Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Schlafwandeln Zur Geschichte eines ungeklärten Phänomens Roland Itterheim In der International Statistical Classification of Diseases (ICD-10) ist bei den nichtorganischen Schlafstörungen unter F 51.3 Schlafwandeln mit dem Synonym Somnambulismus kodiert. In seiner Nachbarschaft finden sich neben quantitativen Abweichungen (Insomnie, Hypersomnie) die qualitativen Veränderungen des Schlafverhaltens. Zu diesen Parasomnien zählen Schlafwandeln, panikartiges Aufschreien mit oder ohne Aufstehen (Pavor nocturnus) und Alpträume als angstvolles Traumerleben. Schlafwandeln (Nachtwandeln, Noktambulismus, Traumwandeln) läuft nicht nach stereotypem Muster ab. Im allgemeinen beginnt die Episode aus dem Tiefschlaf heraus im ersten Drittel des Nachtschlafes. Die betreffende Person erhebt sich spontan aus dem Bett und geht mit vermindertem Bewußtsein inner- oder außerhalb der Wohnung umher, wobei bekannten Objekten ausgewichen wird. Das kommt auch im Begriff „schlafwandlerische Sicherheit“ zum Ausdruck. Herumspazieren auf Dächern oder ähnlich gefährliche Aktionen sind meist der blühenden Phantasie der Berichterstatter geschuldet. In der Regel sind die Augen der Schlafwandler geöffnet. Starren Blickes und stumm – nur selten wird verwaschen gesprochen – werden Handlungen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades ausgeführt. Dem Geigenvirtuosen Giuseppe Tartini wurde nachgesagt, daß er seine „Teufelstrillersonate“ als Schlafwandler komponiert habe. Die mobile Phase erstreckt sich in der Mehrzahl der Fälle über mehrere Minuten, bevor wieder eingeschlafen wird, kann aber auch kürzer sein oder länger anhalten. Charakteristisch ist die totale Amnesie nach dem Erwachen. Die häufiger beim männlichen Geschlecht vorkommende Störung manifestiert sich überwiegend im Kindes- und frühen Jugendalter mit einem Beginn zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr und dem Aufhören während oder nach der Pubertät. Ausgabe 7-8 / 2007 18. Jahrgang Bei Erwachsenen tritt Schlafwandeln deutlich weniger auf. Insgesamt fehlen valide Angaben zu dem Geschehen, da die Dunkelziffer hoch sein dürfte. Schlafwandelei war nie ein Massenphänomen. So sind schriftliche Zeugnisse nicht aus allen Epochen überliefert. Der Universalgelehrte Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) und die medizinische Autorität Galen (129 – 199) erwähnen zwar die Erscheinung, beschäftigen sich mit ihr aber nicht näher. Bei spätantiken Ärzten kommt aber auch schon der Mond ins Spiel. Schlafstörungen und Epilepsie wurden im Sinne astromedizinischer Ideen gedeutet. Nach humoralpathologischer Denkweise sollten die Mondphasen zu bestimmten Säftebewegungen im Kopf führen, die dann krankhafte Prozesse auslösen. Im Neuen Testament (Evangelium nach Matthäus) wird von der Heilung eines „mondsüchtigen“ Knaben erzählt, der von seinem Vater Jesus mit den Worten vorgestellt wird: „Herr, hab Erbarmen mit meinem Sohn! Er ist mondsüchtig und hat schwer zu leiden. Immer wieder fällt er ins Feuer oder ins Wasser …“ Die Befreiung von dem Übel erfolgt durch Bannung des Dämons der Besessenheit. Der Theologe Thomas von Aquino (1225 – 1274) hielt „Mondsüchtige“ ebenfalls für Besessene. Nachtwandeln war noch in der frühen Neuzeit etwas Irrationales und Geheimnisvolles, dem normalen Verstand nicht zugänglich. Der Schweizer Arzt und Humanist Conrad Gessner (1516 – 1565), noch stark dem Aberglauben verfallen, sah in einem „Mondwolf“ die Ursache und empfahl, in solchen Fällen eine Halskette mit Wolfszähnen zu tragen. Geronimo Cardano (1501 – 1576), Arzt, Mathematiker und pantheistischer Philosoph (Abb. 1), sprach wie andere Autoren des 16. Jh. von „occulta naturae miracula“, denen eine „magna spiritus agilitas“ zugrunde läge. Es sei eine erhöhte Einbildungskraft, welche die See- Abb. 1. Geronimo Cardano: Schlafwandeln als okkultes Phänomen. lengeister („spiritus animales“) nachts aus den Gliedern ins Gehirn zurückrufe und damit den Körper wieder in Bewegung versetze. Ein Verfechter der Mondtheorie in bezug auf das Schlafwandeln war der flämische Iatrochemiker und Mystiker Jan Baptist van Helmont (1577 – 1644). Daß sich unter dem Einfluß des Mondes die Körpersäfte verändern können, glaubte auch noch der berühmte Mediziner Friedrich Hoffmann (1660 – 1742; Abb. 2), doch hatte sich schon aufklärerisches Gedankengut durchge- Abb. 2. Friedrich Hoffmann: Schlafwandeln als Ausdruck einer krankhaften Konstitution des Gehirns. 443 Kultur- und Wissenschaftsgeschichte setzt, wenn er hinsichtlich des Schlafwandelns äußerte: „Auf welche Weise aber die Hirnfasern und Nervenursprünge von einer stärkeren Phantasie erregt und die darin wohnenden Spiritus zur Bewegung gezwungen werden, ist schwierig und keineswegs leicht und schnell zu durchschauen.“ Welche Beachtung der „Somnambulismus“ in Ärztekreisen des 17. Jh. fand, belegt die in Jena verfaßte Dissertation „De ambulatione in somno“ von Johann Jakob Theisner. Das Interesse an den „Nachtwanderern“ hielt auch noch im 18. Jh. an, wobei mystische Seelenkräfte und ungewöhnliche Fähigkeiten betont wurden. So schreibt der Sozialhygieniker Johann Peter Frank (1745 – 1821), daß der Somnambule „viel Wunderbares, was dem Wachenden zu vollbringen unmöglich ist, vornimmt.“ Bei der bildlichen Darstellung nächtlicher Schlafstörungen überwiegt das Geisterhaft-Gespenstische. Paradebeispiel ist das 1781 entstandene, schnell Berühmtheit erlangte Gemälde „Die Nachtmahr“ des Schweizers Johann Heinrich Füßli (1741 – 1825). Auf dem Thorax einer schlafenden jungen Frau hockt ein gräßlicher Alp, ein dämonischer Pferdekopf daneben steigert den Schauder. Eine phantastisch-groteske Nachtmahr-Darstellung (1843) findet sich auch bei dem französischen Grafiker Grandville (1803 – 1847), der unter anderem den österreichischen Zeichner und Schriftsteller Alfred Kubin (1877 – 1959) beeinflußte. Bei diesem erscheint neben einem von einem reptilartigen Ungeheuer dominierten Alptraumbild im Spätwerk (1943) eine Zeichnung mit dem Titel „Die Nachtwandlerin“ (Abb. 3). Kubin schuf aber kein reales Abbild einer Schlafwandlerin (geschlossene Augen!), sondern gemäß seiner Weltsicht einen sich ins Ungewisse, Abgründige vortastenden, existentiell gefährdeten Menschen. Ob es eine Disposition für Schlafwandeln gibt, wurde unterschiedlich beantwortet. Im 18. Jh. war man der Ansicht, daß eine „melancholisch-cholerische Komplexion“ zugrunde liegen müsse. Vorher wurden nicht näher gekennzeichnete pathologische Zustände angeschuldigt; Friedrich Hoffmann vermu- 444 Abb. 3. Alfred Kubin: „Die Nachtwandlerin“; 21,3 x 17,5 cm, um 1943. Oberösterreichisches Landesmuseum Linz. tete eine „morbosa constitutio cerebri“. Andererseits sollte Schlafwandeln Krankheiten wie Epilepsie oder gar Wahnsinn hervorrufen. Die Vorschläge zur Beseitigung des abnormen Verhaltens fielen z. T. recht drastisch aus. Neben diätetischen Maßnahmen wurde eine Schüssel mit kaltem Wasser vor das Bett gestellt, eine Peitsche zur Züchtigung vorsorglich bereitgelegt oder eine Elektrisiermaschine angewandt. Indessen geisterte der Mond als Auslöser des Schlafwandelns („Lunatismus“) weiterhin durch viele Köpfe. Obwohl eine lunare Rhythmik auch bei einigen organischen Vorgängen nachgewiesen wurde (s. Ärzteblatt 9/1998), sind Einflüsse auf jenes Geschehen frei erfunden, auch wenn mitunter heute noch vereinzelt behauptet wird, bei Vollmond sei der Schlaf unruhig. Im alten Volksglauben stand der Mond von Anfang an im Mittelpunkt. Fällt Mondlicht auf die Windeln, wird das Kind ein Schlafwandler, Schlafen bei vollem Mondschein sei gefährlich. Da waren auch die Satiriker nicht weit. Der Schriftsteller Karl Immermann spottet: „… wo hinunter steigt der Mondmann zu der Erd und auf dem Dach tanzt mit Nachtwandlerinnen lustig.“ Vom Dichter Nikolaus Lenau stammt der Schmunzelvers: „Dort dringt der Mond mit seinem Schimmer / still dem Nachtwandler ins Gemach / und winkt und lockt aus Bett und Zimmer, / der Schläfer folgt ihm auf das Dach.“ Da taucht in der 2. Hälfte des 18. Jh. eine neue, exogen produzierte Form des Somnambulismus auf. Hintergrund ist der „Magnetismus animalis“ des seinerzeit mit großem Aufsehen agierenden, geschäftstüchtigem schwäbischen Arztes Franz Anton Mesmer (1734 – 1815; Abb. 4), der mit Hilfe von Magneten oder auch ohne sie („Biomagnetismus“) zu heilen versuchte, eigentlich ein Vor- Ärzteblatt Thüringen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Abb. 4. Franz Anton Mesmer: Somnambulismus als induzierter Dämmerschlaf. läufer therapeutischer Hypnose. In Frankreich erzeugte der Marquis de Puységur (1751 – 1825) bei seinen Patienten mit magnetischem Heilschlaf einen Dämmerschlaf, „künstlichen Somnambulismus“. Es gab auch spontane Fälle dieses Trancezustandes, meist bei kränklichen jungen Frauen. Hier wurde der mit Mesmer befreundete DichterArzt Justinus Kerner (1786 – 1862; Abb. Abb. 5. Justinus Kerner: Rückkehr des Okkulten in die Deutung der Schlafwandelei. Ausgabe 7-8 / 2007 18. Jahrgang 5) aktiv, der 1824 die „Geschichte zweyer Somnambülen“ und 1829 nach jahrelanger Beobachtung das Schicksal des „Mediums“ Friederike Hauffe in dem Roman „Die Seherin von Prevorst“ schilderte. Bei Kerner allerdings gerät die Interpretation wieder auf die schiefe Ebene des Okkultismus („Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere“). Im 19. Jh. war das Thema durchaus noch Gegenstand der Diskussion, z. B. bei dem Maler-Arzt und Psychologen Carl Gustav Carus (1789 – 1869) und dem Philosophen Eduard von Hartmann (1842 – 1906). In dessen „Philosophie des Unbewußten“ (1869) wird den Schlafwandlern wie den Tieren zwar ein Gedächtnis zuerkannt, doch fehle es an der Stufe der Reflexion, die zu einer „Recognition“, d. h. bewußten Erinnerung erforderlich ist. Eine umfangreiche Studie zum Somnambulismus legte Loewenfeld 1900 vor. Schlafwandeln als „spontaner Somnambulismus“ beruhe grundsätzlich auf einer krankhaften Nervenverfassung. Im Gegensatz zu Träumen des oberflächlichen Schlafes gäbe es Tiefschlafträume, die sich mit partiellem Wachsein verbinden und dann in Bewegungen transformiert werden können. Loewenfeld unterscheidet ferner einen „hysterischen“, mit ausgeprägter Desorientiertheit einhergehenden Somnambulismus und einen durch Hypnose herbeigeführten Somnambulismus ohne Ortsveränderung. Bis in die Gegenwart werden Schlafwandeln und Somnambulismus größtenteils als identische Begriffe gebraucht (s. ICD-10). Differenzierende Klarheit schuf 1993 die Tübinger Professorin für Medizingeschichte Dietlinde Goltz.1) Demnach ist der Somnambulismus als künstlicher Dämmerzustand vom Schlafwandeln streng zu trennen. Letzteres geschieht stets ohne äußeres Einwirken, nur nachts, aus tiefer Schlafphase heraus, ohne sprachliche Signale und betrifft in der Regel gesunde Personen. Festzustellen ist auch eine familiäre Häufung (genetische Komponente). Bei der wissenschaftlichen Erklärung 1) der Schlafwandelei lag es nahe, einen von der Norm abweichenden SchlafWach-Rhythmus infolge einer unvollständigen Weckreaktion (sog. ArousalStörung) anzunehmen, die wiederum auf eine Unreife des ZNS zurückführbar sei. In der EEG-Kurve wurde vor dem Akt des Aufstehens eine Zunahme langsamer Deltawellen registriert. Inwieweit Übermüdung, Gifte, Arzneimittel, körperliche und psychische Belastungen den Prozeß in Gang setzen, läßt sich nicht exakt ermitteln. Die kausale Verknüpfung der ursächlichen Faktoren bleibt weiterhin ungeklärt. Schlafwandeln wird im allgemeinen als harmlos und nicht behandlungsbedürftig beurteilt. Verletzungsgefahren wird durch flache Betten und Sicherung von Türen, Treppen und Fenstern vorgebeugt. In Einzelfällen werden Psychotherapie und zur Reduzierung der Schlaftiefe Antidepressiva empfohlen. Dr. Dr. Roland Itterheim Jena Goltz, D.: Nachtwandern, Mondsucht und Somnambulismus – Eine Nachtseite der Medizingeschichte. Medizinhistorisches Journal 28 (1993), 321 – 343. 445
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