Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) Marc-Andreas Edel Fliedner Klinik Gevelsberg Mentalisieren: Definition q Sich in sich selbst und andere hineinversetzen (oft synonym mit ‚Theory of Mind‘) q Dabei eigene q Gedanken, Bewertungen, Überzeugungen, q Bedürfnisse, Absichten, Wünsche, q Grenzen, q Gefühle, q Körperreaktionen und Handlungen miteinander in Beziehung setzen, q q zu erforschen und zu erfassen, wie diese Facetten bei einer bestimmten anderen Person funktionieren und interagieren Und die eigenen Vorgänge auf die der anderen Person abstimmen bzw. ihr damit zu begegnen (‚Intersubjektivität‘) Fliedner Klinik Gevelsberg Mentalisieren: Voraussetzungen und verwandte Begriffe 1. Introspektion 2. Außenperspektive • Affektive Empathie (Mitgefühl) • Kognitive Empathie (Einfühlung auch in kognitive Aspekte von Emotionalität) • Affektive Theory of Mind (sich in Gefühle hineinversetzen) • Kognitive Theory of Mind (sich in Gedanken und Absichten hineinversetzen) 3. Beziehungsperspektive Fliedner Klinik Gevelsberg Choi-Kain & Gunderson, 2008 Mentalisieren: Hintergrund Neueres psychologisches Konstrukt mit Wurzeln (u. a.) in q der Psychoanalyse, q Der Traumatherapie q der Bindungsforschung q der Entwicklungspsychologie, q der Verhaltensforschung q der Neurobiologie Fliedner Klinik Gevelsberg Peter Fonagy Anthony Bateman „Mentales Explorieren“ basiert auf Bindungssicherheit Alter Funktionen 0 – 1 LJ Bindungs- und Sicherheitssystem 2 – 3 LJ Entwicklung von Autonomie und Exploration Ab 4.-5. LJ Komplexeres Mentalisieren wird möglich Fliedner Klinik Gevelsberg Die Grundlagen für Mentalisieren entstehen in der Interaktion zwischen Säugling und Mutter Säugling Imitation + Erkennen von Mimik (Emotion, Schmerz) Mutter Kontingentes und markiertes Spiegeln Kontingent = prompt und genau abgestimmt Fliedner Klinik Gevelsberg Markiert = mit mütterlichem Anteil versehen Das kontingente und markierte mütterliche Spiegeln von Emotionen und Befindlichkeiten ist Basis des Mentalisierens Edward Tronicks Still Face Experiment Quelle: YouTube Fliedner Klinik Gevelsberg „Secure Attachment“ (Bindungssicherheit) durch mütterliche Nähe und Wärme – Für das Gedeihen elementarer als Ernährung Harry Frederick Harlow (1905–1981) Fliedner Klinik Gevelsberg Verlust von Bindung führt zu Traurigkeit und Depression, Trennung zu Wut und Angst Edward John Mostyn Bowlby (1907–1990) Fliedner Klinik Gevelsberg Anhaltende Entbehrung von Nähe und Wärme in der Kindheit führt zu Bindungsstörungen (strange situation) q q q Mary Dinsmore Salter Ainsworth (1913–1999) Fliedner Klinik Gevelsberg q Sicher: ausgewogene Balance zwischen Exploration und Nähe-suchendem Verhalten; das Kind kann von der Mutter leicht beruhigt werden Vermeidend: Pseudoautonomie; das Kind ignoriert die Mutter, wenn sie wieder den Raum betritt Ambivalent: anklammerndes Verhalten und Wutausbrüche (temper tantrums); das Kind ist schwer zu beruhigen Desorganisiert (bei unverarbeitetem Trauma): starke Fluktuationen im Verhalten, desorganisiertes Verhalten, Stereotypien Unsichere Bindungsstile (gemäß Attachment Style Interview/ASI; Bifulco et al., 2002 und Relationship Questionnaire/ RQ; Bartholomew & Horowitz, 1991) Vermeidend Ängstlich Gruppe Bindungsstil Verhalten (Angst) Ängstlich-ambivalent Anklammernd (verstrickt/enmeshed) (Angst vor dem Verlassenwerden) Ängstlich-selbstunsicher Misstrauisch (furchtsam/fearful) (Angst vor Ablehnung) Vermeidend-aggressiv Ablehnend (zurückweisend/dismissive) (Angst vor Nähe) Vermeidend-ausweichend Sich verbergend, ausweichend (zurückgezogen/withdrawn) (Angst/Vermeidung vor/von Nähe) Tabelle aus MBT-Modul 2 (Projekt DBT+MBT vs. DBT), LWL-Universitätsklinik Bochum (Edel, Dimaggio & Brüne, 2013) Desorganisiert (ASI): ”Dual Style“ Fliedner Klinik Gevelsberg Hemmung der Mentalisierungsfähigkeit bei früher Traumatisierung Bindungstraumata (emotionale Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, Gewalterfahrung) Fliedner Klinik Gevelsberg Mentalisierungs-Hemmung Mentalisieren bei Borderline-Persönlichkeitsstörung (u. a. psychischen Störungen) Bei Aktivierung des Bindungssystems (Trennungs- und Verlustängste) versagt das Mentalisieren q Oft Oszillation zwischen Mentalisierungsblockade und verzerrter oder überschießender Mentalisierung (zur q Gefahrenabwehr) q Auftreten ‚prämentalistischer‘ Modi q q q Äquivalenzmodus: inneres Erleben entspricht der Realität, mind-world isomorphism (z. B. bei Flash-Backs) Als-ob-Modus (Pretend Mode): Entkopplung von der emotionalen inneren Realität mit Selbstentwertung, Grübeln und Rationalisierung (PseudoMentalisieren) Teleologischer Modus: Kommunikation innerer Zustände durch Ausagieren (z. B. Selbstverletzung als Ausdruck inneren Schmerzes, Sex als Beweis für Liebe) Fliedner Klinik Gevelsberg Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) q Wurde zur Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt (eines der vier evidenz-basierten Verfahren: DBT, Schematherapie, MBT und TFP) q 2 RCT (Bateman & Fonagy, 2008, 2009) q q q q q Verringerung von Selbstverletzungen und Suizidalität Verbesserung des interpersonellen Funktionsniveaus Verbesserung des sozialen Funktionsniveaus Verringerung der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems Verringerung von Polypharmazie „We consider our focus on mentalizing to be a refinement rather than an innovation“ (Allen et al., 2008) q Einsatz und teils Wirksamkeitsnachweis bei anderen psychischen Störungen (Somatisierungsstörung, Angststörung, Essstörung, Depression) q Fliedner Klinik Gevelsberg Ziele der MBT q q q q Mehr Bindungssicherheit, Vertrauen und Selbstberuhigungsfähigkeit durch Verlässlichkeit ermöglichen Auf dieser Basis die Explorationsfähigkeit, besonders Selbstexploration und Mentalisierungsfähigkeit, anregen Mehr Akzeptanz für die Subjektivität von innerer Realität und die Möglichkeit von Missverständnissen und Konflikten Mentalisierungs-Skills zur Symptomreduktion Bindung! Mentalisierung! MBT Fliedner Klinik Gevelsberg Prinzipien und therapeutische Haltung bei MBT 1 q Klares und transparentes Setting mit Regeln (z. B.: „Ziel dieser Gruppe ist, dass wir uns so über innere Vorgänge austauschen, dass Sie die Angst davor verlieren, sich zu öffnen, und andere Personen als weniger bedrohlich kennenlernen; immer, wenn ich den Eindruck habe, dass sie sich von ihren Gefühlen entfernen, sich selbst runtermachen, bestimmte Dinge vermeiden oder von Gefühlen überflutet wirken, werde ich dies ansprechen und einen Kurswechsel vorschlagen“) q q Alltagssprache, einfache Formulierungen, einfache Fragen und “dumme Fragen“ („Colombo-Stil“) è „Geleitetes Entdecken“; nicht mehrere Fragen hintereinander ‚Selektive Selbstöffnung‘ („sehe ich auch so“; „ich war mal in einer ähnlichen Situation ...“) Fliedner Klinik Gevelsberg Prinzipien und therapeutische Haltung bei MBT 2 q Prozess und Interaktion vor Inhalte stellen (Klärung, Metakognition) q Neugier und Interesse an subjektiven Vorgängen kultivieren („Exploration vor Einsicht“) q Status quo akzeptieren und Respekt bzgl. unterschiedlicher Wahrnehmungen äußern q Affekte und ihre Auslöser explorieren q Präsentation und Diskussion allgemeiner Wahrheiten vermeiden q Mit verschiedenen Perspektiven und dem Wechsel zwischen Innen- und Außensicht spielerisch umgehen Fliedner Klinik Gevelsberg Prinzipien und therapeutische Haltung bei MBT 3 q Flexibel intervenieren in Abhängigkeit von wechselnder Mentalisierungsfähigkeit des Patienten (wenn Mentalisieren gerade nicht geht, geht es eben gerade nicht – ist nicht schlimm) q q Direkt intervenieren bei Mentalisierungs-Unterbrechung – ‚Stop and rewind‘ („was meinten sie genau damit?“) Zusammenhang von Mentalisierungs-Unterbrechung und -wiederherstellung validieren (‚Rupture and Repair‘) Fliedner Klinik Gevelsberg Prinzipien und therapeutische Haltung bei MBT 4 q Patienten mit heftigen Emotionen „containen“: Kontingentes und markiertes Feedback geben („das kann ich nachvollziehen, dass sie sauer sind, ich sehe es aber etwas anders ...“) q Übertragung, Projektion und Widerstände akzeptierend und wertschätzend ansprechen (‚Validierung‘) Fliedner Klinik Gevelsberg Prinzipien und therapeutische Haltung bei MBT 5 q Alles fördern, was Mentalisieren im Hier und Jetzt anregt q q Akzeptanz, Validierung und Sicherheit vermitteln, evtl. Bindungs-Arousal deaktivieren q Neugier, Explorationswünsche anregen q Humor und Spielerisches verstärken q Nahbar und fehlbar sein dürfen („Therapie auf Augenhöhe“) Alles unterlassen, was Mentalisieren im Hier und Jetzt behindert q q q Voreilige Schlussfolgerungen, Deutungen, Festlegungen Theoretische Erklärungen, systematische Einordnung (höchstens im Rahmen einleitender Psychoedukation) Lange Schweigepausen, Als-ob-Modus oder teleologischer Modus Fliedner Klinik Gevelsberg Literatur Fliedner Klinik Gevelsberg
© Copyright 2024 ExpyDoc