Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Alternde Einwanderungsgesellschaft – Herausforderungen für das Gesundheits- und Pflegesystem Dr. Elke Olbermann Fachtagung „Gesundheitsversorgung und Pflege in der Einwanderungsgesellschaft“ Forum 1: Kultursensible Pflege – was ist seit dem Memorandum von 2002 geschehen? 21. April 2015, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Inhalt Alternde Einwanderungsgesellschaft: Demografische Aspekte und Lebenslagen Pflegebedürftigkeit und pflegerische Versorgung bei Personen mit Migrationshintergrund Herausforderungen für das Gesundheits- und Pflegesystem im Kontext kommunaler Daseinsvorsorge 2 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Alternde Einwanderungsgesellschaft: Demografische Aspekte und Lebenslagen 3 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Demografische Entwicklung Auch die Migrantenbevölkerung wird älter: Modellrechnung zur Entwicklung des Anteils der 65jährigen und Älteren: 2007: ca. 1,4 Millionen (8,4 %) 2032: ca. 3,6 Millionen (15,1 %) Dr. Elke Olbermann, 21.03.2013 4 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Gesundheit, Alter und Migration Ältere Zugewanderte Bevölkerungsgruppe, deren Situation in besonderer Weise durch Merkmale sozialer Ungleichheit geprägt ist - physisch und psychisch belastende Arbeits- und Lebensbedingungen (häufig un- und angelernte Tätigkeiten, hohes Arbeitslosigkeitsrisiko, Diskriminierungs- und Traumatisierungserfahrungen, eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten etc.) - niedriger sozio-ökonomischer Status (hohes Armutsrisiko, eher niedriges formales Bildungsniveau, wenig altersgerechte Wohnverhältnisse etc.) - Zugangsbarrieren zu Einrichtungen und Diensten des Sozial- und Gesundheitswesens (Fehl- und Unterversorgung , geringe Inanspruchnahme von präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen) Ältere Zugewanderte Bevölkerungsgruppe mit besonderen gesundheitlichen Belastungen und Risiken 5 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Gesundheit, Alter und Migration wenig belastbare Daten zum objektiven Gesundheitszustand (lückenhafte Datenlage), festgestellt werden u.a. (vgl. Brzoska et al., 2010; Hubert, Althammer & Korucu-Rieger 2009; Olbermann, 2011; Özcan & Seifert, 2006; RKI, 2008) früheres Auftreten von chronischen und Mehrfacherkrankungen hohe Zahl an psychischen Erkrankungsdiagnosen vor allem bei den älteren Migrantinnen stärkere Betroffenheit von Frühberentung und Erwerbsminderung Untersuchungsbefunde zum objektiven Gesundheitszustand ergeben aber kein einheitliches Bild: sowohl höhere als auch geringere Prävalenzen bei bestimmten Krankheit feststellbar Eindeutige Befunde zum subjektiven Gesundheitszustand Ältere Zugewanderte bewerten ihren Gesundheitszustand schlechter als ältere Einheimische. Anhaltspunkte für ein erhöhtes Risiko für (frühere) Pflegebedürftigkeit 6 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Pflegebedürftigkeit und pflegerische Versorgung bei Personen mit Migrationshintergrund 7 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Demographisch bedingte Zunahme von Pflegebedürftigen, 1999 – 2009 (1999 = 1) Kohls, 2012 8 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Pflegebedürftige Personen mit Migrationshintergrund Keine gesicherten Daten zu Pflegequote von Personen mit Migrationshintergrund Einfache Schätzung (gleiche Pflegequoten): (Kohls, 2012) Pflegebedürftige ausländische Personen 1999: 68.000 (3,4%) 2009: 102.000 (4,4%) Pflegebedürftige Personen mit MH 2005: 163.000 (7,7%) 2009: 201.000 (8,6%) 9 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Merkmale der Pflegesituation von MigrantInnen: Anmerkungen zur Datenlage Die nachfolgenden Untersuchungsergebnisse beruhen auf einer telefonischen Befragung in deutscher Sprache. Zuwanderer mit geringen Deutschkenntnissen sind daher in der Stichprobe unterrepräsentiert. Dies ist bei der Interpretation der Ergebnisse, insbesondere zu den Informationsmöglichkeiten und zum Informationsstand von Zuwanderern über Leistungen und Angebote der Pflegeversicherung, zu berücksichtigen. 10 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Pflegebedürftige mit und ohne Migrationshintergrund nach Alter (in Prozent) Alter d. Pflegebedürftigen Mit MH Ohne MH unter 60 Jahre 29 17 60-80 Jahre 42 34 80+ 29 49 Quelle: Schneekloth & Schmidt, 2011; eigene Darstellung 11 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Pflegebedürftige mit und ohne Migrationshintergrund nach Lebensform (in Prozent) Lebensform Mit MH Ohne MH Alleinlebend 21 35 Ehepaare 29 28 Ehepaare mit Angehörigen 14 6 Verwitwete mit Angehörigen 15 18 Sonstige Alleinstehende mit Angehörigen 10 9 Kinder unter 16/ Elternhaushalt 11 4 Quelle: Schneekloth & Schmidt, 2011; eigene Darstellung 12 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Informationen über die Leistungen der Pflegeversicherung nach Migrationshintergrund (in Prozent) Einschätzung die Möglichkeit, sich über Leistungen der Pflegeversicherung zu informieren Pflegebedürftige mit MGH Pflegebedürftige ohne MGH Sehr gut 17 18 Eher gut 37 46 Eher schlecht 37 28 Sehr schlecht 5 5 Über das Leistungsangebot der Pflegeversicherung informiert Pflegebedürftige mit MGH Pflegebedürftige ohne MGH Sehr gut 13 17 Eher gut 47 47 Eher schlecht 31 30 Sehr schlecht 9 5 Quelle: Schneekloth & Schmidt, 2011; eigene Darstellung 13 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung nach Migrationshintergrund (in Prozent) Art der in Anspruch genommenen Leistung Pflegebedürftige mit MGH Pflegebedürftige ohne MGH ausschließlich Pflegegeld 79 70 ausschließlich Sachleistungen 7 14 Kombileistungen 12 14 teilstationäre Leistungen 1 2 Kurzzeitpflege 7 14 Häusliche Verhinderungspflege 9 14 Hilfsmittel 81 86 Zuschüsse für baul.-tech. Maßnahmen 16 17 Quelle: Schneekloth & Schmidt, 2011; eigene Darstellung 14 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Gründe für die ausschließliche Inanspruchnahme von Geldleistungen nach Migrationshintergrund (in Prozent) Grund für die Inanspruchnahme Pflegebedürftige mit MGH Pflegebedürftige ohne MGH Pflegegeld wird für die laufenden Pflegeausgaben benötigt 89 83 Pflegebedürftige möchte nicht von Fremden gepflegt werden 75 66 Pflegegeld erlaubt Inanspruchnahme anderer Sachleistungen als sonst vorgesehen 52 42 Hauptpflegeperson möchte nicht, dass die pflegebedürftige Person von Fremden gepflegt wird 50 47 Bei Pflegediensten besteht kein Einfluss auf die Art und Weise, wie die Leistung erbracht wird 47 37 Pflegegeld wird für den laufenden Lebensunterhalt benötigt 39 20 Keine Berücksichtigung kultureller Belange 24 - (nicht erhoben) 15 Quelle: Schneekloth & Schmidt, 2011; eigene Darstellung Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Anteil der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund an allen von Pflegediensten betreuten Pflegebedürftigen in % 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 0% 1 bis 5 % 6 bis 10 % 11 bis 20 % 21 bis 50 % mehr als 50 % Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2011): Abschlussbericht zur Studie Wirkungen des Pflege Weiterentwicklungsgesetzes, S. 83 16 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Merkmale der Situation Pflegebedürftiger mit Migrationshintergrund und ihrer Angehörigen Hilfeorientierung stark auf Familie ausgerichtet hohe intergenerative Unterstützungsbereitschaft begrenzte Unterstützungsmöglichkeiten der Familienangehörigen wenige Erfahrungen und Orientierungsmuster Zugangsbarrieren und fehlende bedarfsgerechte Entlstung- und unterstützungsangeboten hohes Risiko der Überforderung der informellen Netzwerke hohes Risiko einer unzureichenden Unterstützung und Versorgung mit zunehmender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit 17 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Herausforderungen für das Gesundheits- und Pflegesystem im Kontext kommunaler Daseinsvorsorge 18 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Schlussfolgerungen und Handlungsansätze • erheblicher Handlungsbedarf, um Benachteiligungen älterer Migrantinnnen und Migranten entgegenzuwirken und eine gleichberechtigte Teilhabe und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung im Alter zu fördern • Konzepte auch bezogen auf die Weiterentwicklung des Gesundheitsund Pflegesystem liegen vor; Umsetzung steht noch weitgehend aus • Genereller Ansatz: Interkulturelle Öffnung von Einrichtungen und Diensten der gesundheitlichen und sozialen Regelversorgung sowie ergänzende zielgruppenspezifische Angebote • Vernetzung der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung mit anderen Bereichen der kommunalen Daseinsvorsorge 19 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Schlussfolgerungen und Handlungsansätze • Mobilisierung und Nutzung der Ressourcen und Kompetenzen älterer MigrantInnen, ihrer Angehörigen sowie der Migrantencommunities (Erfahrungen, Sprache etc.) im Hinblick auf gesundheitlich-soziale Selbsthilfe und eine angemessene Partizipation bei der Planung und Gestaltung von Angeboten und Diensten der gesundheitlichen Versorgung • Vernetzung von relevanten Stellen und Schlüsselpersonen des Regelversorgungssystems mit denen der Migrantencommunities • Gewinnung und Qualifizierung von muttersprachlichen Multiplikatoren und Vermittlern zur Verbesserung von Zugängen zu Angeboten und Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung (Lotsenmodelle, Gesundheitsmediatoren, Pflegebegleiter, Patientenbegleiter etc.) 20 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Schlussfolgerungen und Handlungsansätze • Förderung der inter- bzw. transkulturellen Kompetenz von Fachkräften des Gesundheits- und Sozialwesens durch entsprechende Qualifizierungs-, Weiterbildungs-, und Supervisionsmaßnahmen sowie verstärkte Einbindung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund • Verbesserung der Informationsvermittlung, z.B. durch die Nutzung muttersprachlicher Medien bzw. die Bereitstellung muttersprachlicher Informationsangebote (mehrsprachige Ratgeber, Internetangebot etc.) • Entwicklung und Bereitstellung bedarfsgerechter Angebote einer migrationssensiblen familienorientierten Pflegeberatung und –begleitung zu entwickeln und zu erproben. • Stärkung der Prävention und Rehabilitation sowie die Erschließung von Zugängen zu gesundheitsfördernden Angeboten auch für ältere MigrantInnen 21 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Schlussfolgerungen und Handlungsansätze • Verbesserung der Datenlage und des Forschungstandes zur gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen mit Migrationshintergrund • Untersuchungen, die die häusliche Pflegearrangements von Migrantinnen und Migranten umfassend beleuchten und tiefergehende Einblicke in die Pflegesituation und damit einhergehende Bedarfe pflegender Angehöriger ermöglichen (dabei Pflege von Menschen mit und ohne Demenz einbeziehen) • Überprüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Optimierung von Handlungsstrategien 22 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Literatur: Bundesministerium für Gesundheit (2011): Abschlussbericht zur Studie Wirkungen des Pflege Weiterentwicklungsgesetzes. Bonn. Online verfügbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/dateien/Publikationen/Pflege/Berichte/Abschlussbericht_zur_Studie_ Wirkungen_des_Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes.pdf, zuletzt aktualisiert am 04.11.2011, zuletzt geprüft am 18.03.2013. Brzoska, P., Voigtländer, S., Reutin, B., Yilmaz-Aslan, Y., Barz, I., Starikow, K., Reiss, K., Dröge, A., Hinz, J., Exner, A., Striedelmeyer, L., Krupa, E., Spallek, J., Berg-Beckhoff, G., Schott, T. & Razum, O. (2010). Rehabilitative Versorgung und gesundheitsbedingte Frühberentung von Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Hubert, S., Althammer, J. & Korucu-Rieger, C. (2009). Soziodemographische Merkmale und psychophysisches Befinden älterer türkischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Bd.39. Berlin: Pro BUSINESS. Kohls, Martin (2012): Pflegebedürftigkeit und Nachfrage nach Pflegeleistungen von Migrantinnen und Migranten im demographischen Wandel. Hg. v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Forschungsbericht, 12). Online verfügbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb12-pflegebeduerftigkeitpflegeleistungen.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt aktualisiert am 14.03.2012, zuletzt geprüft am 14.03.2013. Olbermann, E. (2011). Gesundheitsförderung und Primärprävention bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund . Schlussbericht zum Forschungsprojekt. Dortmund. Online verfügbar unter: http://edok01.tib.unihannover.de/edoks/e01fb11/672747669.pdf Olbermann, E. (2008). Kultursensible Altenhilfe. In K. Aner & F. Karl. (Hrsg.), Lebensalter und Soziale Arbeit: Ältere und alte Menschen (S. 138 – 150), Band 5 der Reihe Basiswissen Soziale Arbeit, hrsg. von H.-G. Homfeldt und J. Schulze-Krüdener, Hohengehren: Schneider-Verlag. Özcan, V. & Seifert, W. (2006). Lebenslage älterer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. In Deutsches Zentrums für Altersfragen (Hrsg.), Lebenssituation und Gesundheit älterer Migranten in Deutschland: Expertisen zum fünften Altenbericht der Bundesregierung, Band 6 (S.7–77). Berlin. Pohl, C. (2010). Der zukünftige Bedarf an Pflegearbeitskräften in Deutschland. Modellrechnungen für die Bundesländer bis zum Jahr 2020. Comparative Population Studies, Jg. 35, H. 2, S. 357-378. Robert-Koch-Institut (RKI) (Hrsg.) (2008). Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Migration und Gesundheit. Berlin. 23 Institut für Gerontologie an der TU Dortmund Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: Dr. Elke Olbermann Institut für Gerontologie an der Technischen Universität Dortmund Evinger Platz 13 44339 Dortmund Tel: 0231 728 488 29 Fax: 0231 728 488 55 E-mail: [email protected] URL: http://www.ffg.uni-dortmund.de 24
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