epochen. Leider ist das Bild unserer Epoche grausig, trotz alledem. Wir sind dem Süßholz der leichtherzigen Gesellschaft, wieder einmal und unglücklich, entkommen, wir suchen die Flussläufe, an denen wir zu leben haben, nach den Schwemmhölzern eines Sinns, ja, und unserer eigenen Identität ab. Hinter den Gärten, wo die Wildnis beginnt, lockt die Herausforderung, und sie erschreckt zugleich – es werden die Patronen gefüllt, ihr zu begegnen. Das Anziehen der Kälte ist womöglich … das reziproke Signum unserer Entfremdung. Ja, existentiell – jenseits der schulemachenden Verschlagwortung aller Dinge zu Pixeln und weitläufigen Unerheblichkeiten ist das der grundlegende Antrieb jeder künstlerischen Ansprache. Zu den Gebresten des Jahrhunderts, aus dem wir stammen und das uns bis heute, auch wenn wir seine Lehren mittlerweile wieder – auch davon redet dieses Gedicht – verspielen, beeinflusst, kommt im Falle des Dichters der Licht- oder oft genug Ablichtbezirk des Persönlichen dazu. Seine Pixelung prägt, beleuchtet oder verdüstert, je nachdem, den seelischen und nicht zuletzt auch leiblichen Verlauf eines Künstlerlebens und formt vor allem sein Werk. In der dichterischen Schamanen-Abteilung fällt das auf wie in keiner Kunstform sonst … der Stempel des Äußeren prägt, durch den ureigenen Solarplexus gefiltert, die Zunge, die Sprache des Vers-Obsessionisten, seine Lyrik, die ihm als die genau ihm entsprechende, folgerichtige Ausdrucksform erscheint. ein Leben auf Besuch und in jeder Stadt diese Zeitungsverteiler Bahnhöfe wellige Plakate immer ein Buchstabe weniger auf dem Straßenschild der ausgerissene Stadtplan bald namenlos die Schlüssel ohne Zähne Noch etwas ist interessant in unserer Erwägung und treibt mich um: so entstammt Sascha Kokot, meine Damen und Herren, der uns heute als mit diesem Preis auszuzeichnender ‚Einzeltäter‘ entgegentritt, zugleich einer Autorendynastie, die, für sich genommen, ausreichte, die „Osterburger Dich- | 53 54 | Positionen | Projekte | Publikationen terschule“ zu begründen. Dieser Umstand enthält Aspekte des Glücks und der Tragödie zugleich, er ist in einen Auftakt gesetzt durch die eindringlichen Texte seines Vaters, der nicht mehr unter uns sein kann, in ein zweites Aggregat gebracht durch die tiefen, souverän wie beherrscht geführten Erzählungen und Verse seiner Mutter Diana und findet in der Arbeit seines Bruders Vincenz, Musiker und Autor zugleich, eine weitere dichterische Experimentieranordnung – in ihr wird das Wort ein erneutes Mal auf seine Biegsamkeit untersucht. Wenn man möchte, setzt sich dieses Kaleidoskop aus vier Stimmen ebenfalls zu einer Art Ganzen zusammen. Für den heutigen Tag tritt Sascha schlaglichtartig in das Zentrum dieser Konstellation, wird gleichsam zum Botschafter dieser Ballung an Denk-, Umsetzund Erfindungskraft. Das schmälert ja das Besondere nicht, im Gegenteil, es gibt dem notwendigen Verständnis dieser Arbeit einen denkbaren Fonds. Möge unser Heim eine Form „begehbares Wesen“ werden, in dem dann aber die Ahnung unseres Daseins haust und in ihm wie uns nachklingt. Heimatlos, mit dem „Schlüssel ohne Zähne“, werden wir noch lange genug sein. Die Gedimmtheit der Stimme ist zugleich ein Argument ihres Bemühens um Klarheit, eine Anordnung der Dinge. Ein Individuum betritt, zuweilen in einem vagen Verbund mit den Seitenschnitten anderer Individuen, eine abgelegte Landschaft und muss zusehen, in ihr zurechtzukommen. Die Mechanik dieser Bewegung ist es, die beeindruckt. Sascha hat die Meister dieser lyrischen Untergattung – der späte Huchel wäre zu nennen, Andreas Altmann vor allem – gelesen und dabei Nachbarn gefunden. In den bislang etwa vierzig Gedichten der Nach-„Rodung“ setzt sich dieser Weg, wie wir an dem Gedicht „hinter den Gärten“ sehen konnten, mit scharfkantiger Konsequenz fort: wir sind heute auch hier, um uns der nötigen Beharrlichkeit einer solchen Arbeit auf den flegräischen Feldern der Dichtung zu entsinnen. Aus einem abgestorbenen Land bewegt sich die rummelnde Glut nun durch die Hilbig’sche Landschaft des nächsten Sterbegebarens. Man kommt nicht umhin, von dieser Konsequenz Saschas, von diesem postulierten „Du-musst-dahin-wo-es-wehtut“ erschreckt und angetan in einem zu sein. Denn gleichwohl ist das Kokot’sche Denk- und Mahlwerk auch eine politische Dichtung, das die Dinge durch einen unverspiegelten Filter auslegt und wertet. Es kommt dabei in den hämmernden Werkstätten der Desillusion an, „hinter den Gärten“ beginnt eine unberechenbare Landschaft, sie schwappt bereits in die mühsam gehaltenen „Malevil“-Verschnitte hinein. Dieser Mut und Weitblick in der Entlarvung der Konstellationen, er ist in unseren Generationen nurmehr wenig häufig und oft lediglich vage gebildet: wer legt schon gern den Finger in die aufgekommene Illusions-Verlorenheit unserer Jahre, ihrer nun in Angriff kommenden Ausführung?! Damit ist nun hier zu rechnen – jenseits des ganzen Heidi-Klum-Gedöns, der allgemeinen Verdämlichungs-Euphorie, hinter dem Feixen der Bohlen’schen Wackeldackel rumort es in dieser Zeit, dass einem Angst und Bange wird und so manche „Susanna Maxima“ vergeblich bimmelt: ohne Dächer steht ihr da wie ein Schlag in die alten Erzählungen als die Mutter noch die Reihenfolge der Worte abends am Bett kannte mit dem Geruch der letzten Scheite steht ihr zerschmissen auf den rußigen Schwellen wisst nicht wo die Alten zu begraben die Inschriften in die Kreuze einzukerben sind nur die asphaltierten Zubringer sind euch gut bekannt vom sonntäglichen Ritus ‚Zerschmissenheit‘ ist vielleicht das Stichwort, das den Anbeginn dieses Schreibens provozierte: ein rasantes Wechseln der Töne und Blicke, eine galoppierende Überformung und Überstülpung, die eben dazu führt, dass man die Worte nicht mehr zusammenbekommt und mit den letzten Scheiten eben auch der Prozess des Erinnerns außer Gang gesetzt wird, sei es in den „kapitalen Blockstaaten“ oder „westwärts gewildert“: letztlich ist alles bereift vom Atem der kommenden (abziehenden?) Post- Positionen | Projekte | Publikationen Apokalypse. Wir wissen nicht, ob die Reitereien der dritten Garnitur schon durch sind oder ob es nicht die Zöglinge dieser sind, die den Landstrich weiter verwüsten. Das Dilemma des Vergangenen – es ist eben auch das Dilemma der Gegenwart. Es sind die Vorzeichen gewechselt, nicht die Protagonisten. Auch das lehrt, glaube ich, uns diese bestechende, mahnende Dichtung. Wir sind also geehrt, indem wir sie ehren und ihr eine Rückversicherung unserer Wertschätzung für das merkwürdige „Waidwerk am Selbst und den Dingen“, das Sascha, als aus diesem aus divergierenden Stämmen zusammengesetzten Landstrich stammender Dichter, vornimmt, geben. In der Tat, zurückgespiegelt, mag der verhaltene, kühle Ton von Sascha Kokots Gedichten uns eine Ahnung geben für den möglichen kulturellen Reichtum, der dieser nicht immer reibungslosen Liaison so verschiedener Mentalitäten: der mitteldeutschen, der anhaltinischen, der hercynen, ostfälischen, märkischen innewohnt. Wenn man diesen Ton – und die Synästhetiker unter uns vermögen dies – ins Licht hält, möchte man gern von einer norddeutschen Komponente im Stimmenklang sprechen, der im Zusammenklang den Blick auf eine Form der Gesetztheit ermöglicht, die manch anderem Versfüßler so schlecht nicht stünde. Ich denke, sie fällt auch in Leipzig, sei es das alttestamentarische oder das neuhippe, in jedem Fall auf. Und sie wird sich auch künftig nicht auf den „breiten behäbigen Leberfleck mittenmang“, wie Peter Gosse die heimliche mitteldeutsche Hauptstadt umschreibt, beschränken. Dass es ihr bisher nicht vergönnt war, in Darmstadt die Jury des „Literarischen Märzes“, die für die Vergabe des Leonce-und-Lena-Preises zuständig ist, zu erwecken, erzählt uns wohl mehr über die saumselige Frühjahrsmüdigkeit besagter Jury denn über den dunklen, lakonischen Glanz der Kokot’schen Dichtung. Ich sehe das nicht als Niederlage, sondern eher als ein Symptom. Und vielleicht sitzt ja die fällige Zurechtrückung dieses Umstands auf der nächsten Betriebs-Wolke bereit. Denkbar wäre zugleich, daß dieser Winterschlaf bereits ein Part jener postapokalyptischen Verlebtheit ist, die Kokots | 55 Texte motorisieren. Möglicherweise ist es aber auch so, dass sich das Glück bereits auf anderen Wegen tummelt, wie etwa bei seiner Auszeichnung für sein Drehbuch „debris“, 2008 von der Robert-Bosch-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und Ostpol e. V. prämiert und an einem Kiewer Institut verfilmt. Man nehme wahr, in welche Gefilde unser Delinquent sich mit jedem Recht vorarbeitet! In der Fächerung der Blicke und Möglichkeiten liegt zudem stets eine Chance, für das My eines Grans an der Zeit teilzuhaben, eben ohne ihr aufsitzen, in ihr aufgehen zu müssen. Möge es also Frühling werden in Darmstadt, dem ein gewaltiger Sommer nachfolgt, in dem wir an die geträumten und wahrhaftigen Steinbrüche ziehen und die Porphyr-, Basaltoder Granit-Inschriften überprüfen: ein weißer Strich bist du dicht unter der Oberfläche in diesem schwarzen Medium noch nicht lange zurück gekippt ins Schwimmbare ducken wir uns unter Mücken und Federn weg zählen die Züge zur anderen Seite im selben Takt fallen Steine in den Bruch schneiden eine Form für den nächsten Sommer ganz ohne Kleider und jeglichen Grund in die Stadt zurückzukehren den Kessel fehlt uns die Dunkelheit bis dahin zähle ich die letzten Spuren auf dem Tuch eine feuchte Fährte die dein Rücken in die Sonne legte Das ist bei weitem nicht alles, worüber zu berichten wäre, aber es ist bereits viel und es rechtfertigt vor allem die heutige Vergabe des Preises, und wir können ein wenig in der Spätsonne dieser Erfreulichkeit einhergehn. Unsere Begegnung, die Begegnung zwischen Sascha und mir, ist mittlerweile schon historisch zu nennen, sie liegt nunmehr sechzehn Jahre zurück. Sascha war damals Gymnasiast im Schatten Albrechts des Bären in Osterburg; ich hielt, als so tollpatschiger wie euphorisierter Junglyriker auf den Literaturtagen herumtorkelnd und grade mit jener Auszeichnung beflittert, über die wir heute reden, eine Lesung an diesem Gymnasium. 56 | Positionen | Projekte | Publikationen Es berührt mich deshalb jetzt auch, weil Sie nun studieren und besehen können, was aus diesem Gymnasiasten von damals geworden ist, den ich bei einer Literaturwerkstatt in Sonneck wiedertraf, wo er im Kreis um Wilhelm Bartsch saß und mit einer schmalen, äußerst reduzierten Frühlyrik, über die ich heute leider nicht sprechen darf, seine erste Trittspur hinterließ. Es erzählt uns diese Geschichte eben auch etwas über die Möglichkeit der Entdeckung und gezielten Förderung von Gaben, die heute eine würdige Krone erhält. Wir sind hingegen angehalten, diese sehr geradlinige Sicht und Seherschaft Sascha Kokots zu ergründen und für gegeben hinzunehmen, berichtet sie uns doch von unserer Getriebenheit in wiederum getriebener Zeit. auf weiter Flur bleiben mir nur die Häute der Wind schlägt sie hohl aus wirft sie in Form als würden sie noch ein Tier in mir bergen in den Nächten seh ich es die feinen Glieder kreuzen die Rücken mir zukehren kräftig gegen mich anschlagen bevor es aus meinen Händen bricht Wir sind eben auch zugleich die Tiere des eigenen Glücks oder Nicht-so-sehr-Glücks. – Lieber Sascha, sei damit in die Geschwisterschaft der Kaiserpreisträger aufgenommen, das ist von dieser Sekunde an in den Aggregatzustand einer Tatsache überführt und wird eine Reihe Leute im Land nicht nur freuen, sondern auch ermutigen, bei sich und den eigenen Dingen zu bleiben und darin unbeirrbar zu sein. Ich wünsche Dir Kraft und Mut, danke Dir für Deine Geduld mit mir altem Desillusionisten – es ist gut, zu sehen, dass noch nicht alles, obwohl verloren, verloren ist. Ich gratuliere von Herzen. Meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Jena • Halle • Magdeburg, im September 2014. Positionen | Projekte | Publikationen Ralf Langer Geschichten von Flucht und Beharrung Literarische Darstellung von Zeitgeschichte IStiller Fall aus dem Rahmen: „Gehen, um zu bleiben“ von Klaus Müller (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014) Es findet sich kein Klaus Müller im „Wer war wer in der DDR“, das Buch, welches rückblickend die Wichtigen, Einflussreichen und Prominenten der untergegangenen DDR in regelmäßig aktualisierten Auflagen zusammenfasst, einstigen Staatsbürgern nachträgliche Detailinformationen zukommen lässt, anderen Geschichtsinteressierten schnelle biographische Orientierung bei der Erschließung historischer Darstellungen ermöglicht. Dies verwundert nicht, gehörte er doch weder zu den markanten Stützen oder bekannten Gesichtern des untergegangenen Staates, noch zu denen, welche dessen Ende beschleunigten oder dies im Nachgang gern glauben. Der Name Klaus Müller könnte als Sammelbegriff für den typischen DDR-Bürger herhalten, welcher sich unbekannt wie unerkannt in seiner realsozialistischen Nische einrichtete, dort nach dem systemischen Tapetenwechsel oftmals noch immer haust. Jener Klaus Müller aber, welcher mit seinem autobiographischen Buch nun die Öffentlichkeit sucht, verließ seine Nische und die DDR, fiel bildlich gesprochen aus dem Rahmen. Auf seine persönlichen Erinnerungen hat wohl trotzdem niemand mehr gewartet, wurden sie doch bereits 1994 durch Christian Friedrich Delius, einen altbundesdeutschen Meister der dokumentarischen Literatur in seiner Erzählung „Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ umfangreich verarbeitet, fanden sich diese 2012 ausschnittweise in einem Sammelband zur Insel Hiddensee als Treffpunkt der Boheme und Aussteiger-Idyll wieder (Andres H. Apelt/Cornelia Klauss: Hiddensee – Die Insel der Anderen, Geschichten von Zeitzeugen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2012). Zudem gibt es neben der wissenschaftlichen zunehmend Erinnerungsliteratur, welche illegale Grenzübertritte sachlich aus der Außen- oder bewegt aus der Innenperspektive zeigt. Trotzdem ist es aber gut, dass es dieses Buch nun doch gibt – Müllers Geschichte ist es wert, noch einmal zusammenhängend von ihm selbst erzählt zu werden! Dies nicht nur, weil er mit der lebensweltlichen Herleitung seiner Gründe zu gehen und doch zu bleiben; um den programmatischen Titel des Buches aufzugreifen, typische Lebens- und Gefühlslagen der einstigen DDR aufruft, sondern gerade auch, weil er uns zugleich Nuancierungen zeigt, die in ihrer Eigenwilligkeit, ja teilweise Skurrilität noch einmal mitgeteilt werden müssen. Wer war nun dieser Klaus Müller und was unterschied ihn von den vielen anderen Meiers, Müllers und Schulzes in der größten DDR der Welt zwischen Arkona und Zittau? Ein Sachse ist der Autor und Hauptakteur dieses autobiographischen Buches, welcher die Möglichkeiten des akademischen Aufstiegs im Arbeiter- und Bauernstaat aus- und stattdessen den Weg in die gastronomische Dienstleistungswüste der DDR einschlägt. Dass es in dieser neben den Verlierern vor dem Tresen auch die Gewinner dahinter gab, war wohl vielen bewusst, der Autor rückt es anfänglich aber noch einmal deutlich ins Bewusstsein. Der Überschuss an Geld und Zeit sichert Müller schon frühzeitig Zustände, welche ihm Gelegenheit für umfangreiche Selbstentfaltung geben, ihm aber umso schneller die | 57 58 | Positionen | Projekte | Publikationen Grenzen eines Lebens in der DDR aufzeigen. Im Mittelpunkt dieser Selbstentfaltung steht bei ihm eine für viele nachvollziehbare Vorliebe für Italien, zugleich aber auch die für manchen sicher unverständliche Zuwendung zu einem gewissen Johann Gottfried Seume. Seume, Dichter und ebenfalls Sachse aus einfachen Verhältnissen, war es, der Dank eines aufgeschlossenen Deutschlehrers schon frühzeitig mit seiner Italienreise in Müllers Kopf herumspukte und wichtiger Impulsgeber wurde. 1801 begab sich dieser von Leipzig aus zu Fuß auf den langen wie beschwerlichen Weg bis ins südlichste Italien. Er erkundete Land und Leute, beobachtete die Schönheit der Natur, besonders aber auch das alltägliche Leben in seiner Härte und mit seinen sozialen Spannungen. Ein Jahr nach der Rückkehr erschienen seine Erinnerungen in der damals verbreiteten Form eines Reiseberichtes unter dem Titel „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Seumes Reise war es nun, welche rund 180 Jahre später für den in der Mitte seines Lebens angekommenen und neue Herausforderungen suchenden Klaus Müller zum Drehbuch werden sollte. Sein Entschluss, das geregelte Dasein als Lehnstuhlreisender mit bildungsbürgerlich geprägtem Kopfkino aufzugeben und dem Wissen über andere Länder wie Kulturen die persönliche Anschauung folgen zu lassen, wird nun zur Triebfeder seines Denkens und Handelns. Er muss auf Seumes Spuren nach Italien, koste es, was es wolle! Dass dafür Mauern, Zäune oder andere im Ernstfall tödliche Hindernisse überwunden werden müssen, bei der geplanten Rückkehr in die DDR brachiale Bestrafung und soziale Ausgrenzung drohen, scheint ihn dabei wenig zu verängstigen – es stellt für ihn eher eine logistische Herausforderung dar. Diese Herausforderung der Vorbereitung und Durchführung des illegalen Grenzübertritts steht ab 1981 dann auch im Mittelpunkt seines langjährigen Agierens: Die Ostsee wird als der Weg des Grenzdurchbruchs gewählt, ein Segelboot und der Segelschein organisiert. Westgeld wird getauscht und mühsam als Grundstock einer Reisekasse in die BRD transportiert, Wege und Hindernisse ebenso erkundet wie Gepflogenheiten der Marine und die Spezifik reisetauglicher Wetterlagen. Was hier so unkompliziert aneinandergefügt wird, kommt im Buch ebenso problemlos, fast spielerisch daher. Angst spielt keine wirkliche Rolle und dies trotz körperlicher Grenzerfahrungen beim Segeln und mehrerer realsozialistischer Zwischenfälle mit den Vertretern „staatlicher Organe“, bei denen Müller typische Handlungsweisen von der Bedrohung bis zur Erniedrigung erleben muss. Fast plaudernd wendet er sich im Stile seiner literarischen Vorbilder an den geneigten Leser, reiht chronologisch die Geschehnisse und verknüpft diese regelmäßig mit Einblicken in eigene Gedanken wie Befindlichkeiten. Nach Jahren der Vorbereitung und der Lauer, wie er die Zeit des Abwartens nennt, realisiert er im Sommer 1988 endlich den ersten Teil seines Plans. Der Grenzdurchbruch nach Dänemark gelingt, die schnelle Weiterreise in die Bundesrepublik folgt. Zügig geht er dort zum zweiten Teil über, welcher für den Restsommer sowie folgenden Herbst und Winter die Erkundung des westlichen Deutschlands und die Aufstockung der Reisekasse vorsieht. Dass dieser Westen längst nicht so goldig ist, wird ihm schnell klar, die Ernüchterung hält sich aber in Grenzen. In seinem Selbstverständnis als Gast auf Zeit, versehen mit einem kleinen Netzwerk an Bekannten und erfahren im Erkunden legaler Vorteile, zugleich arbeitswillig und genügsam gelingt ihm die gewünschte Verbindung von Bildungsreise und Geldverdienen. Obwohl die Eindrücke umfangreich, vielseitig und mitunter betörend sind, geht er offenen wie wachsamen Auges durch diese neue Welt, hinterfragt er kritisch Schein und Sein, gleicht er bisherige mit neuen Lebenswelten ab. Nie kommt sein Selbstverständnis als DDR-Bürger auf Bildungsurlaub wirklich ins Wanken, zeigen die Verlockungen der neuen Welt nachhaltige Wirkung. Erst das Unverständnis der verlängerten DDR-Bürokratie in deren Ständiger Vertretung in der BRD und die Verweigerung eines Visums für Italien treiben den fast zwanghaft korrekten Müller in die temporäre BRD-Staatsbürgerschaft. Mit dieser aber kann im Frühjahr 1989 endlich der lang gehegte Traum in Erfüllung gehen, die Reise auf Seumes Spuren beginnen. Da sich die Zeiten geändert haben, Müllers persönliches Zeitmanagement eine schnelle Rückkehr vorsieht, verzichtet er auf den geplanten Positionen | Projekte | Publikationen Fußmarsch. Zugig wie zügig geht es nach Italien und über die Stationen Triest, Venedig, Rom sowie Neapel nach Syrakus, dem Wendepunkt der Reise. Kurz nur ist der Aufenthalt auf Sizilien, wenig Zeit bleibt zum Verweilen. Die Rückreise folgt bald, das Tempo bleibt, auch wenn die Stationen nun zahlreicher werden. Palermo, Siena, Florenz, Bologna, Parma, Bergamo, Mantua, Verona und Bozen werden erkundet, bevor der Zug wieder in deutschen Landen einfährt. Erstaunlich ist dabei, welche Fülle an Sehenswürdigkeiten, Erlebnissen und Eindrücken Müller in dieser kurzen Zeit rückblickend anhäuft und für den Leser aufbereitet. Hier läuft er zu seiner erzählerischen Hochform auf, verweist auf touristische Höhepunkte, ohne zum Reiseführer zu mutieren, streut geschichtliche Details und ruft klassisches Bildungsgut auf. Große Kultur findet sich regelmäßig neben Alltäglichkeiten, Elemente des Berichtes wechseln sich ab mit emotional gedämpften Schilderungen in der ihm eigenen Art des sachlich-staunenden Fabulierens verknüpft er alles zu einer abwechslungsreichen Patchwork-Decke der Erinnerung. Nach vier Wochen ist das Italienabenteuer auch schon wieder vorbei. Schnell noch werden einige Sehenswürdigkeiten erkundet, dann folgt die Rückreise in den Teil Deutschlands, der für ihn nach wie vor seine Heimat ist. Mit preußischer Korrektheit teilt der Sachse auf selbstgewährtem Bildungsurlaub den zuständigen Genossen dessen Ende und die genaue Zeit der Ankunft mit – so, wie er es in seinem Abschiedsbrief versprochen hatte. Tapfer steigt er in den Interzonenzug, sieht er dem Empfang und den absehbaren Konsequenzen entgegen. Was ihn dann wirklich erwartet, ist unglaublich. Statt sofortiger Verhaftung, schnellem Prozess und Verurteilung wegen illegaler Grenzüberschreitung landet er in einem vergleichsweise kuscheligen Eingliederungslager für übersiedlungswillige Bundesbürger. Die DDR ist bereits im fortgeschrittenen Dämmerzustand, auch wenn ihr bald folgendes Ende längst nicht absehbar ist. Man hat mit anderen Problemen und Personen zu kämpfen, heimatbekennende Rückkehrer wie Müller sind ungeachtet oder gerade wegen ihrer skurrilen Reisegründe wie -wege wohl ein kleineres und vernachlässi- gungswürdiges Übel. Sang- und klanglos wird er ins normale Leben entlassen, über seinen spektakulären Fall der Mantel des Schweigens gebreitet. Es sollte nicht viel Zeit vergehen, bis wieder ein Vertreter seines Berufsstandes auf merk- wie denkwürdigen Abwegen wandeln sollte, diesmal aber medienwirksam inszeniert. Im Herbst 1989 verlor die DDR – nicht nur für viele Leser des Neuen Deutschlands – durch eine Mentholzigarette, einen durch diese betäubten Schlafwagenkellner und seine vermeintliche Entführung ins kapitalistische Ausland endgültig ihre Glaubwürdigkeit. | 59 60 | Positionen | Projekte | Publikationen II Flüchtige Literaturtipps Bodo Müller: Faszination Freiheit Christine und Bodo Müller: Über – Die spektakulärsten Fluchtge- die Ostsee in die Freiheit – Drama- schichten, 6. Aufl., tische Fluchtgeschichte, 8. Aufl., Christoph Links Verlag, Berlin 2013 Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2013 Andree Kaiser (Hrsg.): Nur raus Andreas H. Apelt (Hrsg.): Flucht, hier! – 18 Geschichten von der Ausreise, Freikauf – (Aus-)Wege aus Flucht aus der DDR, Ankerherz der DDR, Mitteldeutscher Verlag, Verlag, Hollenstedt 2014 Halle 2011 Dieter Bub: Unsere Sehnsucht Jürgen Kleindienst: Siebzig Meter nach Freiheit – Fluchtgeschichten Angst – Fluchtgeschichten aus der aus der DDR, Mitteldeutscher DDR. 1961-1989, Zeitgut Verlag, Verlag, Halle 2015 Berlin 2013 Wolfgang Wietzker (Hrsg.): Flucht Constantin Hoffmann: Ich musste aus der DDR-Diktatur – 101 Zeitzeu- raus – 13 Wege aus der DDR, Mittel- genberichte, Helios Verlag, deutscher Verlag, Halle 2015 Aachen 2013 Positionen | Projekte | Publikationen | 61 IIIReif für die Insel: „Kruso“ von Lutz Seiler (Suhrkamp Verlag, Berlin 2014) Dieses Buch ist ein beschwörendes, ein verstörendes und zugleich auch ein betörendes Buch. „Und das ist gut so“, würde ein Politiker im Ruhestand sagen, welcher uns einen Großflughafen versprach und lediglich eine Redewendung hinterließ. Dieses Buch sollte nicht besprochen werden, es sollte seine Wirkung entfalten und einen Aufkleber bekommen. Vorsicht, dieses Buch kann Verwirrung und Nachdenklichkeit erzeugen! Dieses Buch hat seinem Autor einen renommierten Preis gebracht, es wird in ungewöhnlichen wie erfreulichen Stückzahlen nachgedruckt und hoffentlich auch in selbem Maße gelesen. Dieses Buch ist wichtig, für den Autor, aber auch für uns. Auf die Frage nach dem Warum wird nachfolgend nach Antworten gesucht, wohlwissend, dass es bei einem Er bemühte sich bleiben wird. Lutz Seiler, ein bei der breiten, zumeist prosafixierten Leserschaft bislang wenig bekannter, dafür von Lyriklesern geschätzter Autor, hat nach vielen Jahren des Schreibens mit „Kruso“ nun seinen ersten Roman vorgelegt. Weckt der Titel dieses Buches beim Leser die Erwartung einer Robinsonade – einer modernen natürlich, wie die Schreibung verspricht – so irrt er nicht, nicht völlig zumindest. Hauptschauplatz ist eine Insel in der Ostsee, Hiddensee, Akteure sind vordergründig Schiffbrüchige, Gestrandete oder Ausgesetzte, Ausgestiegene bzw. Aussteiger in der Begriffswelt der Handlungszeit. Bei diesen landet der Leser in der DDR im letzten Jahr ihres Bestehens, im Jahr der sich zuspitzenden Krise und ihres Untergangs. Wer einen typischen DDR-Roman erwartet (was auch immer diesen ausmacht), wird enttäuscht. Das normale Leben mit Tristesse des Alltags, dem kleinen Glück beim ewigen Jagen und Sammeln, der Nestwärme in der privaten Nische oder den Momenten beglückender Farbigkeit in den Zeiten dominierender Grautöne, aber auch all die bekannten, ungeliebten oder gar gefürchteten Handlungen der bekennenden Diktatur des Proletariats und das Aufbegehren dagegen bleiben weitestgehend auf dem Festland zurück, erfahren auf der Insel nur selten und zudem eine spezielle Zuspitzung. Hiddensee ist für seine befristeten Bewohner weit weg vom allgegenwärtigen und oftmals fragwürdigen Zeit-, Leistungs- und vor allem Ideologiedruck der DDR. Hier finden sie scheinbare Zwanglosigkeit, unkontrollierten Müßiggang und gedanklichen Gleichklang, aber auch Nähe und Geborgenheit in temporären Schicksalsgemeinschaften. Vor dem Hintergrund einer wenig berührten Natur, als dessen Teil sie sich fühlen können, durchströmt sie ein Gefühl der Ungebundenheit und der Freiheit, oft auch das einer unausgesprochenen Zusammengehörigkeit. Saisonarbeit, auch wenn mitunter schwer und monoton, sichert den längeren Aufenthalt auf der Insel und einen guten Platz in der Hierarchie der Aussteiger auf Zeit, mitunter auch den Lebensunterhalt für ein zwangwie arbeitsloses Überwintern in der Heimat. Wer keine Arbeit sucht oder findet, muss sich arrangieren oder improvisieren. Die Rückkehr aufs Festland wider Willen fällt schwer, manchem zu schwer – andere Wege von der Insel werden gesucht und auch gegangen. Diese sind gefährlich, oftmals im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Wen nicht die Grenzorgane mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Gewalt am Weggehen hindern, den stellt die Ostsee mit ihren Naturgewalten auf eine lange und vor allem harte Probe. Diese bestehen nur wenige, viele, zu viele scheitern und bezahlen mit dem Leben. Einer dieser Aussteiger im Sommer 1989 ist Ed, im bürgerlichen Leben Edgar Bendler, Student der Germanistik und des Autors Alter Ego. Bekennend „ein exotisches Wesen aus dem Zoo des menschlichen Unglücks“, muss er sich auf den Weg machen, bevor aus dem Tagtraum vom Sprung aus dem Fenster Realität wird. Sein Aufbruch, das „Unterwegssein“ ist Flucht und Neubeginn zugleich. Introvertiert, kontaktscheu, unendlich einsam und voller angestauter Emotionen will, nein muss er einen schmerzhaften Verlust verwinden, zugleich neu ankommen. Nicht von ungefähr wählt er dafür Hid- 62 | Positionen | Projekte | Publikationen densee, als Geheimtipp längst die Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. „Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“ und lebt eine „schwer zu begreifende Form der legalen Illegalität“, wird er später feststellen. Bis dahin aber muss er erst einmal ankommen – ein Vorgang, welcher weit über das Betreten der Insel und auch über das (zumeist schwierige) Bleiben auf dieser hinausgeht. Ein vermeintlicher, aber nicht wirklicher Zufall führt ihn, den Getriebenen und Suchenden, zum Ort seiner Bestimmung – den Klausner. Dieser, eine legendäre Kneipe hoch über dem Meer, ist etwas Besonderes. Erinnert er Ed auf den ersten Blick „an einen Mississippidampfer, einen Schaufelraddampfer, der versucht hatte, durch den Wald das offene Meer zu erreichen“, so sollte er bald mehr für ihn werden, wie er schon immer mehr für andere war. Die Besatzung und Abläufe spiegeln die oftmals schräge Normalität der Ostseegastronomie dieser Zeit wider – resignierte Festlandgastronomen, enttäuschte Akademiker, Aussteiger auf Zeit und andere der Normalität Entrückte bewältigen in einer zwar aufgehübschten, aber doch realen versorgungstechnischen Mangelwirtschaft den erdrückenden und nicht abreißenden Strom der Urlauber, welcher in der Saison tagtäglich die Insel überflutet. Einer der Abwäscher ist der Besatzung abhandengekommen, Ed, das Maß seines Glücks gar nicht erfassend, bekommt trotz des Fehlens von Arbeitserlaubnis und Gesundheitszeugnis dessen Stelle, dessen Zimmer und damit das privilegierte Bleiberecht für die Insel. Er stürzt sich in die Arbeit, findet im „stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung“, im „Schweigen als innerstem Bestandteil seiner Flucht“ und in der Zwiesprache mit der Natur Befriedigung, wenn auch nicht seinen Frieden. So passt er ins Konzept dieses Dampfers, dieser Arche, welche die Mannschaft „mit Hilfe eines speziellen Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie“ Tag für Tag über Wasser hält. Während der Öffnungszeiten werden FDGB-Urlauber und Laufkundschaft bedient, am Abend dann folgt die wirkliche Mission: die Fürsorge für obdachlose Schiffbrüchige und Gestrandete. All diese Aussteiger, Abenteurer, Antragsteller, Abtrünnigen und Gescheiterten, welche auf die Insel strömen, „gehören nicht mehr wirklich zum Land, sie haben das Land unter ihren Füßen verloren“. Sie zu betten und zu speisen ist das Anliegen der Gemeinschaft der Esskass, der sogenannten Ersatzkandidaten, welche als Saisonkräfte oftmals ihre begrenzten Ressourcen mit anderen teilen. Der Wille und die Kraft ihres geheimen Kopfes bringt sie dazu, auch wenn sie für dessen Vorstellung vom Weg zu den Wurzeln der Freiheit, von der Erleuchtung und Rettung nur bedingt Verständnis haben. Kruso ist dieser charismatische Anführer, als Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch Sohn eines sowjetischen Generals und einer früh verstorbenen Zirkusartistin bei seinem Onkel, einem kaltgestellten Spitzenwissenschaftler für Strahlentechnik, auf der Insel aufgewachsen, nun Abwäscher im Klausner und damit unmittelbarer Arbeitskollege von Ed. Was sich zwischen den beiden bald entwickelt, was sie unausgesprochen voneinander erwarten und letztendlich zu geben in der Lage sind, ist schwer mit Worten zu fassen. Nur auf den ersten Blick ist es lediglich ein Robinson-Freitag-Verhältnis: Kruso weiht ihn ein in die Besonderheiten der Insel und das Leben in der „Freien Republik Hiddensee“, in das Bewusstsein der Einzigartigkeit der Esskass und die Suche nach den verschütteten Wurzeln durch die Schiffbrüchigen, aber auch in den Rhythmus der „Inselkrieger“ (der Küstenwache), den Ruf der Sirenen und das Flüstern der Toten. Ed ist sein williges wie verständnisvolles Medium, welches ihn unvoreingenommen akzeptiert und still verehrt. Es ist und wird aber mehr: Beide sind Seelenverwandte und Getriebene, jedoch nicht wie die meisten Andersartigen auf der Flucht vor dem realsozialistischen Alltag, vor einer gescheiterten oder perspektivlosen Biographie in der DDR, die im Auf- oder Ausbruch Begriffenen. Sie wollen und müssen bleiben, sie sind Suchende im Hier und Jetzt, ihr Weg geht nach innen. Sie müssen etwas Unfassbares verarbeiten, dafür eine Mission leben oder noch finden. Sie sind Freunde und Brüder zugleich, das Band zwischen ihnen ist die Suche nach dem Weg aus der Sprachlosigkeit, die Suche nach Worten für den Verlust, um diesen bewältigen zu können. Ihre Positionen | Projekte | Publikationen Sprache ist die der Poesie, am Ende die ihrer Poesie – hier bilden sie in stillschweigendem Einvernehmen eine Schicksalsgemeinschaft. Der Herbst 1989 erschüttert auch ihre Insel, beschleunigt alle äußeren und inneren Prozesse: Niemand benötigt mehr Krusos „Pension der Freiheit“, sein „Fremdenheim für verlorene Seelen“. Seine äußere Mission wird von der Geschichte überholt, hat sich erledigt. Krusos selbstzerstörerisches Aufbegehren dagegen wird zum Kampf auf Leben und Tod, den er verlieren muss. Als Märtyrer in eigener Sache geht er seinen Weg bis zum bitteren Ende. Ed bleibt zurück in einer Mischung aus Lethargie und Irrsinn, dann die erlösende Erleuchtung. (Hier nutzt der Autor das Stafettenprinzip, hätte Professor B. aus dem alten Leben Eds an dieser Stelle des Übergangs im Roman angemerkt.) Krusos innere Mission, das Unaussprechliche in Worte zu fassen, geht auf seinen Auserwählten, auf Ed über. „Du kannst meinen Ton übernehmen“, raunt Kruso seinem Schützling in der Gedankenwelt zu, welcher sich nun aufmacht, die verloren gegangenen Texte in dessen Sinne neu zu schreiben. So findet er endlich seine Mission. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind weder zufällig noch ungewollt, jedoch für dieses Buch letztendlich unerheblich. Im Mittelpunkt dieses Kammerspiels stehen nicht die subtilen Andeutungen und Beschwörungen historischer Zustände und Ereignisse, auch wenn sie bestens gelungen sind. Die Intensität und Fragilität der Emotionen Krusos und Eds, ihre Irrungen und Wirrungen sind es, welche das Buch dominieren, seine besondere Stärke ausmachen. Sie haben über ihre Zeit hinaus Bestand, sie sind und bleiben zeitlos. | 63 64 | Positionen | Projekte | Publikationen Frank Kirchner Der neue Fachlehrplan Deutsch am Gymnasium Kompetenzorientierung im integrativen und sprachverbundenen Deutschunterricht „Dies ist nur ein Auszug von dem, was Eliezer dem Joseph unter dem Gottesbaum einprägte. Der Jüngling aber schrieb alles auf nach der Anweisung des Alten und las es, den Kopf auf der Schulter, sich selber vor, bis er es auswendig wußte. Das Lesen und Schreiben war selbstverständlich die Grundlage von allem und begleitete alles; denn es wäre sonst nur ein verwehendes Hörensagen und Wiedervergessen gewesen unter den Menschen. … Abwechselnd schrieb er die Landes- und Menschenschrift, die zur Befestigung seiner täglichen Redeweise und Mundart taugte und in der sich Handelsbriefe und -aufstellungen nach phönizischem Muster am säuberlichsten zu Blatt bringen ließen, - und auch wieder die Gotteschrift, die amtlichheilige von Babel, die Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären, für die es den Ton gab und den Griffel. Eliezer besaß zahlreiche und schöne Muster davon, Schriftstücke, die die Sterne betrafen, Hymnen an Mond und Sonne, Zeittafeln, Wetterchroniken, Steuerlisten sowie Bruchstücke großer Versfabeln der Urzeit, die 1 erlogen waren, doch mit so kecker Feierlichkeit in Worte gebracht, daß sie dem Geiste wirklich wurden.“ Thomas Mann stellt hier in Würdigung und Pathos das Lernen der Sprache und der Schrift des Zöglings Joseph durch den biblischen Gelehrten Eliezer dar. Die literarische Beschreibung enthält Ausführungen zu verschiedenen Textgattungen und ihrer kritischen Lesbarkeit und Aneignung. Imaginär wird der Prozess des Lernens als etwas Schönes und Großes dargestellt und stellt das Grundlegende unserer Sprache als allumfassendes Medium unserer Verständigung und für die Wissensaneignung dar. Diese Textstelle verinnerlicht, wie das Lernen und Verständnis der Sprache ganzheitlich und thematisch vielfältig erfolgen kann. Auch der neue Lehrplan Deutsch für die Schulform Gymnasium verdeutlicht mit seiner Zielstellung zur Bildung und Erziehung einen ganzheitlichen Anspruch: „Die Schülerinnen und Schüler erfahren Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Verständigung und als wichtigstes Medium für die Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben. Dazu gehören sowohl die Fähigkeit, aus Texten unterschiedlicher medialer Form Informationen zu gewinnen, zu bewerten und angemessen zu präsentieren, als auch die Fähigkeit des sach-, intentions- und adressatengerechten Sprechens 2 und Schreibens. Wie bereits im Lehrplan für die Sekundarschule, nimmt auch hier das in der Vergangenheit oft vernachlässigte aufmerksame Zuhören einen zentralen Platz ein. Im Unterschied zu den Bildungsstandards Deutsch für den Mittleren Schulabschluss ist der Kompetenzbereich „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ eigenständig und wird im Grundmodell nicht mehr mit Lesen zusammengefasst. Insgesamt orientiert sich die Struktur des Deutschunterrichts für das Gymnasium an den nationalen Bildungsstandards der KMK und wird wie folgt dargestellt: 1 2 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der junge Joseph. Roman. Fischer Taschenbuchverlag. Limitierte Sonderausgabe. Frankfurt am Main 2003, S. 23-24 Kultusministerium Sachsen-Anhalt (Hrsg): Fachlehrplan Deutsch Gymnasium/Fachgymnasium. Erprobungsfassung 1.8.2014, S. 2 (http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf) Positionen | Projekte | Publikationen Domänenspezifischer Kompetenzbereich Prozessbezogene Kompetenzbereiche Domänenspezifischer Kompetenzbereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Sprechen und Zuhören Sprache und Sprachgebrauch reflektieren Schreiben Lesen 3 Abb. 1: Grundmodell der Kompetenzbereiche für die Allgemeine Hochschulreife Im integrativen Deutschunterricht sind alle Kompetenzbereiche in komplexer Weise miteinander verbunden, wobei die prozessbezogenen Kompetenzen Sprechen und Zuhören, Schreiben sowie Lesen einen zentralen Platz im Lernprozess einnehmen, da sie fachbezogen als auch überfachlich bedeutsam sind. Hinsichtlich der am Gymnasium zu verfolgenden wissenschaftspropädeutischen Orientierung für die Studierfähigkeit sind bei den prozessbezogenen Kompetenzbereichen jeweils folgende Kompetenzen zu erzielen, die besonders in der gymnasialen 4 Oberstufe ihre Ausprägung erhalten : Sprechen und Zuhören Schreiben Lesen • Ausbildung einer anspruchsvollen Diskursfähigkeit und Präsentationskompetenz • Nutzung elementarer Schreibanforderungen einer wissenschaftspropädeutischen Textproduktion • selbstständiges Lesen beim Erschließen von komplexen und umfangreichen Texten mit unvertrauten Themen und Formaten • Entwicklung einer überzeu• strukturierte Zusammengenden Rhetorik und der fassung von Texten und Kompetenz, das Gehörte textbezogenes Argumentieselbstständig in unterschiedliren, dabei fremde und eigene cher medialer Form zu sichern Äußerungen transparent in und zu reflektieren Bezug setzen und Bekanntes unter neuen Fragestellungen betrachten • Einordnung der erfassten Informationen in fachliche und überfachliche Zusammen hänge • E ntwicklung eigener Deutungen des Textes und Begründung von Schlussfolgerungen • Reflexion der Ergebnisse des • Formulierung von HypotheSchreib- bzw. Darstellungsprosen und deren Reflexion und zesses und Verdeutlichung der kontinuierliche Weiterenteigenen Position wicklung Tabelle 1: Wissenschaftspropädeutische Kompetenzen nach Lehrplan Gymnasium 3 Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Bonn und Berlin 2014, S. 14 4 Kultusministerium Sachsen-Anhalt (Hrsg): Fachlehrplan Deutsch Gymnasium/Fachgymnasium. Erprobungsfassung 1.8.2014; http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/ Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf , S. 5-8 (18.12.2014) | 65 66 | Positionen | Projekte | Publikationen Auch in den domänenspezifischen Bereichen werden die wissenschaftspropädeutischen Zielstellungen verfolgt, wie z. B. in einem analytisch distanzierten Umgang mit Texten und ihren medialen Präsentationen oder in der reflektierten Anwendung von Kommunikationsmodellen, die verschiedene Ebenen der sprachlichen Kommunikation beinhaltet. Für die Sekundarstufe I werden die grundlegenden Wissensbestände für die Kompetenzentwicklung ausgewiesen. In der Oberstufe wird darauf verzichtet, da in den jeweiligen Kurshalbjahren komplexe Rahmenthemen zu entwickeln sind. Bei den zu planenden Unterrichtssequenzen sind die literarischen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik sowie pragmatische Texte entsprechend zu berücksichtigen. So können z. B. bei der Themenauswahl Vergleiche von Literaturepochen oder Textsorten erfolgen. Anregungen und Unterstützung geben den Lehrkräften aktuelle Schulbuchkonzeptionen der Oberstufe wie das persönliche Arbeits- und Lesebuch Deutsch 5 (P.A.U.L.D.) des Schöningh Verlages. Im Lehrwerk findet man eine Unterrichtsanregung zum Thema „Liebesgedichte aus verschiedenen Epochen“, beginnend im Mittelalter mit Heinrich von Morungen, über die Romantiker wie Clemens von Brentano bis zur Lyrik der Gegenwart von Ulla Hahn, Sarah Kirsch oder Reiner Kunze. Auch zur Gattung Drama gibt es ein umfangreiches Kapitel über die Anfänge des Theaters in der Antike, das deutsche Theater im 18. Jahrhundert (Gottsched, Lessing), das Theater der Klassik von Goethe und Schiller, das soziale Drama bei Büchner oder das epische Theater von Brecht. Darüber hinaus enthält das Kapitel Aufsätze zum Wert des Theaters in der Gegenwart und eine kritische Sicht auf das Regietheater vom Bestsellerautor Daniel Kehlmann. Durch diese komplexen Rahmenthemen können gemäß Lehrplanforderung grundlegende Aufgabenformate realisiert und eingeübt werden: • das Interpretieren literarischer Texte, • das Erörtern literarischer und pragmatischer Texte und • das materialgestützte Verfassen informierender und argumentierender Texte auf der Grundlage umfassender Textanalysen. Deutlich wird insgesamt, welches Potenzial nicht nur in der gymnasialen Oberstufe bei Rahmen- bzw. Querschnittthemen auf der Grundlage vorhandener Wissensbestände, die kumulativ erworben wurden, besteht, um die gemäß Grundsatzband geforderten Schlüsselkompetenzen zu realisieren. Für das Fach Deutsch ist selbstverständlich zu erwähnen, dass hier die Sprache Gegenstand und Mittel des Kompetenzerwerbs ist, die Entwicklung der Sprachkompetenz. Da aber auch grundlegende Arbeits- und Lerntechniken fachspezifisch und für andere Fächer vermittelt werden (siehe Texterschließung und Textproduktion) ist des Weiteren die Ausbildung der Lernkompetenz zu nennen. Durch die Behandlung vielfältiger literarischer wie auch pragmatischer Texte (u. a. Sach- und Gebrauchstexte) trägt das Fach Deutsch nicht unerheblich zur Entwicklung von kultureller Kompetenz, Demokratie- und Sozialkompetenz und naturwissenschaftlicher Kompetenz bei. Nicht zu vergessen, um die Herausforderungen der Mediengesellschaft konstruktiv zu bewältigen, ist der grundlegende Beitrag des Deutschunterrichts für die Ausbildung der Medien6 kompetenz. 5 6 Dieckhans, J.; Fuchs, M. (Hrsg.): P.A.U.L.D. Oberstufe. Persönliches Arbeits- und Lesebuch Deutsch. Bildungshaus Schulbuchverlage. Schöningh Verlag. Paderborn 2013, S. 60-87; 88-117 Eine grundlegende Voraussetzung für einen gelingenden Deutschunterricht am Gymnasium ist die Lektüreauswahl. Den Lehrkräften kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Gleichfalls sollen die Wünsche und Lektürevorschläge der Schülerinnen und Schüler angemessen berücksichtigt werden. Im Ergebnis der fachdidaktischen wie praxisbezogenen Diskussion entschieden sich die Lehrplanmacher dafür, auf dem Bildungsserver für die einzelnen Jahrgangsstufen Lektüreempfehlungen als didaktische Unter7 stützung der Lehrerinnen und Lehrer auszuweisen. Seit Jahren wird immer wieder für oder gegen einen literarischen Kanon diskutiert, auch Kritik geübt an der Beliebigkeit in den Lehrplänen einzelner Bundesländer. Im Jahr 1997 löste Ulrich Greiner http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/GSB_Gym_BS.pdf, S. 11-15 (18.12.2014) 7 http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/Deu_Lektuere_010814_BS.pdf (17.12.2014) Positionen | Projekte | Publikationen in der Wochenzeitung Die Zeit eine Diskussion aus, die auch in den Medien ihren Widerhall fand und in der fachdidaktischen Diskussion nicht nur Euphorie ausgelöst hat: „Wir brauchen einen neuen Kanon. Allein schon deshalb, damit man über ihn streiten und das Gespräch über Literatur wieder beginnen kann. Wo kein gemeinsamer Gegenstand mehr ist, gibt es keine Diskussion. Als der Deutschunterricht in die Hände traditionsfeindlicher Didaktiker geriet, wurde der Kanon abgeschafft. Er galt als Herrschaftsinstrument. Das war er auch. Jeder Kanon sagt: "Das mußt du lesen, das gehört dazu, dieses nicht." Und jeder Kanon erzeugt seinen Gegenkanon. Dieser kann mächtiger sein als jener. Die Entdeckung von Brecht in den sechziger Jahren war deshalb so machtvoll, weil er in den Schulen nicht gelesen wurde. Wer einmal das Reich der Literatur betreten hat, ist für Reglementierungen 8 verloren.“ Die jetzige Lektüreempfehlung zum Lehrplan auf dem Bildungsserver wird auch diese Diskussion nicht lösen können und es war auch nicht beabsichtigt, hier den Stein der Weisen gefunden zu haben. Es ist eine pragmatische Lösung und der Empfehlungscharakter ist lobenswert und lässt Spielraum für Entscheidungen der Lehrkräfte an den Gymnasien vor Ort zu. Aber unabhängig davon bleibt die Tatsache, dass die Kollegien in den Schulen sich auf eine „gemeingültige“ Literatur einigen sollten. Die entscheidenden Kriterien für die Auswahl sind die literarische, literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit der Werke und ihr Bezug zur Lebens- und Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler. Natürlich kann man aufgrund dieser Begründung der Lehrplanentwickler auch argumentieren, warum diese nicht unmittelbar Bestandteil des Lehrplanes sind, denn viele Werke waren und werden für eine lange Zeit schulische Lektüre bleiben, unabhängig aktueller Neuerscheinungen. Es bleiben für den Deutschunterricht und den literarischen Bildungsanspruch Werke, die schon Schülergenerationen vor uns geliebt und auch abgelehnt haben. 8 http://www.zeit.de/1997/21/titel.txt.19970516.xml/komplettansicht (19.12.2014) | 67 Das jetzige Vorgehen hinsichtlich der Aktualisierungen und Neuaufnahmen weiterer bedeutsamer Titel der Gegenwartsliteratur ist legitim, entscheidend ist das Vermögen der Lehrkräfte vor Ort, die Vielfalt der Textgenres und Textsorten entsprechend bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen und auch hinsichtlich Werkgeschichte und Autorenbiographien bei den Schülerinnen und Schülern die literarischen und kulturgeschichtlichen Kompetenzen zu entwickeln. Die Lektüreempfehlung enthält schuljahrgangsbezogen auch Texte nichtdeutscher Sprache in deutscher Übersetzung, die aufgrund ihrer sprachlichen wie auch literaturhistorischen Bedeutsamkeit im Literaturunterricht gewürdigt werden sollen. Charles Dickens, Mark Twain oder Antoine de Saint-Exupéry haben Schülergenerationen begleitet und als „Klassiker“ begeistern sie noch heute, gerade durch aktuelle Neuübersetzungen, die sprachlich überraschen. Natürlich sollte eine Joanne K. Rowling im Unterricht berücksichtigt werden, und dies ist nicht allein nur durch die medialen Umsetzungen und Erfolge ihres Helden Harry Potter begründet. Dem Anspruch des Lehrplanes im Sinne der wissenschaftspropädeutischen Ausbildung konsequent folgend, werden für die gymnasiale Oberstufe auch literatur- und sprachtheoretische Texte ausgewiesen. In der Veröffentlichungsreihe „Lesefutter“, in welcher dieser Aufsatz erscheint, werden seit einigen Jahren Texte von Autorinnen und Autoren aus Sachsen-Anhalt und Mitteldeutschland gemäß eines Vorschlags des Bödecker-Kreises vorgestellt und von Mitarbeitern des LISA für die jeweiligen Jahrgangsstufen für eine Behandlung im Unterricht rezensiert. Auch hier gibt es viel Potenzial für eine spannende Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur und Themen, die die Schülerinnen und Schüler zu einer erlebnisreichen Lesereise mitnehmen können. 68 | Positionen | Projekte | Publikationen Für das Verständnis der Texte und Worte ist das Wissen über Sprache und Sprachgebrauch existenziell und mehr als nur notwendige Grundlage. Über diesen Bereich verbindet sich der Deutschunterricht bei der Ausprägung der Kompetenzen, denn wir kommunizieren mit unserer Sprache über den Gegenstand Sprache und deren Bedeutung. Wo kommen Wörter her, warum können sie dies oder jenes ausdrücken, warum klingen sie für uns so vertraut wie auch oft fremd, alles Fragen, die uns stärker mit unserer Muttersprache und Einflüssen der Fremdsprache beschäftigen. Der Lehrplan setzt dazu Rahmen und Anregungen. Vor allem auch das Vermögen der richtigen Schreibung, seit der letzten Rechtschreibreform, bewegt nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern alle die sich mit Schrift beschäftigen müssen und wollen. Der Lehrplan beschreibt die Anforderungen in diesem domänenspezifischen Kompetenzbereich wie folgt: „Die Schülerinnen und Schüler erwerSchuljahrgänge 5/6 10 9 ben Sprachkompetenz, indem sie über Sprache und Sprachgebrauch nachdenken und Sprache als System und historisch gewachsenes Kommunikationsmedium analysieren und verstehen. Sie erweitern so ihr Sprachwissen und ihre Sprachbewusstheit und nutzen beides für die produktive und rezeptive Kommunikation. Die Schülerinnen und Schüler untersuchen Texte nach funktionalen, normativen und ästhetischen Gesichtspunkten, analysieren und reflektieren grammatische Strukturen und berücksichtigen diese 9 bei der eigenen Sprachproduktion.“ In diesen Ausführungen wird deutlich, wie das Sprachwissen für den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch erforderlich ist und welchen Stellenwertes bei der Erschließung von Texten für das Sprachverständnis besitzt. Auszugsweise wird hier der kumulative Kompetenzzuwachs hinsichtlich des Wissens und Anwendens 10 lexikalischer Mittel dargestellt : Teilbereich: Lexikalische Einheiten kennen und funktional verwenden Kompetenzen • über einen erweiterten Wortschatz verfügen und diesen funktional und sicher gebrauchen • wesentliche Elemente der Wortbildung erkennen und selbstständig nutzen • Wortbildungsmodelle unterscheiden und angemessen produktiv gebrauchen • Bedeutungsbeziehungen erfassen und im eigenen Sprachhandeln situationsangemessen nutzen Kompetenzen • den systematisch erweiterten, differenzierten Wortschatz situationsangemessen und adressatengerecht sicher nutzen • Fachbegriffe zur Beschreibung sprachlichkommunikativer Sachverhalte anwenden • bei Analyse und Gestaltung unterschiedlicher Texte stilistische Mittel sicher unterscheiden, ihre Funktion beschreiben und ihre Angemessenheit reflektieren http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf, S. 8 (19.12.2014) 10 Grundlegende Wissensbestände: • Modelle der Wortbildung: Zusammensetzung und Ableitung • Elemente der Wortbildung: Wortstamm, Ablaut, Präfix, Suffix, Grund-, Bestimmungswort und Fugenzeichen • Gemeinsamkeiten und Entwicklungen von Wortfamilien • Bedeutungsbeziehungen und Wortfelder Grundlegende Wissensbestände • Begriffsinhalte: Assoziation, Denotation und Konnotation • Merkmale des Bedeutungswandels Vgl. http://www.bildung-lsa.de/pool/RRL_Lehrplaene/Erprobung/Gymnasium/FLP_Deutsch_Gym_Erprob_BS.pdf, S. 20;36 (19.12.2014) Positionen | Projekte | Publikationen Die Gegenüberstellung macht sichtbar, wie nicht nur bei dem Verstehen von Begriffen sondern auch bei der Reflexion über lexikalische Mittel nach sechs Schuljahren das komplexe Verständnis sprachlicher Strukturen weiterentwickelt werden soll. Die Vermittlung von grundlegenden Wissensbeständen rückt dabei in den höheren Jahrgangstufen immer mehr in den Hintergrund, da die Anwendungs- und Transferleistungen für das Sprachverständnis immer mehr an Bedeutung gewinnen. Die Ergebnisse des Ländervergleichs im Jahr 2009 zu den sprachlichen Kompetenzen in Deutsch und der ersten Fremdsprache zeigten in der 9. Jahrgangsstufe, dass die beteiligten Schülerinnen und Schüler am Gymnasium in Sachsen-Anhalt signifikant bessere Leistungen im Lesen, Zuhören und in der Orthographie erzielten. Die Mehrheit der Gymnasiasten erreichte auf den Kompetenzstufen II, IV und V bereits in der 9. Jahrgangsstufe die Vorgaben der KMK-Standards für den mittleren Schul11 abschluss. Dies war erfreulich und ist zugleich Ansporn, mit der Implementierung des neuen Lehrplanes daran anzuknüpfen. Die Gestaltung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur an den Schulen, vor allem im Hörver- stehen und im Bereich der Orthographie, bleibt auch am Gymnasium eine Herausforderung für die Zukunft. Die regelmäßige Beteiligung an den bundesweiten Vergleichsarbeiten im Schuljahrgang 8 hilft, diesen Prozess zu unterstützen und kann zeigen, wie weit die Kompetenzentwicklung im sprachlichen Bereich vorangeschritten ist. Das aktuelle Dialogheft des LISA zu kompetenzorientierten Aufgaben der Sekundarstufe I in den 12 sprachlichen Fächern gibt vielfältige Anregungen und Aufgabenmuster zum selektiven und strukturellen Textverständnis, zur Textdeutung, zum selektiven wie detaillierten Hörverstehen oder zur Deutung eines Hörtextes sowie zur Einschätzung der sprecherischen Gestaltung. Die Vorschläge sollen dazu beitragen, dass auch weiterhin die Lehrkräfte durch den Einsatz verschiedener Aufgabentypen und differenzierter Anforderungen in den Aufgabenstellungen die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler besonders im Fach Deutsch kontinuierlich beobachten und einschätzen, um den Anforderungen des neuen Lehrplanes auf Dauer gerecht zu werden. 11 12 Köller, O.; Knigge, M.; Tesch, B. (Hrsg.): Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich. Waxmann Verlag. Münster 2010, S. 165-167 Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Kompetenzorientierte Aufgaben der Sekundarstufe I. Aufgaben und Kommentare zu Vergleichsarbeiten der Fächer Deutsch und Englisch. Dialog 27. Halle 2014, S. 14-40 | 69 70 | Positionen | Projekte | Publikationen Frank Kirchner Vorwärts mit BiSS: Auftakt und erste Entwicklungsschritte zur gezielten Sprachdiagnostik und Sprachförderung an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt Im „Lesefutter 2014“ wurde darüber informiert, dass für die nächsten fünf Jahre ein umfangreiches Sprachförderprogramm vom Bund und den Ländern ins Leben gerufen wurde. Über 400 Schulen sowie mehr als 200 Kindergärten und Kindertagesstätten aus ganz Deutschland beteiligen sich nun aktuell an dem Bund-Länder-Programm "Bildung durch Sprache und Schrift" (BiSS). Sie werden durch das Programm bei ihrer Arbeit im Bereich der sprachlichen Bildung und Förderung wissenschaftlich begleitet und unterstützt. Ziel ist es herauszufinden, welche Methoden und Instrumente der Sprachförderung unter welchen Bedingungen funktionieren und wie sie optimal umgesetzt werden können. In Sachsen-Anhalt arbeiten zwei Verbünde – ein Verbund mit zehn Grundschulen und ein Verbund mit acht weiterführenden Schulen – in diesem Programm mit. Die Verbünde sind Zusammenschlüsse von Schulen, die den Erfahrungsaustausch und die gemeinsame Durchführung von Fördermaßnahmen verabredet haben. Wie bereits im letzten Lesefutter darüber informiert wurde, arbeiten die Schulen im Primarbereich an den zwei Modulen „gezielte sprachliche Bildung in fachlichen und alltäglichen Kontexten“ sowie „Diagnose und Förderung des Leseverständnisses“. Im Sekundarbereich beteiligen sich die Schulen an den Modulen „Sprachliche Bildung in fachlichen Kontexten“ und „Medieneinsatz: Schreiben und Lesen mit digitalen Medien“. Auf einer Internetplattform werden gebündelte Informationen bereitgestellt über die je Modul eingesetzten Tools mit Informationen, z. B. zu ihrer Wirksamkeit, zur wissenschaftlichen Fundierung, Infos über Materialien, Diagnoseinstrumente, bestpractice, eingesetzte Förderung oder über bereits existierende Fort- bzw. Weiterbildungskonzepte. Die Toolboxen entstehen sukzessive im Verlauf der BiSS-Initiative und werden ständig weiterentwickelt, erweitert und aktualisiert. Sie sind momentan nur von den beteiligten Bildungseinrichtungen der Bundesländer einsehbar, da alle Beteiligten sich im Entwicklungsprozess befinden. Im Ergebnis sollen diese Toolboxen einer breiten sprachbildungsinteressierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Nach Schulauswahl und Konzeptentwicklung in 2013 und erfolgreicher Antragsstellung erfolgte Anfang Mai 2014 am Landesinstitut der offizielle 1 Start in unserem Bundesland und der bundesweite Auftakt Ende Mai in Berlin, siehe die Dokumentationen zu den Vorträgen und Inputs unter der offiziel2 len BISS-Seite des Trägerkonsortiums. Mit Programmbeginn werden die Projektschulen ihre bewährten Konzepte für Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung mit neuen Maßnahmen verzahnen. Als Grundlage stellt das Programm wissenschaftlich fundierte Informationen und Materialien zur Verfügung, die für die Praxis verständlich aufbereitet werden. Die in unserem Bundesland eingeführten Angebote zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung für Kinder und Jugendliche sollen im Hinblick 1 http://www.bildung-lsa.de/schule/schul__und_modellversuche/bildung_durch_sprache_und_schrift__biss_/ archiv/2014.html 2 http://www.biss-sprachbildung.de/biss.html?seite=57 Positionen | Projekte | Publikationen auf ihre Wirksamkeit und Effizienz wissenschaftlich überprüft und weiterentwickelt werden. Dabei unterstützt das Programm die erforderliche Fortbildung und Weiterqualifizierung der teilnehmenden Lehrkräfte, wodurch die Schule und vor allem die Schülerinnen und Schüler insgesamt profitieren. Die Unterstützung erfolgt auf vielfältige Weise und wird sich an den Bedürfnissen der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer orientieren. Die Projektschulen in Sachsen-Anhalt dokumentieren ihre Entwicklungsarbeit und Erfahrungen in einem vom LISA bereitgestellten Ordner im Sinne eines Tagebucheintrages: Landesinstitut für schuLquaLität und LehrerbiLdung (Lisa) Tagebuch SprachabenTeuer © Maria Arts - Fotolia.com mit sprachlupe Abb. 1: Tagebuch Sprachabenteuer | 71 Die beteiligten Schulen haben in 2014 ihre bestehenden Konzepte überprüft, Schwerpunkte für die Qualifizierung der Kolleginnen und Kollegen festgelegt und ihre Maßnahmen zur Sprachförderung weiterentwickelt. Sie haben ebenso an landes- und bundesweiten Workshops und Arbeitstreffen teilgenommen: Fortbildungsveranstaltung im Oktober 2014 am LISA in Halle: Fahrplan lesen – Bahnhof verstehen/ Leseverständnis von Aufgaben im Mathematikunterricht in Kooperation mit dem Institut für Textop3 timierung Halle In der Fortbildungsveranstaltung wurden Wege aufgezeigt, wie das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht beim Lösen von Sachaufgaben gefördert werden kann. Dazu wurden unterschiedliche Lesestrategien mit praktischen Übungen erarbeitet, die sich in den Jahrgangsstufen 3 bis 6 fächerübergreifend einsetzen lassen. In der Fortbildung wurden außerdem ein Kompetenzraster und ein Beobachtungsbogen für die Lehrkräfte zur Thematik erarbeitet, die im Rahmen einer Selbstevaluation in den am Projekt beteiligten Schulen untersucht werden. BISS-Jahrestagung im November 2014 in Köln: Impulse für Sprachdiagnostik und Sprachförderung Auf dem Programm standen Diskussionsrunden und Praxisbeispiele aus den Verbünden. Für den Elementarbereich wurde am ersten Tag speziell das Thema „Alltagsintegrierte Sprachbildung“ vertieft. Es fanden des Weiteren die Auftakttreffen der drei Themencluster „Lernende Institution“, „Sprachbildung, -förderung und -diagnostik“ und „Unterrichtsentwicklung und sprachliche Bildung im Elementarbereich“ statt. Länderübergreifender BiSS-Workshop im November 2014 in Hannover: Medieneinsatz: Schreiben und Lesen mit digitalen Medien Nach einer theoretischen Einführung durch unseren Verbundpartner Herrn Prof. Dr. Ballod vom Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität 3 http://www.ifto.de/ 72 | Positionen | Projekte | Publikationen Halle-Wittenberg zum Thema „Die neue Qualität medialer Interaktion als Chance für Schule und 4 Deutschunterricht“ hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Sachsen-Anhalt die Möglichkeit, wahlweise eines von zwei konkreten Medien in ihrem pädagogischen Potenzial genauer kennen zu lernen, die Online-Enzyklopädie Wikipedia und das Erklärvideo-Format Common Craft Videos. Anschließend berichteten Lehrkräfte aus Hannover von ihren praktischen Erfahrungen mit diesen beiden Medien im Unterricht im Rahmen des BiSS-Projekts „Wikipedia-AG“. Am Ende wurden Perspektiven der länderübergreifenden Arbeit im Rahmen des Moduls „Medieneinsatz“ entworfen. Auch im Jahr 2015 sind durch das LISA und das BiSSKonsortium vielfältige Inputveranstaltungen für die Verbundschulen geplant. So können die Schulen bei Interesse und Erfordernis immer an den bundesweiten Tagungen und Arbeitstreffen teilnehmen, um Anregungen und Hilfestellungen für ihre Entwicklungsarbeit zur Sprachdiagnostik und Sprachförderung zu erhalten und in Austausch mit Kolleginnen und Kollegen der anderen Bundesländer zu treten. Als Auftaktseminar wird für die Verbundschulen in den Winterferien 2015 eine Fortbildung zum Thema „Neue Wortschätze entdecken – Den Wortschatz erweitern und vertiefen“ stattfinden. Über den weiteren Verlauf und erste Ergebnisse wird die Projektleitung des LISA oder auch Akteure der Verbundschulen weiterhin im Lesefutter berichten. Kontaktdaten Landeskoordinator: Frank Kirchner Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt Riebeckplatz 9 06110 Halle (Saale) Telefon: 0345/2042-275 Telefax: 0345/2042-260 E-Mail: [email protected] Verbundkoordinatorin: Andrea Peter-Wehner Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt Riebeckplatz 9 06110 Halle (Saale) Telefon: 0345/2042-272 Telefax: 0345/2042-260 E-Mail: Andrea.Peter-Wehner@lisa. mk.sachsen-anhalt.de 4 http://www.bildung-lsa.de/files/817076f42c122a7e80b1a2f 6c52f1f13/Hier.pdf Positionen | Projekte | Publikationen Bettina Stoçic, Sulamith Fenkl-Ebert, Erika Wielebinski Lesewelt Halle – da lesen doch welche vor, oder?! Einblicke in die ehrenamtliche Leseinitiative der FreiwilligenAgentur Halle-Saalkreis e. V. So stellt sich Lesewelt Halle in Materialien der Freiwilligen-Agentur vor: „Lesewelt Halle ist eine ehrenamtliche Initiative und begeistert seit 2003 Kinder für das Lesen. Inzwischen sind 120 Freiwillige als Leselernpatinnen, Vorlesepatinnen und Paten oder bei Vorleseaktionen in Grundschulen, Kitas und Horten aktiv und tauchen mit Kindern in ‚Lesewelten‘ ein. Machen Sie mit!“ Dieser Beitrag möchte einen tiefergehenden Einblick in „Lesewelt Halle“ geben. Er umfasst die Anbindung von „Lesewelt Halle“ an die FreiwilligenAgentur Halle-Saalkreis e. V., einen Überblick über die Entwicklung des Projekts und stellt die aktuellen Tätigkeitsfelder und die Koordinationsaufgaben vor. Abschließend möchten wir Anregungen geben, auf was Sie achten sollten, wenn Sie als pädagogische Fachkraft ehrenamtliches Engagement im Bereich der Leseförderung bei Ihnen installieren möchten. Die Freiwilligen-Agentur Halle Seit 1999 fördert die Freiwilligen-Agentur Halle bürgerschaftliches Engagement in der Region Halle und Sachsen-Anhalt. Sie versteht sich als Schnittstelle zwischen engagementinteressierten Menschen, gemeinnützigen Organisationen, Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Ihre Schwerpunkte sind die Information, Beratung und Vermittlung von Engagementinteressierten, die Beratung von Vereinen, gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen. Sie bietet Fortbildungen rund um freiwilliges Engagement für Haupt- und Ehrenamtliche an und setzt innovative Engagementprojekte um. Darüber hinaus vernetzt sie sich mit Vereinen und leistet Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit für freiwilliges Engagement. Lesewelt Halle – von der Idee zum Projekt „Lesewelt Halle“ ist eine Initiative, die 2003 von einer Mitarbeiterin der Freiwilligen-Agentur gegründet wurde. Die Projektidee von „Lesewelt Halle“ stammt ursprünglich aus „Adopt an idea! Gute Ideen aus den USA“ von BRINCK und wurde erstmalig in Berlin unter dem Label „Lesewelt Berlin“ umgesetzt. Anschließend gründeten sich in ganz Deutschland Vorleseinitiativen – auch in Halle unter dem Dach der Freiwilligen-Agentur. | 73 74 | Positionen | Projekte | Publikationen Ursprünglich umfasst die Projektidee das Vorlesen für Kinder in Kindertagesstätten und Horten. Dabei liest ein/e Vorlesepatin oder -pate einer Gruppe von Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren ein Mal wöchentlich vor. Ziel war und ist es, Begeisterung für das Lesen zu wecken! Meist werden Bilderbücher oder Geschichten mit kurzen Texten in den Vorlesestunden eingesetzt. Die Kinder kommen dabei mit der Vorleser/-in ins Gespräch, entdecken selber Bilder, fangen an zu erzählen und lernen das Medium Buch besser kennen. Durch die Anbindung an die Freiwilligen-Agentur war es der Initiative gut möglich, Ehrenamtliche für ihr Anliegen zu gewinnen, beispielsweise durch Pressemitteilungen, Ansprache von Bürger/-innen Deutscher Vorlesepreis – Kategorie Förderpreis für Lesewelt Halle, Frankfurt am Main, 2006 bei Stadtfesten oder bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie dem Freiwilligentag. Im Jahr 2010 erfuhr die Initiative eine inhaltliche Erweiterung durch Leselernpatenschaften bzw. ehrenamtliche Lesehilfen. Initiatorinnen waren drei Vorleserinnen, die zu Beginn an einer halleschen Grundschule die ersten Leselernpatenschaften aufgebaut haben. Im Gegensatz zur Vorlesepatenschaft basiert eine Leselernpatenschaft auf einer Eins-zu-eins-Beziehung. Eine Patin oder ein Pate unterstützt ein Grundschulkind beim Lesenlernen wöchentlich für eine Schulstunde während der Schulzeit. Alle Beteiligten teilen die Grundauffassung, dass die Ehrenamtlichen nicht die Funktion der Lehrer/-innen übernehmen und nicht für das Lesenlernen als Grundkompetenz verantwortlich sind. Jedoch können sie insbesondere die Motivation der Kinder als wichtige Voraussetzung für den Lern- und Leseerfolg stärken. Warum ehrenamtliche Leseförderung? Vor allem am Beispiel der Leselernpatenschaften wird die Bedeutung von ehrenamtlicher Leseförderung seitens der Lehrer/-innen, der Patinnen und Paten regelmäßig als positiv und zielführend zurückgemeldet. Die Kinder können dank ihrer Patin oder ihres Paten besser lesen, trauen sich eher, in der Klasse laut vorzulesen und gewinnen Freude an unterschiedlicher Literatur. Durch die vertrauensvolle Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb von Schule und Familie gewinnen die Kinder Selbstvertrauen und einen positiven Blick auf die eigenen Fähigkeiten. Teilweise spiegelt sich die ehrenamtliche Leseförderung auch in den Schulnoten wider, und eine Leselernpatin berichtete im Dezember 2014 bei einem Austauschtreffen stolz, dass ihr Patenkind nach der vierten Klasse das Gymnasium besuchen wird. Leselernpatenschaften wirken sich positiv auf die Lesemotivation, Lesekompetenz und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder aus. „Das [ehrenamtliche] Förderpotenzial wird besonders dann deutlich, wenn beim bzw. nach dem Lesen Gespräche über das gemeinsam Gelesene entstehen. So üben Kinder in der sozialen Situation mit einer kompetenten Partnerin bzw. einem kompetenten Partner Prozesse des Reflektierens und Kommunizierens über Gelesenes ein, die wichtige Teilkomponenten der Lesekompetenz sind. Gleichzeitig sind (vor-) lesende Erwachsene und Gleichaltrige ein wichtiges Vorbild, an dem sich Kinder orientieren können.“(BMBF 2007, S. 93) Dabei bedürfen schwache Leser/-innen einer besonderen Aufmerksamkeit (vgl. BMBF 2007, S. 98), die sie von den Ehrenamtlichen in einer Eins-zueins-Beziehung erhalten. Nicht unwichtig in dieser Beziehung ist, dass die Ehrenamtlichen außerhalb des Systems Schule verortet sind und keinen „offiziellen Lehrauftrag“ haben. Vielmehr können sie unbefangen auf die individuellen Wünsche der Kinder eingehen und entsprechenden Lesestoff einbeziehen. Positionen | Projekte | Publikationen Aktionslesen am Kirchentag, Halle, 2006 Bundesweiter Vorlesetag, Stadtbibliothek Halle, 2014 Das ist Lesewelt Halle im 12. Jahr Die Zahl der Leselernpatenschaften ist seit 2012 stark angestiegen. Aktuell engagieren sich 78 Personen ehrenamtlich als Leselernpatinnen und -paten. Des Weiteren sind 41 Vorleserinnen und Vorleser in Kitas und Horten aktiv. Insgesamt sind zurzeit etwa 120 Freiwillige im Rahmen von „Lesewelt Halle“ in Kindertageseinrichtungen im Einsatz. Im Jahr 2014 fanden unter dem Dach der Freiwilligen-Agentur acht Austauschtreffen statt, in denen Erfahrungen und Probleme zur Sprache gekommen sind. Außerdem wurden vier Fortbildungen angeboten und vier Feste zur Anerkennung der Ehrenamtlichen wie Sommerfest und Weihnachtsfest gefeiert. Neben dem wöchentlichen Engagement beteiligen sich viele Freiwillige auch gerne am Aktionslesen. Jedes Jahr findet am dritten Freitag im November beispielsweise der bundesweite Vorlesetag statt. Zu diesem Anlass haben 2014 in der Stadtbibliothek unsere Vorleserinnen und Vorleser ganztägig etwa 250 Kindern und Erwachsenen vorgelesen. Koordination und Organisation Lesewelt wird von einer hauptamtlichen Mitarbeiterin koordiniert und zum großen Teil ehrenamtlich betreut. Zu den Koordinationsaufgaben der hauptamtlichen Mitarbeiterin und drei Ehrenamtlichen gehören: • Gewinnung und Beratung von interessierten Ehrenamtlichen • Vermittlung von Ehrenamtlichen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen • Beratung von Kindertageseinrichtungen und Grundschulen zum Einsatz und zur Begleitung von Ehrenamtlichen • Anerkennung der Ehrenamtlichen, z. B. zu Geburtstagen • Organisation und Durchführung von Austauschtreffen, Festen und Einstiegsfortbildungen • Organisation des Projekts „Libro geht auf Reisen“ • Organisation weiterer Aktionen zur Leseförderung • Öffentlichkeitsarbeit in Form von Beteiligung an Stadtfesten, am Semesterstart, Pressemitteilungen verfassen, Flyer auslegen Darüber hinaus initiiert „Lesewelt Halle“ Projekte rund um die Leseförderung wie beispielsweise „Libro geht auf Reisen“. Zurzeit sind zwei Leseraupen aus Stoff – gefüllt mit Kinderbüchern – in Kitas und Horten unterwegs. Die Raupen bleiben ca. sechs Wochen in einer Einrichtung, und in einem Tagebuch halten die Kinder ihre Leseerlebnisse fest. Das kleine ABC zum Engagement in der Leseförderung Falls Sie nun „auf den Geschmack gekommen“ sind und ebenfalls ehrenamtliche Leselernpatinnen und Paten oder Vorleser/-innen für Ihre Einrichtung gewinnen möchten, haben wir für Sie einige Tipps zusammengestellt. | 75 76 | Positionen | Projekte | Publikationen Leselernpatenschaft, Halle, 2014 A wie Anfang – vom Anfang und Ende der Zusammenarbeit Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit besitzt der Erstkontakt eine besondere Bedeutung. Achten Sie darauf, dass Sie erreichbar sind und halten Sie Absprachen und Vereinbarungen auf Rückrufe ein. Die neue Patin verlässt sich auf Ihre Aussagen und ist als Außenstehende am Anfang auf Sie angewiesen. Eine Besonderheit der freiwilligen Arbeit ist auch, dass sie jederzeit beendet werden kann, von der Seite des Freiwilligen als auch von der Seite der Organisation aus. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollten Sie schon zu Beginn der Tätigkeit einen Ausstiegsmodus besprechen (z. B.: Ausstieg ist jederzeit möglich, muss auf jeden Fall den zuständigen Ansprechpartnern mitgeteilt werden). Zudem ist zu empfehlen, bei Beendigung der Zusammenarbeit ein abschließendes Gespräch zu führen, um sich gegenseitig über die gemachten Erfahrungen auszutauschen und einen Engagementnachweis zu übergeben. A wie Anerkennung Freiwillige, die Anerkennung erleben, fühlen sich wertgeschätzt und sind motivierter, dabei zu bleiben. Neben einem regelmäßigen Lob oder Dankeschön gibt es unterschiedliche Formen der Anerkennung. Beispielsweise über kleine Präsente, eine Dankes-Urkunde oder über eine persönliche Einladung zum Schulfest. Eine Form der Anerkennung ist auch, dass Ihre Patinnen und Paten über Aktivitäten der Einrichtung informiert sind, sich eingebunden fühlen und je nach Anlass auch eingeladen werden. B wie Beratung – Lassen Sie sich beraten Bevor Sie mit einem ehrenamtlichen Leseprojekt beginnen, ist ein Erfahrungsaustausch mit einem bestehenden Leseprojekt hilfreich. Freiwilligenagenturen können hier Hinweise und Anregungen geben, was bei der Zusammenarbeit mit Freiwilligen zu beachten ist und wie ein ehrenamtliches Patenprojekt erfolgreich initiiert werden kann. B wie Begleitung durch Ansprechpartner, Fort- und Weiterbildung und Austausch Neben der Begleitung einer Fachkraft ist der Austausch mit anderen Patinnen und Paten wichtig und stärkt den Zusammenhalt und das Wohlbefinden. Oft und gerne tauschen sich die Freiwilligen über Material aus, was bei ihnen in der Leselernstunde „funktioniert“ hat und welche ABC-Spiele gut ankommen. Vorlesepatinnen dagegen sprechen gerne über passende Kinderbücher und Gestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus sind Fortbildungen für Leselernpatinnen und Vorlesepatinnen unerlässlich, um Positionen | Projekte | Publikationen den Ehrenamtlichen Wissen und Know-how an die Hand zu geben für die Gestaltung ihrer Lesestunden. Vor allem Leselernpatinnen und -paten benötigen Austausch und Unterstützung von einem Fachpartner. E wie Einstieg und Schnupperphase Ein guter Einstieg in die freiwillige Tätigkeit wird durch eine Probephase unterstützt, die aus einem oder mehreren Treffen bestehen kann. Eine gute Möglichkeit ist auch das Hospitieren bei schon aktiven Patinnen und Paten. Auch für die Fachkräfte ist die Schnupperphase eine gute Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen ohne Druck zu prüfen. Sprechen Sie beim ersten Kennlerngespräch wichtige Punkte von sich aus an, wie Versicherungsschutz und Aufwandersatz. Für viele Freiwillige sind auch schon kleinere Beträge wie der Kauf von Fahrscheinen, Material oder Telefonauslagen Entscheidungskriterien für oder gegen ein regelmäßiges Engagement. F wie Freiwillige finden Woher bekommen Sie Freiwillige, wenn keine Freiwilligen-Agenturen in Ihrer Region vorhanden sind? Freiwillige sind überall! Eltern, Omas, Opas und vor allem junggebliebene Seniorinnen und Senioren lassen sich für ein ehrenamtliches Engagement im Bereich der Leseförderung begeistern. Hängen Sie Flyer in Ihrer Schule auf oder an Orten, die Menschen besuchen, die gerne Lesen, beispielsweise in Buchläden, Bibliotheken, weiterführenden Schulen, Universitäten, Fachhochschulen oder Volkshochschulen. K wie konkret – Konkrete Aufgabenbeschreibung Grundlegend für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Freiwilligen ist die genaue Festlegung der Aufgaben- und Kompetenzbereiche der Freiwilligen. Eine genaue Aufgabenbeschreibung schützt beide Seiten vor Missverständnissen, vor Über- und Unterforderung und wirkt Unklarheiten über die Aufgaben entgegen. Vielen Menschen ist eine verlässliche Planung wichtig, kurzfristige Terminänderungen oder spontane Anfragen führen zur Überforderung. Die Aufgabenbeschreibung kann sich im Laufe der Zeit ändern. Wichtig ist, dass mit den Freiwilligen gesprochen wird und gemeinsam Änderungen festgelegt werden. K wie Kostenerstattung Für viele Freiwillige spielt es eine große Rolle, dass ihr Ehrenamt für sie keine Kosten verursacht, und bereits regelmäßig anfallende Fahrtkosten o. Ä. können hier zur Hürde für’s Engagement werden. Es sollte demnach sichergestellt werden, dass entstehende Kosten von der Einrichtung übernommen werden. V wie Versicherung Um Ihre Einrichtung und die Freiwilligen zu schützen, achten Sie auf ausreichenden Versicherungsschutz. Eine Haftpflichtversicherung der Organisation kommt für alle Schäden auf, die durch Freiwillige während der Arbeitszeit entstehen. Eine Unfallversicherung für Freiwillige kann häufig kostenlos abgeschlossen werden. Z wie Zusammenarbeit von Fachpersonal und Ehrenamtlichen Voraussetzung für eine erfolgreiche Beschäftigung von Ehrenamtlichen ist eine offene, aufgeschlossene und wertschätzende Einstellung des Fachpersonals gegenüber freiwilligen Mitarbeitern. Das Fachteam sollte über die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen informiert und bereit sein, die notwendige Einarbeitung und Begleitung der Freiwilligen zu gewährleisten. Eine Einarbeitung ohne Zeitdruck, eine gute Gesprächsführung und Einfühlungsvermögen bei der Anleitung sind wichtig. Hilfreich ist es auch, konkrete Ansprechpartner innerhalb des Teams vorher zu klären. | 77 78 | Positionen | Projekte | Publikationen Fazit & Ausblick Ehrenamtliches Engagement im Bereich der Leseförderung hat sich in Halle seit zwölf Jahren in vielen Kindertagesstätten und Horten und seit vier Jahren auch in Grundschulen erfolgreich etabliert. Seitens der Fachkräfte, der Ehrenamtlichen, von den Kindern und ihren Familien werden Leselernpatenschaften begrüßt und positiv angenommen. Einer Herausforderung, der sich „Lesewelt Halle“ im Jahr 2015 stellt, ist die Frage nach möglichen erfolgreichen Patenschaftskonzepten für Flüchtlingskinder und für Kinder mit Migrationshintergrund mit geringen bis nicht vorhandenen Deutschkenntnissen. Ehrenamtliche kommen auf uns zu und fragen nach, welche Strategien gibt es für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen? Wie kann ich diese Kinder unterstützen? Welche Kompetenzen benötige ich? Und wo kann ich diese erwerben? An dieser Stelle möchten wir das pädagogische Fachpersonal ermutigen, Ehrenamtliche im Prozess des deutschen Spracherwerbs mit einzubeziehen und in ihrer Konzeption zu berücksichtigen. Denn Ehrenamtliche haben Lust mit Kindern zu lesen, zu lernen und sie zu unterstützen. Leselernpatenschaft, Halle, 2011 Literatur BMBF (Hrsg.) (2007): Förderung von Lesekompetenz – Expertise. Bildungsforschung Band 17. Bonn, Berlin. http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn.pdf Brinck, Christine (2003): Adopt an Idea! Gute Ideen aus den USA. Transatlantischer Ideenwettbewerb Usable. Edition Körber-Stiftung: 2., unveränd. Auflage. Kontaktdaten Bettina Stošić Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V. Leipziger Str. 82, 06108 Halle Telefon: 0345/2002810 E-mail: [email protected] Positionen | Projekte | Publikationen | 79 Annette Adelmeyer Gleim-net: social networking im 18. Jahrhundert Der Titel des museumspädagogischen Projekts, mit dem das Gleimhaus Halberstadt seit 2014 sein Angebote erweitert hat, wirkt auf den ersten Blick anachronistisch. Ausgerechnet das Zeitalter der Aufklärung, die Epoche des individuellen und gesellschaftlichen geistigen Emanzipationsprozesses wird hier verbunden mit der Facebook-Praxis, die Kritikern als Sinnbild für Suchtgefahr und digitale Verdummung gilt. Wie ist das zu erklären? Wer durch die Räume des Halberstädter Museums für Aufklärung streift, wird eine andere Perspektive einnehmen. Dicht an dicht hängen dort die Porträts der deutschen Geisteswelt der Aufklärung: Literaten, bildende Künstler, Politiker. Zusammengetragen wurden sie nicht von den Ausstellungskuratoren, sondern vom Bewohner des Hauses am Domplatz höchstselbst. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, seinerzeit ein vielgelesener Dichter, verstand sich als Organisator der literarischen Kommunikation seiner Zeit. Er war mit vielen der bedeutendsten Dichter und Denker seiner Zeit befreundet, unterstützte junge literarische Talente wie Wilhelm Heinse, Johann Gottfried Seume und Jean Paul und trug eine umfangreiche Sammlung an Handschriften, Büchern und Porträts zusammen, die nach seinem Tod einem Lehrinstitut, einer „Schule der Humanität“, als Anschauungsmaterial dienen sollte. Gleim sammelte also FREUNDE wie die modernen Facebook-Nutzer auch. Und wie diese stand er zwar mit vielen, aber nicht mit allen in enger persönlicher Beziehung. So entstand ein NETZWERK, das in persönlichen Notsituationen half und einen intensiven Gedankenaustausch ermöglichte, der oft auch in geselligen Treffen fortgesetzt wurde. Seine Sammlungsgüter wollte Gleim TEILEN, damit viele Freundschaftstempel im Gleimhaus Halberstadt (Foto: Ulrich Schrader) Menschen auf sie aufmerksam werden und daran Gefallen finden, sie LIKEN, wie man im FacebookJargon sagen würde. So neu ist die Idee von Facebook also gar nicht, was man den jugendlichen Nutzern bei einem Besuch im Gleimhaus durchaus verdeutlichen sollte. Das war das Anliegen der Museumsleitung. Bis aus diesem Ansatz eine tragfähige Projektidee entwickelt und diese technisch umgesetzt wurde vergingen nur etwa zwei Jahre. Dabei arbeitete das Gleimhaus eng mit der AG „Betreuung kultureller Lernorte“ am Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt und dem Fachbereich Automatisierung und Informatik / Medieninformatik der Hochschule Harz zusammen. Unterstützt wurde das Projekt vom Kultusministerium Sachsen-Anhalt. Im Dezember 2013 wurde Gleim-net an das Museum übergeben und ermöglichte seither schon vielen Schulklassen und Jugendgruppen, aber auch Lehrerinnen und Lehrern eine ungewöhnliche Reise in die gelehrte Welt des 18. Jahrhunderts. 80 | Positionen | Projekte | Publikationen Teilnehmer einer Projektgruppe als Wieland und Voß (Foto: Jörg Gläscher, 2013) Die Exkursion beginnt mit einem einleitenden Animationsfilm. Je nach Alter der Lerngruppe bzw. Intention der Projektnutzung stehen filmische Darstellungen zum Leben Gleims in Halberstadt und zu den geselligen Zusammenkünften in seinem „Freundschaftstempel“ zur Verfügung. Grundlage sind zwei Zinnfiguren-Dioramen, die in den Ausstellungsräumen des Museums zu finden sind. Die Kinder und Jugendlichen erhalten Einblicke in den Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts und bereiten sich so darauf vor, für kurze Zeit in die Rolle eines der Freunde Gleims zu schlüpfen. Dieser öffnet seine wertvolle Handschriftensammlung für die Gäste. Über einen der Briefe, die einst an Gleim geschrieben wurden, bekommt jeder per Zufallsprinzip seine Rolle. Das Lesen der Briefe, die auch in einer Hörfassung vorliegen, vermittelt den Projektteilnehmern einen ersten Eindruck von der Persönlichkeit, in deren Rolle sie kommunizieren sollen. Es schafft auch einen Zugang zur Sprache der Gelehrten und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Materialien in gedruckter und in Datei-Form vermitteln zusätzliche Informationen. Sie lassen Dichterinnen wie Anna Louisa Karsch oder Sophie von La Roche und Schriftsteller wie Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder oder Gottfried August Bürger auch als Menschen greifbar werden. Für die Kommunikation steht eine eigens entwickelte Netzwerksimulation im Gleimhaus zur Verfügung, in der sich alle Teilnehmer über tablet PCs be- wegen können. Unabhängig vom Internet können damit ähnlich wie auf Facebook Freunde gesucht und Nachrichten übermittelt werden. Die Teilnehmer können posten und zahlreiche Informationen, Werkauszüge und zeitgenössische Kunstwerke aus einem großen Dateipool entnehmen, die man liken, kommentieren oder für den Gedankenaustausch nutzen kann. Ziel ist dabei eine aktive Annäherung an Ton und Thematik der freundschaftlichen literarischen Kommunikation in der Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit. Die förmliche Anrede war zwischen den engeren Freunden Gleims ebenso wenig bedeutsam wie andere Konventionen des bis dahin gültigen Briefstils. Die Projektsituation ermöglicht es also, dieser fremden Welt auf Augenhöhe zu begegnen. Netzwerkkommunikation in einer ruhigen Ecke im Gleimhaus (Foto: Elke Engelhardt, 2013) Positionen | Projekte | Publikationen Auf diese Weise kann den historischen Persönlichkeiten sehr intensiv nachgespürt werden. Die Tiefgründigkeit der Auseinandersetzung ist aber abhängig vom Zeitbudget der Gruppe und der Zielstellung, mit der sie das Projekt besucht. Sie kann sich einen Tag, aber auch eine ganze Woche lang mit Freundschaftskult, Literatur und Geselligkeit im 18. Jahrhundert beschäftigen, denn ergänzend zum Kommunikationsangebot sind Angebote zum gemeinschaftlichen Dichten und Schreiben, zum Porträtieren, zur Dekonstruktion von Gemälden des Rokoko oder zur Herstellung von Freundschaftsgaben verfügbar. Praktisch für die Nutzung des Projekts im Unterricht ist auch die Möglichkeit für die begleitende Lehrkraft, das Protokoll der Netzwerkkommunikation zur weiteren Bearbeitung unter inhaltlichen oder kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten mitzunehmen. Auch Gleim, Fachmann für die Kommunikation im Grenzbereich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, äußert sich dazu. Sein Brief, der die Projektteilnehmer eine gewisse Zeit nach ihrer Exkursion an ihren Besuch erinnern wird, fasst in freundschaftlicher Form die Lehren zusammen, die aus dem protokollierten Netzwerkaustausch gezogen werden können. Darin zeigt sich auch das medienpädagogische Potenzial des Projekts. Gleim-net ermöglicht es, sich eine andere Identität zuzulegen. Bei Jugendlichen ist die Möglichkeit des Experimentierens mit der eigenen Wirkung erwiesenermaßen ein wesentlicher Aspekt, der soziale Netzwerke attraktiv erscheinen lässt. Selbst in der überschaubaren Gleim-Netzwerkgemeinschaft kommt es schnell zu intensiven Kontakten, andere bleiben randständig; gegebenenfalls kommt es sogar zu Anschuldigungen. Die Rollenübernahme bietet auch in diesem Bereich viele Möglichkeiten der Selbsterfahrung. Dichten nach Endreimen im Projekt Gleim-net (Foto: Elke Engelhardt, 2013) Die Anstrengung, die erforderlich ist, um möglichst viele Kontakte zu pflegen, ist dabei nicht weniger mächtig als bei den Zeitgenossen Gleims, wie der Korrespondenz der Freunde häufig zu entnehmen ist. So führt der mit den Mitteln der modernen Kommunikationsgesellschaft geführte Austausch am Ende wieder in die Zeit Gleims zurück, der die Kinder und Jugendlichen fortan mit weniger Distanz begegnen werden. Vor allem den Persönlichkeiten, deren Rollen sie in diesem Projekt eingenommen haben, werden sie noch lange verbunden bleiben. Weitere Informationen zum Projekt sind auf der Projektseite www.gleim-net.de sowie auf dem Bildungsserver Sachsen-Anhalt unter http://www. bildung-lsa.de/themen/ausserschulische_lernorte/ lernort_museum abrufbar. | 81 82 | Positionen | Projekte | Publikationen Sabine Grätz Scherbenpark. Ein preisgekröntes Buch für den Unterricht entdecken – auch als Film und Theaterinszenierung Alina Bronsky wurde 1978 in Jekaterinburg geboren. Sie ist auf der asiatischen Seite des Ural-Gebirges aufgewachsen, hat ihre Jugend in Marburg und Darmstadt verbracht und nach dem Abbruch des Medizinstudiums als Redakteurin bzw. Werbetexterin bei einer Zeitung gearbeitet. „Scherbenpark“, ihren ersten Roman, der 2009 in der Kategorie Jugendbuch für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war, hat sie 2008 unter diesem Pseudonym veröffentlicht (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, ISBN 978-3-462-04150-7). Die Handlung des Romans ist aus der Ich-Perspektive geschrieben, oft beiläufig und in einem Plauderton, aber auch sehr scharfzüngig; der Satzbau ist einfach, häufig wird die direkte Rede verwendet und so könnte man denken, das sei banal. Doch dies ist wohlkalkuliert, die Handlung und deren Hauptfigur, die siebzehnjährige Sascha Naimann, hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Die Naimanns sind aus Russland nach Deutschland gekommen und leben im „Solitär“, einem Wohnsilo. Die Hochhaussiedlung wird auch Russenghetto genannt. Dort herrschen eigene Gesetze. Wegen ihrer Hochbegabung und ihrer prekären Lebenssituation wurde Sascha in einem katholischen Elite-Gymnasium angenommen. Hier erlebt sie die Welt der behüteten Mitschüler(innen), die herausgeputzt sind, ein volles Freizeitprogramm haben, aber oft unzureichende Kenntnisse in Mathematik. Obwohl Sascha erst 17 Jahre ist, trägt sie eine große Verantwortung, denn nachdem der Ex-Mann ihrer Mutter diese und ihren neuen Lebensgefährten vor den Augen der drei Kinder umbrachte, versucht Sascha den jüngeren Geschwistern Anton und Alissa eine Mutter zu sein und den Alltag so gut wie mög- lich zu organisieren, damit sie nicht ins Heim müssen. Eine Cousine des Vaters kommt aus Sibirien, um zu helfen. Doch da sie kaum ein Wort Deutsch spricht, ist sie oftmals keine große Unterstützung. Das traumatische Ereignis hat bei allen Kindern tiefe Spuren hinterlassen, auch die so selbstsicher auftretende Sascha braucht große Fürsorge. Positionen | Projekte | Publikationen Sascha hat zwei Ziele. Manchmal denke ich, ich bin die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: "Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte". Vielleicht ist das nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es mir genau zu überlegen, denn ich habe noch nicht angefangen zu schreiben. Mit dieser Passage beginnt der Roman und für den Leser breitet sich auf den nächsten 300 Seiten die Familientragödie aus. Sascha will ein Buch über ihre Mutter schreiben, ihr damit ein Denkmal setzen. Den Doppelmord will sie auch rächen, in dem sie den Stiefvater Vadim, der im Gefängnis sitzt, tötet. Eines Tages liest sie in der Zeitung einen Bericht über Vadim. Den Artikel hält Sascha für unzumutbar, für rührselig, und in ihrer Wut macht sie sich auf den Weg zur Redaktion der Zeitung. So lernt sie den Redakteur Volker Trebur und dessen Sohn Felix kennen. Durch diese beiden kommt Sascha in eine Welt, die ein Kontrast zu ihrer Lebenswelt darstellt. Doch auch ein modernes und geräumiges Einfamilienhaus mit Garten bedeutet nicht automatisch, dass hier die „ideale“ Familie lebt, so wie Sascha es vermutet hatte: die Eltern sind geschieden, Felix ist nicht gesund. Im Laufe der Zeit entspinnt sich zwischen Sascha und Volker, aber auch zwischen Sascha und Felix eine diffuse Liebesgeschichte. Auch ein anderer Volker spielt noch eine Rolle. Dies ist ein kompliziertes und gleichzeitig auch kindliches Verhältnis, jedoch wichtig für den seelischen Heilungsprozess der Protagonistin. Sascha wird eine Pendlerin zwischen den beiden Welten und in keiner davon fühlt sie sich richtig zu Hause. Sie will nicht scheitern, sondern sie begehrt auf, strebt nach Glück, Wohlstand und Freiheit. Sascha schreibt weder ein Buch über ihre Mutter, noch muss sie Vadim töten, denn der begeht Selbstmord. Aber für sie zeichnet sich die Bewältigung des Traumas ab. Sie muss ihren Weg finden und wird sich behaupten. Der Leser begleitet Sascha auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Das Buch bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für den Unterricht ab Jahrgangsstufe 9. „Scherbenpark“ analysiert die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen in der Gesellschaft leben. Neben dem beschriebenen Einblick in die Lebenswelt von Migranten und die Zukunftsperspektive Jugendlicher mit schwierigen Startvoraussetzungen werden Jugendgewalt, Freundschaft, Liebe, Sexualität sowie verschiedene Familien- und Frauenbilder als Problemstellungen zu diskutieren sein. Der titelgebende Scherbenpark spielt in der Geschichte im Übrigen keine große Rolle, es ist eine Lichtung in einem angrenzenden Waldstück, jedoch kann man über die Bedeutung des Titels sprechen. Das Buch wurde unter der Regie von Bettina Blümner im Jahr 2013 verfilmt. Die mit umfangreichen didaktischem Material angereicherte DVD kann in der Pädagogischen Mediathek des LISA unter der Signatur 46 72709 für den Unterricht entliehen werden. Auch für das Theater wurde „Scherbenpark“ inszeniert, beispielsweise steht es in der Saison 2014/15 auf dem Spielplan im Theater der Altmark in Stendal. | 83 84 | Positionen | Projekte | Publikationen Elke Domhardt Literatur im öffentlichen Raum: StraSSenbahngedichte rollen durch Halle! Passen Gedichte noch in unsere Zeit? Brauchen wir sie noch? Wenn ja – wofür? Sind wir überhaupt noch dazu imstande, uns auf ihren Ton, ihr Tempo, ihre andere Art von Wahrnehmung einzulassen? Meine Mutter, wohnhaft in Stuttgart, hat mich eines Tages bei einem Spaziergang mit dem Hersagen einiger Gedichte überrascht, die sie auswendig konnte. Sie war über siebzig Jahre alt und hatte so etwas noch nie getan. Gelernt hatte sie sie bei ihren Fahrten mit den Stuttgarter Straßenbahnen, in denen überall auf sämtlichen größeren Flächen Plakate mit Gedichten kleben. Die Vorstellung, in öffentlichen Verkehrsmitteln gelesen, womöglich sogar auswendig gelernt zu werden, gefiel meinen Dichter-Kollegen sofort. Auch die Mitarbeiter der HAVAG waren sehr angetan davon. So eine Aktion wäre ja nicht nur ein Aushängeschild für die Dichter, für die Stadt und das Land, sondern sogar auch für die HAVAG selbst. Leider gerieten angesichts der Flächen, die für den Anschlag von Gedichten in Frage kamen, unsere Pläne ins Wanken. Sie befanden sich über den Fenstern und hatten ein sehr langes, sehr schmales Querformat. Einfach eine Buchseite zu vergrößern und zu kopieren, wie es in Stuttgart praktiziert wurde, war nicht möglich. Alles selber machen ging also nicht. Wir brauchten einen Fachmann – eine Fachfrau vielmehr. Denn nun kam die Grafikerin Hannelore Heise ins Spiel, und mit ihr noch einmal ein ganz neuer optischer Aspekt. (Beschränkungen in der Kunst, so sehr sie uns ärgern, stellen sich ja hinterher meist als ein Segen heraus, weil wir durch sie gezwungen waren, uns etwas einfallen zu lassen.) Mit unserer Gedichtauswahl und einigen Entwürfen von Frau Heise stellten wir einen Antrag auf Fördermittel bei der Kunststiftung. Er wurde bewilligt. Und nun fahren also mittlerweile achtzig Gedichte in den Halleschen Straßenbahnen kreuz und quer in der Stadt herum. Sie sind ganz unterschiedlich vom Genre her und von der Machart. Die meisten stammen von Autoren unseres Vereins, von berühmten Leuten wie Mucke, Bartsch oder Schinkel bis zu Unbekannten und Anfängern. Aus der vorigen DichterGeneration sind Sarah Kirsch, Rainer Kirsch und Heinz Czechowski vertreten. Und an historischen Persönlichkeiten sind Eichendorff, Wilhelm Müller, Bürger, Novalis und andere vertreten. Einziges Auswahlkriterium – neben der Qualität der Texte – war der Bezug zu unserer Stadt oder zu unserem Land. Den Reaktionen der Fahrgäste nach, die uns erreichen, ist unser Projekt ein Erfolg. Einziger Nachteil: Achtzig Gedichte sind bei der Menge von Bahnen, die ständig im Einsatz sind, viel zu wenig. Wir überlegen, ob es noch andere Stellen gibt, die ein Gedicht vertragen könnten. Litfaßsäulen. Kahle Wände. Aus der Stiftung kam die Idee, die Brötchentüten von Bäckereien zu bedrucken. Oder wir machen es wie Elling im gleichnamigen Theaterstück, der Konservenbüchsen und Einweckgläser in den Kaufhallen mit Gedichten beklebt. Wir bleiben offen für Neues. Gedichte brauchen wenig Platz. Sie passen überall hin. Und wir brauchen sie noch. Anmerkung der Herausgeber: Das schöne Projekt „Straßenbahngedichte“ des Förderkreises der Schriftsteller Halle wurde vor mehreren Jahren durch die Schriftstellerin Elke Domhardt initiiert; inzwischen rollt die dritte Staffel durch die Saalestadt. Diese Form der Literaturverbreitung bietet sich geradezu an, für die jeweiligen örtlichen oder regionalen Gegebenheiten adaptiert Positionen | Projekte | Publikationen zu werden – auch und gerade dort, wo keine Straßenbahnen fahren! Als Gemeinschaftsprojekt von Kunst- und Literaturunterricht wäre beispielsweise die zeitweise Ausgestaltung der Schulkorridore mit graphisch gestalteten Texten eine Möglichkeit; auch vor modernen bildkünstlerischen Umsetzungen (etwa im Graffiti-Stil) sollte man sich nicht scheuen... Die kompletten „Straßenbahngedichte“ kann man hier im Netz betrachten: http://www.foerderkreis-halle.de/tram0.htm Und hier einige Beispiele der von Hannelore Heise graphisch umgesetzten Gedichte… | 85 86 | Positionen | Projekte | Publikationen Sebastian Caspar „Zone C“ – ein Buch, das Augen öffnet und Diskussionen auslöst „Stoff für Crystal im Wert von 184 Millionen Euro. Im Kampf gegen die aggressive Partydroge Crystal ist Fahndern in Deutschland und Tschechien ein Rekordfund gelungen. Sie beschlagnahmten 2,9 Tonnen des Grundstoffs Chlorephedrin zur Herstellung von Crystal Meth in Leipzig.“ (Die Welt, 13.11.14) Die ersten Recherchen für meinen Roman „Zone C“ gehen auf das Jahr 2000 zurück. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten große Teile der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Kontakt zu dieser zerstörerischen Droge, waren ihr verfallen und wurden süchtig. Unabhängig von Elternhaus, gesellschaftlichem Status, Beruf und politischer Einstellung durchzog sich das Crystal Meth Problem wie ein roter Faden durch die Biografien einer ganzen Generation. Unbeachtet von Politik und Fachstellen, gelang es der Droge, in verschiedenste sozialen Schichten einzudringen, sich zu entfalten, so dass man davon ausgehen muss, dass die 1. Generation von Konsumenten, heute um die 30 Jahre alt, als „verloren“ gilt. Aktuell haben wir nicht nur mit einer wahren Überflutung des Stoffes Crystal Meth in grenznahen Städten zu Tschechien zu kämpfen, zusätzlich entsteht ein völlig neues Phänomen – das rapide nach unten sackende Einstiegsalter. Zwölfjährige Konsumenten sind keine Seltenheit mehr. Man kann sagen, das Problem Crystal Meth hat in den letzten fünf Jahren eine völlig neue Dimension erreicht. Dies ist unter anderem, dem „nicht wahr haben wollen“ der letzten Jahre geschuldet, gepaart mit Unwissen und der Angst das Image von Städten und Kommunen könnte beschädigt werden. Nicht nur die Probleme der körperlichen Schädigung, sondern vor allem die Zerstörung der Persönlichkeit, der geistigen Entwicklungsfähigkeit und Vitalität, lassen aus einstmals gesunden sozial integrierten und leistungsfähigen jungen Leuten, Abhängige werden. Abhängige, in deren Leben die Beschaffung der Droge die zentrale Rolle spielt und der alles untergeordnet wird. Das Leben hat keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr, Körperpflege, sowie Essen und Trinken, die Unterhaltung von sozialen Kontakten werden nebensächlich, nach einer gewissen Zeit, brechen Schul- bzw. Arbeitstätigkeit vollständig ein. Welche Perspektive haben solche jungen Menschen, die eigentlich „ihr ganz Leben noch vor sich haben“? Wer kann sie in diesem Zustand noch erreichen? Welche Möglichkeiten haben Lehrer, Eltern, Freunde, sie aus diesem vernichtenden Teufelskreis herauszuholen? Welche Interventionsmöglichkeiten haben Kinder- und Hausärzte, Sozialarbeiter Positionen | Projekte | Publikationen und Psychotherapeuten um mit den Betroffenen und deren Angehörigen, das „heiße Eisen“ der Abhängigkeit zu thematisieren und sinnvolle Interventionsmöglichkeiten anzubieten, die dann auch von dem Abhängigen angenommen werden? Dieser Kosmos, in dem sich alles um die Auswirkungen von Crystal Meth dreht, ist Hauptinhalt meines Romans „Zone C“. Aus der Sicht des Abhängigen Sten beschreibe ich die sinn- und hoffnungslose, körperlich und psychisch zerstörerische Wirkung der Droge, die oft zwiespältigen und erfolglosen Befreiungsversuche und das emotionale und soziale Scheitern des Protagonisten. In voller Absicht wähle ich dafür eine „krasse“, schonungslose, an die Jugendsprache erinnernde Form, um mit diesem Stilmittel gerade Jugendliche und hier besonders in ihren Reifungskrisen sensibel für dieses Thema zu machen. Mit dem Protagonisten und seinem jugendlichen sozialen Umfeld finden die Schüler, Reibungs- und Identifikationsfiguren, die sie aus ihren eigenen Peergroup-Erfahrungen kennen. Brüche in der Lebensgeschichte, wie die Scheidung von Eltern, Verlust von wichtigen Bezugspersonen und Freunden, verarbeite ich ebenso in dem Roman, wie die Auseinandersetzung mit jugendtypischen Themen. Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem woher und wohin, nach stabilen tragenden sozialen Kontakten und den Erfahrungen der ersten Liebe sind für mich im Kontext mit der destruktiven Wirkung von Crystal ein Spannungsbogen, der den Roman trägt. Durch zahlreiche Lesungen an Schulen in SachsenAnhalt, Sachsen und Thüringen ist mir bewusst geworden, dass Lehrer und Schulsozialarbeiter das Thema aufgenommen haben. Auch wenn es in den meisten Schulen noch kein offenes Crystal-MethProblem zu geben scheint, so sind sich Pädagogen und Sozialarbeiter einig, dass Handlungsbedarf besteht. Wir entlassen die Jugendlichen nach ihrer schulischen Laufbahn in eine Lebenswelt, die andere, immer komplexere Herausforderungen für sie bereithält. Es gilt die Heranwachsenden fit zu machen für die Anforderungen unserer Zeit. Ohne Banalisierungen oder hilflosen Dämonisierungskampagnen. In den schulischen Veranstaltungen profitiere ich zusätzlich von meiner Profession als diplomierter Sozialarbeiter. Neben meiner Rolle als Autor, kann ich somit fachlich auf die Fragen der Schüler reagieren und die aktuellen Nöte einschätzen. Ziel sind Information und Aufklärung, die klare Benennung des Problems und Selbststärkung der Jugendlichen. Gemeinsam suche ich mit den Schülern nach Präventionsansätzen von Sucht, denn Abhängigkeit beginnt nicht mit dem harten Konsum von Crystal Meth, sondern häufig durch innere Schieflagen und seelische Verletzungen. Ein gesundes Selbstwertgefühl ist wohl der stabilste Präventionsansatz. Doch dies braucht Zeit und Nachhaltigkeit, auch, da in naher Zukunft mit einer Abschwächung des Problems nicht zu rechnen ist. Anmerkung der Herausgeber: Das Buch „Zone C“ von Sebastian Caspar ist 2014 im KLAK Verlag Berlin erschienen; eine Rezension finden Sie auf S. 121 dieser Ausgabe. Weitere Informationen zum Thema des Buches auf der Website www.sebastiancaspar.de. Anfragen an den Autor bezüglich Lesungen sind über die Mailadresse [email protected] möglich. Gundula Barsch, Professorin für Suchtproblematik und Soziale Arbeit an der Hochschule Merseburg, hat 2014 die Ergebnisse einer ersten sozialwissenschaftlichen Studie zum Lebens- und Konsumalltag von Crystal-Konsumenten in den mitteldeutschen Bundesländern publiziert. Für Lehrkräfte, die sich vertieft mit der Problematik beschäftigen wollen, sei dieses Buch, das auch Bewältigungsstrategien, Ausstiegsprozesse und Hilfsbedürfnisse der Betroffenen thematisiert, dringend empfohlen. Es ist unter dem Titel „‘CRYSTAL-METH‘ – Einblicke in den Lebens- und Konsumalltag mit der Modedroge ‚Crystal‘“ bei Pabst Science Publisher, Lengerich, unter der ISBN 978-3-89967-910-6 erschienen. | 87 88 | Positionen | Projekte | Publikationen Weiterhin stehen in der LISA-Mediathek seit Jahresbeginn 2015 unter der Registriernummer 9/15 zwei Beratungsordner zur Drogen- und Suchtproblematik für die Ausleihe zur Verfügung, die ebenfalls von Gundula Barsch im Rahmen studentischer Projekte erarbeitet worden sind. Sie enthalten wertvolle Informationen, Unterrichtsvorschläge, Projekte und Arbeitsblätter. Positionen | Projekte | Publikationen Eva Scherf Mehr Zeit für Träume? Ein Gespräch mit dem Autor Christoph Werner zu dessen Roman „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ (Eine Rezension des Buches finden Sie hier im Lesefutter auf S. 139!) Für wen haben Sie das Buch geschrieben? Titelheldin und der Fantasy-Charakter deuten darauf hin, dass Sie an Kinder und Jugendliche als Adressaten gedacht haben, obwohl der Verlag es nicht als Jugendbuch ausweist. C.W. Ganz konkret habe ich es für meine Tochter geschrieben, die damals so um die 10 war (ihr habe ich das Buch ja schließlich auch gewidmet). Natürlich war sie Harry-Potter-Fan und mit ihr zusammen habe ich dann die Filme angeguckt, die ich toll fand. Mein Roman ist also – gerade in seinen FantasyElementen – schon ganz bewusst als Jugendbuch konzipiert, obwohl ich natürlich auch unabhängig davon, allein schon als Puppentheater-Mann, ein Faible fürs Phantastische habe. Micheal Ende hat nicht im Kopf rumgespukt beim Schreiben? Sowohl in der „Unendlichen Geschichte“ als auch in „Momo“ sind es ja ebenfalls Kinder, die die Welt retten, und gerade in „Momo“ spielt die Zeit ebenfalls eine zentrale Rolle. C. W. Komischerweise war mir dieser Bezug beim Schreiben selbst gar nicht bewusst, erst später bin ich darauf hingewiesen worden. Da wird jedoch den Menschen die Zeit gestohlen, während man in meinem Buch zusätzliche Zeit kaufen kann. Und dann ist ja auch „Marie Marne“, keine High-FantasyGeschichte wie „Momo“ oder „Herr der Ringe“, die komplett in einer Phantasie-Welt angesiedelt ist, sondern bei mir ergibt sich das Phantastische aus der Realität, die immer präsent bleibt. So ist das ja schon beim Erfinder dieses Geschichten-Typs, bei E. T. A. Hoffmann. Da sind wir bei den beiden Ebenen des Romans. In der Realebene wird eine ganz normale TeenieGeschichte erzählt: Eine 13-Jährige, die gern mehr Zeit verbringen würde mit ihrem Vater, der immerzu telefoniert; ihr Alltag in der Schule und ihre Freundinnen; die sich anbahnende Liebe mit einem Jungen. Entscheidend auf dieser Ebene ist aber die VaterTochter-Beziehung: Marie setzt alles daran, ihn zu retten. Nachdem ihr dies gelungen ist, spielt der Vater plötzlich keine Rolle mehr im Roman, das ist etwas schade. C. W. Aber folgerichtig. Schließlich geht es dann um die Errettung der Welt, da haben Eltern, auch Väter, nichts mehr zu suchen. Die Weltrettung ist immer eine Sache der Jungen, nicht der Alten! In der zweiten Ebene des Buches, den Träumen, wimmelt es nur so von phantastischen Figuren und Motiven: mythischen, wie Mr. Phisto, Zyklop oder Zentaur, aber auch ganz eigenen: das Tor zur Nacht z. B., die Schlafenergie, die im ADI-Wert gemessen wird, Schlafbarrieren, die zum Schutz der Träumenden errichtet werden können oder die Benandanti, eine Art Wächter über das Gleichgewicht zwischen realer und Traumwelt. Woher nehmen Sie solche Einfälle? C. W. Teils auch aus eigenen Träumen, mit denen ich mich – lange vor dem Buch – eine Zeitlang intensiv auseinandergesetzt habe, weil mich das einfach | 89 90 | Positionen | Projekte | Publikationen interessierte. Da habe ich nicht nur die Klassiker der Traumtheorie gelesen, sondern auch selbst Traumtagebuch geführt und festgestellt, dass man seine Träume durchaus auch steuern, d. h. auf bestimmte Dinge ansetzen kann. Das tut ja auch Marie, die sozusagen zielgerichtet träumt: erst, um das Tor zur Nacht zu öffnen, später, um es wieder zu schließen. Solche weltumspannenden Unternehmen, denen wir uns mehr oder weniger freiwillig ausliefern, gibt es ja schon. Und die Botschaft des Buches? Dass man seine Träume nicht einfach wie Müll wegwerfen soll (dies tun ja alle, die sich im Roman Zeit kaufen), sonst droht letztlich der Untergang der Welt? C. W. Ja. Mich und meine Frau kann man nämlich buchen – kostenlos. Wir kommen dann für zwei Stunden in den Unterricht, um aus dem Roman zu lesen und im Anschluss daran mit den Schülern kreativ zu arbeiten. Das hat bisher immer großen Spaß gemacht – nur in Sachsen-Anhalt sind wir bisher nur einmal eingeladen worden. Aber das kann sich nun ja ändern. C. W. So kann man das natürlich formulieren. Für mich war auch die Ambivalenz des Zeitproblems wichtig: Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir immer effizienter mit unserer Zeit umgehen müssen. Manager oder auch junge Mütter leiden unter mangelnder Zeit wie Maries Vater, der sich Zeit wie eine Art Party-Droge kauft. Das Problem ist, dass er und Marie damit in die Hand eines weltweit agierenden Unternehmens geraten, welches maximalen Profit erstrebt und das Leben zu beherrschen droht. Als Unterrichtslektüre ist das Buch ab 6./7. Klasse zu empfehlen. Haben Sie einen Tipp für die Unterrichtsgestaltung? Angefragt werden kann Christoph Werner unter Tel. 0345 / 5110 544 oder per Mail: Sylvia.Werner@ buehnen-halle.de Positionen | Projekte | Publikationen Paul D. Bartsch Über Zeitschriften niederschwellig einsteigen Im Medienmix, aus dem sich Kinder und Jugendliche heute bedienen, nehmen Lesetexte zwar längst nicht mehr den dominierenden, im Schnitt aber noch immer einen erfreulich breiten Raum ein. Die aktuelle JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest ermittelte für die 12- bis 19-Jährigen einen Wert von 39 Prozent, die täglich oder zumindest mehrmals pro Woche Bücher lesen. Allerdings ist die Geschlechterverteilung ungleich: Während die Mädchen zu 51 Prozent (gegenüber 11 Prozent Nie-Leserinnen) in diese Kategorie gehören, trifft das nur auf 28 Prozent der Jungen (bei 26 Prozent Nie-Lesern) zu. Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.php?id=631 | 91 92 | Positionen | Projekte | Publikationen Ein ähnliches Bild bieten die 6- bis 13-jährigen Kinder, die zuletzt 2012 in der KIM-Studie untersucht wurden: Hier geben 14 Prozent der Mädchen das Bücherlesen als ihre Lieblingsfreizeitbeschäftigung an, aber nur 4 Prozent der Jungen. Quelle: KIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index.php?id=548 Positionen | Projekte | Publikationen Im Vorschulalter ist das übrigens noch nicht so – die 2012 erstmals durchgeführte Studie miniKIM belegt, dass jeweils 58 Prozent der 3- bis 5-jährigen Vorschulkinder ein Lieblings(bilder)buch besitzen! Bei den bevorzugten Inhalten kommen allerdings geschlechtsspezifische Vorlieben bereits zum Tragen. Quelle: miniKIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index. php?id=565 | 93 94 | Positionen | Projekte | Publikationen Gegenüber den Werten von 2010 ergaben sich für die 6- bis 13-Jährigen insgesamt wie auch in den einzelnen Altersstufen teils deutliche Zuwächse beim Lesen – der einzige Rückgang zeigt sich wiederum bei den Jungen. Quelle: miniKIM-Studie 2012, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), online unter http://www.mpfs.de/index. php?id=565 Positionen | Projekte | Publikationen Genau hier setzt das aktuelle Leseförderprojekt "Zeitschriften in die Schulen" der Stiftung Lesen an, das im Jahr 2014 bundesweit mit einer Million Zeitschriften locken konnte. Während des bundesweiten "Zeitschriftenmonats" nach den Osterferien 2014 hatten alle angemeldeten 16.700 Schulklassen einen Monat lang ein kostenloses Zeitschriftenpaket für den Einsatz im Unterricht erhalten. Beteiligen konnten sich erstmals auch die Grundschulen. Zum Paket gehören – zusammengestellt nach Altersgruppen – Illustrierte, Wissens-, Wirtschaftsund Politikmagazine wie "Geolino", "Bunte", "Spiegel" und "Dein Spiegel" oder die "Wirtschaftswoche" sowie Jugend- und Sportzeitschriften wie die "Bravo" oder der "Kicker". Ziel des Projekts ist es, Kindern und Jugendlichen, die sonst wenig lesen, niedrigschwellige Zugänge zum Lesen zu ermöglichen; die Auswahl der Titel dürfte auch zu vermutende Freizeit- und Informationsinteressen von Jungen treffen. Für die Einbindung der Zeitschriftenlektüre in den Unterricht stellt die Stiftung Lesen auch Materialien mit Hintergrundinformationen und methodischdidaktischen Anregungen zur Verfügung. Weitere Informationsmöglichkeiten zum Projekt sowie die Anmeldung für das jeweils neue Projektjahr über diese Kontaktdaten: Kontaktdaten Stiftung Lesen Römerwall 40 55131 Mainz Fon: 06131.28 89 00 Fax: 06131.23 03 33 E-Mail: [email protected] Web: www.stiftunglesen.de | 95 96 | Positionen | Projekte | Publikationen Jürgen Jankofsky Autorenbegegnungen – Autorenpatenschaften Vor 60 Jahren kam der Hannoveraner Pädagoge Friedrich Bödecker auf die Idee, Autoren mit ihren Büchern in Schulen zu schicken, um in Begegnungen mit Schülern, mit Lesungen und Diskussionen, zielgerichtet zum Lesen anzuregen. Eine fruchtbare Idee offenbar, denn mittlerweile gibt es in jedem Bundesland (außer Berlin) einen Friedrich-BödeckerKreis, der jahrein jahraus Autorenbegegnungen organisiert, im Durchschnitt etwa 7.000 pro Jahr bundesweit. Eine Studie der TU Dortmund kommt zu dem Schluss: „dass eine Autorenbegegnung zwar kein Allheilmittel gegen die sich verstärkende Leseunlust bei Kindern und Jugendliche ist, aber einen ernst zu nehmenden Ansatz zur Lese(r)förderung darstellt: Autorenbegegnungen holen mehr Literatur anders in die Schule!“ (Conrady „Lebendige Literatur“, Westermann, 2008, S. 57) Im Rahmen des Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministerium für Bildung und Forschung begründete der Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise nun die Initiative „Autorenpatenschaften – Literatur lesen und schreiben mit Profis“: Professionelle Kinder- und Jugendbuchautoren führen 8- bis 18-Jährige an das Lesen und Schreiben literarischer Texte heran. Die Kinder und Jugendlichen entdecken mit Hilfe von professionell Schreibenden neue Ausdrucksformen und können sich damit neue Erfahrungshorizonte erschließen. Vor allem in Schreibwerkstätten entwickeln die Teilnehmer eigene Texte, welche in einem intensiven Entstehungs- und Wandlungsprozess entworfen, diskutiert, bearbeitet und vorgestellt werden. Durch das Projekt soll die Leseund Schreibkompetenz und auch die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden. Im Gegensatz zu einer „klassischen“ Autorenbegegnung, die in der Regel zwei Schulstunden, besten- falls einen Schultag dauert, ist die Laufzeit einer „Autorenpatenschaft“ auf ein Jahr ausgerichtet. Das ergibt neue Ansätze, neue Chancen und nicht zuletzt, um auch bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche Literatur erleben zu lassen, sogar selbst aktiv zu werden: mit einem Profi-Autor zu lesen, vertrauensvoll mit seiner Hilfe zu schreiben, so eigene (ungeahnte) Möglichkeiten zu entdecken und sich (nachhaltig) zu erschließen, neue Kompetenzen zu erwerben also! Am Ende jeder Autorenpatenschaft gibt eine Publikation vor allem mit Texten der „Patenkinder“, doch auch auswertenden Kommentierungen und Begleitmaterialien Einblicke in das jeweilige, gemeinsame Projektjahr – nicht zuletzt, um zur Weiterführung und Nachahmung anzuregen. (s. a. www.boedecker-buendnisse.de) In Sachsen z. B. begründete der Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise ein lokales BildungsBündnis in Döbeln: Viert- bis Sechstklässler der Schlossbergschule (Schule zur Lernförderung) verfassten mit Hilfe der „Autorenpatin“ Sylvia Eggert diese „werbeträchtigen“ Zeilen: Lesen ist ein Abenteuer mit Drache, Hexe, Ungeheuer. Wenn wir lesen ist es schön, die tollsten Abenteuer zu bestehn. Lesen ist ganz wundervoll und Bücher die sind supertoll. Geschichten ändern unsre Welt und machen dich zum Bücherheld. Durch Bücher kriegt man was fürs Leben, weil sie unsere Bildung heben… Positionen | Projekte | Publikationen Und die Schriftstellerin und Pädagogin Renate Schimmel, involviert in die Hamburger „Autorenpatenschaft“, urteilt: „Es sind Texte entstanden, die mitnehmen ins Leben. Gedanken, die Zustimmung finden oder Ablehnung. Sehnsüchte, Wünsche und Erfahrung, die in Worte gefasst werden. Texte, die von kleinen oder großen Momenten der Erfüllung erzählen. Poetische, nachdenkliche, erzählende oder biografische. Das Schreibprojekt 'Kultur macht stark' hat die Schüler wirklich stark gemacht. Ihnen Zutrauen im Umgang mit Sprache vermittelt, ihnen gezeigt, dass sie etwas zu sagen haben. Ganz gewiss werden ihnen diese neu hinzugewonnenen Fähigkeiten auf ihrem weiteren Lebensweg helfen.“ Schon seit einiger Zeit sind Landesverbände der Friedrich-Bödecker-Kreise immer wieder auf Suche nach neuen Wegen zur Lese- und Schreibförderung, zur Unterstützung beim Erwerb von Lesekompetenz. So ruft der Friedrich-Bödecker-Kreis SachsenAnhalt seit 1992 Schüler alljährlich zum Schreiben eigener Texte auf, seit 1997 stets unter dem Motto „Unzensiert & unfrisiert“ und in Kooperation mit dem FBK-Bundesverband auch bundesweit. (s. a. www.fbk-lsa.de) Allein im Schuljahr 2013/14 wurden 5.250 Texte eingesandt, Texte aller Altersgruppen, aller Formen, aller denkbaren Themen. Dieser Schreibaufruf entspricht also offenbar (und nach wie vor) einem Bedürfnis Heranwachsender, sich mittels (mehr oder weniger) literarischer Texte auszudrücken, das Medium Sprache zu nutzen, um sich und die sie umgebende Welt besser verstehen zu lernen. Um dem zu entsprechen, arbeitet der FBK seit Jahren mit dem weltweit einzigartigen Archiv für Kindertexte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zusammen. Hier werden alle Texte eingestellt und stehen beispielsweise für die Lehrer-Ausbildung zur Verfügung, hier erfährt dieser Schreibaufruf wissenschaftliche Begleitung. Die fantasievollsten, ehrlichsten, interessantesten Texte werden Jahr für Jahr in einer Anthologie veröffentlich, deren Buchpremiere am Welttag des Buches in den Franckeschen Stiftungen zu Halle gefeiert wird. Dann ist der große Saal der Stiftungen stets überfüllt, dann könnte man jedoch eine Stecknadel fallen hören, wenn von Schülern verfasste Texte anderen Schülern vorgelesen werden… Überhaupt scheint bei Altersgenossen eine erstaunliche Akzeptanz für Texte von Schülern zu bestehen, gibt es auch immer wieder Resonanz, dass Anthologien mit Texten schreibender Schüler selbst bei „Lesemuffeln“ Leseinteresse wecken würden. Auch auf diesem Wege könnte also mehr Literatur anders in die Schule geholt werden… Aus der jüngsten FBK-Anthologie („Wenn die Erde Worte hätte“, Dorise, 2014, S. 176 – siehe auch Besprechung auf S. 106) zu guter Letzt noch ein Gedicht der 9-jährigen Anne Möbius aus Merseburg: Ein Haus kann man bauen, Einen Kaugummi kauen, Ein Auto kann lenken, Ich kann denken, Ein Gedicht kann man schreiben, Und es wird im Gedächtnis bleiben. | 97 98 | Positionen | Projekte | Publikationen Thomas Rackwitz Intro zum Text „Das Meer“ Ende 2005 las ich, dass die mir (bis dato nur virtuell) bekannte Stefanie Müller mit dem Jugend-KulturPreis des Landes Sachsen-Anhalts ausgezeichnet wurde. Stefanie hatte ich in einem Internetforum kennengelernt, in dem es um Literatur ging, was aber inzwischen das Zeitliche gesegnet hat. Hier wurden selbst geschriebene Texte zerpflückt. Rückblickend lässt sich sagen, dass das Niveau des Forums recht unterschiedlich war, es gab etliche Autoren zum Vergessen, aber auch Autorinnen wie Simone Kornappel, die sich inzwischen einen Namen gemacht haben. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich nahm erst zu diesem Zeitpunkt (auch wenn ich schon einige Jahre lang geschrieben hatte) zur Kenntnis, dass es auch in Sachsen-Anhalt Möglichkeiten für junge Autoren gibt, an eine breitere Öffentlichkeit zu gelangen. So nahm ich mir vor, im Folgejahr selbst am Wettbewerb teilzunehmen und war am Ende sehr überrascht, als mir Herr Olbertz den Preis schließlich überreichte. Das Preisgeld kam genau zur richtigen Zeit, war ich doch finanziell zu diesem Zeitpunkt ziemlich ramponiert. Viel wichtiger waren jedoch die Kontakte, die daraus erwuchsen. Jürgen Jankofsky lud mich damals ein, an der Schreibwerkstatt in Sonneck teilzunehmen, was ich auch gerne annahm. Dort lernte ich (auch für mich) wichtige Autoren wie Wilhelm Bartsch, Richard Pietraß, André Schinkel, Diana Kokot, aber auch viele oft sehr talentierte Gleichgesinnte wie Sascha Kokot, Michael Spyra oder auch Juliane Liebert kennen. Insbesondere die Kritik in den Schreibwerkstätten empfand ich als sehr anregend und konstruktiv. Um noch einmal daran zu erinnern: Ich wusste zuvor nicht, dass es derartige Möglichkeiten im Land gab und würde es wohl auch heute nicht wissen, hätte ich nicht den von der LKJ betreuten Jugend-Kultur-Preis erhalten. Neben der Schreibwerkstatt in Sonneck wurde ich auch auf die Schreibwerkstätten von Torsten Olle, Wilhelm Bartsch und den halleschen Dichterkreis (damals noch im Hühnermanhattan) aufmerksam gemacht, die allesamt mein Schreiben gewissermaßen mitgeprägt haben. Abgesehen von den Schreibwerkstätten erhielt ich auch die Möglichkeit, Lesungen durchzuführen. Einige fanden im Rahmen von Duo literare statt. In dieser Reihe lasen gestandene Autoren mit Novizen zusammen, was natürlich alles andere als abträglich ist. Ferner durfte ich auch im Rahmen des Bücherfrühlings in Haldensleben (u. a. mit Paul Bartsch und Jürgen Jankofsky) lesen. 2008 erhielt ich das Walter-Bauer-Stipendium der Städte Merseburg und Leuna, was wiederum neue Lesungen usw. mit sich brachte, bevor ich 2009 und 2011 jeweils ein Stipendium des Landes für meine Arbeit an einem Sonettenkranz erhielt. Noch wichtiger als die Auszeichnungen und Stipendien war jedoch der Umstand, dass einige Texte von mir ins Bulgarische und Armenische übertragen wurden und ich inzwischen selbst Texte aus dem Bulgarischen übertragen durfte. Über die gesamten Jahre meines Schaffens hatte ich es nicht gewagt, Prosa zu schreiben, da ich des Öfteren las, Lyriker seien nicht in der Lage zu plotten. Aber Ende 2013 überwand ich meine eigene Scheu und versuchte es einfach mal, was zur Folge hatte, dass einer der Texte mit der Sonneck-Sommergabe ausgezeichnet wurde. Hier wurde mir nicht nur ein erfahrener Mentor (Wilhelm Bartsch) an die Seite gestellt, sondern ich durfte auch meine Erzählung vor etwa 100 Zuhörern im Rahmen des MDR-Musiksommers zum Besten geben. Zusätzlich Positionen | Projekte | Publikationen durfte ich auch einige Gedichte aus meinem im Juli 1 2014 im MDV erschienen Gedichtband lesen, der es nicht leicht hatte. Aufgrund bürokratischer Zwänge (deren Sinn ich bis heute nicht verstehe) war es mir nicht möglich, die Druckkosten beim Land zu beantragen, weshalb ich mich bei der Kunststiftung des Landes darum bewarb, welche mein Vorhaben als nicht förderungswürdig einstufte. Ich muss zugeben, ich bin immer noch sauer auf die Kunststiftung (es wurden zwar des Öfteren [auch bei anderen Gelegenheiten] Texte von mir abgelehnt [auch das gehört dazu], aber hier kann ich es bis heute nicht nachvollziehen) und werde künftig auch keine Bewerbungen mehr bei der Kunststiftung des Landes einreichen. Zum Glück erklärte sich der MDV trotz des hohen unternehmerischen Risikos dazu bereit, die Lyrikbände nun einmal mit sich bringen, den Lyrikband dennoch zu verlegen. Ich war schon drauf und dran, das Projekt einfach einzustampfen, als die Absage der Kunststiftung kam! Aber der Mitteldeutsche Verlag zerstreute meine eigene Unsicherheit, indem er mir das Vertrauen aussprach. Dieses Vertrauen ist mir verdammt wichtig. Und dieses Vertrauen habe ich auch von vielen Personen (wie Axel Schneider) oder auch von anderen Vereinen wie dem Friedrich-Bödecker-Kreis erfahren, ohne das es sicher auch den Text "Das Meer" nicht geben würde. Thomas Rackwitz Das Meer Großvater hatte mir einmal erzählt, Feuersmünde beherberge die Ausläufer eines Ufers, dessen Meer sich in Luft aufgelöst hätte. Ich war noch nie am Meer gewesen. Habe noch nie sein Rauschen gehört. Kenne die gewaltige Brandung nur aus den Geschichten, die mir Großvater erzählte. Manchmal bildete ich mir ein, der Ort hätte sein eigenes Meer, als wäre das Moos der Häuserwände mit den Algen aus den Geschichten verwandt, als wäre im Apfelgehäuse hoher Seegang, bevor man sich aufmachte, den Apfel mit den Zähnen zu zermalmen. Ich leckte mir nicht selten über die Lippen, um zu überprüfen, ob sie durch den mir entgegenwehenden Wind salziger schmecken würden. In Wirklichkeit war Feuersmünde nichts weiter als Brachland, was ich mir lange Zeit nicht eingestehen wollte. Die Bauruinen bildeten den Ortskern. Meine Kindheit verbrachte ich oft vor den eingeworfenen Fenstern der verwitterten Ortskirche. Niemals hatte ich es gewagt, über die Schwelle zu treten. Schließ1 Rackwitz, Thomas: an der schwelle zum harz. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014; siehe auch Rezension auf S. 131. lich hatte mir Großvater versichert, ich trüge zu viele Dämonen in mir, die ich dadurch leichtsinnig entfesseln könnte. Er war ein gläubiger Mensch. Nur glaubte er nicht an Gott, sondern ausschließlich an Bacchanten. Nur wenn er betrunken war, pflegte er sich zu unterhalten. Vermutlich hatte er deshalb nicht den besten Ruf im Ort, war er doch des Öfteren aufgrund seiner Trunksucht aufgefallen. Einmal hatte er Frau Schwanengitter in den Briefkasten gepinkelt und sich dabei erwischen lassen. Sie strafte mich fortan genauso mit Verachtung wie ihn. Mit der Zeit wurden es immer mehr Einheimische, die uns verachteten und sich von uns abschotteten, als trügen wir etwas Lepröses an uns, bis wir schließlich im gesamten Ort in Ungnade gefallen waren. Meinen Schulkameraden wurde der Kontakt zu mir untersagt. So hörte ich auf, zur Schule zu gehen. Knochenhaar setzte sich jedoch über derartige Verbote hinweg. Er hatte seine eigenen Regeln. Mit ihm plünderte ich manchmal Großvaters Weinvorräte. Aus Angst vor Großvaters | 99 100 | Positionen | Projekte | Publikationen Reaktion streckte ich danach stets die angetrunkenen Flaschen mit Wasser und versuchte, die Korken wieder in die Flaschen zu drücken, in der Hoffnung, er würde es nicht merken. Eines Tages kam auch Knochenhaar nicht mehr zu mir. Ich beschloss, ihn aufzusuchen. Er hatte mir erzählt, er wohne zusammen mit seinen Eltern am Rande des seiner Ansicht nach langsam implodierenden Ortes. Die Luft war hier dünner. Die Regentropfen verschwisterten sich. An dem von Efeu umrankten Haus waren noch Einschusslöcher aus dem letzten großen Krieg zu erkennen. Anstelle von Knochenhaar empfing mich jedoch dessen Vater Schlierentrunk, dem ich nur dieses eine Mal begegnete. Knochenhaar hätte es niemals gegeben, hatte er mir gesagt. Ich hätte mir ihn nur eingebildet und auch dieses Gespräch hätte niemals stattgefunden. Mag sein, tröstete ich mich. Vielleicht hatte ich mir auch nur eingebildet, Eltern gehabt zu haben. Großvater jedenfalls tat so, als hätte es sie nie gegeben, als ich ihn auf sie ansprach. Das Meer des Ortes verebbte schlagartig in diesem Augenblick. So machte ich mich auf, um Muscheln zu sammeln, bevor die nächste Flut sie wieder mit sich reißen würde. An dem Abend übergab ich Großvater meine Beute, so als müsste ich mir damit ein Abendessen verdienen. Das sind keine Muscheln, meinte er nur beiläufig, ohne den Blick von der Flasche abzuwenden. Ich wusste nicht, wie Muscheln aussehen und bat ihn, mir das richtige Meer, sein Meer zu zeigen. Er war außer sich in seinem Schweigen. Manchmal war ich froh, nicht so viel wie Großvater über sein Meer zu wissen, das draußen ist, außerhalb von Feuersmünde, fernab meiner Vorstellungskraft. Er war verbittert. Seine Wege führten ihn nur noch zurück zu den Orten, die er kannte. Die er noch kennen wollte. Das Meer konnte nicht mehr dazugehören, so lange hatte er es seinen Erzählungen nach schon nicht mehr gesehen. Mit der Zeit verbrachte ich immer mehr Tage in Großvaters Weinkeller und trank geflissentlich für Knochenhaar mit, ohne dabei an Großvater zu denken. Inzwischen füllte ich die Flaschen nicht einmal mehr auf, um meine Abhängigkeit zu vertu- schen, sondern ließ sie einfach verschwinden oder bestückte sie mit Botschaften für die Nachwelt. Irgendwann käme ich schon noch zum Meer und so hätte ich wenigstens die nötigen Requisiten. Berauscht wie ich war kamen mir die eigenartigsten Dinge in den Sinn. Ich stellte mir vor, mit einem Boot in einen archaischen Hafen einzulaufen, der sich unter der Wasseroberfläche befände, bevor ich kurz darauf unter der Falltür des Meeres verschwinden würde. So wie Knochenhaar. So wie meine Eltern. Alle waren sie verschwunden, ohne dass ich wusste, wo sie sich jetzt befinden. Auch ich wollte verschwinden, wollte Feuersmünde den Rücken kehren, um im Meer wieder aufzutauchen, denn brannten Großvaters Backpfeifen je älter er wurde, umso stärker in meinem Gesicht. Seinem allmählichen körperlichen Verfall setzte er eine immer ausgefeiltere Technik entgegen. Er hatte mich ertappt, wie ich seine Vorräte plünderte, und maßregelte mich eher um seines Weines willen und weniger wegen des zu erzielenden pädagogischen Effekts. Kein Meer war es wert, sich an seinen Flaschen zu vergreifen. So setzte er mich vor die Tür. Seitdem lebt er nur noch als Erinnerung in mir fort. Seine Stimme habe ich inzwischen vergessen. Die Zeit war gekommen, sein Meer aufzusuchen. Die Wege auf der aus seinem Atlas herausgerissenen Karte deckten sich nicht mit seinen Geschichten. In seinen Geschichten hatte er die immer gleichen Wege beschrieben, die es inzwischen nicht mehr gab. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Vielleicht war das Meer nur eine Idee, um das Schreckliche, das ihm womöglich widerfuhr, in Worte zu fassen. Vielleicht hat jeder sein eigenes Meer, das nur er ergründen kann oder in dem er ertrinken muss. Großvater hat mir nicht viel beigebracht. Ich habe jedoch von ihm gelernt, alle Wege führen ins Meer, aber genauso ins Leere. Anmerkung der Herausgeber: Wir danken Thomas Rackwitz, der uns diesen Text zum Abdruck zur Verfügung gestellt hat, und gratulieren herzlich zur Verleihung des Stadtschreiberstipendiums 2015 der Stadt Halle (Saale)! Positionen | Projekte | Publikationen SCHREIBAUFRUF 2014/2015 des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V. in Kooperation mit dem Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise e. V. Unzensiert und unfrisiert: Erzählt uns was! Wir rufen wieder alle Schüler und Schülerinnen zu einem großen Schreibwettbewerb auf. Ein einengendes Thema oder eine Formvorgabe hierfür gibt es auch in diesem Jahr nicht. Es ist alles möglich: vom Verlauf eines mit allen fünf Sinnen erlebten Tages, von der Beschreibung einer Reise, bis zu Erfahrungen mit dem „ersten“ oder dem „letzten Mal“: zum ersten Mal eine Sechs, zum ersten Mal im Krankenhaus, zum ersten Mal verliebt oder zum letzten Mal geraucht …Versucht ganz natürlich zu erzählen und nicht zu schwatzen. Versucht auch, wenn es sein muss, gegen den Strich zu erzählen: zum Beispiel über Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen oder wie es sich mit zerstörter Freundschaft, mit enttäuschter Liebe, mit den Tränen, mit der Wut, mit den eigenen tagtäglichen Problemen oder denen der Eltern beziehungsweise den Erwachsenen überhaupt lebt. Keiner kann euch vorschreiben, worüber ihr schreiben sollt. Um Erinnerungen festzuhalten, könnte ein Brief oder eine Tagebuchnotiz eine passende Form sein – Erinnerungen an die Großeltern eventuell, die viel wussten und vieles verzeihen konnten, an das Lieblingstier oder einen ganz besonderen Moment ... Auch Portraits eurer Banknachbarin, des Freundes, der alten Frau von nebenan, des Lehrers, der Trainerin und vieler anderer Mitmenschen sind möglich. Ja, man könnte sogar die leblosen Dinge zu Wort kommen lassen: ein Stein ist gar nicht so leblos, wie viele denken... Auch große Jubiläen oder Jahrestage könnten Anregungen geben, so z. B. „25 Jahre deutsche Wiedervereinigung“ und „25 Jahre Sachsen-Anhalt“. Wir freuen uns auf eure Einsendungen. Unser Aufruf gilt für das gesamte Schuljahr und endet am letzten Schultag vor den Sommerferien (in SachsenAnhalt 10.07.2015). Dann wählt eine Jury im Archiv für Kindertexte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die interessantesten, ehrlichsten, originellsten Arbeiten für ein Lesebuch aus. Wenn ihr an einer Veröffentlichung eures Textes in diesem Lesebuch interessiert seid, sollte dieser allerdings nicht länger als 2-3 A4-Seiten sein. Alle eingereichten Texte werden in das Archiv für Kindertexte aufgenommen und stehen dort auch Forschungszwecken und entsprechenden Publikationen zur Verfügung. Einige Einsender werden sogar zu einer Schreibwerkstatt in den Herbstferien eingeladen oder bekommen Gelegenheit, ihre Texte öffentlich vorzutragen. Schickt eure Texte bitte mit den Angaben Name, Vorname, Anschrift, Alter/Klasse, Schule an die FBK-Kontaktstelle van’t-Hoff-Str. 1 06237 Leuna Fax: (03461) 809248 E-Mail: [email protected] Web: www.fbk-lsa.de | 101 102 | Positionen | Projekte | Publikationen Bitte sendet möglichst Kopien ein, da wir all eure Texte unmöglich zurücksenden können. Es wäre außerdem schön, wenn ihr die Texte auch in digitaler Form einreicht, da wir so besser mit ihnen weiterarbeiten können. An jedem 2. Mittwoch im Monat besteht ab 16.00 Uhr sogar die Möglichkeit, im Krokoseum der Franckeschen Stiftungen zu Halle (06110 Halle, Franckeplatz 1, Historisches Waisenhaus) mit Euren Ideen oder Texten einen erfahrenen Schriftsteller zu konsultieren. Und im Programm von MDR FIGARINO, dem Kinderfunk des Mitteldeutschen Rundfunks, werdet Ihr immer wieder Hinweise auf unseren Aufruf entdecken. 25 Jahre Deutsche Einheit und 25 Jahre Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt – Erzählt uns was! Schreibaufruf des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V. und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt Wir rufen alle Schüler und Schülerinnen zu einem großen Schreibwettbewerb auf. Eine Formvorgabe gibt es hierfür nicht, wohl aber ein motivierendes Thema: wir erinnern an 25 Jahre Deutsche Einheit und 25 Jahre Wiedergründung unseres Landes Sachsen-Anhalt. Darüber kann man vielfältig erzählen. Was fällt Euch bei diesem Thema ein, woran denkt Ihr, wenn es um unser Bundesland geht, was bewegt Euch? Was erzählen Eure Eltern und Großeltern? Es gibt sicher vieles zu berichten, vom Verlauf eines mit allen fünf Sinnen erlebten Tages, von der Beschreibung einer Reise oder einer besonderen Begegnung. Versucht ganz natürlich zu erzählen und nicht zu schwatzen. Versucht auch, wenn es sein muss, gegen den Strich zu erzählen: zum Beispiel über Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen oder wie es sich mit Freundschaft, mit Liebe, aber auch mit den Tränen, mit der Wut, mit den eigenen tagtäglichen Problemen oder denen der Eltern beziehungsweise den Erwachsenen überhaupt lebt. Und natürlich wären Visionen interessant: was meint Ihr, wie könnte oder wie sollte unser Land in 25 Jahren aussehen? Um Gedanken festzuhalten, könnte auch ein Brief, eine (fiktive) E-Mail oder Tagebuchnotiz eine pas- sende Form sein, selbstredend auch Gedichte und vielleicht ein Dialog. Schaut Euch einfach um! Manchmal können sogar alte Mauern und Steine erzählen. Wir sind sicher, ihr werdet schon herausfinden, worüber ihr gern schreiben wollt. Unser Aufruf gilt für das gesamte Schuljahr und endet am letzten Schultag vor den Sommerferien, am 10.07.2015). Dann wählt eine Jury im Archiv für Kindertexte der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg die interessantesten, ehrlichsten, originellsten Arbeiten für ein Lesebuch aus. Wenn Ihr an einer Veröffentlichung Eures Textes in diesem Lesebuch interessiert seid, sollte dieser allerdings nicht länger als 2-3 A4-Seiten sein. Alle eingereichten Texte werden in das Archiv für Kindertexte aufgenommen und stehen dort auch Forschungszwecken und entsprechenden Publikationen zur Verfügung. Einige Einsender werden sogar zu einer Schreibwerkstatt in den Herbstferien eingeladen oder bekommen Gelegenheit, ihre Texte öffentlich vorzutragen. Positionen | Projekte | Publikationen Schickt Eure Texte in Sachsen-Anhalt bitte mit den Angaben Name, Vorname, Anschrift, Alter/Klasse, Schule an die FBK-Kontaktstelle van’t-Hoff-Str. 1 06237 Leuna Fax: (03461) 809248 E-Mail: [email protected] Web: www.fbk-lsa.de An jedem 2. Mittwoch im Monat besteht ab 16.00 Uhr sogar die Möglichkeit, im Krokoseum der Franckeschen Stiftungen zu Halle (06110 Halle, Franckeplatz 1, Historisches Waisenhaus) mit Euren Ideen oder Texten einen erfahrenen Schriftsteller zu konsultieren. Wir freuen uns auf Eure Einsendungen. Jürgen Jankofsky Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. Maik Reichel Landeszentrale für politische Bildung | 103 104 | Positionen | Projekte | Publikationen Übersicht der nachfolgend besprochenen Bücher Dimitar Atanasov/Jürgen Jankofsky/André Schinkel (Hrsg.): So wie ich hier stehe. 28 Schriftsteller aus Plovdiv, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 Walter Bauer: Die Stimme. Geschichte einer Liebe, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2014 Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.): Von seltenen Vögeln und anderen Ungehorsamkeiten. Texte schreibender Schüler zum Thema „Reformation und Politik“, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.): Unser Salzlandkreis – Unterwegs mit Tom und Sarah. Bernburg (Saale) 2014 Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.): oda – Ort der Augen (Ausgaben 1/2014 bis 4/2014), dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 Jana Büttner/Ludwig Schumann (Hrsg.): Ihr da! Einblicke und Ausblicke – Texte aus dem und in den Knast, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2014 Sebastian Caspar: ZONE C. KlakVerlag, Berlin 2014 Daniela Danz: V. Gedichte, Wallstein Verlag, Göttingen 2014 Rüdiger Fikentscher (Hrsg.): Lernkulturen in Europa. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 Jürgen Jankofsky: Ortungen IV. Reisen und Ziele 2010 – 2014, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 Jürgen Jankofsky/Sonny Thet: Anna und Sovanni - Eine deutsch-kambodschanische Geschichte. dorise-Verlag, Erfurt 2014 Jürgen Jankofsky (Hrsg.): ENTRÈE ELYSÈE! Texte junger Autorinnen und Autoren aus Sachsen Anhalt, dorise-Verlag, Erfurt, 2013 Jürgen Jankofsky/Eva Maria Kohl/ Diana Kokot (Hrsg.): Wenn die Erde Worte hätte. Texte schreibender Schüler, dorise-Verlag, Erfurt 2014 Jurij Koch: Oma Kata-Marka und die Streithähne. Lychatz Verlag, Leipzig 2014 Diana Kokot (Hrsg.): Ich sehe was, was Du nicht siehst. Texte aus der Grundschule HohenbergKrusemark, dorise-Verlag, Erfurt 2013 Christoph Kuhn: Im Gegenlicht. Erzählungen, Verlag Typostudio SchumacherGebler, Dresden 2014 Christoph Kuhn/Hans-Jörg Schönherr: 1986 | 1996 Sprüche aus Asche. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 Cornelia Marks (Hrsg.): Traumland Lauchistan. Hasenverlag, Halle 2014 Ernst Ottwalt: Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben einer nationalgesinnten Jugend, Hasenverlag, Halle 2014 Gunter Preuß: Dreie kommen durch die Welt. Lychatz Verlag, Leipzig 2014 Thomas Rackwitz: an der schwelle zum harz. Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 Sabine Raczkowski/Gudrun Pilz/ André Schinkel (Hrsg.): Der größte Regenbogen der Welt. dorise-Verlag, Erfurt 2014 Renate Sattler (Hrsg.): Geschichten aus der Salzblumenstadt. doriseVerlag, Erfurt 2013 Sylke Scheufler: Die Suche nach dem Drachenring. Lychatz Verlag, Leipzig 2008/14 Positionen | Projekte | Publikationen Sylke Scheufler: Gefangen in der Eiswelt. Lychatz Verlag, Leipzig 2014 Ludwig Schumann: Wasserhautseele. Auch Liebesgedichte, BuchVerlag für die Frau, Berlin 2014 Mario Schneider: Die Frau des schönen Mannes. Erzählungen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 Simone Trieder/Lars Skowronski: Zelle Nr. 18. Eine Geschichte von Mut und Freundschaft, be.bra verlag, Berlin 2014 | 105 Christoph Werner: Marie Marne und das Tor zur Nacht. Osburg Verlag, Hamburg 2014 Schulformübergreifende Lektüreempfehlungen Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Luthergedenkstätten (Hrsg.) Von seltenen Vögeln und anderen Ungehorsamkeiten Texte schreibender Schüler zum Thema „Reformation und Politik“ dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 ISBN 978-3-86289-076-7 Das Buch umfasst eine Textsammlung schreibender Schüler der Schuljahrgänge 3/4 und 10 bis 12 aus vier unterschiedlichen Schulen Sachsen-Anhalts zum Themenjahr „Reformation und Politik“ innerhalb der Lutherdekade. Das unter Leitung des Friedrich-Bödecker-Kreises Sachsen-Anhalt initiierte Schreibprojekt, welches von verschiedenen Künstlern unterstützt wurde, bietet Anregungen für die Auseinandersetzung mit dem Thema „Reformation und Politik“ im Unterricht. Im Kapitel „Die im Dunkeln“ beschäftigen sich die Schüler mit der von Luther so dringend geforderten Nächstenliebe und zeigen ihr tiefes Mitgefühl mit den Flüchtlingen, die eine gefahrvolle Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen. Sie beschreiben die Umstände der Überfahrt, reflektieren aber kaum die Ursachen der Flüchtlingswelle nach Europa. Besonders die Arbeiten zum „Tischgespräch mit Luther“ zeugen vom weitreichenden politischen Interesse der Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse des LMG Wittenberg. In ihren Texten beziehen sie sich auf aktuelle politische Probleme und erweitern die Tischrunde durch Einladungen an Wladimir Putin, Papst Franziskus und weitere bedeutende Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Kritisch hinterfragen sie deren Meinungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen und fordern Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit. Im Unterricht ließe sich in der gemeinsamen Arbeit mit Jugendlichen der „Gesprächskreis“ durchaus erweitern oder mit anderen Methoden, wie zum Beispiel kontroversen Debatten zu bestimmten Themen, ausbauen. 106 | Positionen | Projekte | Publikationen In der Auseinandersetzung mit dem Flugblatt „Hallo Ossis!“ ist zu diskutieren, ob der Einsatz dieses wütenden Pamphlets aus dem Jahr 2003 elf Jahre später noch Sinn macht oder ob den Jugendlichen damit eine überholte Diskussion aufgezwungen wird. Gerade unter der jungen Generation, das zeigt zum Beispiel die Allensbacher Repräsentativumfrage im Auftrag der „Hochschulinitiative Neue Bundesländer“ (2012), ist das Thema „Ossi–Wessi“ schon sehr in den Hintergrund getreten. 74 Prozent der befragten jungen Leute fühlen sich demnach als Deutsche. Zudem ist diese Schreibanregung vor dem Hintergrund der Förderung einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mehr als fraglich. Die veröffentlichten Texte zur Auseinandersetzung mit der DDR machen in der Mehrzahl betroffen. Gerade hier darf man bezweifeln, dass dabei „unverstellte Sichten von Kindern und Jugendlichen“ (Klappentext) wiedergegeben werden. Umso wichtiger ist deshalb ein sorgsamer und tiefgründiger Umgang mit der DDR. Politiker als Traumberuf!? Die wenigen (!) veröffentlichten Texte sind als Briefe an die Eltern formuliert. Sie sollen sich doch bitte keine Sorgen machen, wenn ihr Kind in die Politik zieht. Alles wird gut! Die sehr fantasievollen Arbeiten von Grundschülern scheinen beim ersten Lesen das Thema zu verfehlen. Doch lassen wir uns einmal von den Kindern an die Hand nehmen und tauchen mit ihnen in die Welt der Märchen und Wunder ein, wird schnell klar, dass sie dieses Thema sehr wohl in ihren Geschichten berühren. Sie glauben an ihre Superkräfte, sie glauben daran, ihre Wünsche und Hoffnungen erfüllen zu können. War dies nicht immer schon eine unabdingbare Voraussetzung für Veränderungen gewesen? Egal, ob man sich gegen die Allmacht eines Papstes auflehnt, sich aus den Fesseln der Barbarei befreit oder es mit einer Gruppe Übermächtiger aufnimmt, der Glaube an die Superkräfte vermag Unmögliches zu meistern. Doch was sind diese „Zauberkräfte“? Der Glaube an sich selbst, Liebe und Verantwortung, Gottvertrauen oder Nächstenliebe? Die Geschichten der Kinder bieten viele Anregungen, gemeinsam mit ihnen darauf eine Antwort zu finden. Zum besseren Leseverständnis wäre eine Altersangabe am jeweiligen Text wünschenswert, denn die gewählte Variante im Anhang des Buches erschließt sich nicht sofort. (MF) +++++ Jürgen Jankofsky/Eva Maria Kohl/Diana Kokot (Hrsg.) Wenn die Erde Worte hätte. Texte schreibender Schüler dorise-Verlag, Erfurt 2014 ISBN: 978-3-942401-60-9 Was wären wir nur ohne unsere Sprache, ohne auch nur ein einziges Wort? Wir wären verloren! So stellt es auch Anna-Lena Schiemann in ihrem Text „Wenn die Erde Worte hätte“ heraus, der dem diesjährigen Sammelband von Texten schreibender Schüler seinen Titel gab. Zum 28. Mal schon erscheint nun dieses Buch des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V., welches Kindertexte nach ausführlicher Begutachtung mehrerer Jurymitglieder auswählt und durch Veröffentlichung ihnen eine besondere Positionen | Projekte | Publikationen | 107 Wertschätzung zukommen lässt. Die Texte stellen eine Auswahl der insgesamt 3900 eingesandten Texte des Schreibwettbewerbs „Unzensiert und unfrisiert“ des Schuljahres 2012/13 dar, die in jeweils sehr unterschiedlichen Situationen entstanden sind: Einige Texte wurden in der Schule geschrieben und als Klassensatz von der Lehrperson eingesandt, andere entstanden in Projekten, AG’s oder auch zu Hause in der Freizeit. Somit zeigt sich in jedem Jahr nicht nur eine Vielfalt an Themen, sondern auch an Textsorten. Über lyrische Formen wie Gedichte, Rätsel, Nonsens-Reime und ABC-darien entstehen auch kleine Dialoge sowie epische Texte sehr unterschiedlicher Länge des fantastischen, realistischen oder auch problemorientierten Genres. Vor allem ältere SchülerInnen setzen sich häufig mit Problemen von Natur und Umwelt, Liebe, Neid, Leben und Tod oder der Zukunft auseinander. Letztgenanntes Thema greifen beispielsweise Tim Kohlmann in seinem Text „Zukunft“ (S. 172) und Lisa Schulze in ihrem Text „Online“ (S .190) auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf. Während Tim auf nachdenkliche Weise über Wünsche, Träume, Hoffnungen und Mitbestimmung sinniert, entsteht bei Lisa ein humoristisch anmutender Text über die unterschiedlichsten sozialen Netzwerke, die durch das World Wide Web entstanden sind. In einer immer hektischer werdenden Steigerung im Verlauf des Textes wird jedoch auch die Schnelllebigkeit unserer modernen Gesellschaft sowie ein Nachdenken über die neue Smartphone-Generation, die satt im Hier und Jetzt das Leben über ein Zwischenmedium zu leben scheint. „Oh, mein Gott – was passiert jetzt in der Welt, wenn ich nicht online bin? Offline.“, endet Lisas Text und lässt das Offline-Sein dem Tode nahe kommen. Neben den Kindertexten, die nach verschiedenen Themenbereichen, wie Tiere, das Jahr, Fantasie, Gefühle oder die Zeit geordnet wurden sind auch Texte, Porträts und Tagebucheinträge aus dem Euro-Camp 2013 sowie Texte der Landesschreibwerkstatt im Kiez Güntersberge zu lesen. Zudem illustrieren von Kindern angefertigte schwarz-weiße Holzschnitte die Texte, sodass es zu einer sehr ansehnlichen Buchfassung kommt, welche die Kreativität und auch Mühen der SchreiberInnen in ansprechender Weise würdigt. (NR) 108 | Positionen | Projekte | Publikationen Lektüreempfehlungen für die Primarstufe Schulschreiber in Sachsen-Anhalt Seit vielen Jahren initiiert der Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. das Projekt „Schulschreiber in Sachsen-Anhalt“. In Kooperation mit Grund- oder Sekundarschulen werden Kinder und Jugendliche unterrichtsbegleitend an das kreative Schreiben und literarische Lernen herangeführt. Dafür kommt über einen längeren Zeitraum eine AutorIn an die Schule und arbeitet sozusagen als „OberschulschreiberIn“ mit ausgewählten Kindern der Schule. Diese können im Dialog und Austausch mit der AutorIn neue Blickwinkel auf das Schreiben entwickeln, mit Sprache spielen lernen, Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein beim eigenen Schreiben entwickeln und – im allerbesten Sinne – ihre eigene Schreibkompetenz entfalten. Im Jahr 2013 fanden Schulschreiberprojekte an der Grundschule „An der Klosterwuhne“ Magdeburg, der Sekundarschule „Maxim Gorki“ Schönebeck und natürlich auch an der Friedrich-Bödecker-Grundschule Laucha statt. Die entstandenen Textsammlungen zu den einzelnen Projekten sollen hier kurz vorgestellt werden. Sie dokumentieren nicht nur die geleistete Arbeit, sondern können als Lesebuch auch in Kindern die Lust am Lesen und die Neugier auf eigene Schreiberfahrungen wecken. Sabine Raczkowski/Gudrun Pilz/André Schinkel (Hrsg.) Der größte Regenbogen der Welt dorise-Verlag, Erfurt 2014 ISBN: 978-3-942401-68-5 Sabine Raczkowski wurde 1964 in Zerbst geboren. Nach einer Ausbildung zur Tischlerin und einem Ingenieurstudium der Holztechnik in Dresden lebt sie als Schriftstellerin in Magdeburg. Sie schreibt Krimis, Gedichte, Lieder, Prosa für Kinder und Erwachsene. André Schinkel, geboren 1972 in Eilenburg (Sachsen), ist gelernter Rinderzüchter. Studiert hat er Germanistische Literaturwissenschaft und Prähistorische Archäologie. Im Moment lebt und arbeitet er als Doktorand, Autor und Lektor in Halle und in Bitterfeld-Wolfen. 1998 erhielt er den Georg-Kaiser-Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt, 2006 den Joachim-Ringelnatz-Nachwuchspreis für Lyrik. Weitere Auszeichnungen folgten. Gudrun Pilz ist Deutschlehrerin an der Grundschule „An der Klosterwuhne“ in Magdeburg. Sie führt das Schulschreiberprojekt auch nach dessen offiziellem Ende an der Schule weiter. Positionen | Projekte | Publikationen | 109 Dieses Büchlein ist als Gemeinschaftsprojekt der beiden Autoren und der Deutschlehrerin entstanden. Die wöchentliche Schreibgruppe erhielt 14-tägig Besuch von André Schinkel oder Sabine Raczkowski. Die restlichen Treffen führte die Deutschlehrerin der Grundschule Gudrun Pilz durch. Die Vielfalt dieser offensichtlich anregungsreichen Atmosphäre findet sich in den Texten der beteiligten Zweit-, Dritt- und Viertklässler. Diese schreiben über Realistisches und Fantastisches, Sachliches und Sprachspielerisches in Prosa- und Gedichtform. Es finden sich eigenartige Gestalten wie das Zirkus-Huhn und die Schmuggelmaus, neben großen Gefühlen und Nachdenklichkeiten über die Welt, die oft witzig und leichtfüßig daherkommend doch ganz tiefe Gedanken offenbaren: Eine Leseprobe: Das laufende Handtuch Aus einem Fenster sprang ein Handtuch. Es hatte die Faxen dicke. Es wollte nicht immer Pops abtrocknen. Als es aus dem Fenster sprang und auf der Straße landete, rief es: „Hallo Welt, hier bin ich!“ Leider lag es am nächsten Tag zerknorkelt in einer Mülltonne. „Buh!“, rief ein fast aufgegessener Pfannkuchen. „Du riechst so nach Popo!“ Da kam eine alte Jacke in die Mülltonne, die ein großes Loch in der Mitte hatte. Handtuch und Jacke wurden Freunde. Das Handtuch stopfte das Loch in der Jacke und beide gingen auf Weltreise. (Anny Talina Koch) Renate Sattler (Hrsg.) Geschichten aus der Salzblumenstadt dorise-Verlag, Erfurt 2013 ISBN: 978-3-942401-62-3 Renate Sattler wurde 1961 in Magdeburg geboren, wo sie heute auch lebt. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaft in Meißen war sie in Kulturpolitik und politischer Bildung tätig. Seit 2007 ist sie freiberufliche Autorin und seit 2011 Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller – Landesverband Sachsen-Anhalt. Elf Schülerinnen und Schüler der sechsten und siebenten Klassen der Sekundarschule „Maxim Gorki“ in Schönebeck sind für das Ergebnis der vorliegenden Publikation verantwortlich, gemeinsam mit der Autorin Renate Sattler und den Lehrkräften vor Ort. Als Entdeckungsreise wird das Schulschreiberprojekt beschrieben, und in der Tat scheint eine solche stattgefunden zu haben. Von Schulentdeckungen, Tieren und Hobbys wird berichtet, den genauen Blick für das Wesentliche schulend artikuliert und dabei viel Persönliches verraten. Von der Heimat, ihren Schönheiten, aber auch ihren Gefahren wie zum Beispiel dem Elbehochwasser des vorletzten Jahres, wird erzählt. Oft tritt hier das Unspektakuläre hervor, in überraschender Form, weil in einem Kinderleben wichtig geworden; nun persönlich bedeutsam und unaustauschbar. Die Kraft des Schreibens als Möglichkeit des Nachdenkens über sich selbst und die Welt wird dabei kultiviert. 110 | Positionen | Projekte | Publikationen Cornelia Marks (Hrsg.) Traumland Lauchistan Hasenverlag, Halle 2014 ISBN: 978-3-939468-89-9 Dr. Cornelia Marks, geboren 1969 in Erfurt, war Bibliothekarin, Zeitungsredakteurin und Deutschlehrerin. Nach einem Studium der Slawistik und Germanistischen Literaturwissenschaft, promovierte sie an der MLU Halle bei Prof. Dr. Angela Richter zum Thema „Poetik und Erkenntnis. Zur Schaffens evolution des serbischen Schriftstellers Miloš Crnjanski“. Seit 2007 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und Lektorin und als Dolmetscherin bei psychotherapeutischen Sitzungen im PSZ Halle. Ihr Werk umfasst eigene Texte und Nachdichtungen. Die dritte Schulschreiber-Publikation zeigt sich im schönen Kleid und bereits in fast traditioneller Weise als jährlicher Gruß aus dem süd-sachsen-anhaltinischen Laucha; hier zuerst einmal vorgestellt als Lauchistan, das lässt ja schon Faszinierendes erwarten. In diesem Jahr war es Cornelia Marks, die mit 16 Schulschreibern aus der vierten Klasse auf Erkundung ging, Sprache erprobte, spielte und philosophierte, artikulierte etc. Das Ergebnis ist ein hübsches Büchlein, das viele Texte der Kinder vereint. Rezepte für Lieblingsessen und wunderbare Tage, Träume, Nonsens, Briefe und vieles mehr findet sich hier. Doch auch die Bebilderung fällt auf. Zeichnungen von Leonard Marks und Fotos ergänzen die Texte und erweitern die Lektüre. So lädt das Buch zum Entdecken und Erkunden ein. Zusammenfassung: Insgesamt zeigen die Schulschreiberbücher wieder einmal, wie produktiv Kinder unter Anleitung professioneller Autorinnen und Autoren sein können. Die Bedeutung einer frühen literarischen Bildung, die aber nicht im Geniekult verharrt, sondern zum Mit- und Selbermachen einlädt, ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Für Lehrerinnen und Lehrer bieten die Bücher zudem jede Menge Anregungen, wie vergleichbare Projekte umzusetzen sind. Viele Ideen können übernommen werden und erleichtern den Start. (MR) +++++ Diana Kokot (Hrsg.) Ich sehe was, was Du nicht siehst. Texte aus der Grundschule Hohenberg-Krusemark dorise-Verlag, Erfurt 2013 ISBN: 978-3-942401-61-6 „Ich sehe was, was du nicht siehst“, den Namen des bekannten Kinderspiels wählte Diana Kokot als Titel für die von ihr herausgegebene Anthologie mit Texten von Kindern aus der Grundschule in Hohenberg-Krusemark. Positionen | Projekte | Publikationen | 111 Vielleicht auch deshalb, weil dieser Satz viel mit Phantasie zu tun hat, die uns Dinge sehen lässt, die andere nicht wahrnehmen. Diana Kokot hat die Phantasie von neun Kindern in wöchentlich stattfindenden Schreibwerkstätten angeregt und nimmt uns mit auf eine beeindruckende Reise, in der wir Einblicke in das Leben der Schülerinnen und Schüler erhalten, uns vorstellen, wie das Leben als Maus, als Apfel, als Baum oder wahlweise als Junge oder Mädchen ist. Am Anfang des Buches befindet sich ein Bild von der Berufung zu Schulschreibern, das gespannt werden lässt, was diese Jungen und Mädchen, die stolz die Ernennungsurkunde vor der Brust halten, für Geschichten schreiben werden. Die ersten Texte geben spannende Einblicke in das Leben der Kinder, sie berichten von den schönen und nicht ganz so guten Seiten des Lebens und ihren größten Wünschen. Dabei geht es oft erstaunlich ernsthaft zu, wenn Beziehungen zu Freunden, zur Familie oder auch zu Tieren thematisiert werden. Im Verlauf des Buches werden die Texte immer phantastischer. Zu Beginn sind sie eher realistisch, wie AnnaLenas Erzählung über die Ferien im Zeltlager, Pauls Ausflug in den Heidepark oder verblüffend, wie Chris-Jeremys Text von einem vermeintlichen Pechtag, an dem der Hamster scheinbar gestorben ist und dann doch wieder putzmunter wird – ein echter Glückstag. Phantastisch sind die von den Kindern erfundenen Tiere, wie bspw. der Kobrawal von Karl-Friedrich, die Schlangenkatze von Johann oder der Walwurm von Liam. Nicht nur die Texte, in denen ein Tag als Junge oder Mädchen beschrieben wird, halten manch heiteren Lesemoment parat. Lea resümiert: „Am nächsten Tag war ich zum Glück wieder ein Mädchen, aber mein Fuß tat mir noch sehr weh vom vielen Fußballspielen“. Der spielerische Umgang der Kinder mit den Märchen zeugt vom souveränen Umgang der Schulschreiber mit anderen Texten wie z. B. in dem Märchen von Lukas, in dem sich der Apfel Jürgen unglücklich in Rapunzel verliebt, die allerdings schon mit dem Frosch liiert ist. Aber auch lyrische Formen wie „Rappelzappel-Gedichte“ finden hier ihren Platz „Es war einmal ein Traum, der hing an einem Baum. Und wer ihn pflückt, der wird verrückt.“ (Irmrun). Viele Fotos vermitteln einen Einblick in die Schreibwerkstätten und von der Freude, die den Kindern das Schreiben bereitet. Die von Irene Lepps stammenden Illustrationen bereichern das Buch und treten in ein vergnügliches Wechselspiel zu den Kindertexten. Hier liegt ein Buch vor, das zu lesen Spaß macht, dabei dem Witz und der Leichtigkeit, aber auch der Ernsthaftigkeit und Reife in den Texten nachzuspüren, und das Lust macht, selbst zu schreiben, am besten gemeinsam. Der erste Satz könnte lauten: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Diana Kokot, geboren 1955, studierte Journalistik, arbeitete u. a. als Lokalredakteurin und Pressesprecherin und ist seit 2003 freiberufliche Autorin, Journalistin und Herausgeberin verschiedener Anthologien. In der Altmark ansässig, schreibt sie Lyrik, Erzählungen, Krimis und Texte für Kinder. Bekannt ist sie auch für ihre Schreibwerkstätten und Kreativprojekte im schulischen und außerschulischen Raum. Engagiert ist sie zudem in den Landesvorständen des Friedrich-Bödecker-Kreises und des Fördervereins der Schriftsteller in Sachsen-Anhalt. (SZ) 112 | Positionen | Projekte | Publikationen Jürgen Jankofsky/Sonny Thet Anna und Sovanni – Eine deutsch-kambodschanische Geschichte dorise-Verlag, Erfurt 2014 ISBN: 978-3-942401-70 Jürgen Jankofsky, seit vielen Jahren als Autor für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bekannt, Geschäftsführer des FriedrichBödecker-Kreises Sachsen-Anhalt und auch dessen stellvertretender Bundesvorsitzender, setzt auch 2014 die Reihe seiner „Anna-Geschichten“ fort; war es 2009 die Freundschaft mit dem tunesischen Jungen Achmed, so folgten 2011 das deutsch-armenische Kinderbuch „Anna und Armen“ und 2012 „Anna und Amo“ als Geschichte einer deutsch-ghanaischen Freundschaft. Mit „Anna und Sovanni. Eine deutsch-kambodschanische Geschichte“ nimmt er dieses Mal seine Leser mit auf die Reise nach Südostasien. Wie auch bei den anderen Anna-Büchern gibt es neben Jankofsky einen weiteren Autor, hier ist es Sonny Thet, kambodschanischer Musiker, Cellist, der 1969 vom Prinzen Sihanouk nach Weimar zum Musikstudium geschickt wurde. Nach erfolgreichem Abschluss an der dortigen Hochschule für Musik gründete er 1971 zusammen mit Christoph Theusner die bekannte Gruppe Bayon. Sonny Thet ist vor allem dafür bekannt, dass er Elemente der Khmer Pentatonik mit Jazz, Klassik und Pop gekonnt verbindet, was ihn weit über die deutsche Landesgrenze hinaus berühmt machte. Der Autor Sonny Thet erscheint in der Geschichte auch als Akteur, nämlich als Großvater Sovannis, der den Mitschülern von Anna die Kultur seines Heimatlandes nahe bringt und zum Verständnis fremder Völker beiträgt. Was an diesem Buch – wie auch an den anderen Büchern dieser Reihe – zuerst ins Auge fällt, ist sein Layout: es kann von beiden Seiten gelesen werden, einmal in deutscher Sprache und einmal in Khmer, der Sprache, die in Kambodscha gesprochen wird. Und diese geheimnisvollen Schriftzeichen ziehen, zusammen mit den leuchtenden Farben der Umschlaggestaltung, sofort den Betrachter in ihren Bann und laden zur Lektüre ein. Die Fabel ist schnell erzählt: Der kambodschanische Junge Sovanni kommt als neuer Schüler in die Klasse von Anna, die ihm offen und freundlich entgegentritt und alles über sein Herkunftsland Kambodscha wissen will. Aber nicht alle Kinder nehmen Sovanni mit offenen Armen auf: einige von Annas Mitschülern rufen ihn „Schlitzauge“ und begegnen ihm mit Ablehnung, was Annas Zorn hervorruft. Das ändert sich erst, als die Klasse aufgefordert ist, ein Programm für das Schulfest einzustudieren, bei dem ein fremdes Land vorgestellt werden soll. Natürlich schlägt Anna Kambodscha vor und die Kinder erfahren im Laufe der Arbeit an diesem Programm mehr und mehr über das südostasiatische Land, seine Geschichte, das Essen, Sitten und Bräuche, Musik… von Sovannis Großvater, dem Musiker, in dem der Leser den Co-Autor der Geschichte, Sonny Thet erkennt und der hier seine eigene Geschichte erzählt. Und natürlich wirkt er mit seiner Musik im Programm selbst mit und trägt so zum Gelingen und schließlich zur Erweiterung der kulturellen Erfahrungen aller Schülerinnen und Schüler der Schule von Anna bei. Das Wissen um fremde Kulturen ist die Voraussetzung für Verständnis und Veränderung von Haltungen; um dieses zu erreichen, sind Geschichten wie „Anna und Sovanni“ bestens geeignet. (MM) Positionen | Projekte | Publikationen | 113 Jurij Koch Oma Kata-Marka und die Streithähne Mit Bildern von Thomas Leibe Lychatz Verlag, Leipzig 2014 ISBN 978-3-942929-73-8 Vor zwei Jahren taten sich erstmals ein beliebter Autor aus der Lausitz und ein begnadeter Illustrator aus Halle zusammen und gestalteten gemeinsam das Buch „Bauer Sauer und der Maulwurf Ulf“. Nun arbeiteten Sie gemeinsam am Buch „Oma KataMarka und die Streithähne“. Es ist eine jener typischen Jurij-Koch-Geschichten, die aus dem Leben erzählen. Da ist Oma Kata-Marka und sie hat einen Hühnerhof. Oma Kata-Marka hat eine Schar von Hühnern: rote, braune, schwarze, weiße und schwarz-weiße. „Zu ihrer Schar gehört auch der Hahn Tobi. Tobi fühlte sich als Hühnerkönig. Er war stark und stolz. In seinem rechten und linken Flügel glühten feuerrote Federn […] Auf dem Kopf trug Tobi einen Hahnenkamm wie alle Hähne und Hennen. Manchmal ähnelte der Hahnenkamm einer rosaroten Mütze, die mal rechts, mal links auf dem Kopf saß …“. Aber eines Tages schlüpft aus einem Ei eines schwarz-weißen Huhnes der Hahn Paul. Hahn Paul mit dem veilchenblauen Kamm und der Liebling aller Junghennen ist für Hahn Tobi ein Widersacher. Mit List und Tücke versucht jeder, der Hahn des Hühnerhofes zu werden. Bis eines Tages der Habicht Kralle den Hühnerhof bedroht… Die Geschichte ist eine sehr kurzweilige Erzählung, die mit Hilfe vielfältiger Verben (wälzen, schnappen, jammern, schreien, barmen, …) und treffender Adjektive (verdächtig gefährlich, glühend feuerrot, schön und geschickt, veilchenblau, …) die Helden zum Leben erweckt. Die Schriftgröße und Schriftart lädt auch Leseanfänger zum Lesen ein. Die Bilder von Thomas Leibe spiegeln in hervorragender Weise die Inhalte der Erzählung wider. Große, über das gesamte Buchformat gestaltete Bilder verdeutlichen die Emotionen der Helden des Buches. Hahn Tobi mit seiner braunkarierten Weste und einer goldenen Taschenuhr, Hahn Paul mit drei großen blauen Sternen und die flippige Oma, mal obenrum nur mit BH und mal im flotten Sportdress, sind besonders gut getroffen. Aufgrund der farbigen Gestaltung der einzelnen Seiten, dem immer dunkler werdenden Hintergrund steigt von Seite zu Seite die Spannung in der Geschichte. Ein Buch, das Kinder nicht nur gern lesen, sondern sich auch mit Genuss anschauen werden. (APW) 114 | Positionen | Projekte | Publikationen Gunter Preuß Dreie kommen durch die Welt Mit Illustrationen von Thomas Leibe Lychatz Verlag, Leipzig 2014 ISBN: 978-3-942929-07-3 „Da galoppieren drei Gestalten in wehenden Gespensterhemden auf drei edlen Gäulen durch die Straßen.“ (S. 5) Was können sie in dem kleinen Städtchen Ruhewohl nur suchen? Sie haben gehört, dass hier die bezaubernde Bäckerstochter Ottilie Zahnlücke wohnt, die nicht nur gern isst, sondern auch gut backen kann. Eine solche Frau wäre für die Gespenster gerade richtig. Jeder will sie zur Frau haben. Doch zuvor gilt es, die holde Jungfrau aus den Fängen des bösen Geistes Eduard vom Schwarzen Nebel befreien. Spornstreich schwingen sich die Gespenster auf ihre Rösser und reiten los. Im Geisterwald bei der großen Eiche finden sie Schwarzer Nebel, der sich prompt in einen Drachen verwandelt. Den können sie mit vereinten Kräften besiegen, doch als sich der böse Geist nun in einen Tiger verwandelt, möchten sie am liebsten wegrennen. Dabei stellen die Drei fest, dass sie keine Füße haben. So lachen sie über sich selbst und das ist etwas, das der böse Geist gar nicht ertragen kann. So verwandelt er sich in eine Maus und wird prompt von dem gefräßigsten Gespenst verspeist. Ottilie ist nun befreit, doch sie denkt nicht daran, die Gespenster zu küssen. Sie braucht etwas „Handfestes“ und heiratet den Fleischersjungen. Da schwingen sich die Gespenster erneut auf ihre Rösser und versuchen ihr Glück an einem anderen Ort. So merkwürdig wie märchenhaft wirkt die fantastische Geschichte von Gunter Preuß, die mit vielen Motiven aus den klassischen Volksmärchen arbeitet. Vor allem die Zahl Drei wird immer wieder als formgebendes Element für die Geschichte benutzt. Die drei Gespenster Hieb, Stich und Stoß besitzen jeweils drei besondere Eigenschaften, ebenso wie ihre drei Pferde. Hier knüpft Preuß an die Erzähltradition der Volksmärchen an. Auch erinnert die Verwandlung des bösen Geistes in eine Maus stark an das Märchen vom Gestiefelten Kater. So collagiert Preuß auf inhaltlicher, aber auch auf sprachlicher Ebene seinen Text aus verschiedenen Referenztexten. Sprachlich bedient er sich zahlreicher Alliterationen, wie man bereits im eingangs zitierten Satz lesen kann. Die Dreigliedrigkeit findet sich häufig in den Sätzen wieder, so „nuscheln, flüstern, schnauzen“ die Gespenster, oder sie „hauen, stechen, stoßen“. Kreativ arbeitet Preuß auch mit den Namen der Orte oder Figuren, die immer sehr konkret auf bestimmte Eigenschaften verweisen und so märchentypisch Charakteristika darstellen, wie z. B. das Städtchen Ruhewohl oder die Burg Gallenstein. In den mal ganzseitigen, mal vignettenartig in den Text eingebundenen Illustrationen von Thomas Leibe wird die Charakteristik der drei doch recht unterschiedlichen Gespenster besonders deutlich. Einer schmal und dünn, mit gezwirbeltem Schnauzbart. Die anderen beiden eher grob, der eine muskelbepackt und der zweite gefräßig mit besonders großem Mund. Dass die Drei dennoch ein gemeinsames Ganzes bilden zeigen die gleichen Haar- und grünen Hautfarben und die ähnlichen Gewänder. Mit viel Humor und übertriebenen Gesten wirken die Gespenster wie Karikaturen, die durch ihren spielerischen Charakter sehr gut mit dem Text harmonieren. So gelingt es Preuß und Leibe eine Geschichte zu schaffen, die als Text zwischen Texten auf sprachlicher, bildnerischer und inhaltlicher Ebene mit seinen Elementen spielt, viel Witz durch Übertreibungen zeigt und so zum Lesevergnügen wird. Positionen | Projekte | Publikationen | 115 Gunter Preuß, der heute bei Leipzig lebt, wurde 1940 geboren. Er lernte zunächst Fernmeldemechaniker und studierte schließlich von 1970-74 am Leipziger Literaturinstitut “J. R. Becher”. Seitdem arbeitet er als freischaffender Schriftsteller. Gunter Preuß schreibt in Prosa, Dramatik und Lyrik für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Mit seinen Büchern für Kinder möchte er ihnen „die Augen für die Realwelt öffnen“ (Preuß, Interview 1983) und ihnen Verantwortung im Umgang mit ihr geben, so beispielsweise in seinen Romanen „Stein in meiner Faust“ und „Tschomolungma“. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, so erhielt er 1986 den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste, 1999 den Brüder-Grimm-Preis und 2000 den Gellert-Preis. Der Illustrator Thomas Leibe wurde 1977 in Halle an der Saale geboren. Als Porträtkarikaturist zeichnete er zunächst im Auftrag des Eulenspiegel, arbeitete mit Helge Schneider zusammen und illustrierte für die Lokalpresse. Ob Anglerwitze für eine deutsche Angler-Fachzeitschrift oder Schweizer-Börsen-Magazin-Cartoons, vielfältig sind seine Arbeitsfelder. Seit 2010 illustriert er für den Lychatz Verlag Kinderbücher. Aktuell lebt Thomas Leibe mit seiner Familie in Halle und arbeitet freiberuflich als Pressegrafiker und Journalist. (AR) +++++ Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. in Zusammenarbeit mit dem Salzlandkreis und unterstützt durch die Stiftungen der Salzlandsparkasse (Hrsg.) Unser Salzlandkreis – Unterwegs mit Tom und Sarah Ein Sachbuch nicht nur für Grundschülerinnen und -schüler Bernburg (Saale), 2014 Mit dem Sachbuch „Unser Salzlandkreis – Unterwegs mit Tom und Sarah“ wird eine Übersicht über den Salzlandkreis vorgestellt, die spannend und unterhaltsam zugleich ist. Beim ersten Kontakt mit dem von Heike Lichtenberg illustrierten Buch wird man durch die farbige und kindgemäße Aufmachung zum Blättern angeregt. Man ertappt sich dabei, dass man schnell etwas Interessantes findet und sich in die Texte, die Birgit Herkula beisteuert, vertieft. Zunächst lockt den Leser eine Flaschenpostnachricht, die Tom an der Elbe findet und die ein Junge namens Max geschrieben hat, der aus Bernburg nach Hamburg zieht, weil seine Eltern dort eine neue Arbeit gefunden haben. Dieser ist traurig, dass er seine Heimat verlassen muss und er wünscht sich, dass der Finder ihm über sich und seine Erlebnisse im großen Salzlandkreis schreibt. Diese Nachricht begeistert Tom und seine Schwester und schon sind sie auf Tour. „Stellvertretend für ihre Freunde und Mitschüler entdecken Tom und Sarah mit ihren Eltern und Großeltern den Salzlandkreis – ihre Heimat“, heißt es im Vorwort auf S. 7. Fast zum Schluss des Buches findet der Leser einen Antwortbrief von diesem Entdeckerteam an Max, indem in kindlicher Sprache die Inhalte und Anliegen des Buches zusammengefasst werden – ein schöner Rahmen. 116 | Positionen | Projekte | Publikationen „Viel Wissenswertes findet sich in diesem Buch, das prallvoll mit historischen Geschichten und aktuellen Informationen, mit Fotos und Grafiken, mit interessanten Beiträgen über bedeutende Ereignisse und gemeinsame Traditionen“ ist. Die Lesenden „erfahren […] etwas über Natur und Landschaft, Städte und Dörfer, Geschichte und Gegenwart, Moderne und Tradition, Wirtschaft und Politik, Kunst und Kultur und vieles andere mehr […] und erhalten damit einen wunderbaren Einblick in die Vielfalt und Schönheit dieser Region“ (alles S. 7). Das Redaktionsteam hat sich um eine klare Strukturierung bemüht und arbeitet mit immer wiederkehrenden Symbolen und Farben in einer Informationsspalte am Rande der Seiten. Dort stehen Tipps zum Nachmachen und für Erkundungen, Erklärungen zu Begriffen und vor allem Fragen, die die Kinder zum Weiterverarbeiten der Informationen sowie zu eigenen Schlussfolgerungen anregen. Sie werden motiviert, über eigene Erlebnisse zu erzählen oder zu schreiben, sich in andere Personen hinein zu versetzen, Rezepte und Experimente auszuprobieren oder eigene vorzustellen, Planungsarbeiten vorzunehmen und vieles mehr. Man könnte sagen, es handelt sich auch um ein tolles „Mitmachbuch“, da es so handlungsorientiert und phantasieanregend geschrieben ist. Mehrere Verzeichnisse regen die Schülerinnen und Schüler zu gezieltem Nachschlagen und das farbige Kartenmaterial zum Orientieren in Sachsen-Anhalt und im Salzlandkreis an. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das vorliegende Sachbuch bestens für einen Einsatz, vor allem in den Fächern Deutsch und Sachunterricht der Jahrgangsstufen 3 und 4 geeignet ist, sich die inhaltlichen und prozessbezogenen Kompetenzen der Lehrpläne dieser Fächer damit leicht entwickeln lassen und auch das differenzierte Arbeiten in verschiedenen Anforderungsbereichen mit dem Material möglich ist. Im Vorwort zum Buch kann man lesen, dass alle Grundschulen des Salzlandkreises dieses Sachbuch erhalten sollen. Es wäre großartig, wenn sich viele Lehrkräfte von dem vorliegenden Material anstecken ließen, es regelmäßig und fächerübergreifend in die Unterrichtsplanung einbezogen werden könnte oder es zum Blättern den Schülerinnen und Schülern auch in den Pausen zur Verfügung stehen würde. Eventuell ergeben sich Exkursionen für den Unterricht und Anregungen für die Freizeitgestaltung in den Familien und es gelingt, wie im Vorwort des Buches beschrieben, „… neben der Wissensvermittlung auch dazu beizutragen, diese Region und ihre Einwohner zu verbinden.“ Es muss noch gesagt werden, dass dieses Buch nicht nur Leserinnen und Leser des Salzlandkreises anspricht, denn auch mich hat es interessiert und fasziniert. Ich war erstaunt, was es in meinem Nachbarkreis so alles zu erkunden gibt, und sicher werde ich den einen oder anderen Ausflug unternehmen. Vielleicht machen es andere Kreise in Sachsen-Anhalt nach und es wird auch da so ein tolles „Heimatbuch“ geschrieben. Oder es entsteht eine Fortsetzung im Internet, die auf S. 117 im vorliegenden Buch angesprochen wird. Die Bücher gibt es kostenlos über die Bildungsakademie des Salzlandkreises am Standort Aschersleben, Augustuspromenade 44; telefonisch zu erreichen unter 03473/9203-0. Die Schulen werden ermuntert, sich einen Klassensatz zu sichern. (IW) Positionen | Projekte | Publikationen | 117 Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufen Dimitar Atanasov/Jürgen Jankofsky/André Schinkel (Hrsg.) So wie ich hier stehe 28 Schriftsteller aus Plovdiv dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 ISBN 978-3-86289-089-7 Dass der Friedrich-Bödecker-Kreis Sachsen-Anhalt unter der Geschäftsführung von Jürgen Jankofsky nicht nur Autorenbegegnungen mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus unserem Bundesland ermöglicht und fördert, sondern die Literatur auch als Element des internationalen und damit interkulturellen Brückenbaus versteht, dürfte sich herumgesprochen haben. Zeugnis von der Kontinuität dieses Engagements legt auch dieses Doppelbuch-Projekt ab, das die langjährigen deutsch-bulgarischen Kontakte manifestiert: Vor nunmehr zwanzig Jahren wurde zwischen Sachsen-Anhalt und der bulgarischen Region Plovdiv ein Protokoll zur umfassenden Zusammenarbeit unterzeichnet, das auch dem kulturellen Austausch gebührenden Raum eröffnet; in Plovdiv selbst existiert seitdem sogar eine Begegnungsstätte mit Sachsen-Anhalt. Gegenseitige Autorenbesuche gab es in der Vergangenheit zahlreich; Arbeitskontakte und Freundschaften sind daraus hervorgegangen. Die Industriestadt Plovdiv selbst gilt als wichtiges Zentrum des literarischen Lebens in Bulgarien, zudem ausgestattet mit einer reichen Verlagslandschaft. Nun also präsentieren sich auf 190 Seiten im handlichen Hardcover lyrische und Prosatexte von 28 bulgarischen Autoren erstmals auf Deutsch, um die kommunikative Grundfunktion von Literatur wahrzunehmen, die von den Herausgebern im Vorwort so beschrieben wird: „Wer sich mit Literatur befasst, ist auf ein Gegenüber aus und bereit, sich zu verständigen.“ Leider fehlen im bulgarischen Kanon die jungen Stimmen; es dominieren die heute 50- bis 70-Jährigen; eine einzige Autorin unterschreitet mit dem Geburtsjahrgang 1971 diese Generationsgrenze. Den Texten indes tut das erfreulicherweise keinen Abbruch; sie kommen in einer überwiegend frischen Sprache daher, was zweifellos auch den Übersetzungen geschuldet ist, für die namhafte Autorinnen und Autoren unseres Bundeslandes verantwortlich zeichnen: Juliane Blech, Christine Hoba, Simone Trieder, Margarete Wein, Wilhelm Bartsch, Christian Kreis, Werner Makowski oder André Schinkel, um nur einige zu nennen. In den kurzen Prosatexten ist manches zu erfahren vom Leben im heutigen Bulgarien, so etwa in „Kerekin“ von Velitschka Nastradinova oder in Stefan Bonevs „Kapitäne“. Die lyrischen Stimmen sind – wie in einer Anthologie nicht anders zu erwarten – vielfältig und variantenreich, eingebunden in strenges Versmaß und Reime oder in freien Rhythmen daherkommend. Die inhaltliche Palette reicht vom schlichten Liebesgedicht („Nicht das Ende der Liebe schmerzt. / Doch dass es mir nicht weh tut, tut weh.“ – Sofia Nestorova, S. 89) bis zum programmatischen Bekenntnis: „Ich bin dazu verurteilt fortzuschwimmen. / Diese Verse sollen in den 118 | Positionen | Projekte | Publikationen Ohren donnern / Der Planetenbürger – und sie sollen / Instrumente sein im kosmischen Orchester“, heißt es etwa in Minko Tanevs „Der Gong“ (S. 94, Nachdichtung: Wilhelm Bartsch). Für den Literaturunterricht zweifellos eine Fundgrube, die natürlich zunächst die wache, aber lohnende Lektüre erfordert. Im Gegenzug sind Texte von 35 Poeten und Schriftstellern aus Sachsen-Anhalt – von Wilhelm Bartsch und Dirk Bierbaß über Birgit Herkula und Diana Kokot bis zu Peter Winzer und Uli Wittstock (und darunter auch einige so um die 30) – auf Bulgarisch erschienen und künden nun in der Partnerregion vom reichen literarischen Leben in Sachsen-Anhalt. Ein schöner Brückenschlag, der in den Interlese-Veranstaltungen des Friedrich-BödeckerKreises seine jährlichen Fortsetzungen finden wird. (PDB) +++++ Walter Bauer Die Stimme. Geschichte einer Liebe Mit einem Nachwort von Jürgen Jankofsky. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2014 ISBN 978-3-940357-43-4 Geboren wurde Walter Bauer 1904 als Arbeiterkind in Merseburg. Nach einer Ausbildung zum Lehrer zunächst arbeitslos, Gelegenheitsarbeiten als Zeitungskorrespondent und Volksschullehrer. 1930, als sein berühmtestes Buch, „Stimme aus dem Leunawerk“ erscheint, lebt Bauer in Halle. Kann trotz anfänglichem Schreibverbot in der Nazizeit Romane, Gedichte, Kinderbücher und Lebensbilder berühmter Persönlichkeiten publizieren. Wird 1940 eingezogen, aus der Kriegsgefangenschaft 1946 nach München entlassen. Unzufrieden mit den deutschen Nachkriegsverhältnissen wandert er 1952 nach Kanada aus, nimmt als fast 50-Jähriger ein Studium auf und unterrichtet ab 1959 bis zu seinem Tod 1976 an der Universität Toronto deutsche Sprache und Literatur. Sein Werk umfasst über 80 Bücher. Das schmale, schön editierte kleine Büchlein erzählt über 90 Seiten lang die Geschichte eines Mannes, der in der Nachkriegszeit von Deutschland nach Kanada auswandert, um hier ein neues Leben zu beginnen. Doch das ist zunächst reduziert auf ein kleines Zimmerchen in der Großstadt, aus dem er morgens zur Arbeit in der Fabrik aufbricht und in das er abends zurückkehrt, um zu lesen und zu schlafen. Zu seinen Nachbarn und Kollegen hat er nur flüchtigen Kontakt. Er ist aus jedem Zusammenhang herausgenommen, ohne im Zusammenhang mit etwas zu leben […], auf einer schmalen Scheide zwischen zwei Kontinenten und so zwischen Vergangenheit und Zukunft; vielleicht auch zwischen zwei Mühlsteinen.“ Positionen | Projekte | Publikationen | 119 So beschreibt der Ich-Erzähler, der unverkennbare Züge von Walter Bauer selbst aufweist, das Gefühl eines Einwanderers, der ohne das Netz leben muss, das seinen möglichen Fall auffängt: Wer hier fällt, stürzt bis zum Grunde. Das ist 1961 geschrieben, aber höchst aktuell: Es ist nicht nur der Akzent, der den Tschechen, Polen, Jugoslawen, Esten verrät; es ist die Unruhe in ihnen, die Heimatlosigkeit. Als Deutscher, der als Wehrmachtssoldat selbst in die Barbarei hineingepresst war, fühlt sich der Erzähler noch einsamer als andere Einwanderer. Aus dieser Situation erlöst ihn die Liebe zu einer kanadischen Schauspielerin, die er in der Bibliothek kennenlernt und die englischsprachige Dichter auf Schallplatten spricht. Ihre Stimme bricht den Panzer der Isolierung auf und eröffnet ihm den Zugang zum neuen Kontinent: ihre Stimme war Leben, geöffnet nun von den in Versen atmenden Stimmen der Dichter. Und mir schien, als hörte ich zum ersten Mal Englisch, es war von tiefer, mächtiger, subtiler Schönheit. Damit füllt sich ihm auch die neue Sprache mit neuer Bedeutung, das Wörterbuch wird ihm plötzlich zum Buch des Lebens. Der Ich-Erzähler erzählt seine Geschichte einem deutschen Austauschstudenten, der ihn in Kanada besucht. Dieser formale Kunstgriff schafft einmal historische Distanz zum Erlebten, zum anderen Raum für Erinnerungen und lebensphilosophische Reflexionen. Dass der Angesprochene in der Erzählung nicht das Wort erhält, sondern der Text formal ein Monolog des älteren Mannes bleibt, lädt dazu ein, ihn in der unterrichtlichen Auseinandersetzung aufzubrechen, etwa indem die Schüler sich in die Perspektive des Austauschstudenten versetzen und Fragen an den Erzähler formulieren. Ansatzpunkte dafür liefert sowohl die Liebesgeschichte als auch die Migrationserzählung. Es ist gut, dass der Verlag und Jankofsky den Text aus dem Dunkel der Literaturgeschichte ausgegraben haben und dass er jetzt greifbar ist. (ES) +++++ Jana Büttner/Ludwig Schumann (Hrsg.) Ihr da! Einblicke und Ausblicke – Texte aus dem und in den Knast Eine besondere Anthologie BuchVerlag für die Frau, Leipzig 2014 ISBN 978-3-89798-470-7 Eine besondere Anthologie (wie der Untertitel besagt) ist dies zweifellos. Eine, deren Texte nicht allein nach ästhetischen Maßstäben zu bewerten sind, denn der Elfenbeinturm dieser Dichter hat vergitterte Fenster und fest verschlossene Türen. Die hier versammelten Texte dienen durchweg der Kommunikation: mit dem, der drinnen ist, mit dem da draußen und – nicht zuletzt – mit sich selbst. Dass dies nicht heimlich im Kassiber, sondern öffentlich auf literarische Weise geschieht, also durch eine absichtsvoll artifiziell geformte und genutzte Sprache, ist Verfremdung (nichts weniger als Alltagskommunikation nämlich) und Annäherung (im Ausdruck des ansonsten Unsagbaren) zugleich in Bezug auf einen Erfahrungsraum, der den meisten Menschen zeitlebens erspart bleibt: Straffälligkeit, Verurteilung, Knast. Dieses spannende Aufeinander-zu- 120 | Positionen | Projekte | Publikationen schreiben derer, die einsitzen, und derer, die außen vor sind, darf nach der Lektüre als durchweg gelungen gewertet werden. Die drinnen – das sind Strafgefangene ganz unterschiedlicher Generationen; jüngere aus der Justizvollzugsanstalt Raßnitz im Saalekreis, ältere aus der JVA Burg im Jerichower Land. Sie haben zweifellos viel Zeit dort – zum Grübeln, zum sich Langweilen oder eben auch zum Schreiben. In beiden Anstalten gibt es Schreibwerkstätten; die für die Anthologie ausgewählten Texte legen Zeugnis davon ab, was diese Form des schreibenden Nachdenkens über sich selbst ganz offensichtlich für die Betroffenen bedeutet. Der Leser erfährt keine Hintergründe – weder das Alter noch die begangenen Straftaten oder die gefällten Urteile spielen eine Rolle. Einzig der Mensch selbst tritt aus den ganz unterschiedlichen Texten – Lyrik, Kurzprosa, Reflexionen oder szenische Skizzen – hervor, die mitunter in ihrer drastischen Offenheit schockieren, da sie weder den Verfasser noch den Leser schonen. „Mein Tod wird meine Erlösung. / Es war eure Falschheit, / die sie rief: / Meine schwarze Seele“, endet Andy Rockenschuhs lyrischer Text „Rasierklingen – Poesie“ (S. 93ff). In seinem die Anthologie beschließenden eher essayistischen Text „Integrieren oder Ausstoßen?“ wird derselbe Rockenschuh dann mögliche Perspektiven nicht nur andeuten, sondern einfordern: „Wir sehnen uns danach, eine zweite Chance zu erhalten, um zeigen zu können, dass dieses Leben hier drin, das Nachdenken über die Tat uns verändert hat. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir möchten unsere Zukunft wieder gestalten. Deshalb will ich es noch mal laut und deutlich sagen: Auch wir gehören zu unserer Gesellschaft.“ (S. 201) Kommunikationspartner von außen sind – neben Autorinnen und Autoren unseres Landes wie Sabine Raczkowski, Jana Büttner, Helmut Bürger oder Ludwig Schumann – Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 9 bis 11 aus der Magdeburger IGS „Willy Brandt“ sowie der Sekundarschule „Hinrich Brunsberg“ Tangermünde. Die Jugendlichen reflektieren in ihren fiktionalen Texten Alltagssituationen und Verhaltensweisen, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Häufig in der Ich-Form verfasst, vermitteln diese Texte noch in der subjektiven Verteidigungshaltung die Erkenntnis ihrer Figuren, für ihr Handeln selbst verantwortlich zu sein. Häufig ist Alkohol im Spiel, Frust, Wut und Gewalt. Doch es bleibt der Funken Hoffnung, dass es nach Verbüßung der Strafe einen Neuanfang geben werde. Hier begegnen sich die Texte und Sichten derer, die draußen sind, mit denen da drinnen. Die vom Friedrich-Bödecker-Kreis und der Landeszentrale für politische Bildung geförderte Anthologie, der einzig die winzige Schrift anzukreiden wäre, sollte unbedingt Eingang in den Unterricht finden. Der Ethikunterricht oder der Wahlpflichtkurs Rechtskunde finden hier unverbrauchtes Material, das emotionale Zugangsmöglichkeiten zu schwierigen Themen wie Verbrechen und Gesetz, Schuld und Sühne, Strafe und Neuanfang ermöglicht. Auch wenn es zweifellos nicht ganz einfach ist, dürfte es lohnend sein, diese Angebote zu erproben. (PDB) Positionen | Projekte | Publikationen | 121 Sebastian Caspar ZONE C Klak-Verlag, Berlin 2014 ISBN 978-3-943767-23-0 Die Herstellung von Amphetaminen, zu denen auch das Rauschmittel Crystal Meth gehört, hat weltweit zugenommen, so kann man es u. a. dem Weltdrogenbericht der Vereinten Nationen entnehmen. Auch in Deutschland ist die Zahl der Konsumenten rasant angestiegen, in einigen Regionen Deutschlands ist der Konsum von Crystal Meth besonders hoch: in jenen Ländern, die in der Grenzregion zu Tschechien liegen. Dort wird die Modedroge in kleinen Laboren billig hergestellt und dann für wenig Geld nach Deutschland gebracht. Sachsen gehört zu diesen Ländern, Sachsen-Anhalt, Thüringen sowie Bayern. Ein Gramm Crystal kostet zwischen 60 und 80 Euro, verglichen mit illegalen Rauschmitteln ist das günstig. Die Wirkung und der Preis – das ist eine fatale Kombination, so der Notfallmediziner und Chefarzt Hendrik Liedtke am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara Halle im Interview in der Mitteldeutschen Zeitung vom 14.11.2014. Ebenfalls in diesem Artikel wird bekräftigt, dass die Konsumenten zu jeder sozialen Gesellschaftsschicht gehören, es somit keine Droge für Loser und Aussteiger ist. Das künstlich hergestellte Amphetamin macht euphorisch, führt zu einem gesteigerten Rede- und Bewegungsdrang, zu einem erhöhten Sexualverhalten, es stört den Schlaf- und Wachrhythmus; der Konsum kann auch aggressiv und gewalttätig machen. Methamphetamine schluckten bereits deutsche Soldaten in den 1930er und 1940er Jahren. Als Pervitin hatten diese Tabletten zwar eine deutlich geringere Wirkstoffkombination als heute, doch sie unterdrückten das Angstgefühl und machten die Soldaten skrupelloser und leistungsfähiger. Die Herstellung synthetischer Drogen hat auch ein populäres filmisches Vorbild: in der amerikanischen Fernsehserie „Breaking Bad“ wird jemand aus Geldnot zum Drogenhersteller, ohne vorher ein krummes Ding gedreht zu haben. Crystal Meth bereitet den Suchtforschern zunehmend Sorge. Gefährlich ist vor allem die psychische Abhängigkeit: Crystal kann zu Hirnschäden, Angstzuständen und Psychosen führen. Erst mit zunehmendem Konsum zeigen sich die körperlichen Folgen der Abhängigkeit. Im Internet gibt es viele Berichte über die Droge und die Abhängigkeit. Dabei liest man immer wieder, dass sich die Experten über die wirksame Prävention uneins sind. Für die einen sind abschreckende Bilder verstörend, andere sprechen auf Informationsbroschüren an und wieder andere lassen sich vielleicht von glaubhaft wirkenden Romanen beeinflussen. Da für die meisten Jugendlichen der Drogenkonsum in der Schulzeit beginnt, ist der von Sebastian Caspar geschriebene Roman für den Einsatz im Unterricht der Oberstufe zu empfehlen. Er nimmt den Leser mit in die Welt eines Drogenabhängigen, in dessen falsches Gefühl vom Glücklich sein, erzählt von der Einsamkeit und des immer stärkeren Abstumpfens eines Menschen, dessen Leben immer weiter durch Crystal zerstört wird. Bereits die Gestaltung des Covers weist auf‘s Thema hin: farblose Kristalle, etwas größer als Salz. Der Autor stammt aus Weißenfels, jobbte mehrere Jahre in Australien, Indonesien und China, jetzt lebt er in Leipzig, ist als Sozialarbeiter tätig. In „Zone C“ schildert er auf 153 Seiten das Leben des 19-jährigen CrystalAbhängigen Sten. Der Protagonist und Ich-Erzähler lebt mit seiner depressiven Mutter – der Vater hat beide verlassen, um mit einer anderen Frau in Asien ein neues Leben zu beginnen – in einer nicht näher beschriebenen recht tristen Kleinstadt im Osten Deutschlands. „Ja, diese Stadt hängt in ihren letzten Atemzügen und ich bin immer noch hier.“ (S. 15) Seinen Job hat er verloren. „Beim Nachsinnen über eine berufliche Zukunft, die 122 | Positionen | Projekte | Publikationen ja angeblich sogar Spaß machen kann, herrscht gähnende Leere in meinem Kopf… Ach, warum bin ich nicht irgendwo im Dreck geboren? Wäre das ein Segen. Am Tag zwanzig Kilometer zu einer Wasserstelle laufen zu müssen, bringt einen bestimmt auf andere Gedanken. Ich komme mir immer öfter so überflüssig vor…“ (S. 19). Sein Opa, den er mochte, ist gestorben. Seine Freundin Asic, die mit ihm gemeinsam Crystal konsumiert hat, trennt sich von ihm, geht zum Studium in den Westen und entkommt damit vermutlich dem Drogensumpf. „Ich weiß, dass ich es nicht schaffe loszukommen. Loszukommen von dem ganzen Scheiß, doch ich wünsche es mir für Asic…, dass Asic heil aus der Nummer rauskommt.“ (S. 47) Sten vermisst Asic sehr und er hat seither mehr oder weniger bedeutungslosen Sex. „Auf C ist man nicht fähig zu lieben. Auf C ist man roh, ungeschliffen, ohne aufgesetztes und erlerntes Rollenverhalten, so missbraucht man sich und das Gegenüber. Man ist allein, an schlimmen Tagen sogar so sehr, dass man spürt, sich selbst verlassen zu haben.“ (S. 28) Sten fühlt sich mit all den Dingen überfordert, er droht an der Wirklichkeit zu zerbrechen und entkommt dem Alltag, indem er Drogen konsumiert. Doch diese Erlösung ist nur kurzfristig und die vernichtende Abhängigkeit nimmt weiter zu, Line um Line. Seinen Stoff bezieht er von Kumar. Dessen Freundin Lousenne beschafft sich ihre Drogen im Asylantenheim, bezahlt diese mit ihrem Körper. Einzig mit seinem Freund Monti verbringt er unbeschwerte Zeiten, doch auch das ist trügerisch. Die Sprache des Romans ist direkt, teilweise drastisch, so wie die Sprache des Milieus. Aber sie ist auch poetisch: „Ich wende mich zu dieser traurigen Frau und betrachte ihr Kind, eine Unschuld, welche mit blauen Augen hoch in den Kosmos blickt.“ (S. 17) Über diesen interessanten Schreibstil gelingt es dem Autor, dass der Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten Sten eintauchen und mitfühlen kann. Es ist kein Buch, das ausschließlich auf die Gefahren durch Drogenmissbrauch hinweist, sondern es ist eher das Porträt einer verzweifelten und hoffnungslosen Jugend, die trotz aller Möglichkeiten ohne Perspektive ist. Es fordert den Leser dazu auf, sich Gedanken zu machen, beispielsweise darüber, welche Gründe es für Sucht gibt, wie gut Eltern sich um die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern, ob es mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter im schulischen Umfeld geben müsste und Fragen nach der Verantwortung von Politik und Gesellschaft für die Zukunft der nachfolgende(n) Generation(en) zu stellen, aber natürlich auch nach der Verantwortung jedes Einzelnen für das eigene Leben und die eigene Zukunft. (SG) Positionen | Projekte | Publikationen | 123 Daniela Danz V. Gedichte Wallstein Verlag, Göttingen 2014 ISBN 978-3-8353-1377-4 Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren. Sie studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur unter anderem in Halle, wo sie in der Kunstgeschichte auch promovierte. Bisher veröffentlichte Daniela Danz, die als freie Autorin in Kranichfeld/ Thüringen lebt, Lyrik, Prosa und Essays. Seit 2013 ist sie zudem als Leiterin des Schillerhauses in Rudolstadt tätig. Das Vaterland ist obsolet geworden: Im Zeichen Europas und der Globalisierung wird es ein zunehmend fremder Begriff, allenfalls beim Absingen der Nationalhymne noch in den Mund genommen: blühe, deutsches Vaterland! Historisch belastet ist der Begriff außerdem, seitdem man für Führer, Volk und Vaterland gestorben ist. So dass selbst die gerade wiedererwachten Retter des Abendlandes lieber auf das harmlos klingende Synonym patriotisch ausweichen. Was also ist das Vaterland heute? Daniela Danz hatte den Mut, es zum Thema ihres dritten Gedichtbandes zu machen, das sie im Titel mit dem Kürzel „V“ aufruft: ein spröder Titel, zumal für einen Gedichtband, so spröde, wie uns Heutigen die Sache selbst; eine Art V-Effekt, der Distanz signalisiert. Genau so setzt das erste Gedicht auch ein: DAS IST DAS LAND VON DEM MAN SAGT / dass alles hier aufhört und alles anfängt; ein leeres Land, das die Dichterin morgens bekniet und abends verbellt. Von Liebe zu diesem Land ist da keine Rede, und auch die Definition des Begriffs aus „Zedlers Universallexikon“, die Danz der folgenden Gedichtgruppe voranstellt, spricht nur distanziert davon: Man hälts insgemein dafür, daß dem Menschen von Natur eine Liebe gegen sein Vaterland eingepflanzt sey, und daß in Krafft solcher Liebe er seinem Vaterlande, da ihm zumahl die erste Lufft, Nahrung und Erziehung gegeben, mit gar besondern Pflichten verbunden sey. principium ist diese erste Abteilung überschrieben, die in fünf kurzen Prosatexten den mythischen Ursprung des Vaterlandes umkreisen. Am Anfang des Mythos stehen DIE HELDEN, die einander bekämpfen, würgen und abschlachten, dann setzen die Männer Pfähle und legen so die Grenzen der lyrisch als wir auftretenden Gemeinschaft fest, deren Raum damit DER KREIS ist: ein Raum ohne Dach, in dem es nach Winter riecht. Auch wenn dann DIE EINZELNEN auftreten, wird er nicht heimeliger, denn sie kommen als Bedrohung der Gemeinschaft, die in den BIENEN das Inbild der Einigkeit sieht. In DIE STELE, dem fünften Text, zerbricht diese archaisch-mythische Gemeinschaft; just in dem Moment, da sie sich ein Erinnerungsmal setzen und auf der Stele ihren Grundspruch eimeißeln will, entsteht Streit: Wir begannen, die Häuser voreinander zu verschießen. Es wurde nur noch wenig geredet. Schwer und dumpf sind diese Bilder, wie die Pfähle, mit denen sich die mythische Gemeinschaft ihren Anfang und ihre Grenzen setzte. Die folgenden Gedichte, meist freie Verse oder odenhafte Strophen, springen in die Gegenwart, in den Raum zwischen Leißling und Weißenfels oder ins ehemalige Sperrgebiet bei Eisenach – patria heißt dieser Teil des Bandes, wo es um Deutschland geht, das, im Gegensatz zur mythischen Vorzeit, genauere Grenzen hat, dessen Hügel und Almen wie abgeschliffen und gefaltet sind. Im Gedicht HIER erscheint es im Bild eines alten sterbenden Mannes, dessen Atem die Zeit in kurze Stücke brach, vor dem wir dürftig stehen und nichts von uns was bis hinüber reichte. Wenn Danz Deutschland sagt, hat sie 124 | Positionen | Projekte | Publikationen immer auch den Brandgeruch der Erinnerung in der Nase: Wie geht erinnern ohne zu vergessen, das muss jede Generation wieder lernen, in deren Namen das Gedicht „WIR LEBEN. WIR SIND FÜR ALLES.“ spricht und in dem sich auf Deutschlands Leichtigkeit die Bilder der Erinnerung wie Ruß legen. Von außen besehen aber, für Flüchtlinge, die staatenlosen Schneebienen mit einer riesigen Gier / auf alles Süße, ist Deutschland DER GUTE STAAT. Mit ihnen, für die das Bild der Dohle stehen mag, die im dritten Teil des Bandes angesprochen wird, begibt sich die Dichterin im dritten Teil des Bandes, überschrieben mit limen, auf eine Reise, über die Grenzen hinweg, nach einem neuen Vaterland. Um in cunabula, der letzten Gedichtgruppe, anzukommen in der Heimat (denn das ist die Übersetzung des lateinischen Wortes) und am Ende auszublicken auf eine Landschaft, die sie nach dem halleschen Stadtteil FROHE ZUKUNFT benannt hat; eine Landschaft; umgrenzt / vom fassbaren Glück des Gewöhnlichen, aber offen wie ein Fenster. Und um schließlich zu loben den Staat, in dem ich den Ort zu leben wählen kann. Wie schon in pontus, ihrem vorherigen Band, handelt es sich auch in V letztlich um politische Lyrik; teilweise mit ganz direkten politischen Bezügen. Das kommt nicht platt-plakativ daher, sondern reflexiv- intellektuell, in ungewohnten, zum Teil schwer nachvollziehbaren Bildern. So werden Schüler auch der Sek II sie wohl kaum auf ihre Lebenswirklichkeit übertragen können. Am ehesten vielleicht in einem kurzen Text aus der Abteilung patria, der eine Quintessenz des Bandes sein könnte. In ihm wird das Bild der Linde aus dem romantischen Volkslied von Wilhelm Müller Am Brunnen vor dem Tore aufs Heute transponiert, als LOOP (so wird in der Musikbranche ein oft wiederverwendetes Muster bezeichnet). Für die als STUNDE NULL evozierte Gegenwart ist es eine Art Abschiedslied vom Vaterland – nicht wehmütig wie das Original, sondern eher heiter-ironisch. Da lohnt der Gedichtvergleich! STUNDE NULL.: LOOP Die Linde hat all ihre Blätter verloren Und vom Sommer blieb nichts als Der Wunsch dem alten Deutschland Noch einmal den Kopf zu kraulen Und zu versprechen dass seine Enkel Sich besser erinnern werden – was nützt Ein Gedicht wo die anwachsenden Berge der Dinge zum Jodeln zwingen (ES) Positionen | Projekte | Publikationen | 125 Rüdiger Fikentscher (Hrsg.) Lernkulturen in Europa Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 ISBN 978-3-95462-312-9 Es ist bereits der zehnte, der Jubiläumsband also der von Rüdiger Fikentscher im Mitteldeutschen Verlag herausgegebenen Reihe „Kulturen in Europa“, der sich mit der „eigentlichen Herausforderung des 21. Jahrhunderts“ (so der Text auf dem Einband) befasst, mit der Bildungsgesellschaft in ihrer heutigen Vielfalt und ihrer historischen Dimension. Das Dutzend Aufsätze namhafter Autorinnen und Autoren (darunter zahlreiche Vertreter der halleschen Universität wie Ursula Rabe-Kleberg, Reinhard Kreckel, Thomas Müller-Bahlke oder Altbischof Axel Noack) widmet sich herausgehobenen Aspekten der europäischen Bildungsgeschichte und gibt auf den rund 200 Seiten der handlichen Broschüre einen informativen Überblick, der natürlich nicht auf Vollständigkeit angelegt sein kann, wohl aber wesentliche Epochen (wie die griechische und römische Antike, das Mittelalter oder den aufklärerischen Aufbruch des 18. Jahrhunderts) und inhaltliche Leitlinien in knapper Form vorstellt. So erfährt man etwa, dass im Gymnasion der griechischen Polis vor allem der körperliche Wettstreit und eine unerbittliche Konkurrenz im Mittelpunkt standen, die die Bildungsstätten als „eine Mischung von preußischer Kadettenanstalt, Kinder- und Jugendsportschule der DDR und moderner Oberschule mit musischer Ausrichtung“ (S. 19) vorstellbar machen. Oder dass die Frage „Sind Frauen studierfähig?“ noch im Jahr 1895 höchst ernsthaft untersucht und diskutiert wurde (S. 146ff). Mal richtet sich der Fokus auf ausgesprochen regionale bzw. lokale Aspekte wie etwa den Realienunterricht an der pietistischen Lehranstalt August Hermann Franckes oder das von Basedow begründete Dessauer Philantropinum; andererseits wird dabei stets nach der Brücke in unsere Gegenwart gesucht, und der Blick über unseren abendländischen Tellerrand ist durch die Beschäftigung mit jüdischer (S. 85ff), islamischer (S. 114ff) oder arabischer (S. 184ff) Lernkultur ebenfalls garantiert. Einziges Manko aus meiner Sicht ist die fehlende Betrachtung aktueller skandinavischer Lernkulturen, die dem allgemeinen Verständnis nach Maßstäbe setzen hinsichtlich einer vom Sozialstatus oder dem Geschlecht unabhängigen Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen (nur bei Rabe-Kleberg findet sich ein diesbezüglicher Hinweis). Spannend auch die aktuelle pädagogogische Diskussionen aufgreifende Auseinandersetzung von Ingo Juchler mit PISA und der – seiner Auffassung nach – einseitigen Ausrichtung „schulischer Bildungsbemühungen an ökonomischen Nützlichkeitserwägungen …, die das Leitmotiv pädagogischen Handelns in der Demokratie, die Erziehung zur Mündigkeit, zu konterkarieren droht“ (S. 179). Sicher, man wird nicht jede in der Anthologie geäußerte Meinung teilen; anregend sind sie allemal. Auch wenn es in Sachsen-Anhalt den in anderen Bundesländern angebotenen gymnasialen Wahlkurs zur „Pädagogik“ leider nicht gibt, eignet sich das schmale Büchlein doch in hervorragender Weise als Studienmaterial der gymnasialen Oberstufe für die Wahlkurse „Psychologie“ oder „Philosophie“ ebenso wie für Lehrinhalte der Fächer Geschichte, Ethik, Sozialkunde, Griechisch oder Latein – ganz abgesehen davon, dass man von der unterhaltsamen Lektüre keinesfalls dümmer werden kann… Und auch Lehrkräften, die mehr über das Woher und Wohin ihrer eigenen Profession erfahren wollen, seien die informativen Aufsätze wärmstens empfohlen. (PDB) 126 | Positionen | Projekte | Publikationen Jürgen Jankofsky Ortungen IV. Reisen und Ziele 2010 – 2014 dr. ziethen verlag, Oschersleben 2014 ISBN 978-3-86289-075-0 Die römische IV im Titel verweist darauf, dass Jankofsky (geb. 1953) nicht erst am Übergang ins siebente Lebensjahrzehnt zum Globetrotter geworden ist; Rezensionen seiner zuvor erschienenen Ortungs-Bände finden sich auch in früheren Lesefutter-Ausgaben. Und natürlich bleibt sich der Autor auch im vierten Band treu: Wer touristische Reisebeschreibungen erwartet, ist hier (weitgehend) fehl am Platze. Zwischen Tagebuchnotiz, analogem Blog und literarischem Essay changiert der mäandernde Textfluss, um mal kaskadenhaft über die Tage hinwegzuspringen, mal aufgestaut zu werden zu einem verbreiterten, vertieften Eintauchen in die subjektiv gebrochene Wirklichkeit, die allein – so wird ein gewisser Samuel Johnson (es bleibt offen, ob es sich um den großen britischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts handelt?) einleitend zum Sinn des Reisens zitiert – „unsere Fantasien … zu korrigieren“ vermag: „Statt uns die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte, sehen wir sie, wie sie wirklich ist“. Dieser Anspruch treibt ganz offensichtlich auch Jankofsky um, den nicht die exotische Hochglanzoberfläche interessiert, sondern der Blick hinter diese Kulissen. Der fällt besonders spannend dort aus, wo der Normalo wie du und ich eher nicht seine Zeit verbringen (würde): Armenien, Georgien, Berg-Karabach, die (so der Nachrichten-O-Ton) abtrünnige Kaukasus-Region etwa, oder die nach eigenem Verständnis letzte Sowjetrepublik Transnistrien, wo Jankofskys Beobachtungen aus dem Jahr 2013 bereits die Ukraine-Krise ahnen lassen, aber auch Mittel- und Südamerika, wo der Blick weniger dem weißen Palmenstrand gilt, sondern eher der Kriminalität, der Armut, der Arbeit und dem Schmutz. Viele der Reisen haben bei Jankofsky ohnehin einen literarischen, ja einen kulturpolitischen Hintergrund: Der Landesgeschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises ist seit Jahrzehnten bemüht, internationale Autorenkontakte zu knüpfen und zu pflegen, was in Zeiten klammer Kassen (man lese die ernüchternden Zeilen auf S. 89) zweifellos eine wahre und nicht immer von Erfolg gekrönte Sisyphusaufgabe ist. Doch da wir seit Albert Camus wissen, dass wir uns den unermüdlichen Steineroller als glücklichen Menschen vorstellen dürfen, kann wohl auch Jankofsky gar nicht anders als gerade im scheinbaren Nichts- und Niemandsland literarische Brücken zu bauen, so fragil und gefährdet sie auch sein mögen. Und selbst Regionen, die in der Tourismusbranche einen guten Klang haben wie Sri Lanka oder die Malediven, werden historisch wie politisch reflektiert, sodass sich die Schilderungen der Landschaft und der Leute immer wieder mischen mit gut recherchierten Informationen zu den Hintergründen und Zusammenhängen. Für einen ambitionierten Geografie- und/oder Geschichtsunterricht stellt Jankofskys Buch damit eine Fundgrube dar, wenn auch keine ganz leicht zu erschließende – ein Inhaltsverzeichnis fehlt (aus Prinzip?) ebenso wie ein Orts-, Personen- oder Schlagwortregister. Das macht die Lektüre selbst zu einer spannenden und entdeckungsreichen Reise, was wiederum den Deutschunterricht bereichern kann, offenbart das Buch doch auch die Vielfalt der Möglichkeiten, mit Sprache zu arbeiten und dabei die Präzision des Ausdrucks keinesfalls der künstlerischen Poesie opfern zu müssen. Ich bin sicher, dass in einigen Jahren Jankofskys Ortungen mit der römischen Fünf da fortsetzen, wo dieses Buch nach gut 140 unterhaltsamen Seiten endet. (PDB) Positionen | Projekte | Publikationen | 127 Jürgen Jankofsky (Hrsg.) ENTRÉE ELYSÉE! Texte junger Autorinnen und Autoren aus Sachsen Anhalt dorise-Verlag, Erfurt 2013 ISBN: 978-3-942401-63-0 „Entrée Elysée!“ lautete das Thema eines Schreibaufrufes vom Friedrich-BödeckerKreis Sachsen-Anhalt e. V. anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Jahr 2013. In Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg wurden für die vorliegende Anthologie 26 deutsche und acht französische Texte ausgewählt, in denen sich individuelle Erfahrungen junger Leute mit der französischen Kultur und Geschichte widerspiegeln. Ohne Form- und Genre-Vorgabe stellen die Texte vom Elfchen bis zum mehrseitigen Erlebnisbericht ein eindrückliches Zeugnis von unvoreingenommener Begegnung mit der benachbarten Kultur dar. Die jungen Autor/-innen nähern sich ihren Themen auf sehr individuelle und kreative Weise: Freundschaft, Verliebtsein, Sinn- und Identitätssuche, Begegnungen, Landschaftsimpressionen, Sehnsucht, aber auch die Schrecken des Krieges werden in Texten und Gedichten beschrieben. Freundschaften haben keine Grenzen, auch keine Ländergrenzen, Sprachgrenzen oder Kulturgrenzen, so bilanziert Pauline optimistisch, die beim Schüleraustausch eine Freundin fürs Leben gewonnen hat. In ‚Le mouton‘ – das Schaf – wird die ‚wundervolle melodische‘ Sprache gerühmt und in den acht französischen Beiträgen eindrücklich gezeigt, wie sich damit experimentieren lässt. Im ‚Deutsch-Französischen Elfchen‘ greifen Neuntklässler/-innen stabile deutsch-französische Klischees auf; während eine andere Autorin auf wenigen Zeilen gekonnt ein atmosphärisches Bild einer Begegnung von de Gaulle und Adenauer entwirft, bei der sich politische Konflikte in privaten Ressentiments entladen. Im Bericht über ihre Seminarfahrt ‚Terres, Hommes et Mémoires‘ beschreibt Laura auch historische Stationen, die den unfassbaren Schrecken des Krieges offenbaren: Mont Valerian mit Exekutionsstelle für Widerständler und Abschiedsbriefen der Opfer, Verdun und das Gebeinehaus von Douaumont. Der Bericht berührt durch die bemüht sachliche Beschreibung, die durch die Verwendung weniger Adjektive gebrochen wird. Die 15-jährige Franka aus Gräfenhainichen überrascht in ihrem Text ‚La Deutsche, der Francis et der Voleur‘ mit der Vermischung beider Sprachen. Sie kombiniert deutsche und französische Wörter und ermöglicht darüber auch Lesern ohne französische Sprachkenntnisse, in ihrer Geschichte den Dieb zu finden. Wenn Pauline schreibt, dass ‚Welten und Grenzen durchbrochen werden können, denn der Mut etwas zu tun, ist die Brücke. Des amis sont comme: Freunde sind wie Sterne‘, bleibt der Leser voller Hoffnung zurück, dass das, was auf politischer Ebene auch nach 50 Jahren Elysée-Vertrag konflikthaft bleibt, Jugendlichen beider Länder über Austausch und Kommunikation gelingen möge. Jürgen Jankofsky arbeitet seit Jahren für und mit Kindern. Das Werk des in Leuna lebenden Schriftstellers (Jahrgang 1953) umfasst viele Bücher für Kinder, aber auch Bücher, die er mit Kindern gemeinsam erarbeitet und/oder für sie zusammengestellt hat. Seit 2000 ist er Geschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises Sachsen-Anhalt e. V. und seit 2006 stellvertretender Vorsitzender der Bundesvereinigung der Friedrich-Bödecker-Kreise. Außerdem ist er Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und in der Europäischen Autorenvereinigung KOGGE. (SK) 128 | Positionen | Projekte | Publikationen Christoph Kuhn Im Gegenlicht. Erzählungen Verlag Typostudio SchumacherGebler, Dresden 2014 ISBN 978-3-941209-29-9 Der Autor Christoph Kuhn sammelte seine ersten Schreiberfahrungen in Dresden. 1951 in der Elbmetropole geboren schloss sich der gelernte Augenoptiker einem „Zirkel schreibender Arbeiter“ an. Während der Zeit seiner beruflichen Tätigkeit an den Augenkliniken in Dresden und Halle trat er in zwei Foto-Lyrik-Ausstellungen bereits als Lyriker an die Öffentlichkeit. Zwischen 1984 und 1987 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig und engagierte sich bis 1989 in kirchlichen ökologischen Arbeitsgruppen in Dresden und Halle. Seit 1989 arbeitet Christoph Kuhn als freier Autor. Er lebt in Halle, wo er 1995 auch Stadtschreiber war. Seine Erinnerungen an das Leben in der DDR und die Friedliche Revolution bilden den Hintergrund zu den Themen, die der Autor in unterschiedlichen literarischen Formen aufgreift. 2014 erschien in der Dresdener edition petit dieser neue Erzählband. „Gewinnen, kann Verlieren sein, Verlieren Gewinnen“ stellt der Dresdner Fotograf Bernhard fest, der mit seinen Bildern von den Ereignissen des Herbstes 1989 in der Fremde großen Erfolg hatte, doch den Verlust der Heimat nicht verwinden konnte. Der Rückgewinn der Heimat wiederum ging einher mit dem Verlust seiner sicheren Existenz. Nun wird auch die Industrieruine, in der er sich eingerichtet hatte, gesprengt. Die Erfahrung der engen Verflochtenheit von Gewinn und Verlust vereint alle Protagonisten in Christoph Kuhns themenreichem Erzählband „Im Gegenlicht“. Sie leben in einer bequemen, modernen und geordneten Welt, deren Kehrseite sich mehr und mehr ins Bewusstsein drängt. Manchmal geschieht dies durch äußere Anstöße, wie im Falle eines seltsamen Handy-Diebes, der den übereifrig Telefonierenden die Regeln zwischenmenschlicher Kommunikation ins Gewissen ruft, manchmal verselbstständigen sich die von den Figuren selbst in Gang gesetzten Entwicklungen, wie im Fall des Musikers Jan, der doch eigentlich nur seiner Freundin zu einer ruhigen Nacht verhelfen wollte. Christoph Kuhn bleibt in seinen Erzählungen oft nah an seinen Figuren, lässt uns das Geschehen um sie her mit ihrem Blick wahrnehmen, wie in der Geschichte um die Baumschützerin Lea, mit der wir das Ringen um den Erhalt der Rotbuche am Bauplatz der Dresdner Waldschlösschenbrücke miterleben. Gerade die dichte, sachliche und schnörkellose Sprache der Erzählungen lässt dabei eindringliche Bilder entstehen. Selbst die fiktive Reflexion eines Computers über sein wachsendes Selbst-Bewusstsein oder der stumme Rachefeldzug der Pflanzenwelt eines Hausgartens – zwei erzählerische Miniaturen – wirken so erstaunlich realistisch. Wo sich Alltagsszenerie und fiktives Geschehen gleichnishaft durchdringen, wie in der Auftakterzählung „Der Besuch“, bietet sich breiter Spielraum für Interpretationen, die zur Diskussion herausfordern. Wie absurd Gewinn und Verlust ineinander verwoben sein können offenbart jedoch vor allem die Titelerzählung „Im Gegenlicht“. Hier muss der Protagonist dem Verlust seines Lebens entgegensehen und gewinnt es fast gleichzeitig für die verbleibende Zeit in höchster Intensität zurück. Die plötzliche Nähe des Todes macht ihm das Glück deutlich, zu leben. Der Erzählband ist mit schwungvollen Pinselzeichnungen von Andreas Hegewald, die ganz eigene Akzente setzen, sehr angenehm gestaltet. Er bietet dem an aktuellen Lesestoffen interessierten Deutschunterricht sowohl Möglichkeiten zu interessanten literarischen Diskussionen als auch Anregungen für textproduktive Verfahren. Insbesondere die Kürze der Texte lädt dazu ein, im Rahmen des Unterrichts mit ihnen umzugehen. (AA) Positionen | Projekte | Publikationen | 129 Hans-Jörg Schönherr/Christoph Kuhn 1986 | 1996 Sprüche aus Asche Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 ISBN 978-3-95462-333-4 Achtung – dies ist kein Bild-Text-Band im herkömmlichen Sinne! Hier eröffnen sich vielmehr durch Wort und Bild unterschiedliche, gleichwohl verwandte Perspektiven auf eine Gesellschaft und ihr Selbstverständnis, zu dem wir alle beitragen: durch Erinnerungen, durch Er- und Verklärungen, durch Hin- wie Wegschauen, durch selbstkritische Reflexion oder selbstherrliche Ignoranz. Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt und die Landeszentrale für politische Bildung haben die Herausgabe dieses aufschlussreichen Buches dankenswerterweise unterstützt, was – aus schulischer Perspektive – eigentlich schon die Richtung vorgibt: Hier erfolgt politische Sozialkunde am konkreten Beispiel, was sowohl die pointierten, mitunter an Reiner Kunzes entlarvende Prosa der 1970er Jahre erinnernden Texte von Christoph Kuhn als auch die für sich sprechenden Fotografien betrifft. Durchgängiges Prinzip der Fotos des 1950 in Dresden geborenen Hans-Jörg Schönherr ist der 10-Jahres-Vergleich von Lokalitäten im mitteldeutschen Raum, wobei das zwischen den Aufnahmen liegende Jahrzehnt die friedliche Revolution von 1989, das Ende der DDR, die deutsche Einheit von 1990 und den damit verbundenen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel beinhaltet: Abbruch, Aufbruch und Umbruch im persönlichen wie im politischen Leben. Bewusst ausgespart in diesen Bildern wird der dem Wandel unterworfene Mensch – hier sind es allein die Orte und vor allem die ihnen eingeschriebenen Botschaften, seien es Parteilosungen oder Werbeslogans, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zum jeweiligen Kontext so entlarvend wirken, dass es keiner zusätzlichen Verbalisierung bedarf. Für diese Ironie einen Blick, der die Wahrnehmung schärft und die Kritikfähigkeit, zu entwickeln sollte ein guter Ansatz für den Unterricht sein! Christoph Kuhn, 1951 ebenfalls in Dresden geboren, lebt seit langem als freier Autor in Halle. Es ist durchaus nicht kalauernd gemeint, wenn ich sage, dass sein ursprünglicher Beruf als Augenoptiker der Genauigkeit seines Blicks zugutekommen dürfte. Kuhns Texte gehören jedenfalls seit Längerem zum profiliertesten, was die Literatur unseres Bundeslandes zur eigenen jüngeren Geschichte beizutragen hat. Seine Zusammenarbeit mit dem Fotografen Schönherr reicht übrigens bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Diese „Sprüche aus Asche“ siedelt der Autor zwischen alltagsbezogener Lakonie („Kreuzwort“, „Der Abreißkalender“ oder „Deckname Sommer“) und fast philosophischer Reflexion („Vom Dunklen ins Licht?“ oder „Die Notwendigkeit der Erinnerung“) an. „Es ist nötig, sich zu erinnern – nicht nur an Ereignisse und Fakten, sondern auch an die damit verbundenen Gefühle“, schreibt Kuhn programmatisch, an Faulkners „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ erinnernd oder an Heines Erkenntnis, der heutige Tag sei ein Resultat des gestrigen. Die Lektüre und Betrachtung dieses wichtigen Buches bietet dafür die Möglichkeit und offenbart zudem (man lese aufmerksam den Text „Die Notwendigkeit der Erinnerung“ ab S. 81) Erkenntnisse, aus welchen Quellen sich Politikverdrossenheit, Argwohn gegenüber den etablierten Medien und Zulauf für Pegida heute speisen. Und wenn Kuhn dort vor einer Zukunftsangst, die sich mit Geschichtsvergessenheit verbindet, warnt, so ist dies von höchster Aktualität und Brisanz, denn „Jugendli- 130 | Positionen | Projekte | Publikationen che wissen erschreckend wenig von jüngster Zeitgeschichte“, weiß der Autor, der häufig und gern zu Gast in Schulen ist, aus eigener Erfahrung. Dieses Buch könnte zu einer Verbesserung dieser unbefriedigenden Situation beitragen, gerade weil es einen über das Faktische hinausgehenden Zugang zur Thematik ermöglicht. Insofern wünscht man sich eine Fortsetzung dieser Publikation im Dezennienschritt, um – quasi als literarisch-fotografische Langzeitstudie – Entwicklungen sichtbar zu machen, die bei aller zeitgeschichtlichen Dimension einer gewissen Komik oft nicht entbehren. (PDB) +++++ Ernst Ottwalt Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben einer nationalgesinnten Jugend Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Eger Hasenverlag, Halle 2014 ISBN 978-3-945377-03-1 Ernst Ottwalt, geboren 1901, kommt 1916 als Gymnasiast nach Halle, wo er als Mitglied des Freikorps an den Märzkämpfen teilnimmt. Danach wendet er sich dem Marxismus zu und wird in Berlin zum linken Autor und Publizisten, Zusammenarbeit u. a. mit Bertolt Brecht. 1933 geht Ottwald ins Exil, zunächst in Dänemark und Prag, später in Moskau, wo er 1936 verhaftet wird und 1943 in einem stalinistischen Straflager stirbt. Durch und durch autobiografisch ist dieser Roman über einen Gymnasiasten, der, um der Schule zu entgehen und sich wichtig zu fühlen, im März 1919 dem Freikorps Halle beitritt. Denn die „Latjer“ (Ottwalt übernimmt hier den halleschen Ausdruck) beherrschen die Straße, was dem Bürgersohn Angst macht, vielleicht nur vor der feindlichen Leere, die hinter dem Begriff Revolution droht. Dass wir z. B. in einigen Tagen keinen Kaiser mehr haben werden – das ist ihm, als bekäme man plötzlich keine Luft mehr. So wartet er zusammen mit anderen Pennälern, Studenten und jungen Angestellten im Fabrikviertel Halles darauf, Heldentaten zu vollbringen, ist dort aber zunächst weit ab vom Schuss und verbringt die meiste Zeit mit Faulenzen, Karten spielen und Saufen. Als die Lage sich beruhigt, lässt er sich vom Freikorps als Spitzel anwerben, der die Vorbereitung der nächsten Arbeiteraufstände ausspionieren soll. Auch wenn er dabei auf Kommunisten trifft, die sein bisheriges Weltbild in Frage stellen, kämpft er in den Märzunruhen noch einmal gegen sie, für Ruhe und Ordnung. Das alles wird aus der Ich-Perspektive des Gymnasiasten Ottwalt erzählt, der die des später zum Kommunisten gereiften Autors weitgehend außen vor lässt. So bleibt den Lesern der Versuch ideologischer Vereinnahmung und der politisch besserwisserischer Gestus so vieler kommunistischer Autoren erspart. Das 1929 erstmals erschienene Buch ist ein gut geschriebener Tatsachenroman, authentisch in der Darstellung einer ganzen Generation Jugendlicher, die, im Kaiserreich sozialisiert, sich in den Unruhen der Zeit zunächst an das Überkommene klammerte. Diese begrenzte Perspektive wird erst im letzten Kapitel des Romans aufgehoben, wenn der gereifte Erzähler am Ende der Weimarer Republik auf einen Freund aus seiner FreikorpsZeit trifft, der nun selbst Kinder militärisch drillt: für die Befreiung Deutschlands… Positionen | Projekte | Publikationen | 131 Dass Ottwalt auch da nicht agitiert, sondern die Fakten und das Bild für sich sprechen lässt, empfiehlt diesen Roman bzw. Auszüge daraus nicht nur für den Deutsch-, sondern auch für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II. Für den sind neben dem Text selbst vor allem die Beigaben eine wahre Fundgrube. Denn der Herausgeber Christian Eger hat ein fulminantes Nachwort geschrieben, das auf einer umfassenden, auch bisher unbekannte Quellen einbeziehenden Recherche beruht. Über die Ästhetik Ottwalts und seine berührende Biografie hinaus öffnet sich dem Leser das Spektrum der linken deutschen Literaturszene in den 1920er Jahren bis hin zum Schicksal deutscher Kommunisten, die dann nach Moskau emigrierten, um hier darauf zu hoffen, dass sie vom ständig drohenden Zugriff des NKWD verschont bleiben. Eger hat die Darstellung dieser Situation vertieft und angereichert durch eine Fülle von Anmerkungen, die den Hintergrund dieser bedrückenden Atmosphäre erhellen, in der Denunziation und Verrat nahe lagen. Dem fällt auch Ernst Ottwalt zum Opfer: Wegen „Agitation gegen den Sowjetstaat“ wird er zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt, stirbt aber bereits 1943 in einem Straflager bei Archangelsk; der genaue Ort, Zeitpunkt und Umstände bleiben unbekannt. Ergänzt wird der Text außerdem durch Abbildungen und Dokumente: Fotos von Ernst Ottwalt und seiner Familie sowie den Kämpfen in Halle, zeitgenössische Rezensionen, Stimmen zum Roman und Briefe, die – nach dem Tod des Autors – sein tragisches Schicksal kommentieren. Am treffendsten 1964 der Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz: Ottwalt sei im großen Kraftakt der Verdrängung unserer jüngsten Vergangenheit von der einen Seite vergessen, weil er einmal Kommunist war, und von der anderen Seite geflissentlich totgeschwiegen, weil er zu jenen aufrechten Kommunisten gehörte, denen es bestimmt war, zu den Opfern des Stalinismus zu werden. Dass ausgerechnet der kleine hallesche Hasenverlag nicht nur den Text wieder zugänglich gemacht, sondern der Herausgeber Christian Eger ihn für uns heute gediegen kommentiert hat, ist eine editorische Großtat – für die nicht einmal öffentliche Fördergelder in Anspruch genommen wurden! (ES) +++++ Thomas Rackwitz an der schwelle zum harz gedichte Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 ISBN 978-3-95462-340-2 Der 1981 in Halle geborene und heute freiberuflich in Blankenburg am Harz lebende Thomas Rackwitz gehört zu den profiliertesten Lyrikern seiner Generation hierzulande. Davon zeugen nicht nur Stipendien und Preise, auf die der auch als Übersetzer und Lektor Tätige verweisen kann, sondern auch seine zuvor erschienenen Gedichtbände „in halle schläft der hund beim pinkeln ein“ oder „grenzland“ (beide 2009 – siehe auch „Lesefutter 2010“). Schon als Jugendlicher wurde Rackwitz durch das engmaschige Netz der Literaturförderung des Landes aufgefangen; was er diesen Kontakten verdankt, kann man in dieser Lesefutterausgabe ab 132 | Positionen | Projekte | Publikationen S. 98 nachlesen. Und auch die Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, um diesen neuen Gedichtband an die Öffentlichkeit zu bringen. Eröffnet wird er durch den bereits bekannten, fein geflochtenen Sonettenkranz auf seine Geburtsstadt, in der ein Hund beim Pinkeln einschläft und die Henker zu den Arbeitslosen zählen – formal überzeugend, sprachlich variabel und voller praller Bilder, die nicht nur den Ortskundigen erreichen dürften. In den folgenden Abschnitten des Gedichtbandes überwiegen freie Rhythmen; dazwischen finden sich Prosagedichte, aber auch Sonette. Rackwitz beherrscht eine breite formale Palette, wobei gerade die scheinbaren verbalen Stilbrüche durch Drastik wie Komik überzeugen. Auch im titelgebenden, den Gedichtband beschließenden Zyklus „an der schwelle zum harz“ – und im Titelgedicht selbst – findet Rackwitz prägnante Bilder, die geradezu synästhetische Wahrnehmungen ermöglichen: „müdes licht das laub ist von schnee gezeichnet / in den dürren baumkronen harren raben / aus und krächzen hämisch in der verbotnen / sprache der toten“ (S. 49), oder „der geruch vergangener osterfeuer / hing noch an den bäumen des abgelegnen / waldes es war frühling der nebel wirkte / trostlos veraltet“ (S. 69). Reimlos zwar, doch formal streng gekleidet in jeweils zwölf Zeilen und drei Strophen, schlagen diese 36 Texte den Bogen von Halle, von Korbetha, von der Saale hinüber zum Brocken, zur Walpurgis, nach Allrode oder Mägdesprung, um schließlich Sonneck zu erreichen, wo Rackwitz dank eines Stipendiums an den Texten arbeiten konnte. Man kann diesen poetischen Flug also durchaus geografisch verorten, ohne sie der inneren Landschaft zu berauben. Rackwitz selbst nennt diese Texte in seinem kurzen Nachwort „intuitive Gedichte […], die sich im Rausch scheinbar wie von selbst geschrieben haben“ (S. 78). So wirken sie auch beim Lesen: natürlich und ungekünstelt, unangestrengt, geschmackvoll im Sinne des Wortes. Die bedachtsame Sprachmelodie unterstützt die melancholische Grundstimmung der poetischen Bilder; ein „Anmutszeugnis“, wie der Dichter Rackwitz es selbst nennt – man kann sich dem schwerlich entziehen. So empfehle ich diesen schmalen Gedichtband dringlich dem ambitionierten Literaturunterricht der oberen Klassenstufen, zumal er neben der Qualität der Texte (die den Mitteldeutschen Verlag trotz des bei Lyrikpublikationen immanenten verlegerischen Risikos überzeugt haben) auch beredtes Zeugnis ablegt vom erfreulichen Entwicklungsweg eines durch Sachsen-Anhalts Literaturförderung entdeckten Talents, das nicht zuletzt dank dieser Förderung längst zum überregional wahrgenommen Dichter gereift ist. Dass gerade deshalb eine (vom Friedrich-Bödecker-Kreis gern unterstützte) Autorenbegegnung den Unterricht zusätzlich bereichern kann, liegt auf der Hand. (PDB) Positionen | Projekte | Publikationen | 133 Sylke Scheufler Die Suche nach dem Drachenring Lychatz Verlag, Leipzig 2008 ISBN 978-3-942929-71-4 Sylke Scheufler war schon als Kind eine Leseratte und fand frühzeitig Gefallen daran, Geschichten und Gedichte zu erfinden. Seit 1998 ist die gebürtige Wolgasterin als freiberufliche Autorin tätig. Zunächst schrieb sie vor allem Märchen und Kurzgeschichten für Kinder, die unter anderem in der Zeitschrift „Bussi Bär“ erschienen. Schärfste Kritiker waren ihre beiden Söhne, die sich ansonsten aber mehr für Computer und Spielekonsolen interessierten als für ein gutes Buch, wie die Autorin berichtet. 2008 reagierte die Schriftstellerin darauf und schrieb mit dem direkten Blick auf ihre Söhne und gleichgesinnte Kinder ihren ersten Fantasyroman. „Die Suche nach dem Drachenring“ erschien zunächst im Verlag Traumland und wurde 2014 im Lychatz Verlag neu aufgelegt. Phil Marten, der junge Held der Geschichte, ist in einer beneidenswerten Situation: Seine Eltern arbeiten in der Abteilung Forschung und Entwicklung einer Firma, die Computerspiele herstellt. Die Spiele, die sie konzipieren und umsetzen, darf er oft als erstes Kind testen, was ihm den Neid einiger Mitschüler einbringt. Das ist sein Glück, denn nach einem verunglückten Selbsttest der Eltern mit einer neuen Spielegeneration, in die man sich mittels Selbst-Digitalisierung hineinbegeben kann, kann nur noch ein Mitschüler helfen, der auch einmal am Test teilnehmen wollte und unfreiwillig Zeuge des Verschwindens der Programmierer wurde. Gemeinsam mit Phil reist er nun ebenfalls in die Welt des Spiels, um Phils Eltern zu finden und zurückzubringen. Als geübte Computerspieler stellen sie kaum Fragen, sondern lassen sich bereitwillig von Aufgabe zu Aufgabe führen, um die Chance zu bekommen, Phils Eltern wiederzusehen. Während Phil seine Begabung sehr schnell unter Beweis stellen kann, ist Leo der tapsige, furchtsame Begleiter, dessen Treue und Anhänglichkeit aber unentbehrlich für Phils Erfolg ist. Die Abenteuer der beiden Jungen in der Drachenringwelt gehören zu den Klassikern der Computerspiele. Autorennen, Monsterkämpfe und Drachenflüge erscheinen aber dennoch ganz anders in der Vorstellung, dass die Protagonisten des Buches an ihnen beteiligt sind, denen ja nur ein Leben zur Verfügung steht. Obgleich nicht mit Schleim, Monsterinsekten, giftigen Reptilien und hinterlistigen Pflanzen gespart wird und sich die Jungen geheimnisvoller Verfolgung ausgesetzt sehen, enthält die Drachenringwelt doch auch behütende Elemente. Schutznetze sichern Helden und Spielfiguren, einfühlsame Bewohner und engagierte Lehrer stehen an ihrer Seite und die Organisation der Schule, in der sich die Besucher zu Kämpfern ausbilden lassen, legt großen Wert auf Wellness und leistungssteigernde Verpflegung. Dass diese im Lauf des Geschehens durch Pizza und Pasta ersetzt wird, ist eine der augenzwinkernden Beigaben des Romans, dessen leichter, mit Wortspielereien durchsetzter Ton die Lektüre vergnüglich macht. „Alles in Butter“ beruhigt Leo, der Antiheld, seine Gastgeberin, als er vor lauter Angst vor der nächsten Prüfung seine Teetasse in die Butterschüssel fallen ließ. Neben fantasievollen Kreaturen wie Kugel-Schrei-Bären und Quacksen agieren zahlreiche Figuren, die wie gute Bekannte erscheinen. Die Fahrlehrer Maik Heckerle und Timmy Reitkönig, der narbenübersäte Selbstverteidigungslehrer Heino Kinsky und die schöne Elisa Mai sind wie fast alle Figuren des Romans charakterlich festgelegt, lassen sich leicht einordnen und weichen kaum von ihrer „programmierten“ Rolle ab. 134 | Positionen | Projekte | Publikationen Hintergründe zu ihrem Verhalten ergeben sich nur durch die Enthüllung einiger Beziehungen zwischen ihnen am Ende der Geschichte. Dieses ist erreicht, als Phil mit seinen Eltern den Rückweg in die Wirklichkeit antritt, obwohl sie erfahren haben, dass es dort Kräfte gibt, die sie für immer im Spiel eingeschlossen sehen wollen und die technischen Möglichkeiten dazu inzwischen entwickelt haben. Zwischen den Welten endet „Die Suche nach dem Drachenring“. So bleiben viele Fragen offen, durch die der Roman auf eine Fortsetzung verweist, die mit „Gefangen in der Eiswelt“ 2014 erschien. +++++ Sylke Scheufler Gefangen in der Eiswelt Lychatz Verlag, Leipzig 2014 ISBN 978-3-942929-72-1 Der zweite Band der Romanserie von Sylke Scheufler, in der die programmierten Welten von Computerspielen zu realen Handlungsorten werden, legt an Tempo und Spannung gewaltig zu. Dem dreizehnjährigen Phil und seinen Eltern ist es vorerst nicht vergönnt, in ihr Leben zurückzukehren. Ihre Rückreise aus der Welt des Drachenringspiels endet in kalter, düsterer Natur. Nur langsam wird ihnen klar, dass sie – offensichtlich durch eine weitere Manipulation ihres unbekannten Feindes – in einem anderen Computerspiel gelandet sind, dessen Entwicklung vor einiger Zeit gestoppt wurde. „Winterspaß“ wird zu einem Albtraum für die Familie. Da eine Rückkehr aus der digitalen Welt an die Nutzung des jeweiligen Spiels gebunden ist, stehen die Chancen dafür sehr schlecht, denn es existiert nur ein Datenträger mit dem letzten Arbeitsstand im Tresor der Firma, für die Phils Eltern tätig waren. Andererseits wird das Spiel immer einmal wieder aktiviert, so dass sich die Anstrengungen der Protagonisten darauf richten, ihren Digitalisierer zur rechten Zeit startklar zu haben. Doch der wird ihnen bereits zu Beginn der Geschichte entrissen, denn anders als in der Drachenringwelt sind ihre Gesichter in der Eiswelt bereits bekannt. In der klimatisierten, doch sonst mittelalterlich wirkenden Kuppelstadt, in der die menschlichen Bewohner der Spielwelt hausen, wird mit ihren Porträts vor Eindringlingen gewarnt, deren einziges Ziel es sei, die Eiswelt zu zerstören. Phil gelingt es trotzdem, seine kranke Mutter in einem Krankenhaus unterzubringen, in dem auch der Vater bleibt, während er auf eigene Faust versucht, den Digitalisierer wiederzubekommen. Aberglaube, Korruption, Manipulation und Magie stehen ihm dabei im Wege. Die eigentliche Computerspielhandlung wird im Gegensatz zur „Suche nach dem Drachenring“ hier zur Nebensache. Phil muss sich Verbündete unter den Wesen der Spielwelt suchen und sich gleichzeitig ständig gegen Anfeindungen und Übergriffe von Menschen, Tieren und Pflanzen erwehren. Neben dem „trial and error“-Prinzip des versierten Computerspielers gelingt es ihm, behutsame Wege im Kontakt zu seiner Umgebung zu beschreiten, die auch in diesem Roman wieder von fantasievollen Geschöpfen belebt ist. Seine Empathie verschafft ihm unter anderem Zugang zu den gefährlichsten Raubtieren und zur diskreten Naturschutzbewegung der Eiswelt. Er schenkt sein Vertrauen einem Außenseiter und geht damit bis zuletzt ein hohes Risiko ein. Lediglich im Kontakt zur beeindruckenden Flora der Eiswelt fehlt ihm meist die nötige Positionen | Projekte | Publikationen | 135 Feinfühligkeit. Doch auch hier lässt ihn die Autorin, die in den letzten Jahren auch an zwei Kräuterbüchern mitgearbeitet hat, ein wenig lernen. Auf das Wissen und Können der Eltern greift der Teenager im Verlaufe des Romans so gut wie gar nicht zurück. Die Aufgabe der Befreiung lastet allein auf ihm. Viel Zeit hat er dafür nicht, denn bald zeigt sich, dass ein Computervirus die Eiswelt immer weiter auslöscht, je länger das Spiel aktiv ist. Die Geschichte des Spielers vor dem Monitor, dessen Verhalten das Romangeschehen unabsichtlich beeinflusst, bringt als weitgehend typografisch abgesetzte Parallelhandlung die reale Welt mit ihren Problemen immer einmal wieder in Erinnerung, bleibt jedoch skizzenhaft. Nach der in rasanten Wendungen endlich geglückten Rückkehr der Familie Marten in ihr modernes und witziges, von zahlreichen intelligenten Geräten geprägtes Haus sind noch immer viele Fragen offen, die den angekündigten dritten Teil der Romanserie mit Spannung erwarten lassen. Phil, der seinen Freund Leo noch aus der Drachenringwelt zurückholen möchte, wird sich entscheiden müssen, ob er zukünftig auf den Digitalisierer, der sich inzwischen zu einer gefährlichen Waffe in den Händen böswilliger Zeitgenossen entwickelt hat, verzichten möchte. Das eröffnet der Fortsetzung der Geschichte eine neue Dimension. Als Futter für hungrige Leseratten ist das Buch bestens geeignet. (AA) +++++ Mario Schneider Die Frau des schönen Mannes. Erzählungen Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 ISBN 978-3-95462-194-1 Mario Schneider wurde 1970 in Neindorf geboren. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Heute lebt und arbeitet er als Autor, Regisseur und Filmkomponist in Halle. Bekannt ist er durch seine preisgekrönten Dokumentarfilme „Helbra“, „Heinz und Fred“ sowie „Mansfeld“. Der vorliegende Erzählband ist sein literarisches Debüt. In den siebzehn Erzählungen geht es thematisch um die Facetten der Liebe in verschiedenen Konstellationen, Lebensabschnitten und Perspektiven. In der Titelgeschichte bewundert der Erzähler die Würde und Schönheit eines älteren Paares und dies in einem sehr intimen Raum einer Sauna. Er beschreibt die Schönheit des Mannes als „südländischer, braun gebrannter Typ“ und stellt sich dabei vor, dass dieser Mann gewiss im Leben alles erreicht hat und einen zufriedenen Lebensabend genießt. Auch die Frau ist für den Erzähler eine sehr schöne Frau. Es ist die einfühlsame Beschreibung eines Beobachters, ohne dass er dabei voyeuristisch im Wortsinn wirkt. Durch die Aussage des schönen Mannes, dass seine Frau an einem Dienstag operiert wird und er von Krebs spricht, wird die Stimmung der Erzählung traurig, zeigt das Unausweichliche aber dennoch mit Zuversicht. Dem Autor gelingt es hier wie auch in vielen der anderen Geschichten, Tabus, Sehnsüchte, Illusionen, Selbstzweifel und Hoffnungen sprachlich sensibel zu beschreiben. 136 | Positionen | Projekte | Publikationen In der Erzählung „Sebastian“ schildert er die Erinnerungen eines Mannes beim Verlust seines Bruders in Kindertagen und den nicht vergehenden Schmerz bis in die Gegenwart. Die kindliche, spielerische Reaktion seines Sohnes nachdem dieser erfahren hatte, dass sein Vater einen Bruder besaß und verlor, lassen eine tiefe menschliche, teils religiöse Zuversicht anklingen. Auch in der etwas längeren Geschichte „Geburtstag“ geht es um Verlust, hier von Liebe in einer Familie. Eine Tochter klagt Vater wie Mutter auf einer von ihr besprochenen CD an, dass sie den Bezug zu ihnen verloren hat. Ihre Erinnerungen an eine angeblich glückliche Kindheit zeigen schmerzhaft, wie beruflicher Erfolg des einen Partners, die Vereinsamung des Anderen und das Nichtvermögen darüber zu reden, eine Familie langsam zerstört und man nicht zu einer gemeinsamen Sprache findet, auch nicht an einem besonderen Tag wie einem Geburtstag. Die Erzählungen haben oft kein Happy End. Mario Schneider möchte nicht belehren und auch keine denkbar einfachen Schlüsse ziehen. Seine Beschreibungen sind Bilder, die Hoffnungen und Wünsche projizieren und den Leser das Geschilderte mit seinen eigenen Maßstäben und Erfahrungen bewerten lassen. Dies ist für den Rezipienten ein Gewinn. Mit einer sehr anschaulichen und behutsamen Erzählweise in den Geschichten gelingt es dem Autor meisterhaft, innere Vorstellungen, Gefühle und Empfindungen zu beschreiben. Dies macht den Erzählband zu einer literarischen Überraschung. Man kann gespannt sein, was in den nächsten Jahren von Mario Schneider zu erwarten ist, sein dokumentarisches Gespür wird ihm dabei gewiss helfen. Die vorliegenden Erzählungen zeigen es. Für anspruchsvolle Leserinnen und Leser in den höheren Schuljahrgängen ist dieser Erzählband sehr zu empfehlen. Natürlich benötigt man zum Verständnis der Geschichten ein gewisses Maß an Lebenserfahrung und vor allem literarisches und mediales Vorstellungsvermögen. (FK) +++++ Ludwig Schumann Wasserhautseele. Auch Liebesgedichte BuchVerlag für die Frau, Berlin 2014 ISBN 978-3-89798-469-1 Der 1951 in Erfurt geborene Ludwig Schumann ist trotz seiner reichlich sechs Lebensjahrzehnte ein höchst produktiver und umtriebiger Künstler. Der studierte Theologe lebt heute in Zeppernick, einem Ortsteil von Möckern im Jerichower Land. Er hat eine Werbeagentur geleitet und ist seit 2004 freiberuflich tätig. Seine Publikationsliste beeindruckt durch Umfang und inhaltliche, formale und thematische Vielfalt; zudem ist Schumann häufig mit Kolleginnen und Kollegen der schriftstellerischen Zunft, aber auch mit Musikern und bildenden Künstlern in gemeinsamen Projekten aktiv. Mit WASSERHAUTSEELE legt er nun einen Lyrikband vor, der schon in seiner äußeren Form geeignet ist, jedem Verfechter von eBook-Readern den Wind aus den Segeln zu nehmen: das kleinformatige Hardcoverbuch ist liebevoll gestaltet, nutzt die Typographie als Stilmittel und Positionen | Projekte | Publikationen | 137 bietet zudem mit den visuellen Impressionen von Anne Rose Bekker zusätzliche Assoziationsmöglichkeiten – wirklich gelungen! Inhaltlich bietet es „ein fröhliches Leiden an der Lebenslust“, wie Schriftstellerfreund Albrecht Franke im kurzen Nachwort feststellt. Das ist – schon aufgrund der reifen Erfahrungswelt, der metaphorischen Dichte und auch durch die teils drastisch-erotische Sprache – nicht unbedingt unterrichtsgeeignet. Doch wo sich beispielsweise lyrikinteressierte Jugendliche im Literaturzirkel oder einer Schreibwerkstatt ernsthaft mit literarischen Gestaltungen beschäftigen, ist die Auseinandersetzung mit Schumanns bildhafter Poesie zwischen lakonischem Dreizeiler und mehrseitigem Prosagedicht durchaus zu empfehlen. Mich hat – neben den Texten „vom winter“, „geheimnisfrau“, „kleines liebeslied“ oder „von der vergeblichkeit“ – besonders das achtstrophige Gedicht „weshalb ich dich bewundere“ angesprochen mit so einprägsamen Versen wie „mir fehlt / zuallererst / dein lachen im haus“ oder „du kannst / die welt in dein herz / verpacken und sie besser / machen als sie zu sein / scheint und lichtvoll / als wäre die hoffnung / fleisch geworden“, um schließlich so zu enden: „ich leb / mehr aus dir als du dir / vorstellen kannst und wohne / auf deinem lachen welches / das haus freundlich macht / und meiner unruhigen seele / einen käfig schenkt“. Diese Zeilen enthalten zahlreiche Sentenzen, die man sich einrahmen könnte. (PDB) +++++ Simone Trieder/Lars Skowronski Zelle Nr. 18 Eine Geschichte von Mut und Freundschaft be.bra verlag, Berlin 2014 ISBN 978-3-89809-117-6 Mit dem Beschuss der Westerplatte vor Danzig begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Ohne Kriegserklärung überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Hitler gab den Angriff als Verteidigungsaktion aus und verwies auf den angeblich polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz vom Vorabend. Den jedoch hatte die SS inszeniert. "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" Diesen Satz sprach Adolf Hitler am Vormittag des 1. September 1939 im Berliner Reichstag. Es begann ein Krieg, der sechs Jahre dauerte und über 55 Millionen Menschen das Leben kostete. Auch die 24–jährige Krystyna Wituska, angeklagt wegen Spionage, Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat, wurde 1944 hingerichtet. Sie ist eine von vielen, die für die Untergrundorganisation Armia Krajowa tätig waren. Auch Maria Kacprzyk und Lena Dobrzycka haben im Untergrund gearbeitet. Diese drei jungen Polinnen saßen eine Zeitlang gemeinsam in der Zelle mit der Nummer 18, im Gefängnis von Berlin-Moabit und warteten dort auf ihre Verurteilung. Sie bilden den Mittelpunkt dieser Geschichte von Mut und Freundschaft während der nationalsozialistischen Diktatur. Hedwig Gimpe, eine der dienstverpflichteten Wärterinnen, hatte die drei jungen Frauen in ihr Herz geschlossen. Sie war berührt vom Schicksal der Polinnen, die ihre Kinder hätten 138 | Positionen | Projekte | Publikationen sein können und versuchte den jungen Frauen Trost und Beistand zu geben, indem sie ihnen Lebensmittel, Zigaretten oder Medikamente zukommen lässt, Post weiterleitet. Ein lebensgefährlicher Einsatz. Wichtig wird für die Drei (von den Gimpes Kleeblatt genannt) auch der Briefwechsel mit Gimpes Tochter Helga. Sie ist 16 Jahre alt, Mitglied im Bund Deutscher Mädel, doch nahm sie mit Verachtung wahr, wie der „braune Bazillus“ die Gleichaltrigen infizierte (S. 17). Die Nachrichten ins Gefängnis mussten natürlich sofort nach dem Lesen vernichtet werden, aber die Kassiber „nach draußen“ wurden von Helga aufbewahrt. Darin schildern Krystyna, Maria und Lena ihren Gefängnisalltag, erzählen von Hunger und Langeweile, von ihrer Angst und Verzweiflung, von Folter und Verhören, aber auch von der Solidarität untereinander. Für die Häftlinge andererseits war Helga das „Mädchen aus einer anderen Welt“. Aus einer Welt, in der es ein Zuhause gab, eine Mutter. Eine Welt, die auch sie gehabt hatten, die der Krieg zerstört hatte und die sie wahrscheinlich nie wieder erleben würden. Das Heimweh begleitete sie ständig, ihr wichtigstes Gesprächsthema abends im Bett war die Erinnerung an zu Hause (S. 18). In ihren Briefen dachten Helga und die Kleeblätter auch über die Zukunft nach. … Mit Lena diskutierte Helga offenbar auch Rassentheorien (S. 159). Helga konnte die 150 Seiten Kassiber sowie Marias Moabiter Tagebuch über den Krieg retten. Auf dieses Material konnten die Autoren des Buches zurückgreifen, ebenso wie auf diverse offizielle Dokumente, zudem führten sie Gespräche mit Zeitzeugen und deren Verwandten. So erfährt der Leser nicht nur vom Schicksal der drei jungen Frauen, sondern erhält auch Einblick in das Leben anderer Mitgefangener in Moabit. Lena und Maria überleben den Krieg, sind gesundheitlich aber nicht stabil. Lena ist nach dem Krieg eine gebrochene Frau. Ihre Tochter schildert sie als düstere, depressive und schweigsame Person, die ungern schrieb, nie deutsch sprach, und auch auf Polnisch nie von ihrer Vergangenheit erzählte (S. 189). Ebenso leidet Maria unter Depressionen, doch sie schafft es immer wieder aus diesen Phasen rauszukommen. Auch die Gimpes überleben den Krieg und so bleibt ein Kontakt, zumindest mit Maria, bestehen. Doch es ist zeitweise kein einfaches Verhältnis, nach einem zweieinhalbjährigen intensiven Gedankenaustausch kurz nach Kriegsende wurde die Korrespondenz für mehrere Jahre unterbrochen. Helga lebte mit ihrer Mutter sehr zurückgezogen. … Gesellschaftlich wie privat waren sie vereinsamt (S. 199). Doch was bleibt, ist eine berührende Geschichte über Mut und Freundschaft zwischen Menschen, deren Völker sich in der finsteren Zeit der Naziherrschaft mit Hass begegneten. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Maria immer wieder…Glück, dass ihr Anwalt sie ernst nahm und verteidigte. Glück, dass die Richter im Prozess vieles zu ihren Gunsten werteten… Deshalb kann sie die Deutschen nicht hassen, nicht, wenn man so viel Güte und Menschlichkeit erlebt hat…(S. 215). Die historischen Ereignisse werden in diesem Buch personalisiert und emotionalisiert. Das Nachfühlen und Nachempfinden von Geschichte kann zu Kitsch und Klischees verkommen, zu erleben beispielsweise in zahlreichen O-Tönen von Fernsehproduktionen der privaten als auch öffentlich-rechtlichen Sender, in denen die Zeitzeugen eine Autorität besitzen, als handle es sich um die wahre Deutung von Geschichte. Die Geschichte dieses Buches verdeutlicht, wie Solidarität zwischen Menschen entstehen kann, wie man Menschlichkeit bewahren, Hass und Ideologie überwinden kann. Als Leser erhält man Raum eigene Fragen zur Geschichte zu entwickeln, eigene Bezüge herzustellen, Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart zu entdecken. Wie schnell ein Konflikt eskalieren kann, wie fragil Frieden und Demokratie sind, sieht man am Beispiel der Ukraine, an den vielfältigen Erscheinungen von Re-Nationalisierungen oder dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar 2015. Vermittlung von Geschichte sowie die Entwicklung des Bewusstseins und Verständnisses für Geschichte bleiben eine wichtige Aufgabe des Unterrichts und so ist die (ggf. auszugsweise) Lektüre nicht nur für den Deutsch-, sondern auch für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II zu empfehlen. (SG) Positionen | Projekte | Publikationen | 139 Christoph Werner Marie Marne und das Tor zur Nacht Osburg Verlag, Hamburg 2014 ISBN 978-3-95510-037-7 Christoph Werner, geboren 1964 in Dessau, ist Regisseur und Leiter des Puppentheaters Halle. Er hat nicht nur Puppenspiele verfasst, sondern auch zwei Bände Erzählungen veröffentlicht (Josefs Geschichte, 1997; Glücklicher Tod eines Rebellen, 2009). „Marie Marne…“ ist sein erster Roman. Erzählt wird die Geschichte der 13-jährigen Marie, deren Vater erfolgreicher Musikproduzent und immer in Zeitnot ist. Deshalb ist er Stammkunde einer Firma mit dem harmlosen Namen ADI, der für All Day Industries steht. Sie verkauft ihm Träume, die ihm ermöglichen, danach 13 Tage ohne Schlaf durchzuarbeiten. Dieses Mal aber geht es schief: Er findet aus seinem Traum nicht mehr heraus und nur Marie kann ihn erlösen, indem sie in einem ihrer eigenen Träume unter großen Gefahren das Tor zur Nacht öffnet, ohne zu wissen, dass sie damit auch alle Albträume freilässt, welche die Menschen überfallen und ihnen den Schlaf rauben. Die Welt droht ins Chaos zu stürzen und Marie muss ein zweites Mal in die gefährliche Unterwelt hinabsteigen, um das Tor zur Nacht wieder zu schließen. Priscilla rennt durch die Straßen ihrer Kindheit. Die Straßen sind dunkel, still und menschenleer. Schneller! Schneller! Sonst entwischt es! So setzt der Roman ein und das, worauf hier Jagd gemacht wird, sieht aus wie ein Äffchen, entpuppt sich jedoch einen Abschnitt später als Orakel, das seine Ahnung von dem, was geschehen wird, preisgibt: Die ungeträumten Träume werden brennen und nichts wird sein, wie es war… Ein furios-geheimnisvoller Auftakt, der neugierig macht und den Fantasy-Charakter der Geschichte betont. Der betrifft vor allem die Träume Maries, in denen es nur so wimmelt von phantastischen Motiven: Da gibt es nicht nur das Tor zur Nacht und das Meer der Träume, sondern auch Zyklopen und Zentauren, einen Geige spielenden Frosch, die Nächtige, die das Tor zur Nacht bewacht, oder eine Doppelgängerin Maries, mit der sie sich vereinigen muss, um das Tor wieder schließen zu können. Jugendliche Leser mit ihrer Lust am Phantastischen kommen hier auf ihre Kosten. Dass Marie neben den eigenen Träumen auch noch die anderer Personen träumen muss, um in den Besitz von Gegenständen zu gelangen, mit denen das Tor geöffnet werden kann, hält den Plot in der ersten Romanhälfte etwas auf, zumal diese Figuren so plötzlich, wie sie auftauchen, auch wieder aus der Geschichte verschwinden. Im Gegensatz zu den Träumen erscheint das, was auf der Realebene des Buches passiert, zunächst ganz normal: Eine selbstbewusste 13-Jährige, die gern mehr Zeit verbringen würde mit ihrem Vater, der immerzu telefoniert; ihr Alltag in der Schule und ihre Freundinnen; die sich anbahnende Liebe mit einem Jungen. Spannend wird diese Geschichte in dem Maße, wie sich auch hier Elemente des Sonderbaren einschleichen: Eine Firma, die etwas verkauft, mit dem man die Biologie des Menschen (in diesem Fall sein Bedürfnis nach Schlaf) aushebeln kann, scheint im Zeitalter von social freezing gar nicht mehr so irreal; Maries zufällig entdeckte Fähigkeit, 113 Tage ohne Schlaf wachbleiben zu können, hingegen ist so ungewöhnlich, dass ADI sie sich gern zunutze machen würde. Und so tritt das Böse auf den Plan: in Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes, dem Christoph Werner den bezeichnenden Namen Mr. Phisto gegeben hat, während sein hinter ihm stehender Chef, Dr. Puck, in der Tarnkappe des smarten Geschäftsmannes daherkommt. 140 | Positionen | Projekte | Publikationen Das ist spannend erzählt, mit viel Einfühlungsvermögen für die jugendliche Heldin. Eine Coming-of-AgeStory vor allem für Mädchen, jenseits von Ponyhof-Klischees. Das betrifft auch den Schluss des Romans: Marie hat durch ihren Mut, ihre innere Stärke und mit Hilfe von Freunden zwar die Menschen von ihren Albträumen wieder erlöst und ist damit erwachsen geworden – als Zeichen dessen schneidet sie sich am Ende ihren Zopf ab. Doch das Böse ist damit nicht endgültig aus der Welt: Was würde jetzt geschehen? heißt es im Kapitel davor. Egal, was es war, Untersuchungen durch den Senat, Anklagen vor allen Gerichten der Welt, Wertverlust der ADI-Aktion an der Börse, Dr. Puck würde all das überstehen … Mit seinen 245 Seiten ist der Roman ein echter Tipp für lesehungrige Mädchen, die ein bisschen mehr erwarten als bloße Fantasy. Und für den Deutschunterricht eine gute Gelegenheit, mit dem Autor selbst ins Gespräch zu kommen (vergleiche das Interview mit Christoph Werner, S. 89). (ES) +++++ Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V. (Hrsg.) oda – Ort der Augen dr. ziethen verlag, Oschersleben Jahrgang 2014 (4 Hefte) Sarah Kirsch, die bedeutende, 1935 im heutigen Thüringen geborene und längere Zeit in Halle lebende Dichterin, die seinerzeit im Nachklang der Biermann-Ausbürgerung die DDR verließ, ist 2013 im Schleswig-Holsteinischen Heide verstorben. Ihrem Andenken ist das erste Jahrgangsheft der traditionsreichen „Blätter für Literatur aus Sachsen-Anhalt“ gewidmet. Wilhelm Bartsch gibt sehr persönliche Einblicke in seine intensive und freundschaftliche Arbeitsbeziehung zu Sarah Kirsch, ergänzt um Auszüge aus Briefen und einen tief schürfenden Essay zu Sarah Kirschs Gedicht „Die Entrückung“. Zugleich bilden die handschriftlichen Briefe von Sarah Kirsch den bildkünstlerischen Beitrag, der die schmale Zeitschrift stets auch zu einem visuell-ästhetischen Genuss werden lässt. Etwas kleiner gerät der Abschied, der im zweiten Heft dem Spur- ISBN: 978-3-86289-074-3 der-Steine-Verfasser Erik Neutsch (auch er ist 2013 verstorben) gewidmet ist; Martin Weskott, der legendäre Buchretter-Pfarrer, hat zwei kluge Seiten zu der Faszination, die Neutsch für den Isenheimer Altar und seinen legendenumwehten Maler Mathis empfand, beigesteuert. Daneben gibt es reichlich frische Literatur vornehmlich mitteldeutscher Autoren (mit bundesweiten Ausrissen) zu entdecken: Daniela Danz und Thomas Böhme, Konrad Potthoff und Simone Trieder, Gunter Preuß oder Margarete Wein sind vertreten. Das dritte Heft des Jahrgangs bietet zudem die Begegnung mit bulgarischer Literatur, so etwa Texte von Peter Anastasov oder Stefan Bonev, die auch in der Anthologie „So wie ich hier stehe“ enthalten sind (siehe auch S. 117). Positionen | Projekte | Publikationen | 141 Heft 4 bietet schließlich – neben wiederum zahlreichen neuen literarischen Texten – auch die Dankesrede, die Sascha Kokot anlässlich der Entgegennahme des Georg-Kaiser-Förderpreises des Landes Sachsen-Anhalt gehalten hat. Sie ist im Kontext der Laudatio von André Schinkel, die Sie hier im Lesefutter 2015 ab S. 51 nachlesen können, äußerst empfehlenswert, zeichnet sie doch den konsequenten und vielfältig begleiteten Weg eines jungen Dichters in unserem Lande nach. Insgesamt also wieder ein reicher oda-Jahrgang, ein überquellender Fundus für einen spannenden Literaturunterricht abseits eines ein- wie ausgefahrenen Literaturkanons. Dafür ist dem Kultusministerium Sachsen-Anhalt, das die Publikation verlässlich fördert, zu danken (alle Gymnasien des Landes kommen dadurch kostenfrei in den quartalsweisen Genuss hochwertiger Kunst!), vor allem aber dem engagierten Redakteur André Schinkel, der das bemerkenswert hohe Niveau der Literaturzeitschrift (nicht zuletzt dank der Vielzahl guter Autorinnen und Autoren) seit Jahren zu halten vermag. Möge dies so bleiben! (PDB) ISBN: 978-3-86289-084-2 ISBN: 978-3-86289-085-9 ISBN: 978-3-86289-086-6 142 | Positionen | Projekte | Publikationen Autorenverzeichnis dieser Publikation (in alphabetischer Folge; die Abkürzungen beziehen sich auf die Lektüreempfehlungen): • Adelmeyer, Annette; Referentin in der Fachgruppe 21, LISA Halle (AA) • Ballod, Matthias; Prof. Dr., Professur für Fachdidaktik Deutsch am Germanistischen Institut der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg • Bartsch, Paul D.; Prof. Dr., Fachgruppenleiter am LISA Halle und Professor für „Erziehungswissenschaft: Kindheit und Medien“ an der Hochschule Merseburg (PDB) • Caspar, Sebastian; Sozialpädagoge und Autor, lebt in Leipzig • Domhardt, Elke; Schriftstellerin, Mitglied des Förderkreises der Schriftsteller Halle (Saale) • Fenkl-Ebert, Sulamith; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“ • Franz, Martina; LISA Halle, Fachgruppe 23, Koordinatorin für das Lutherjubiläum 2017 (MF) • Grätz, Sabine; Referentin in der Fachgruppe 24, LISA Halle (SG) • Jankofsky, Jürgen; Autor, Geschäftsführer des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e. V. (JJ) • Kirchner, Frank; Referent in der Fachgruppe 21, LISA Halle (FK) • Kirchner, Sabine; Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (SK) • Kohl, Eva Maria; Prof. Dr., em. Professorin für Grundschuldidaktik/Deutsch am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (EMK) • Langer, Ralf; Referent im Fachbereich 4 des LISA Halle • Peter-Wehner, Andrea, LISA Halle, Koordinatorin des Projektes BiSS (APW) • Rackwitz, Thomas; Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Blankenburg (Harz) • Ritter, Alexandra; Dr. des., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (AR) • Ritter, Michael; Prof. Dr., Vertretungsprofessur am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MR) • Rönicke, Nadine; Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (NR) • Scherf, Eva; Dr. phil., Germanistin und Pädagogin i. R. (ES) • Schinkel, André; M.A., Schriftsteller, Redakteur der Literaturzeitschrift „Ort der Augen“ • Stošić, Bettina; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“ • Walesch, Ines; Lehrerin, z. Z. abgeordnet an das LISA für Aufgaben in der Lehrerfortbildung • Wielebinski, Erika; Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V., Initiative „Lesewelt Halle“ • Zielinski, Sascha; Doktorand und Lehrbeauftragter am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (SZ) Notizen
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