Johannis -Lehrlingsgrad

Der
Johannis -Lehrlingsgrad
in Vorträgen
von
Br. Otto Hieber
Spezieller Teil
Handschrift für Brüder Lehrlinge
Berlin 1905
BBr. E r n s t S ie g frie d M i t t l e r u n d S o h n
Königliche Hofbuchhändler und Hofbuchdrucker
Kochstraße 68—71
Vorwort.
In den Vorträgen, welche den zweiten Band der Sammlung bilden, ist der Versuch gemacht worden, die
Überlieferungen unserer Akten, welche dem Johannis-Lehrlingsgrade zugewiesen sind, einer erklärenden Betrachtung
zu unterwerfen. Für die Reihenfolge der Betrachtungen ist das Fragebuch maßgebend gewesen, ohne dabei das in den
Erklärungen sowie in dem Aufnahmeritual selbst enthaltene Unterrichtsmaterial außer acht zu lassen und, sollte ich
meinen, einen irgend wichtigen Punkt übergangen zu haben.
Die vorliegenden Vorträge sind wie die des ersten Bandes zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden, die wenigsten
sind jedoch in ihrer ursprünglichen Form zum Abdruck gelangt, vielmehr sind die meisten überarbeitet oder
vollständig neu bearbeitet worden. Wo zwei Jahreszahlen am Schluß angefügt sind, weist die erste auf die
Entstehung, die zweite auf die Neubearbeitung hin. Eine große Zahl der Aufsätze ist zwecks Herausgabe des
vorliegenden Bandes ganz neu entstanden.
Noch mehr als im ersten Bande werden dem Leser die öfteren Wiederholungen auffallen; sie ließen sich hier noch
viel weniger vermeiden als dort. Wenn wir darangehen, unsere Riten, Symbole und sonstigen Überlieferungen einer
näheren Betrachtung zu unterwerfen, dann merken wir erst, wie alle diese Dinge durch die mannigfachsten
Beziehungen miteinander verbunden sind. Ein Beispiel möge statt vieler dienen: Der rechte Winkel ist überall zu
finden, nicht nur auf der Arbeitstafel als Winkelmaß für sich allein und als gestaltgebendes Element in den meisten
anderen Symbolen, >VI< sondern auch in den Aufnahmegebräuchen, in den rechtwinkligen Schritten, im
rechtwinklig geöffneten Zirkel und anderen Momenten; er bedingt die Form des Altares und der Loge selbst, er spielt
bei den Erkennungszeichen eine große Rolle usw. Es läßt sich daher nicht umgehen, bei der Behandlung dieser Dinge
immer wieder auf den rechten Winkel zurückzukommen und auf seine Bedeutung hinzuweisen. Es war dies
umsomehr nötig, als jeder Vortrag für sich ein Ganzes bilden soll. Auch machen die Vorträge nicht den Anspruch
darauf, in der Reihenfolge, wie sie da stehen, gelesen zu werden, was höchstens bei den die Lehrlingsaufnahme
behandelnden Aufsätzen der Fall sein könnte. An einer großen Zahl von Stellen ist auf frühere oder später folgende
Vorträge verwiesen worden, was sich aber bis zur äußersten Konsequenz nicht durchführen ließ. Bei Zitierung von
Seitenzahlen ist stets die alte, metallographierte Ausgabe unserer Akten gemeint, deren Pagina in den neu gedruckten
Akten am Rande angefügt ist.
Es bleibt mir endlich noch übrig, meinem innigsten Dank und meiner Freude Ausdruck zu geben für die liebevolle,
nachsichtige, vorurteilslose und brüderliche Art, mit welcher der erste Band meines Werkes von der maurerischen
Presse und auch von denjenigen Organen, welche unsere Auffassung der Freimaurerei nicht teilen, beurteilt worden
ist. Es erfüllt mich das mit dem beruhigenden Bewußtsein, daß Unduldsamkeit und Gehässigkeit, wie wir Brüder der
Großen Landesloge solche schon oft haben erfahren müssen, zu den Seltenheiten gehören, und daß namentlich die
führenden Geister — und als solche müssen wir doch die Vertreter der Presse ansehen — zum größten Teil von
solchem unmaurerischen Wesen frei sind. In der Anerkennung jedes ehrlichen maurerischen Strebens ist ein festeres
Band der Einigung gegeben als in der unseligen Gleichmacherei, die uns nicht zur Ruhe und zur inneren Arbeit
kommen läßt.
So sei denn auch diese zweite Sammlung dem brüderlichen Wohlwollen der Leser empfohlen!
Königsberg i. Pr., den 27. November 1904.
Br. Otto Hieber.
Inhaltsverzeichnis.
Seite Was ist ein Freimaurer und wie arbeitet er? (1903)
Die Grade des Ordens (1880)
Die Pflichten des Lehrlings (1897)
Was ist die Loge? (1879)
Die Gestalt der Loge (1886)
Die Bedeutung des Wortes „Loge" (1903)
Orden und Ritterschaft (1903)
Wo ist die allgemeine oder Johannis-Freimaurerloge gelegen? (1895. 1904)
Der Altar (1896. 1903)
Winkelmars und Zirkel auf dem Altar (1898. 1904)
Das Hausgerät der Loge (1895. 1904)
Die Bibel, unser größtes Licht (1876. 1904)
Die Beamten der Loge (1891)
Das Eröffnungs- und Schlußritual der Loge und
die freimaurerische Zeitrechnung (1881)
Die allgemeinen Zeichen des Freimaurerordens (1901)
Das freimaurerische Klopfen (1899)
Vom Wandern und vom Wetter, vom Alter und vom Lohne (1904)
Die Moral des Ordens (1904)
Kreide, Kohlen und Feuer (1899)
Die drei Pfeiler (1904)
Das Kleid des Meisters (1904)
Die Fragen an die besuchenden Brüder (1900)
Das Geheimnis der Freimaurerei: Erster Vortrag (1903)
Das Geheimnis der Freimaurerei: Zweiter Vortrag (1904)
Zeichen, Griff und Wort (1904)
Die Losung des Lehrlings (1881)
l
10
25
39
44
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102
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170
178
186
194
205
222
Die Lehrlingsaufnahme.
Aus dem Dunkel zum Licht (1881. 1904)
Die dunkle Kammer und die Lichtprobe (1900)
Das Ablegen der Metalle (1900)
Die Entkleidung (1891. 1904)
>VIII<
Seite Die Binde vor den Augen des Suchenden (1900)
Die drei harten Schläge (1904)
Die an den Suchenden gerichteten Fragen (1901)
Das Schicksal, das sich der Maurer selbst bereitet (1892)
Das dreifache Ja des Anhaltenden (1901)
Vorsicht, kaltes Blut und Sammeln der Gedanken (1901)
235
241
249
256
265
271
277
284
289
294
Die Lehrlingsreisen (1901)
Suchen, Anhalten, Leiden (1904)
Der Weg zum Altar und der Zirkel auf dem Herzen (1897)
Eid und Gelübde (1902)
Salomos Siegel (1902)
Die Lichterteilung. Erster Vortrag (1901)
Die Lichterteilung Zweiter Vortrag (1901)
Blutmischung und Weihe (1902)
Die Eintragung in das Jahrbuch des Ordens (1904)
Der Lehrlingsschurz (1902)
Die Kelle des Lehrlings (1902)
Das Schwert (1898)
Die Handschuhe (1904)
300
307
314
323
330
338
349
356
363
370
374
380
389
Die Lehrlingstafel.
Die schwarze Tafel mit den weißen Figuren (1888. 1904)
Der Rahmen der Arbeitstafel (1888. 1904)
Die auf dem Rahmen der Tafel verzeichneten Himmelsgegenden (1890. 1904)
Die drei unbeweglichen Kleinodien:
Der rauhe Stein (1891)
Der kubische Stein (1891)
Das Reißbrett (1904)
Die drei beweglichen Kleinodien:
Winkelhaken, Wasserwaage und Senkblei (1904)
Die drei Sinnbilder
Der Hammer (1904)
Der Zirkel (1904)
Die Kelle (1904)
Die drei Zierarten:
Der musivische Fußboden (1904)
Der flammende Stern (1904)
Das Vereinigungsband (1904)
Die vier Gleichnisse:
Sonne und Mond (1895. 1904)
Die beiden Säulen (1874. 1894)
399
407
413
497
503
Namen- und Sachregister
513
423
439
446
456
467
470
473
477
483
489
Was ist ein Freimaurer und wie arbeitet er?
Die erste und letzte Frage des Lehrlings-Fragebuches.
Die Akten der Großen Landesloge enthalten in jedem Grade ein Fragebuch, welches in Katechismusform den ganzen
Inhalt der betreuenden Ordensstufe kurz und treffend zur Darstellung bringt. Das Fragebuch des Lehrlingsgrades
zerfällt in zwei Teile, von denen der erste, die Abteilungen I bis III, die Kenntnisse umfaßt, welche die Freimaurerei
im allgemeinen betreffen, der zweite dagegen, die Abteilungen IV bis VI, die besonderen Kenntnisse des
Lehrlingsgrades zur Darstellung bringt. Der erste allgemeine Teil ist der ersten Ordensstufe zugewiesen, weil diese,
wie es die Akten eines späteren Grades sagen, den gesamten Inhalt der Freimaurerei schon vorgebildet enthält.
Hierdurch erhält das erste Fragebuch einen außerordentlich reichen Inhalt. Wir werden darin belehrt
1.)
2.)
3.)
4.)
5.)
über das stufenweise Erfassen der Ordenslehre, wie es in den verschiedenen Graden geschehen soll;
über den Raum, den der Freimaurer bewohnt, die Loge, ihre Beschaffenheit und Lage, ihr Hausgerät und
ihre Beamten;
über die Zeiteinteilung, in welcher die maurerische Arbeit sich vollzieht, wohin auch die Fragen zur
Eröffnung und zum Schluß der Loge gehören, welche als I. Abteilung an der Spitze des Ganzen stehen;
über die allgemeinen Kennzeichen des Freimaurers, über Wandern, Alter und Lohn;
über Art und Materialien der Arbeit, Unterweisung im Verhalten beim Besuch anderer Logen und
anderes.
Der spezielle Lehrlingsteil unterweist ferner
6.)
7.)
8.)
über die besonderen Erkennungszeichen des Lehrlings ;
über den freimaurerischen Entwicklungsgang, wie er durch die Lehrlingsaufnahme dargestellt wird, und
endlich
über die Werkzeuge, durch welche das freimaurerische Werk getrieben, und welche auf der Arbeitstafel
der Lehrlinge dargestellt sind.
Dieser große umfassende Inhalt wird gleichsam eingerahmt von zwei Fragen, welche an den Anfang und an den
Schluß gestellt sind. Sie gehören ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung nach zusammen und sollen daher auch zusammen
betrachtet werden.
Die erstere gibt eine Definition des Freimaurers, und die letztere redet von der vornehmsten Arbeit desselben.
Frage 1 lautet:
„Was ist ein Freimaurer?“
„Ein Freimaurer ist ein freier Mann, der seine Neigungen zu überwinden, seine Begierden zu mäßigen
und seinen Willen den Gesetzen der Vernunft zu unterwerfen weiß.“
Die Antwort enthält also eine Definition des Freimaurers. Ist nun diese Definition erschöpfend? — Man kann das
bejahen und verneinen. Die Definition ist wohl zutreffend; denn jene drei Merkmale, welche die Antwort anführt, das
Überwinden der Neigungen, das Mäßigen der Begierden und das Unterwerfen des Willens, müssen sich bei jedem
Freimaurer finden; sie sind unbedingte Erfordernisse für jeden, der wirklich ein Freimaurer sein und nicht bloß
heißen will. Aber es gibt noch andere Menschen, die in dem Überwinden, Mäßigen und Unterwerfen es manchem
Freimaurer vielleicht noch zuvortun, trotzdem aber darum noch nicht Jünger der k. Kunst genannt werden können.
Die Definition ist mithin zu weit und bedarf der Einschränkung; wir müssen weiter fragen: welche von jenen
Menschen, die ihre Neigungen, ihre Begierden und ihren Willen im Zaume zu halten verstehen, sind keine
Freimaurer? — Die Antwort darauf lautet: alle diejenigen, welche jene Selbstzucht üben nicht um des
freimaurerischen Zieles willen, sondern aus irgend einer anderen Rücksicht. So gibt es Leute, welche ihre Neigungen
überwinden können, weil ihnen die Gelegenheit oder die Mittel fehlen, sie zu befriedigen. Es versteht sich natürlich
von selbst, daß hier nur von üblen Neigungen die Rede ist; denn guten und edlen Neigungen nachzugeben, kann für
jeden Freimaurer nur heilsam und ersprießlich sein. — Es gibt ferner Leute, welche ihre Begierden mäßigen, weil
etwa die Rücksicht auf ihre leibliche Gesundheit das erheischt, und es gibt Leute, welche ihren Willen unterwerfen,
um in den Augen der Menschen als Männer von makellosem Ruf und als untadlige Charaktere zu gelten; ein solcher
Mustermann ist vielleicht im Innern höchst dissolut und der Vernunft gänzlich abgewandt. Wer überhaupt in der Welt
etwas erreichen, es zu etwas bringen will, der hat alle Ursache, sich zu überwinden, sonst stößt er an und kommt nicht
zu seinem Ziel.
Den wahren Freimaurer aber leiten nicht solche Beweggründe. Für sein Werk gelten Titel, Würden, ererbte Namen,
Reichtum, Glanz und Macht nichts. Das Urteil der Welt ist ihm gleichgültig, nur das allsehende Auge dessen, vor
dem unser innerstes Wesen offen daliegt, hat er zu scheuen. Daher ist jenes Überwinden, Mäßigen und Unterwerfen
nicht ein Zugeständnis an äußere Verhältnisse, sondern jene Übungen haben allein den Zweck, sein inneres Leben,
den göttlichen Geist, der in ihn gelegt ist, zu befreien, zu entwickeln und der Vollendung entgegenzuführen.
Nun gibt es aber doch Menschen, die aus reinsten sittlichen Motiven jenen Kampf der Selbstüberwindung kämpfen
und trotzdem noch nicht Freimaurer genannt werden können. Denn nur der kann Anspruch auf diesen Namen
erheben, welcher den Kampf mit sich selbst kämpft lediglich, um an das Ziel zu gelangen, das die k. Kunst ihm
gesteckt hat, der da geleitet wird von dem Lichte des Göttlichen, für dessen Schein ihm sein geistiges Auge geöffnet
ist und dessen Erweckung in seinem Inneren er als den eigentlichen Zweck seines Daseins betrachtet. In diesem
Lichte lernt er erst die Notwendigkeit der Selbstüberwindung kennen, durch sein Erglühen erhält er dazu die Kraft,
und die Liebe zu diesem Lichte verleiht ihm Ausdauer und führt ihn zum Siege und zur Vollendung.
So sind also jene Forderungen der ersten Frage nur die Vorbedingungen für die freimaurerische Arbeit. Der Künstler
muß, ehe er daran denken kann, etwas zu schaffen, sich erst gewisse Fertigkeiten >4< erworben haben, die ihm das
erst ermöglichen. So ist es auch in der k. Kunst. Das Überwinden der Neigungen, die Mäßigung der Begierden, die
Unterwerfung des Willens unter die Gesetze der Vernunft, alles dies bildet die Propädeutik der Freimaurerei, und
jeder, der sich ihr widmet, muß diesen Forderungen genügen können, ehe er daran denken darf, das Werk der k.
Kunst selbst in sich zu beginnen. Jeder Künstler muß innerlich frei sein, wenn er etwas Rechtes schaffen will; so auch
der Freimaurer. Das sagt die erste Silbe seines Namens, und das liegt auch in der Antwort auf unsere Frage: ein freier
Mann soll er sein, der in seinen Neigungen, Begierden und in seinem Wollen sich selbst überwunden hat.
Ein freier Mann! Schon unser Aufnahmegesetz fordert, daß der Suchende ein freier Mann sei, d.h. sein eigener Herr,
unabhängig in betreff der Verfügung über die Zeit, welche seine Berufsgeschäfte nicht in Anspruch nehmen, und
unabhängig in der Verwendung seines Einkommens. Hier in der Loge ist jedoch noch eine andere Freiheit gemeint.
Er muß geistig frei sein. Der Mensch besteht aus dem irdischen, leiblichen, vergänglichen und aus dem geistigen,
ewigen Teil. Dieser ist der Herr, jener der Diener. Schlimm ist es, wenn diese beiden ihre Rollen tauschen. Das
Geistige in uns verliert dann seine Herrscherrechte und wird geknechtet von dem, was wir mit dem Tiere gemeinsam
haben; denn aus dem Leiblichen, Materiellen stammen eben unsere Neigungen und Begierden. Den Kampf zwischen
diesen beiden Mächten unseres Wesens muß jeder durchkämpfen. Selbst das reinste und edelste Menschenleben ist
nicht frei davon. Neigungen, die uns herabziehen, hat jeder, er muß sie haben, denn das ist menschlich; sie stammen
aus unserer irdischen Natur, die wir nun einmal nicht abstreifen können. Aber die Neigungen, wenn sie nicht
überwunden werden, potenzieren sich zu Begierden, und wenn diese Macht gewinnen, so unterwerfen sie den Willen
und machen ihn den Gesetzen der Vernunft abwendig. Über ein solches Wollen ist der Mensch nicht mehr Herr, es
gestaltet sich zur Tat, zum Vergehen, ja zum Verbrechen, wenn auch nicht immer gegen das bürgerliche Strafgesetz,
sondern gegen das Sittengesetz, das eine höhere Hand in unser Inneres gelegt hat, und das als Gewissensstimme uns
richtet.
Wer von uns wäre in diesem Kampfe nicht schon unterlegen? Wer wäre nicht schon verurteilt worden von dem
Tribunal in seinem Innern? — Aber wo ein Gericht ist, da kann auch Gnade walten, und wo Befleckung ist, da kann
auch Reinigung stattfinden, und wo Fall ist, da muß Erhebung eintreten.
Und so fordern wir von demjenigen, den wir zum Freimaurer machen, keineswegs, daß er nie unterlegen sei im
inneren Kampfe, wohl aber fordern wir von ihm, daß er sich reinige von Schuld und Befleckung, und daß er sich
erhebe vom Fall. Zu diesem inneren Läuterungsprozeß muß er beanlagt sein, sonst können wir ihn nicht brauchen; er
muß die Sehnsucht nach dem endlichen Sieg in sich tragen, um sich als ein Befreiter und darum freier Mann über das
zu erheben, was ihn niedergeworfen hatte, nur so kann er die Kraft erlangen, seinen Willen, der ihn unmittelbar vor
die entscheidende Tat führt, einem höheren Gesetz zu unterwerfen als dem Gesetz des Fleisches und der Sünde —
dem Gesetz der Vernunft, das entstammt dem ewigen, göttlichen Licht.
Solche Anforderungen stellt der Orden an jeden, der sich ihm nähert. Es wäre mißlich, wenn ein Überwinden der
Neigungen, ein Mäßigen der Begierden, ein Unterwerfen des Willens erst in der Loge gelernt werden sollte; denn die
Loge ist keine Erziehungs- oder Besserungsanstalt, sondern sie ist die Werkstätte der höchsten Kunst. Nein! Der
Suchende muß das Streben nach Geistesfreiheit schon mitbringen, wenn er im Orden gedeihen soll. Er muß in der
Selbstüberwindung bereits eine gewisse Fertigkeit haben, ehe er sich an die künstlerische Tätigkeit des
Maurerberufes macht. Jene ist die Vorbedingung für diesen, und ohne sie wird er nicht die Arbeiten ausführen
können, welche der Orden ihm aufträgt, und auf welche die letzte Frage unseres Lehrlings-Fragebuches hinweist.
Dieselbe lautet:
„Welches sind die vornehmsten Arbeiten der Freimaurer ?“
„Ihre Handlungen abzumessen und ihre Gedanken und Worte zu richten.“
Wenn nun jene erste Frage uns die Vorbedingungen für unsern Freimaurerberuf aufstellt, so führt uns diese letztere in
das eigentliche Wesen unserer Arbeit ein und zeigt uns das wahrhaft Positive unserer Sache. Beide Fragen stehen
parallel zueinander; beide enthalten eine Steigerung. Das Neigen steigert sich zum Begehren und dieses zu dem die
Tat bedingenden Wollen, und aus dem Gedanken bildet sich das Wort, aber noch mehr als in diesem manifestiert sich
das Wesen des Menschen in seinen Handlungen. >6<
Vielfach und von mancherlei Art sind die Arbeiten der Freimaurer; aber das Richten und Abmessen von Gedanken,
Worten und Handlungen soll seine vornehmste Arbeit bilden, denn das ist es gerade, was bestimmend und
gestaltgebend auf alle seine anderen Arbeiten, auf sein ganzes Tun und Lassen einwirken soll. Jenes Überwinden,
Mäßigen und Unterwerfen war eine Abwehr desjenigen, was das freimaurerische Werk stören könnte, es war ein
negatives Tun, das sich aus dem Verbot des Unerlaubten ergab. In dem Abmessen und Richten aber tritt uns etwas
Bejahendes entgegen, das uns hinweist auf das Befolgen höchster Gesetze. Wir werden dadurch in die innerste,
geheime Werkstätte der Freimaurerei geführt, in das Heiligtum des menschlichen Geistes. Gedanken und Worte
sollen gerichtet werden, und zwar so, daß sie sich abwenden von einem zu Fliehenden und zuwenden einem zu
Erstrebenden. Gedanke und Wort aber grenzen unmittelbar aneinander, sie sind beinahe eins. Gedanken sind
unausgesprochene Worte, und Worte sind ausgesprochene Gedanken. Man kann daher wohl beides identifizieren,
denn Denken ist innerliches Sprechen. Die Gedanken regen sich in uns in der Gestalt der Worte unserer
Muttersprache, und beim Kinde entwickelt sich die Denkkraft gleichzeitig mit dem Sprechen. Durch das gedachte
Wort wird die Gestaltung unseres inneren Menschen bedingt; darum ist das Wort dasjenige Werkzeug des
Freimaurers, welches seine Arbeit am unmittelbarsten und nachhaltigsten anfaßt und fördert, und das Höchste, was
uns ein jeder Grad als Quintessenz seines Wissens und Könnens zu bieten hat, ist „das Wort“, in welches er seinen
ganzen Inhalt wie in einen Brennpunkt zusammenzufassen sucht. In das Innere eines jeden Menschen hat der
Schöpfer sein Wort gelegt, jedem hat er seinen lebendigen Geist eingehaucht, und dieses unnennbare, geheimnisvolle
Etwas ist es, was in uns denken und reden soll. Kraft seiner natürlichen Wahlverwandtschaft richtet es sich auf den
ewigen Quell, von dem es ausging, und sucht zu ihm zurückzukehren. Es kann von dieser Richtung nur abgedrängt
werden durch verkehrte Neigungen, böse Begierden und übles Wollen, welche die Stimme der Wahrheit, die in uns
laut werden will, in lose Reden und faules Geschwätz verdrehen. Darum wird jenes Überwinden, Mäßigen und
Unterwerfen von uns gefordert, welches das Irdische, Fleischliche, Gemeine in uns bändigt und unterdrückt und uns
dadurch frei macht, d.h. das Göttliche, das in uns gebunden ist, seiner Banden entledigt und die Hindernisse hinweg
räumt, die seine Richtung verwirren wollen.
Ist dies in vollkommener Weise geschehen, so nimmt das Ewige in uns seine Richtung von selbst. Solange das aber
nicht der Fall ist, muß dem Worte, das in uns lebt und denkt und redet, die Bewegung und Richtung gegeben werden.
Es muß geführt werden aus der Tiefe zur Höhe, aus der Finsternis zum Licht, aus dem Irrtum zur Wahrheit, aus dem
Gebundensein zur Freiheit, aus dem Tode zum Leben, aus der Beschränktheit und Endlichkeit zur Unendlichkeit und
Ewigkeit.
Wer dieses höchste und wichtigste Werk, das Richten des in ihm lebenden Wortes, kräftig und beharrlich angreift,
nur der allein kommt maurerisch vorwärts. Und wenn kein Mißlaut die göttliche Sprache, die in ihm redet, entstellt,
dann wird es ihm auch leicht werden, das zu leisten, was von ihm, dem in der Welt stehenden Maurer, als letztes
Resultat seiner Persönlichkeit gefordert wird, d. i. seine Handlungen abzumessen.
Die Handlungen des Menschen sind die Manifestationen des Wortes, wie es gerade in ihm redet. Ja, das gesprochene
Wort ist schon eine Handlung, eine Tat, die um so nachhaltiger wirkt, je reiner die Quelle ist, aus der es hervorbrach.
Für unsere Handlungen aber, d.h. für Worte und Taten, tragen wir den Maßstab in uns, wenn wir uns des Ewigen in
uns und unserer Bestimmung bewußt bleiben, und dieser Maßstab wird uns richtig leiten in allen Verhältnissen des
Lebens, mögen sie auch noch so verwickelt sein.
Das ist es also, worüber wir stets wachsam sein müssen. Wir haben uns stets Rechenschaft darüber abzulegen, wie
weit wir mit dem Überwinden der Neigungen, dem Mäßigen der Begierden und der Unterwerfung des Willens
gekommen sind, und wie es mit dem Richten unserer Gedanken und Worte und mit dem Abmessen unserer
Handlungen steht. Denn nur so allein können wir das wirklich sein, was wir uns nennen: — Freimaurer.
Als Freimaurer aber haben wir eine hohe Mission zu erfüllen, und mehr als durch allerlei humanitäre Bestrebungen
kommen wir dem nach gerade durch die Erfüllung jener sittlichen Forderungen an uns selbst. Zunächst soll unser
engerer Kreis ein Bild einer vollkommenen Welt im Kleinen darstellen, und von ihm soll sich das Licht auf immer
weitere Kreise verbreiten. — Jeder Mensch wird von den Regungen seines Innern, von seinen Neigungen, seinem
Begehren und Wollen bewegt, und, ihm unbewußt, gewinnt dadurch sein Charakter, sein ganzes Leben Gestalt und
Richtung. Je nach der individuellen Verschiedenheit erfahren >8< diese Regungen die mannigfachsten
Schattierungen. Und in der Gesellschaft werden die einzelnen Glieder durch gleiche Neigung, gleiches Begehren und
Wollen zusammengeführt, und manches Große ist wohl dadurch im Laufe der Weltgeschichte vollbracht worden,
wenn vereinzelte Kräfte sich auf ein gemeinsames Ziel richteten. Ebenso aber ist das Auseinandergehen der
Neigungen, des Begehrens und Wollens vielfach eine Quelle von Zwietracht und unheilvollen Kämpfen, ja, es ist die
Ursache aller Zerrissenheit, unter welcher die Menschheit gelitten hat und noch leidet. — Wie nun, wenn es gelänge,
der Menschheit eine Direktive zu geben, durch welche jene Regungen in jedem einzelnen ihre Richtung erhalten auf
ein Einziges, das allen zum Heil gereicht? wenn überall die Gedanken sich hinwendeten zu einer einzigen Norm, von
der auch jeder das Maß herleiten könnte für seine Taten? — Gibt es einen solchen Gesichtspunkt ? — Gewiß! Der
Orden zeigt ihn uns an jener Stelle unseres größten Lichtes, das vor uns aufgeschlagen auf dem Altar liegt. Das ist
eben das Wort, das ist die Wahrheit, das Licht und Leben der Menschen, das von innen heraus gewonnen werden
soll. — Was erfahren und lernen die Menschen nicht alles! Durch Erziehung des Hauses, der Schule, des
Lebensberufes wird so vieles in ihnen entwickelt. Aber sie verhalten sich passiv dabei. Was sie empfangen, bleibt
äußerlich, und darum fallen die Neigungen und das Wollen so verschieden aus, weil jene Entwicklung nicht in reiner
Selbsttätigkeit von jenem Punkte ihres Innern ausging, welcher das höchste Kleinod des Menschen ist. Ihm sollte sich
alles neigen, alles Begehren und Wollen nur ihn allein erstreben, alle Gedanken und Taten nur ihm gelten. Dann
würden Neigungen den Menschen nicht mehr beherrschen, denn sie wären überwunden durch das Licht; dann wären
keine Begierden mehr zu mäßigen, denn sie gehorchten dem Wort der Wahrheit; dann wäre der Wille in Gedanke,
Wort und Tat gerichtet und gemessen durch das Göttliche. Dann wäre die Menschheit zu vergleichen einem
vollkommenen Bauwerk, in welchem überall Ordnung, Zweckmäßigkeit, Ebenmaß und Schönheit herrscht, weil ein
Grundgedanke es entstehen ließ und in allen seinen Teilen herrscht. Sie wäre ein Tempelbau des Höchsten, weil sein
heiliges Wesen sich überall regt und offenbart. Wahrlich, dann wäre die soziale Frage gelöst, denn Zufriedenheit,
Gleichgewicht und Glückseligkeit herrschte überall, die Schwerter würden sich in Pflugscharen verwandeln, und das
goldene Zeitalter wäre wieder erschienen.
Welch ein Zukunftsbild! — — Aber — so höre ich rufen — das ist Schwärmerei. Was nützt es, unerreichbare Ideale
aufzustellen, während du darüber vielleicht das Näherliegende, Praktische versäumst! — Nun, sei es darum! Mag die
Vollendung der Menschheit durch das göttliche Licht unerreichbar sein — unfruchtbar ist darum dieses Idealbild
doch nicht. Vergebens kann die Arbeit, die wir im Dienste dieses Ideals vollbringen, nicht sein. Wenn wir uns durch
Überwinden der Finsternis in uns und Herausarbeiten unseres inneren Lichtes zu gestalten suchen, so haben freilich
wir zuerst durch das Erringen unserer sittlichen Freiheit den Gewinn davon. Aber das, was wir für uns erkämpfen, ist
darum für die Gesamtheit nicht verloren, denn das Gute, wo immer es sich offenbart, wird seine Frucht bringen zur
rechten Zeit. Was kümmert es den treuen Hausvater, ob es ihm beschieden ist, die Früchte von dem Obstbaum zu
pflücken, den er pflanzt. Nicht für sich sorgt er, sondern für spätere Geschlechter. Also auch wir bei unserm Bauen;
also auch wir, wenn wir durch Überwindung unser selbst unsere kleine Kraft dem Ewigen weihen. Früher oder später
wird, was wir arbeiten, Frucht bringen. Der rechte Maurer ist, je ferner das Ideal, desto glühender dafür begeistert,
und nicht der Erfolg, sondern das Streben ist es, das ihn adelt und beglückt. (1903.) >10<
Die Grade des Ordens.
Der in den Akten unserer Großen Landesloge aufgehäufte reichhaltige Schatz von maurerischen Überlieferungen ist
in den letzten Jahrzehnten durch eine ganze Reihe forschender Brüder einer genauen Prüfung und Würdigung
unterworfen worden. Man hat versucht, von den verschiedensten Seiten her an den Inhalt unserer Akten
heranzutreten, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu sondern und das Verständnis für den Kernpunkt unserer
Sache der Brüderschaft zu eröffnen. Namentlich sind die Akten der Johannis- und Andreas-Grade nach allen
Richtungen hin durchforscht, und die Ergebnisse dieser Forschungen in einer großen Zahl von Vorträgen und
Instruktionen niedergelegt und den suchenden Brüdern zugänglich gemacht worden. Nur ein Abschnitt unseres
Lehrlings-Fragebuches ist bei diesem Arbeiten nur wenig berücksichtigt geblieben. Es ist dies der erste Artikel der
zweiten Abteilung unseres Lehrlings-Fragebuches, welcher die Überschrift trägt: „Allgemeine Fragen über die
Freimaurerei überhaupt.“ Dieser an der Spitze unseres ganzen Fragebuches stehende Teil gibt zunächst in Frage l die
Definition eines Freimaurers und eröffnet dann einen Blick über die gesamte innere Organisation des Ordens nach
seinen einzelnen Erkenntnisstufen und den Hauptabteilungen, in welche die Grade des Ordens sich gruppieren. Vom
höchsten, letzten Grade anfangend, wird bis zum niedrigsten, ersten Grade hinabgegangen, jeder Grad mit seinem
Namen genannt und unter Angabe des Grundes die Stelle bezeichnet, wo seine Mitglieder ihren Sitz haben; endlich
wird auf die Art der Arbeit und auf die Aufgaben hingewiesen, deren Erfüllung den Brüdern jeder einzelnen Stufe
obliegt.
Der Grund, weshalb dieser wichtige und höchst interessante Teil unseres Fragebuches von den Instruktoren so wenig
berührt worden ist, ist leicht ersichtlich. In jedem einzigen Grade wird unsere Zunge durch das Gelübde der
Verschwiegenheit versiegelt, und es wird somit jeder höhere Grad gegen die niederen hermetisch abgeschlossen.
Wenn nun dem Instruierenden, der sämtliche Grade besitzt, die Aufgabe gestellt wird, eine Interpretation für den
mancher Erklärung bedürftigen, in Rede stehenden Teil des Fragebuchs zu geben, so gerät er in Verlegenheit und
kommt mit seinem Gewissen in Konflikt, wenn er im Lehrlingsgrade über die höheren Abteilungen und Stufen, ihren
Inhalt und ihre Aufgaben reden soll, was er doch zu verschweigen gelobt hat. Je weiter wir unsere Blicke in die
Vergangenheit des Ordens zurückschweifen lassen, desto unverbrüchlicher sehen wir das Gebot der
Verschwiegenheit beobachtet. Es hat Zeiten gegeben, in denen es im strengsten Sinne des Buchstabens befolgt wurde,
so daß die Brüder niederer Grade kaum von der Existenz höherer Ordensstufen, geschweige denn von ihrem Inhalt
und ihrer Wirksamkeit eine Ahnung hatten. Ja, es ist früher den Logenmeistern sogar verboten gewesen, den in Rede
stehenden Artikel des Fragebuchs überhaupt zur Kenntnis der Brüder zu bringen. Die Akten waren nur für den
Meister da, und jeder, der es sich aus Vorwitz beikommen ließ, dieselben auch nur zu berühren, wurde, wie wir es
noch heute in unseren vor 1842 gebräuchlichen Logenbüchern lesen können, mit einer Geldstrafe belegt.
Diese strengen Auffassungen haben allmählich einer freieren Anschauung weichen müssen, die uns darauf geführt
hat, daß das Gelübde der Verschwiegenheit nicht dem Buchstaben, sondern dem Geiste nach zu erfüllen ist. Man ist
zu der Einsicht gelangt, daß die Schranke der Verschwiegenheit zwischen den einzelnen Ordensgraden aufgerichtet
worden ist, nicht etwa, weil es gefährlich erscheint, wenn etwas aus einem höheren Grade in einen niederen
hindurchsickern möchte, oder gar, um vor den jüngeren Brüdern mit einem Geheimnis sich wichtig zu machen,
sondern um den stufenweise, nach logischer Gedankenfolge fortschreitenden Gang unserer Ordenslehre, durch
welche wir allmählich aus der niederen Sphäre unbestimmter Ahnung auf die lichtvolle Höhe reinsten geistigen
Schauens und Erkennens emporgehoben werden sollen, nicht zu verwirren. So wie der Künstler durch die einzelnen
Disziplinen seiner Kunst sich hindurcharbeiten muß, damit ihm das, was er auf einer niederen Stufe gelernt hat, als
Grundlage diene für seine Übung >12< auf einer höheren Stufe, so können auch wir Jünger der k. Kunst nur allmählich fortschreiten von den Elementen zum Gipfel der Vollendung. Gleichwohl aber hat der Lehrling ein Recht zu
fragen, zu welchem Endzwecke er die langwierigen und mühsamen Vorübungen anzustellen hat; er hat ein Recht
dazu, seine Blicke, wenn auch nicht vorwitzig, so doch voll strebender Sehnsucht zu richten auf das letzte Endziel,
für welches er sich vorbereiten soll, und auf die Bahn, die er bis dahin zu durchlaufen hat. Die Akten unseres
Lehrlingsgrades sind reich an Hinweisen auf das Ziel und die Bahn, die dahin führt; diejenigen aber, die berufen sind,
die jüngeren Brüder zu führen und zu belehren, sind verpflichtet, sie auf diese Fingerzeige aufmerksam zu machen. In
diesem Sinne allein dürfen die höheren Ordensgrade einen Einfluß auf die niederen Grade erlangen, nicht durch
Bevormundung und Beherrschung, sondern dadurch, daß aus ihnen Führer erstehen, welche die Strebenden zu dem
Lichte geleiten, das am Schlusse der Wanderung uns aufgehen soll. In diesem Sinne tat unser durchlauchtigster
damaliger W. O. + Mstr. Kronprinz Friedrich Wilhelm am Säkularfeste der Großen Landesloge, den 24. Juni 1870,
jenen denkwürdigen Ausspruch:
„Geben wir die Furcht auf,“ sagte er, „daß wir unrecht handeln, wenn wir aus den Lehren der höheren Grade in die
niederen hinüber nehmen, was diese befruchtet. Das wird die beste Anwendung der höheren Grade sein.“
Dieser Mahnung des erlauchten Bruders sind die Forscher im Orden in ausgiebigster Weise gefolgt, und der Erfolg,
den ihre Arbeiten so reichlich aufzuweisen haben, wurzelt nicht zum kleinsten Teile in der Anregung dieses
fürstlichen Wortes.
Es ist jetzt an der Zeit, daß die Schranke in gewisser Weise durchbrochen werde, welche den Orden von der profanen
Welt abschließt; denn die profane Welt soll nicht etwa in den Orden eingeweiht werden, sondern sie soll wissen, was
der Orden will, und welcher Geist in ihm weht. Ebenso ist es an der Zeit, daß der Lehrling wisse, was die höheren
Grade wollen. Denn unsere Väter haben die Abteilung unseres Fragebuches, die uns hier beschäftigt, an die Spitze
des Ganzen gestellt, nicht damit der Neuling die darin enthaltenen rätselhaften Ausdrücke anstaune, sondern damit er
dadurch zum Nachdenken angeregt und an der Hand erfahrener Brüder durch diese Fragen dahin geführt werde, die
Organisation des Ordens, seinen Weg und sein Ziel zu überschauen.
Es sei mir der Versuch gestattet, hierzu einen Beitrag zu geben.
Wie schon erwähnt, führt uns das Fragebuch das Ordensganze vor, indem es uns nach der Definition des Freimaurers
erst die Hauptabteilungen des Ordens skizziert und dann, mit dem höchsten beginnend, uns die einzelnen
Ordensgrade mit wenigen Strichen zeichnet. Für die Instruktion erscheint es zweckmäßiger, mit der untersten Stufe
beginnend, den umgekehrten Weg zu gehen.
Am Eingange in den Orden empfängt uns Johannes der Täufer, der uns, ein mahnender Wegweiser, die Richtung
zeigt, die wir einzuschlagen haben. Den Weg vom Dunkel zum Lichte will er uns geleiten, er will uns das Gesetz
weisen, das wahre Gesetz des Lebens, nach welchem die Entwicklung unseres Geistes sich vollziehen soll. Er weist
uns mit allem Nachdruck darauf hin, daß nicht ein toter Formeldienst, ein Nachbeten von Satzungen uns zum Leben
führen kann, sondern daß es gilt, die schlummernden Kräfte unseres Inneren zu befreien und zur Wirksamkeit
gelangen zu lassen, daß wir nicht dadurch zum Lichte gelangen, daß wir etwas Fertiges, das uns entgegengebracht
wird, annehmen, sondern daß wir, uns, selbst als unvollkommen erkennend, durch unablässige geistige Tätigkeit das
Lebensfähige aus unserem Inneren herauszuarbeiten suchen. Das ist der Grundgedanke des ersten Grades, des
Lehrlingsgrades, der zugleich gestaltgebend nicht nur für die Johannisloge, sondern für das Ordensganze ist; denn
diese innere Arbeit hört, wie wir sehen werden, nie auf; sie reicht bis zur höchsten Spitze und bildet den eigentlichen
Lebensnerv des Ordens, sein wahres innerstes Wesen, und die Aufgabe der späteren Stufen ist es allein, das Licht,
das uns daraus leuchtet, immer heller erstrahlen zu lassen und diesen eigentlichen Lebensvorgang des Ordens immer
intensiver zur Wirksamkeit zu bringen. „Arbeiten, gehorchen und schweigen“ ist die Aufgabe der Johannis-Lehrlinge.
Sie sollen schweigen, d. h. sie sollen ihren Hochmut, ihren Egoismus und die Lust ihrer Sinne nicht dreinreden lassen
in den Johanneischen Mahnruf, der ihnen als Gewissensstimme unaufhörlich aus ihrem Inneren heraus erschallt. Ihm
allein und dem Lebensgesetz, auf das er sie hinweist, haben sie zu folgen, das ist der Meister, der sie an die Arbeit
stellt „beim rauhen Steine“ ihres eigenen Selbst, und dem sie schweigend zu gehorchen haben. „Sie haben ihre Stellen
im Norden, >14< um der Hitze der Sonne zu entgehen.“ Sie müssen an eben der Stelle sein, an welcher ihr Sinnbild,
der rauhe Stein, sich auf der Arbeitstafel befindet. Wir sehen ihn daselbst im Norden unter dem Monde, der seine
blassen Strahlen auf seine unvollkommene Gestalt wirft. Wer noch umfangen ist von irdischen Begierden und
geknechtet von dem Gesetz des Todes, dessen Auge vermag noch nicht die Strahlen des Lichtes der Wahrheit zu
ertragen. Aber ein Abglanz von der großen Sonne fällt in seine Nacht; Heil ihm, wenn dieser schwache Schimmer ihn
mit der unauslöschlichen Sehnsucht erfüllt, abzutun das Unlautere und Finstere, um das blöde Auge an den hellen
Schein des Lichtes immer mehr und mehr zu gewöhnen. Die unpolierte Kelle, die der Lehrling auf der Brust trägt, das
Symbol des göttlichen Wortes der Wahrheit, das in ihm zum Leben erweckt werden soll, ist das Werkzeug, das ihn,
wenn es recht gebraucht wird, zwar mühevoll und langsam, aber sicher ans Ziel führen wird, wo er das volle Licht
sehen, die göttliche Wahrheit umfassen und ergreifen und das wahre Meisterwort vernehmen wird, von dem das Wort
des Lehrlings J.... d. i. G. h. m. e. nur die erste vorbereitende Ahnung ist.
Wenn diese Ahnung des Göttlichen erst in uns gefestigt ist, so daß sie als Grundlage für den Bau dienen kann, dann
führt uns Johannes weiter, und wir beschreiten die Gesellenstufe seiner Loge.
Hier beginnt das erste Fortschreiten im Orden. Was der Lehrlingsgrad gegründet hat, soll der Gesellengrad
verbessern und fortführen. Die erste logische Konsequenz des Lehrlingsgedankens ist die, daß wir, die wir uns selbst
als Kinder Gottes, als Erstgeborene des Lichtes, wenn auch als unvollkommene, erkannt haben, uns als solche
bewähren sollen im Leben und darum vorwärts müssen. Die polierte Kelle ist dem Lehrling nicht unbekannt, er sieht
sie auf der Brust der Gesellen; darum kann er mit Recht daraus folgern, daß das Wort des Lebens diesem zu einem
helleren Verständnis aufgegangen sein müsse durch seine Arbeit; denn nur durch Arbeit und immer wieder durch
Arbeit wird jeder Fortschritt im Orden allein möglich. Und damit stimmt ganz vortrefflich die Beschäftigung, welche
unser Fragebuch den Gesellen oder Mitbrüdern zuweist: „sie sollen ihre eigenen und der Lehrlinge Werkzeuge
schleifen,“ und zwar, wie die Erklärung unserer Lehrlingstafel hinzusetzt, „am behauenen oder kubischen Stein,“ und
diese Werkzeuge sind: „die Vernunft, der Verstand und der Wille“; die Werkzeuge schleifen, heißt aber: „die
Vernunft gewöhnen zu verstehen und zu wollen, was gut ist“. Vernehmen, verstehen und wollen, das ist die
Wirksamkeit des Wortes, das ist die lebensvolle Entwicklung des Lichtes in uns, die in ihrem dreifachen
Fortschreiten dem Dreieck der Kelle entspricht. Das bloße Vernehmen des Wortes genügt nicht, es muß in unserem
Inneren wiederklingen, verstanden und begriffen werden, damit es endlich durch die Kraft unseres Willens zur
Äußerung gelange und sich in die Tat umsetze. Die Richtung für diesen psychischen Vorgang wird aber gegeben
durch das Ideal, versinnbildlicht durch den kubischen Stein, das Gute, Wahre, Schöne und Heilige, dessen Urbild in
jedes Menschen Brust lebt und das zu jeder Stunde bestimmend auf die Tätigkeit unseres Geistes einwirken soll.
Diese Arbeit aber kann sich nicht bloß vollziehen in der stillen Kammer einsamen Nachdenkens. Sowie nach
Zunftgebrauch der Geselle nach vollendeter Lehrzeit auf die Wanderschaft geschickt wird, so muß auch der
Freimaurergeselle hinaus ins Leben. Die Erscheinungen der Welt soll er prüfen und sichten, auf daß er erkenne, was
echt und unecht sei. Durch dieses Aufnehmen des Guten und Abweisen des Schlechten sammelt er maurerische
Erfahrung und lernt aus allen Widersprüchen doch das Ideal der Vollkommenheit, die er an sich zu erringen und einst
zu schauen hofft, in seiner Brust frisch zu erhalten.
„Daß wir uns in ihr zerstreuen, darum ist die Welt so groß.“ Nur wenn wir ihre Einwirkungen kennen und würdigen
lernen, können wir zur Reife gelangen. — Die Gesellen haben nach dem Fragebuch keine bestimmte Stelle, sondern
sie sind „überall zerstreut, um die Loge zu verstärken“. Der Begriff „Loge“ ist an dieser Stelle im weitesten Sinne zu
fassen. Es ist hier die Weltenloge gemeint, die von dem einheitlichen Gedanken und Willen eines Meisters regiert
wird, der das Dunkle erleuchten, das Zerstreute sammeln und seine Kinder zu sich zurückführen will. In seinem
Dienste stehen die überall zerstreuten Gesellen, welche nicht nur ihre, sondern auch der Lehrlinge Werkzeuge
schleifen. Überall in der Welt, wo das Licht mit der Finsternis kämpft und der maurerische Gedanke nach Gestaltung
ringt, sollen sie hilfsbereit eintreten. Überall, wo die Kräfte des Geistes ruhen, verkümmert das wahre Leben, wo aber
der Geist sich regt und seinen Urquell, dem er entstammt, zu ergründen und zu ergreifen strebt, da wird die Stärke
befreit, die das göttliche Werk vollenden hilft. Hier mitzuhelfen, ist die Mission der Gesellen, darum sind sie überall
in der Loge >16< verteilt, um sie zu verstärken. Wenn sie aber auch zerstreut sind, so sind sie doch auch wiederum
durch die Gemeinsamkeit der Idee, die alle beseelen soll, fest miteinander verbunden, innig und treu zueinander
gesellt, wie ja schon der Name „Geselle“ andeutet. Der Geselle macht auf seiner Stufe zum ersten Male die
Erfahrung, daß, je heller das Licht in uns aufleuchtet, desto inniger und unauflöslicher sich das Freundschaftsband
festigt, das beim Eintritt in den Bund geknüpft wurde. Das ist ein allgemein gültiges Gesetz, das wir auf jeder Stufe
unseres Ordens mit immer steigendem Entzücken bewährt finden.
Wer so als Geselle rüstig gearbeitet, das Leben kennen gelernt, Erfahrungen gesammelt und für sein inneres Leben
verwertet hat, wer unerschrocken durch Norden und Süden vorgedrungen ist, der gelangt endlich „gegen Osten hin“,
wo die Johannis-Meister ihren Sitz haben. Wenn er das Fazit seines Lebens zieht und gegeneinander abwägt alles,
was sich im Leben erarbeiten und erringen läßt, so muß er doch endlich zu dem Resultat kommen, daß die Strahlen
der Sonne und des Mondes, die ihm hier geleuchtet haben, nicht das rechte Licht sein können, sondern daß es ein
ewiges Licht im Osten geben müsse, in welchem alles seine Erfüllung und Vollendung findet, von welchem Sonne
und Mond nur die vergänglichen Gleichnisse sein können. In dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit des Irdischen
und der Ewigkeit des Wortes der Wahrheit, die sich dem sterblichen Auge nur in gebrochenen Strahlen enthüllen
kann, wurzelt seine Meisterschaft. Die Kunde davon ist das Licht, das er selbst, dem ewigen Osten zugewandt,
empfangen hat und dann, nach Westen zurückwandernd, „unter die Arbeiter verbreiten soll“. Seine Aufgabe ist,
„Entwürfe auf dem Reißbrett für die Arbeiter zu machen“. Das Reißbrett ist dem Lehrling wohl bekannt, er sieht es
mit dem schrägen Kreuze bezeichnet unter dem flammenden Stern auf der Arbeitstafel stehen, und er weiß, daß es
den Plan enthalten muß, nach welchem sich der rohe Stein zum Kubus formen soll. Dieser Plan aber ist, wie ich oben
schon angedeutet, das Lebensgesetz, das Gesetz des Geistes, nach welchem unsere innere Entwicklung sich
vollziehen, nach welchem sich in unserem der Vergänglichkeit anheimfallenden Leibe ein unsterbliches Leben
entwickeln und zur Reife gelangen muß. Diese Andeutung möge hier genügen. So viel aber muß dem Lehrlinge klar
sein, daß er, wenn er Muster für seine Arbeit sucht, auf seine Meister zu blicken hat, daß er aus ihrer ganzen
Persönlichkeit die Erfüllung jenes Gesetzes oder zum mindesten das redliche Streben, es zu befolgen, erkennen und
sich zum Muster nehmen soll. Das möge jeder bedenken, der den Meisterschurz trägt, und sich stets gegenwärtig
halten, wie er sein Leben einzurichten hat. Der Lehrling erblickt an der Brust des Johannis-Meisters eine goldene
Kelle, ein Zeichen, daß das göttliche Wort der Wahrheit im Herzen des Meisters in unvergänglichem, durch nichts zu
trübendem Glanze strahlen und sich überall bewähren soll wie das Gold im Feuer. Der Lehrling erblickt ferner am
Meister ein himmelblaues Band, an dem ein eigenartig geformter Schlüssel hängt, sowie einen mit Himmelblau
verbrämten Schurz. Die Farbe der Beständigkeit und Treue soll jeden, der sie erblickt, er sei Lehrling, Geselle oder
der Meister selbst, daran mahnen, daß es ein unvergängliches Leben gibt, ein unschätzbares Gut, das wir suchen
müssen, und das nur zu finden ist bei dem ewigen Meister, dessen Kleid in Gold und Himmelblau wir mit anbetender
Ehrfurcht erblicken. Und der Schlüssel, dessen Bart und Handhabe ein gleichseitiges Dreieck bilden, kann er uns
wohl etwas anderes erschließen als jene Güter des Lebens, jene Schätze des Geistes, gegen deren Wert aller irdische
Besitz in nichts dahinsinkt? Noch nachdrücklicher wirkt die maurerische Gestaltungskraft in dem Dreieck des
Schlüssels als in dem der Kelle; denn der Schlüssel ist ein Hebel, der verborgene Riegel sich bewegen macht.
So steht der Johannis-Meister an den Grenzen des Lebens vor dem verschlossenen Tore des Jenseits, und somit findet
mit diesem Grade die Freimaurerei einen Abschluß. Die Johannisloge legt in erschöpfender Weise das ganze Leben
und Streben des Maurers dar; sie stellt in ihren drei Graden, die sie zu einer gesetzmäßigen, verbesserten und
vollkommenen machen, den Plan zu einem geistigen Tempelbau dar, wie er vollkommener, schöner und dabei
einfacher nicht gedacht werden kann. Der Johannis-Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad „geben dem Orden die
Gestalt“, wie es im Fragebuche heißt, und wahrlich, eine Gestalt von vollendeter Abgeschlossenheit und Schönheit.
Aber — so müssen wir dabei doch fragen —, besitzt diese Gestaltung unserer Ordensidee nun auch neben ihrer
Schönheit die innere Stärke, die ihr Dauer und Festigkeit verleiht, die sie alle Angriffe der Mächte, die das Licht
fliehen, siegreich überstehen läßt? Leider müssen wir diese Frage verneinen. Überall da, wo das Streben zur
Geltendmachung >18< der höchsten Ideen sich regt, tritt uns auch am grellsten die Schwäche und
Unvollkommenheit der menschlichen Natur entgegen, die die Arbeit aus dem Stückwerk nicht herauskommen läßt.
So wie bei den großen Dombauten des Mittelalters die aus alten Zeiten herstammenden Teile bereits die traurigen
Zeichen der Verwitterung und des Zerfalls zeigen, schon zu einer Zeit, da noch lange nicht der letzte vollendende
Schlußstein dem Bau eingefügt ist, so stürzt auch unser geistiger Bau, wenn wir auf der einen Seite so recht voll Mut
und Vertrauen uns an die Arbeit halten, auf der anderen Seite unvermutet zusammen, und, ehe wir es nur geahnt,
sehen wir das Werk unserer Mühe und unseres Fleißes in Trümmer sinken. Es ist der alte Mißklang zwischen Ideal
und Wirklichkeit, das alte Klagelied, das mit melancholischem Tone alles menschliche Streben begleitet. Soll der
Maurer, dem diese Erfahrung nicht erspart bleibt, mutlos seine Werkzeuge von sich werfen und die Hände in den
Schoß sinken lassen? Nein! Er wird sich fragen, ob es nicht Hilfsmittel gibt, durch die sich das Fehlerhafte verbessern
und dem Verfall zuvorkommen läßt. Dies suchend, gelangt er zur zweiten Hauptabteilung unseres Ordens, zur
Andreasloge, welche schon in unserem Lehrlings-Fragebuche diese Aufgabe zu erfüllen verspricht; denn es heißt
darin: Das Geschäft der Andreasloge ist: „den Bau zu erhalten und das Verfallene wieder aufzurichten“. Und sie
arbeitet „da, wo ihre Hilfe nötig ist, und im Verborgenen“. Wie weit konnte denn die Johannisloge gehen? Konnte sie
den Tempel aufrichten? Nein! Ihre Aufgabe war es nur, wie es heißt, „Baumaterialien herbeizuschaffen und
zuzubereiten“, und sie muß mit dieser nie zu vollendenden Arbeit „im Vorhofe des Tempels“ bleiben. Sie zeigt uns
wohl den Plan des Ganzen, aber eben nur ein Ideal, das in der Wirklichkeit sich nicht herstellen läßt, dessen lichte
Umrisse nur allzu leicht getrübt werden durch irdische Unvollkommenheit. Die Andreasloge sucht nun überall da, wo
die Arbeit der Johannisloge sich unzureichend zeigt, verbessernd einzutreten. Auch sie kann uns, wie es eben in der
Natur ihrer Aufgabe liegt, noch nicht in den unvergänglichen Tempel selbst führen. In der Finsternis, „da, wo ihre
Hilfe nötig ist, und im Verborgenen“ hat sie genug zu tun, hier hat sie zu helfen und zu heilen, zu stützen und
aufzurichten. Sie lehrt uns, daß, wenn wir vorwärts wollen, die ganze Arbeit der Johannisloge von uns in einer noch
viel intensiveren Weise wieder aufgenommen werden müsse. Unsere über die Johannisloge hinausgehenden Stufen
sollten daher eigentlich nicht „höhere Grade“, sondern „tiefere Grade“ genannt werden. Die Andreasloge geht, wie
schon vorhin angedeutet wurde, über den eigentlichen maurerischen Inhalt der drei Grade nicht hinaus, sondern sie
sucht ihn nur inniger zu erfassen und ihn nach innen auszugestalten. So läßt sie uns die ganze Johannisloge als einen
einzigen großen Lehrlingsgrad erscheinen, auf dem sie sich als verbessernder Gesellengrad aufbaut. Die Johannisloge
zeigt uns die Ahnung des Lichtes und der Vollendung; die Andreasloge potenziert diese Ahnung, die noch gar zu
leicht von der Macht des Zweifels erschüttert werden kann, zum Glauben.
Wenn ich hier im maurerischen Sinne vom Glauben rede, so ist darunter — und es kann das nicht oft genug zu
Vermeidung von Mißverständnissen hervorgehoben werden — nicht von einem Fürwahrhalten dogmatischer
Satzungen die Rede, sondern von einer in unserm Inneren schlummernden Kraft, die nur durch Prüfungen und innere
Kämpfe erweckt und gestählt werden kann, so daß uns endlich durch sie die gewisse Zuversicht einer endlichen
Vollendung aufgeht. (Hebr. 11, 1.)
In zwei Stufen stellt sich unsere Andreasloge dar, dem Andreas-Lehrlings-Gesellengrad, einem Doppelgrad, welcher
unsere vierte, und dem Andreas-Meistergrad, welcher unsere fünfte Ordensstufe ausmacht. Der vierte Grad zeigt uns
in seinem ersten Teil, dem Andreas-Lehrlingsgrade, wo die eben angedeutete, verbessernde und aufrichtende Arbeit
einzusetzen hat, im zweiten Teil, dem Andreas-Gesellengrade, wie sie sich zu vollziehen hat. Der AndreasMeistergrad aber zeigt uns die Aufrichtung des Verfallenen in ihrer Vollendung.
Die Aufgabe der Andreas-Lehrlings-Gesellen ist, wie das Fragebuch sagt: „die Arbeit zu schmücken und zu
veredeln“. Dies erklärt sich nach dem eben Gesagten von selbst. Doch haben wir stets daran festzuhalten, daß hier mit
dem Schmücken der Arbeit nicht etwas Äußerliches, sondern eine Verinnerlichung und Vertiefung gemeint ist.
Nicht so leicht ist einzusehen, wie die Aufgabe der Andreas-Meister zu verstehen sei. Sie haben die Verrichtung „zu
zeugen und zu nähren“. Nur allein der, welcher von der Ahnung des Lichtes zur glaubensvollen Zuversicht
hindurchgedrungen ist, kann es unternehmen, seine Brüder die ersten Schritte hinanzuführen auf dem steilen Pfad, der
zur Wahrheit leitet. Daher wird erst dem Andreas-Meister das >20< Recht erteilt, das Wort und den Hammer in den
Johannislogen zu führen. Er erhält somit die Macht, durch Aufnahme freier würdiger Männer dem Orden Söhne zu
erzeugen, ihr inneres Leben zu nähren mit den maurerischen Ideen und sie so der Meisterschaft entgegenzuführen. Es
kann dies eben nur einem solchen anvertraut werden, „dessen Arbeiten“, wie es im Fragebuch heißt, „erprobt worden
sind“, der in den grundlegenden und gestaltgebenden Elementen des Ordens fest und der im Glauben an das Licht
unerschütterlich ist. Ein Zeichen, daß er auf diese Höhe gelangt sei, bemerkt am Andreas-Meister schon der JohannisLehrling, ein grünes Band, das an Festtagen getragen wird. Die Farbe der Hoffnung, der glaubensvollen Zuversicht
schmückt ihn, und am Bande hängt in gleicher Farbe jenes schräge Kreuz des Reißbrettes, hier mit dem Bilde des
gekreuzigten Apostels Andreas, umgeben von einer strahlenden Sonne, das Symbol des Lebensgesetzes, das jetzt
dem Geläuterten in hellem Scheine aufgegangen und zu eigen geworden ist, wofür Andreas und unzählige Märtyrer
ihr Blut vergossen haben.
Und „wo haben die Andreas-Brüder ihre Stellen?“ Die Meister zugleich mit den Brüdern des folgenden Grades, den
Stuartsbrüdern, „in der Nähe der Sonne, weil sie“, wie diese, „ihre Strahlen ertragen können“, und die LehrlingeGesellen „im Süden unter der Sonne, weil dieselbe sie nicht blendet“. Dies ist nicht so ohne weiteres zu verstehen, ja,
es scheint im Widerspruche zu stehen mit dem Umstande, daß die Andreasloge im Verborgenen arbeitet. Die Sonne
aber ist nicht verborgen, sie strahlt vielmehr frei und offen vor aller Welt. Dies führt uns nun darauf, daß wir es hier
mit einer Geistessonne zu tun haben, mit der Fülle der Wahrheit selbst, die nicht von denen begriffen werden kann,
deren Auge noch von dem Schleier des Irrtums und der Finsternis umhüllt wird, die sich aber denen immer mehr
erschließt, die sich ihr durch Läuterung und Veredelung zu nähern suchen. Und wo der Sitz dieser Geistessonne ist,
kann dem nachdenkenden Lehrlinge nicht verborgen bleiben. Aus den allgemeinen Freimaurer-Statuten ist ihm
bekannt, daß unsere Lehrart als Hauptbedingung für den Eintritt in den Orden das christliche Bekenntnis verlangt,
wobei nicht darauf Gewicht gelegt wird, daß der Suchende sich zu dieser oder jener Konfession bekenne, sondern
vielmehr nur darauf, daß er die innere Wahrheit — nicht dessen, was die einzelnen Konfessionskirchen über Christus
und seine Erscheinung in ihren Bekenntnisschriften lehren —, sondern dessen, was Christus selbst gelehrt hat, in
unverbrüchlicher Ehrfurcht anerkenne. Trotzdem findet der Johannis-Lehrling in seinem Grade Christus gar nicht
genannt, er findet nichts, was sich direkt auf ihn bezöge, und ebensowenig findet es der Johannis-Geselle und Meister. Johannes der Täufer wies auf Christus hin, weil er die Ahnung hatte, daß die Zeit gekommen sei für den, der
die Fülle der Wahrheit verkündigen sollte, aber er fand ihn nicht. Sein Märtyrertod erfolgte nicht für jene große Idee,
die erst durch den Erlöser in die Welt kommen sollte, sondern er starb einfach dafür, daß er es gewagt hatte, einem
Tyrannen die Wahrheit zu sagen. Anders Andreas. Er war, wie wir Ev. Joh. Kap. 1 lesen, ein Jünger des Johannes,
der ihn auf Christus hinwies; er fand den Meister, folgte ihm nach, nahm seine Wahrheit auf und verblutete für sie am
schrägen Kreuze. Einen ähnlichen Weg führt der Orden seine Jünger; erst wenn wir mit Johannes Suchende gewesen
sind und angehalten haben mit Andreas, dann gelangen wir zu dem höchsten Obermeister aller Logen, der durch die
Wahrheit, die aus seinem Munde ging, die höchste Weisheit verkündigte, der das Sittengesetz zur höchsten Schönheit
und Vollendung erhob, indem er, alle irdischen Schranken durchbrechend, auf einen allgemeinen Menschheitsbund
durch die Liebe in höchster Potenz, ja durch die Liebe zum Feinde, hinwies, und der die höchste Stärke bewies,
indem er, trotzdem er Mensch und unter das Gesetz des Fleisches getan war, doch das Gesetz des Geistes in sich
vollendete, bis er eins ward mit dem Vater. So vollbrachte er in sich das Werk der k. Kunst in gesetzmäßiger,
verbesserter und vollkommenster Weise, und sein Opfertod besiegelte sein Werk.
Stellen wir uns nun einen Naturmenschen vor, der gewöhnt ist, nur durch seinen Affekt geleitet, zu handeln —, wird
er diese Lehren des Obermeisters verstehen oder danach tun? Wird er nicht die allgemeine Menschenliebe, die Liebe
zum Feinde verlachen? Er kann die Strahlen der Wahrheitssonne nicht ertragen. Ja, wir dürfen gar nicht so weit
gehen. Wieviel Tausende von Kulturmenschen gibt es denn, deren tauben Ohren die Wahrheit zwar gepredigt ist,
denen aber die höchsten Ideen des Obermeisters ein Ärgernis und ein Spott sind; ja, es gibt hochbegabte Schriftsteller
und Denker, die das Wort: „Liebet eure Feinde!“ geradezu für Tollheit erklären; — die Sonne blendet sie, sie können
ihre Strahlen noch nicht ertragen. >22<
Erkennen wir daraus die Weisheit des Ordens, der uns, allmählich vom Niederen zum Höheren und Höchsten
führend, seine Wahrheiten nicht als Satzungen überliefern, sondern uns anleiten will, sie in unserem Inneren zu
finden, aus uns herauszuarbeiten und als unveräußerliches Eigentum zu erwerben!
Nach dem Gesagten habe ich nur noch wenig über die letzte Ordensabteilung, die Stuartsloge oder das Kapitel,
hinzuzufügen. Es folgt von selbst, daß durch die Arbeit des Kapitals, wo Johannes, der Evangelist, der Jünger, der an
des Meisters Brust ruhte, also seine Lehren am innigsten erfaßt hatte, uns unterweist, die Liebe in herrlichster
Vollendung uns aufgehen, der Bau vollendet und vervollkommnet werden soll.
Das Kapitel besteht aus vier Graden und einer Ehrenstufe. Der sechste Grad wird der Grad der Stuartsbrüder genannt,
eigentlich Stewardsbrüder, d.h. Schaffner, Beamte; denn diejenigen, die zu der Höhe des Lichtes gelangt sind, sollen
alle eine bestimmte Wirksamkeit im Orden entwickeln. Sie sollen die Brüder der niederen Grade in ihrem Streben
fördern, unterstützen und anfeuern. Ihr eigentliches Geschäft aber ist, wie das Fragebuch sagt: „vorzubereiten“,
nämlich sich selbst für das höchste Mysterium der Vereinigung, das ihrer im innersten Heiligtum des Bundes wartet.
Dies geschieht vornehmlich dadurch, daß in diesem Grade alles, was der Orden bis dahin geboten hat, rekapituliert
und gleichsam wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt wird. Der Stuartsbrudergrad erhält dadurch eine ganz
besondere Wichtigkeit, obschon er sowie der darauffolgende siebente Grad, der der vertrauten Brüder Salomos, nicht
ursprünglich in der Organisation des Ganzen mit einbegriffen gewesen zu sein scheint, sondern vielmehr ein
Erzeugnis einer späteren Zeit sein mag. Beide Grade, die, wie es in unserm Fragebuche heißt, „dem Orden Stärke
geben“, sind in dem Fragebuch der bis 1842 gebräuchlichen, sog. Eckleffschen Akten gar nicht erwähnt, obschon wir
bei Stiftung der Großen Landesloge sämtliche neun Grade aus Schweden erhalten haben. Doch sind sie trotzdem jetzt
hochwichtige und unentbehrliche Glieder unseres Ordensganzen geworden, eine Art Noviziat des innersten Bundes:
der sechste Grad durch die Zusammenfassung der wissenschaftlichen Lehre und Vorbereitung auf den Schluß, der
siebente Grad durch speziellen Hinweis auf die Geschichte des Ordens und durch eine erhöhte Wirksamkeit seiner
Mitglieder, welche, wie schon der Lehrling aus unserem Verfassungsgesetze weiß, dadurch einen offiziellen
Charakter erhält, daß sie Mitglieder unserer maurerischen Oberbehörde, der ersten Abteilung der Großen Landesloge,
sind. Sie sollen „die Arbeiter verteidigen und nachsehen, daß jeder seine Schuldigkeit tue“. „Nahe beim Tempel
haben sie ihre Stellen,weil sie in der Nähe des Meisters sein sollen,“ d.h. des Obermeisters, dessen Geist die höchste
Abteilung unseres Ordens regiert. Diese öffnet sich erst mit dem achten Grade der Vertrauten Brüder, die, wie es im
Fragebuch heißt, „gerecht sind und keine Vorwürfe fürchten“. Wer durch des Obermeisters Geist frei gemacht und
erlöst ist, wer mit der frohen Botschaft von der ewigen Liebe im Herzen seinen Weg durchs Leben zurücklegt, dem
kann keine feindliche Macht etwas anhaben; er ist gerechtfertigt durch den Glauben an das Licht, das in nicht mehr zu
trübendem Glanze ihm aufgegangen ist, er hat Frieden erlangt mit sich und seinem Gott, als dessen Kind er sich fühlt,
und in dessen Gnadenhand er sein Leben und Geschick sicher geborgen weiß. So ist er aus dem unbestimmten Ahnen
durch Glauben zum Schauen, — durch Schönheit und Stärke zur höchsten Weisheit und Erkenntnis gelangt. Ihm
bleibt nur noch der letzte Schritt zu tun zu dem heiligen Mysterium der Vereinigung mit dem Vater, wie es unser
neunter Grad, der Grad der Andreas-Vertrauten oder Auserwählten Brüder, verwahrt, ein Heiligtum, so wunderbar
und unaussprechlich, daß es nur empfunden, aber nicht ausgesprochen werden kann, denn es erschließt sich nur dem,
der mit aufrichtigem Streben und glühendem Verlangen die Grade des Ordens durchschritten und ihren Inhalt in sich
hat zur Tat werden lassen, der sein Inneres gereinigt und gestaltet hat durch die Arbeit der k. Kunst. Wer ohne diese
innere Reinigung an das Mysterium herantritt, dem ist es eine Torheit, denn er kann es nicht erfassen.
Diejenigen nun, von welchen sich annehmen läßt, daß sie auch dieses letzte Geheimnis, das sie auf des Ordens
höchster Wissensstufe empfangen haben, im Geiste und in der Wahrheit in sich aufgenommen haben und zum
Dienste und zur Regierung des Ordens für tauglich erachtet werden, zeichnet der Orden durch ein auch den
Lehrlingen sichtbares äußeres Zeichen aus. Es sind die höchsterleuchteten Architekten und Brüder mit dem roten
Kreuze. Sie tragen ein blutrotes Band mit einem blutroten Kreuze, auf dessen mittelstem, weißen, von einem
goldenen Kreise umgebenen Felde sich das gestaltgebende Dreieck befindet; >24< dazu ziert sie der weiße
Lehrlingsschurz. Die Bedeutung dieser Kleidung bleibe dem Nachdenken der Brüder überlassen. Eins nur möchte ich
noch hervorheben. Wenn wir aus dem Fragebuche hören, daß die Architekten ihre Stellen haben, „da, wo der Obermeister es für nötig findet“, die auserwählten Brüder „in der letzten Abteilung über allen Rittern“, die Vertrauten
Brüder „nahe bei diesen“ und die vertrauten Brüder Salomos „nahe beim Tempel“; so fragen wir, für wen denn nun
das Innere des neuen Tempels selbst sich auftut. — Der neue, ewige und unvergängliche Tempel, den der Obermeister selbst errichtet hat, er ist nicht hier oder da, er ist nicht sichtbar, sondern er ist im Herzen derjenigen
aufgerichtet, in die der Geist des Obermeisters, der Geist der Liebe und des Friedens eingezogen ist; denn die letzte
Frage unserer Abteilung heißt: „Die Stuartsloge wird gehalten“ — nicht etwa im Tempel, wie man erwarten sollte, —
sondern „da, wo der Meister es bestimmt“, d.h. da, wo er eingezogen ist und im Menschenherzen seine Wohnung
aufgeschlagen hat, und wo zwei oder drei, die den göttlichen Meister in sich tragen, versammelt sind in seinem
Namen. Da ist er aufgerichtet, der geistige Salomonische Tempel, vollendet in strahlender Herrlichkeit und Schöne
durch das Werk der k. Kunst, durch drei mal drei! — — —
(1880.)
Die Pflichten des Lehrlings.
Kein gewöhnlicher Verein ist es, in welchen der Suchende durch seine Aufnahme in die Loge eintritt; es ist vielmehr
eine Ordensverbindung. Der Unterschied ist bedeutend genug. Vereinsgesetze bilden kein so starkes Band, das wir
nicht jederzeit beliebig lösen könnten. Auch aus unserm Orden ist ein Austritt wohl gestattet; nichtsdestoweniger aber
bleiben wir durch ein heiliges Gelübde für unser ganzes Leben in unserm Inneren gebunden, und wir sind
verpflichtet, unser Leben nach einer bestimmten Regel einzurichten, wie es in jedem Orden der Fall ist.
Diese Ordensregel ist enthalten in den Pflichten, welche für jede Stufe genau vorgeschrieben sind. Diese Stufen (über
welche der vorstehende Vortrag gehandelt hat) sollen dazu dienen, die Ordensbrüder hinanzuführen zu dem hohen
Ziele, an welchem ihnen der Zweck und die Bedeutung des Ordens in vollster Klarheit aufgehen soll. Je höher wir
aber auf dieser Stufenleiter emporsteigen, desto intensiver und bedeutungsvoller sollen die Leistungen sich gestalten,
die der Orden von uns fordert, und schon dem Neueintretenden wird eine Übersicht darüber gegeben. Es ist nun viel
darüber hin- und hergeredet worden, welche von diesen Stufen wohl die wichtigste wäre. Das ist ein durchaus
müßiger Streit, denn alle unsere Grade sind von gleicher Bedeutung für das Ganze, das zerstört werden würde, wenn
man einen entfernen wollte. Dürfte man aber einem derselben eine besondere Wichtigkeit beimessen, so könnte dies
nur der erste Grad sein; denn
1.)
enthält er, wie unsere Akten ausdrücklich sagen, das Ordensganze schon vorgebildet in sich; (Wir gehen hier viel
weiter als die Große National - Mutterloge zu den drei Weltkugeln, welche amtlich erklärt hat, daß die gesamte Freimaurerei in den drei JohannisGraden enthalten sei.) >26<
2.)
3.)
bildet er das felsenfeste Fundament für den Orden und für unsere Arbeit, und
drückt er jedem der späteren Grade seine Signatur auf; denn das Wort „Lehrling“ hängt zusammen mit
„lernen“. Jeder aber, und hätte er des Ordens höchste Würden erreicht, muß lernen.
„Der Schule wähne niemals Dich entlaufen,
Sie dauert durch das ganze Leben fort.“
Wehe dem, der bei uns nicht mehr lernen wollte! er würde sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Darum,
wenn wir uns auch Meister nennen, so geschieht das stets mit dem Vorbehalt, daß wir „noch immer zu lernen übrig
haben“. Denn die Kunst ist lang, unsere k. Kunst ist die allerlängste, und das Erdenleben ist kurz. Aber das Leben, für
welches die k. Kunst uns erziehen will, ist ewig. So wahr aber jedes Ideal dem innerhalb irdischer Schranken
Strebenden unerreichbar ist, so wahr bleibt auch das Lehrlingstum bestehen bis zu unseres Lebens letztem Hauche,
und die Lehrlingspflichten bleiben maßgebend für unser ganzes Wirken und Schaffen sowohl im Orden als auch in
profanen Kreisen.
Welches sind nun die Pflichten des Lehrlings ? — Ich sage ausdrücklich: des Lehrlings, nicht etwa des JohannisLehrlings. Drei kurze inhaltsschwere Worte, die wir nie vergessen dürfen, fassen sie ein. Starr, kalt und streng stehen
sie da, wie in Stein gehauen:
Arbeiten, Gehorchen, Schweigen.
(Frageb. Abt. II, Art. l, Fr. 37.)
Diese drei Pflichten bedingen einander. Wie die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks ist jede von ihnen mit den
beiden anderen verbunden und verankert. Man kann, wie wir sehen werden, keine wegnehmen, ohne daß die beiden
anderen aufgehoben werden. Auch das profane Leben stellt diese drei Pflichten auf, aber ihre Erfüllung ist draußen
doch eine andere als auf maurerischem Gebiete, was die folgende Betrachtung zu zeigen versuchen soll.
1. Arbeiten.
Arbeit ist eine Pflicht, welche jedem Menschen obliegt. Von jedem wird sie nicht nur verlangt, sondern jeder ist auch
dazu gezwungen. Schon das Kind, sobald es zu lernen beginnt, muß arbeiten. Man meint gewöhnlich, ein Kind lebe
ohne Sorgen dahin; das ist durchaus falsch. Ein Kind hat oft Sorgen, die verhältnismäßig schwerer sind als die eines
Erwachsenen, und diese Sorgen werden immer schwerer, je älter das Kind wird. Im reiferen Alter aber beginnt die
Sorge und Arbeit für die Existenz, für Weib und Kind, für das private und öffentliche Leben.
Sollte nun diese Arbeit gemeint sein in der ersten Lehrlingspflicht? Gewiß verlangt der Orden, daß jedes seiner
Mitglieder treu, fleißig und gewissenhaft in der Erfüllung seiner Berufspflichten sei, und jeder gewissenhafte Mann
— und der wahre Maurer erst recht — muß es empfinden, welch ein Segen auf der Arbeit ruht, die, wie das
Sprichwort sagt, das Leben süß macht. Aber es ist doch noch ein Arbeiten im höheren Sinne vom Orden gemeint.
Wohl gibt es höhere Arbeiten als diejenigen, die das Leben im gewöhnlichen Sinne uns bietet. Es gibt Arbeit im
größeren Sinne, Arbeit im Dienste des Wahren und des Schönen. Der Jünger der Wissenschaft in seinem
Studierzimmer findet seine Arbeit und zugleich seine Freude im Erforschen der Wahrheit, der Künstler in seinem
Atelier wird von Begeisterung erfaßt, wenn er in heißem Mühen danach ringt, auf der toten Leinwand oder in dem
spröden Marmor die Schönheit zur Darstellung zu bringen, wie sie als Ideal in seinem Busen ruht. Weit hinweg
gescheucht wird von beiden im Augenblick der Schaffensfreude die trübe Sorge, und ihr Berufsleben ist durch den
Dienst der Musen unter eine höhere Weihe gestellt. Aber noch höher ist die Weihe, die auf der Arbeit ruht, welche
der Orden von uns verlangt, und welche wir in den Werkstätten der k. Kunst erlernen sollen.
Der Psalmist singt vom langen Leben: „Wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Was mag
damit wohl für eine Arbeit gemeint sein? Doch nicht etwa die Berufsarbeit! Wohl singt der Dichter von dieser:
„Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis;
Ehrt den König seine Würde,
Ehret uns der Hände Fleiß.“
Aber weder diese Arbeit noch die für höhere Zwecke kann dem Leben volles Genüge geben. Wer einzig und allein
seinem bürgerlichen Beruf lebt, in ihm, wie man sagt, ganz aufgeht, der lebt nur halb, er lebt nur nach außen. Seine
Arbeit macht ihn müde und abgespannt, und früh alternd an Körper und an Geist, sinkt er freudlos in sein Grab.
>28< Die Perle hat ihm gefehlt. Sein Leben war wohl Mühe und Arbeit, aber es war nicht köstlich, sondern eitel
Hast und Unruhe; er hat sich überarbeitet, um seine Stelle im bürgerlichen Leben auszufüllen. Näher ans Ziel kommt
schon der Gelehrte und der Künstler. Unauflöslich mit ihrer Arbeit verbunden ist ein ideales Streben, das
emporzuheben vermag über Kleinlichkeiten und Alltäglichkeiten. Aber wie oft sehen wir den scheinbar auf der Höhe
des Lebens Stehenden unbefriedigt. Trotz seines glänzenden Wirkungskreises fehlt ihm das, was zum wahren Frieden
dient. Es fehlt ihm das, was unser Erdendasein erst zum wahren Leben erhebt, jene Arbeit der Verinnerlichung, zu
welcher wohl der Ruf an jeden Menschen ergeht, die aber vornehmlich gepflegt wird und nirgends in einem helleren
Lichte strahlt als in den Werkstätten unserer k. Kunst.
Die Arbeit der Loge steht unter dem Ordensgesetz, welches die Mitglieder des Bundes dazu anhält. Unsere
Versammlungen werden Arbeiten genannt; ihr regelmäßiger Besuch wird uns zur Pflicht gemacht, und das, was uns
in ihnen besonders beschäftigt, ist die Erlernung der Anwendung der Mittel und Werkzeuge, welche die k. Kunst uns
darreicht. Wenn wir das, was unsere Logenarbeiten uns bieten, in uns aufgenommen und in unserem Kopfe und
Herzen bewegt haben, dann sind wir erst in der Lage, das eigentliche Werk zu beginnen: die Arbeit des Menschen an
sich selbst oder, wie die Freimaurerei sich ausdrückt, die Arbeit am rohen Stein unseres Selbst, die Arbeit, welche
den Zweck hat, den Menschen, der nach Gottes Ebenbilde geschaffen ist, zu einem göttlichen Kunstwerk zu gestalten
aus dem Rohmaterial, wie es aus der Werkstatt der Natur hervorgegangen ist. Das ist die Arbeit, die nicht abspannt
und ermüdet, sondern erfrischt und erquickt. Sie verjüngt uns wie ein Quell, aus dem wir ewige Jugend trinken, sie
mehrt unsere Kraft, anstatt sie abzunutzen und zu verbrauchen. Sie läßt uns die Luft eines höheren Daseins atmen und
macht uns dieses Erdenleben erst köstlich im Sinne des Psalmisten; denn nur in ihr und durch sie wachsen unsere
Kräfte und führen uns zum Lichte, zur Wahrheit und der Vollendung entgegen.
Ist aber nun diese Arbeit am unbehauenen Stein, wie wir sie nennen, nur Eigentum der Freimaurerei? Unter Arbeit
am rohen Stein versteht man doch das Abschleifen von Unebenheiten, das Herstellen glatter Flächen, wodurch ein
taugliches Baustück hergestellt wird, das sich in den Bau der menschlichen Gesellschaft wohl einfügt. Gewiß ist
solche Arbeit auch außerhalb der Loge zu finden. An jeden Menschen tritt die Forderung, ja die Notwendigkeit
heran, an sich zu arbeiten und sich abzuschleifen. Aber es gibt viele Menschen, die abgeschliffen erscheinen, fein und
glatt von außen; es lebt sich gut mit ihnen, sie sind liebenswürdig, angenehm, verträglich, und was dergleichen
gesellige Tugenden mehr sind. Und dennoch kann sich hinter einer solchen glatten Außenseite ein Inneres voll
sittlicher Verkommenheit und Fäulnis verbergen, eine Seele ohne Glauben, ohne Hoffen, ohne Liebe. — Solche
äußerliche Arbeit kann nicht bestehen vor dem Lichte der k. Kunst. Sie leuchtet tief hinein in unser Inneres; sie wirft
ihr Senkblei in die Tiefen unserer Seele und will auf dem nach der Wasserwaage geebneten Grunde ein göttliches
Kunstwerk errichten, das durchleuchtet ist von göttlichem Licht. Von innen heraus muß diese Arbeit vor sich gehen.
Wird sie recht getan, dann schwinden die rauhen Ecken und Kanten von selbst. Sie ist das große, unergründlich tiefe
Geheimnis der Freimaurerei. Unsere Werkstätten zeigen uns den Weg, um in seinen Besitz zu gelangen, legen die
Werkzeuge dazu in unsere Hand und geben uns sichere untrügliche Wegemarken, die uns zurechtweisen, wenn wir in
Gefahr sind zu irren. Aber auch außerhalb unserer Arbeitsstätten gibt es Menschen, die die Wege der inneren
Umwandlung und Erleuchtung gehen; das sind einzelne gottbegnadete Naturen, denen durch ihre geniale Intuition das
Geheimnis offenbar geworden ist. — In unseren Kreisen ist der Ausdruck „Freimaurer ohne Schurz“ sehr beliebt.
Man pflegt damit einen Mann zu bezeichnen, der freimaurerische Gesinnungen offenbart und nach freimaurerischen
Grundsätzen handelt. Man würde aber viel zu weit gehen, wenn man einen jeden solchen mit dem Namen
„Freimaurer ohne Schurz“ bezeichnen wollte. Freimaurer ist nur der, welcher nach bestimmten Gesetzen und mit
bestimmten Mitteln an der Entwicklung seines inneren Lebens arbeitet, und deren gibt es wenige. Schon in unseren
Reihen sind sie nicht allzu dicht gesäet, und in profanen Kreisen sind sie noch seltener anzutreffen.
Ein Licht aber gibt es, das aller Welt für diese innere Arbeit leuchtet. Das ist die heilige Schrift auf unserem Altar.
Aber nicht jeder versteht sie zu lesen. Das Verständnis für sie muß uns erst geöffnet sein, und das geschieht weniger
durch geistreiche Kommentare, als durch Einfalt und Demut, mit welcher wir an sie herantreten. Würden unsere
ganzen Überlieferungen verloren gehen, — aus der Bibel könnte man die Wege der k. Kunst wiederherstellen, >30<
und würde die Bibel mehr gelesen und im rechten Sinne gelesen, dann würde auch mehr maurerisch gearbeitet
werden, und es würde mehr Freimaurer mit und ohne Schurz geben. Wollen wir aber die Bibel, unser größtes Licht,
für unsere Arbeit am fruchtbarsten machen, so müssen wir uns weisen lassen durch die Gleichnisse unseres
Obermeisters, die fast alle auf die eigentümlichen inneren geistigen Tätigkeiten, auf jenes Kommen des Reiches
Gottes, das sich nicht mit äußeren Gebärden vollzieht, hinzeigen. Hier finden wir den Schlüssel für das, was
freimaurerische Arbeit heißt und bedeuten will.
2. Gehorchen.
Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß, ebenso wie Arbeit, so auch Gehorsam nicht bloß von uns Brüdern
Freimaurern, sondern von allen Menschen verlangt wird. Gehorsam hält die ganze Welt in ihren Fugen zusammen,
und wollten wir den Begriff definieren, so könnten wir sagen: er ist die Erfüllung der Gesetze; Ungehorsam ist
Gesetzesbruch.
Auf ewigen, unveränderlichen Gesetzen sehen wir den Weltenbau gegründet, und die allweise Macht, die diese
Gesetze gab, nennen wir in Ehrfurcht den allmächtigen, dreifach großen Baumeister der Welt. — Wir sehen die
Weltkörper gehorsam nach den Gesetzen sich bewegen, welche einst der Forschergeist Keplers gefunden und
ausgesprochen hat. Gehorsam einem unhörbaren Ruf strebt das Eisen zum Magnet, und gehorsam richtet sich die
Nadel der Bussole nach Norden. Den Gesetzen der Wahlverwandtschaft gehorchen die Stoffe in der Retorte des
Chemikers. Wolken und Winde, Regenströme und Wasserwogen gehorchen dem Gesetz; ja selbst der Blitzstrahl, der
in scheinbarer Willkür unregelmäßig dahin zuckt, geht doch keinen anderen Weg, als den das Gesetz ihm vorschreibt.
Und tief in der Erde Gründen vereinigen sich die Atome und bauen sich auf zu Kristallen nach einem
architektonischen Gesetz, das sie in sich tragen, und von dem es keine Abweichung gibt. Überall, wohin wir blicken,
dasselbe Walten und Weben in unabänderlicher Gesetzlichkeit und Weisheit. Alle Vorgänge in der Natur, Licht,
Wärme, Schall, Elektrizität, äußern sich nach unverbrüchlichen Gesetzen, die der Forscher findet und in der
mathematischen Formel ausspricht. Wer will die Äußerungen dieser Naturgesetze zählen und schildern, wie sie sich
darstellen in der organischen Welt, im Pflanzen- und im Tierreich. Ja, wenn auch unendlich Vieles in diesen
Erscheinungen, im Entstehen, im Entwickeln, im Vergehen für uns rätselhaft und unerklärlich ist: das Eine wissen
wir, daß überall, im anorganischen Kristall wie in der organischen pflanzlichen oder tierischen Zelle, dieselben
unumstößlichen Gesetze herrschen, gegen welche es einen Ungehorsam nicht geben kann.
Dies anerkennend beugt sich unser Geist vor den Werken des ewigen Meisters, die vollkommen sind überall da, wo
ein Ungehorsam gegen sein Gesetz ausgeschlossen ist, oder, wie der Dichter sagt:
„— wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“
Ja, der Mensch, das letzte und höchste Glied der Schöpfung, ist es allein, dem es möglich ist, das göttliche Gesetz zu
brechen, d.i. ungehorsam zu sein. Das Tier, obschon es Selbstbewußtsein hat, vermag das noch nicht; denn es hat
keinen freien Willen und steht unter dem Zwange seiner Triebe. Es kann sich nicht erheben in das Reich des
Intellekts und der Sittlichkeit. Nur der mit freiem Willen begabte Mensch vermag das. Er hat die Frucht gekostet vom
Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen; er kann wählen zwischen Recht und Unrecht, und je weniger das
Bewußtsein dessen, was recht ist, in ihm entwickelt ist, desto leichter verfällt er der Ungerechtigkeit, desto öfter
bricht er das Gesetz und wird ungehorsam. Die Frucht vom Baume des Lebens hat er nicht gekostet; denn jene
erschien ihm lachender und lockender; sie gab ihm Freiheit, oder vielmehr Willkür. „Ihr werdet sein wie Gott und
wissen, was gut und böse ist;“ also, erzählt die Legende, flüsterte die Schlange dem Menschen ins Ohr. Wohl sprach
sie wahr; aber der satanische Verrat, den sie übte, lag darin, daß sie dem Arglosen verschwieg, daß er trotz dieses
Wissens den Weg zum Guten nicht finden, sondern durch seine irdische Natur von ihm abgezogen werden würde auf
die Wege des Bösen, der Sünde und des Ungehorsams.
Das ist der Fluch, der noch heute auf dem menschlichen Geschlecht lastet. Aber wenn auch der Mensch dem Bösen
verfiel, so blieb doch auch die Erkenntnis des Guten in ihm rege. Ihr entsprang das bürgerliche Gesetz, durch welches
die Menschheit sich selbst zu schützen und zu erhalten sucht. Überall ist dieses Gesetz mehr oder weniger
unvollkommen, weil stets die menschliche Unzulänglichkeit ihm anhaftet. Aber der Urquell, aus dem es geflossen, ist
doch die göttliche Wahrheit selbst, wenn sie in der Gesetzesformel auch nur getrübt zum Ausdruck gelangt.
Unter dieses geschriebene Gesetz muß sich der Mensch beugen wie unter ein Joch. Es lastet auf ihm mehr oder
weniger schwer, je nachdem >32< entweder sein noch auf niedriger Stufe stehendes sittliches Gefühl mit den
geschriebenen Paragraphen in Konflikt gerät, oder sein verfeinertes Rechtsbewußtsein sich mit den dem Gesetze
anhaftenden menschlichen Schwächen nicht auseinanderzusetzen vermag. In jedem Falle aber muß er sich beugen
und gehorchen, sonst verfällt er der Strafe und sprengt sich selbst aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus. Es ist
nicht anders: sobald der Mensch anfängt zu denken, kommt ihm zum Bewußtsein, daß er seinen Willen in Gehorsam
beugen muß. Die Einsicht, warum er gehorchen soll, ist ihm um so unklarer, je tiefer er in seiner intellektuellen
Entwicklung steht. Das Kind steht unter dem Willen des Vaters, unter seiner Zuchtrute; der Schüler muß sich der
Schulordnung fügen; beide wissen oft nicht warum. Und der Staatsbürger steht unter dem Strafgesetzbuch und
übertritt seine Vorschriften oft genug, trotzdem eine bessere Einsicht ihm gegeben ist. Jeder menschliche Verein aber
hat seine Gesetze, von deren Erfüllung sein Bestehen und Gedeihen abhängt. Demgemäß muß auch in unserm Orden
das Gesetz herrschen, und damit kommen wir nun auf den Gehorsam, der als zweite Lehrlingspflicht vom Freimaurer
verlangt wird.
„Gehorsam gegen Obrigkeit und Gesetze“, diese Forderung wird dem Aufzunehmenden, sobald er den Tempel
betreten hat, zunächst entgegengehalten. Denn wer draußen nicht gehorchen gelernt hat, der wird den maurerischen
Gehorsam, den die Loge verlangt, nimmermehr verstehen und erlernen. Der Gehorsam gegen die Ordensgesetze aber
wird durch ein feierliches Gelübde versprochen. Diese Ordensgesetze, die wir jedem Neuaufgenommenen bei
Überreichung des „Handbuches“ übergeben, sind mannigfacher Art und für unsere Verbindung ebenso notwendig wie
für jede andere. Eins aber dürfen wir nie vergessen: Die Bestimmungen, die wir im Handbuch finden, sind nicht des
Ordens höchstes Gesetz. Eine Stelle unserer Akten weist uns auf dieses höchste Gesetz hin. In den Erklärungen der
Aufnahmegebräuche heißt es:
„Daß Sie Ihre Füße in einen rechten Winkel stellen mußten,als Sie zur westlichen Seite der Arbeitstafel
geführt wurden, bedeutet, daß Ihr höchster Fleiß dahin gehen soll, Ihre Handlungen nach den Geboten des
höchsten Baumeisters und den Gesetzen des Ordens einzurichten.“ (L. B. II. Beil., Seite 37. 38.)
Hier finden wir neben die Ordensgesetze das göttliche Gesetz gestellt, wie es das Winkelmaß ausdrückt, das die Brust
des Meisters ziert, und das der Suchende diesem gegenüber zu bilden hat. Dieses Gesetz ist höher als die
Ordensgesetze, denn diese sind nur zum Dienste des höchsten Gesetzes aufgestellt. Wo stehen sie aber geschrieben,
diese höchsten Gesetze? Sind es diejenigen, die Moses in zwei Steintafeln eingrub und seinem Volke verkündigte? O,
nein! Nicht ein geschriebenes, von Menschen in Paragraphen gefaßtes Gesetz ist es, was der Maurer als seine höchste
Norm anerkennt, sondern ein ungeschriebenes. Gott, unser Schöpfer und Vater, hat es selbst in das Herz des
Menschen gelegt; der Obermeister aber hat es uns allen offenbart, als er zu seinen Jüngern sprach: „Ein neu Gebot
gebe ich euch, daß Ihr euch untereinander liebet.“ (Joh.. 13, 34.) War denn dieses Gebot neu? Nein! Es steht schon
im alten Testament (3. Mos. 19, 18), ja, wir können sagen, es ist so alt wie die Menschheit selbst, denn es war dem
ersten Menschen schon ins Herz gepflanzt. Aber die Menschen erkannten diese Quelle alles Heiles nicht, bis der
Obermeister kam und sie ihnen zeigte. Ausgesprochen war das Gesetz wohl oft vor ihm, aber noch nicht offenbart;
das konnte nur durch ihn geschehen, der eins war mit dem Vater. Darum konnte er allein den Menschen offenbaren,
daß Gott die Liebe sei. Die Liebe aber ist des Gesetzes Erfüllung; sie selbst ist das höchste und vornehmste Gebot.
Und sie ist auch das höchste Gesetz unseres Ordens, das vom König der Könige selbst in unser Herz gelegt ist, auf
daß wir ihm gehorchen. Diese suprema lex soll nicht nur sein der Wille der Könige und der Mächtigen dieser Erde,
sondern unser aller Wille. Und wenn wir das Gesetz der Liebe zum Ausdruck bringen in unserm Wollen und
Handeln, wenn wir in unseres Herzens tief innerstem Grunde den Zusammenklang spüren mit dem Willen des
Ewigen, dann dürfen wir mit Recht singen:
„Wir sind die Könige der Welt!“
Ja, Könige sind wir dann, freie Herren über alles, was uns gegeben ist.
Das ist ein hohes und erhabenes Ziel, dem wir zuwallen. Wie die Aufseher, die Vertreter der Brüderschaft, dem
Meister gegenüberstehen, um ihm zu gehorchen, so sollen in unserem Inneren die Kräfte unseres Geistes, Vernunft
und Gewissen, zugewandt sein dem Lichte der Liebe, das aus dem ewigen Osten sonnenhaft auf uns hernieder >34<
strahlt, auf daß wir durchleuchtet werden von diesem heiligen Licht. Ein langer Weg ist uns beschieden bis zu dieser
Vollendung. Wir nähern uns ihr nur durch strenge Maurerarbeit und demutsvolle, gehorsame Unterwerfung unter das
Gesetz. — Können wir das Ziel erreichen? Nein! — Wir können das höchste Gebot halten wie alle anderen Gebote,
d.h. wir können unser Leben und Handeln danach einrichten und abmessen; aber wir können es nicht erfüllen, d.h.
ihm so gerecht werden, daß auch nicht ein Tüttelchen mehr übrig bleibt, und kein Rest vorhanden ist. Das hat nur
Einer erreicht, er, den wir unseren Obermeister nennen. Er war unter das Gesetz getan und ging in Knechtsgestalt
einher; er erniedrigte sich selbst und war gehorsam dem höchsten Gesetz bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.
— Seinen Fußstapfen folgen wir nach in Demut und Gehorsam auf dem Pfade, der zum Leben führt, auf daß wir das
wahre Leben erlangen.
3.
Schweigen.
Schweigen ist die dritte Pflicht des Lehrlings. So wie von den drei Schlägen, mit welchen der Freimaurer sich
klopfend ankündigt, der dritte der härteste ist, so ist auch die dritte Pflicht die wichtigste und schwerste.
Wie ist das möglich? Man sollte es kaum glauben. Schweigen erscheint doch so einfach und leicht. Schweigen ist
doch weiter nichts als ein Unterlassen des Redens, und man sollte meinen, es sei sehr leicht, etwas zu unterlassen,
während es viel schwerer scheint, etwas zu vollbringen. Die Pflicht des Arbeitens fordert das positive Vollbringen
gewisser Leistungen; die Pflicht des Gehorchens erheischt dies nur zum Teil, denn die Gesetze, denen wir gehorchen
sollen, sind teils Gebote, teils Verbote, so daß also der Gehorsam sowohl im Tun als auch im Unterlassen sich erfüllt.
Die Pflicht des Schweigens dagegen scheint nur ein Unterlassen vorzuschreiben.
In unserer Freimaurerei aber ist es mit einer solchen, sozusagen negativen Tugend nicht getan. Um dies einzusehen
und den tieferen Sinn der dritten Lehrlingspflicht recht zu erfassen, müssen wir zunächst unterscheiden zwischen
Verschwiegenheit und Schweigen. Beide Begriffe unterscheiden sich sehr bedeutend voneinander. Ich möchte sagen,
die Verschwiegenheit gehört mehr dem profanen Leben an, wie ja auch der Freimaurer hauptsächlich den Profanen
gegenüber Verschwiegenheit üben soll. Verschwiegenheit ist eine Tugend, Schweigen dagegen ist eine Kunst, ein
wichtiger Zweig und integrierender Teil unserer k. Kunst. Man kann in der Tugend der Verschwiegenheit sehr geübt
und doch von der Kunst des Schweigens weit entfernt sein. Wir können uns einen Menschen denken mit
verschlossenem Charakter und mit versiegelten Lippen, aus dem nichts herauszubekommen ist, und der dennoch vom
Schweigen keine Ahnung hat. Wie ist das zu erklären?
Betrachten wir zunächst die Verschwiegenheit, wie sie in der profanen Welt geübt wird. Da hat die Sache ihre
eminent praktische Seite, und Nützlichkeitsgründe sind es zumeist, aus denen diese Tugend in Ansehen steht. Da gibt
es Amtsgeheimnisse, Geschäftsgeheimnisse, Familiengeheimnisse, die bewahrt werden müssen, um das öffentliche
Leben oder private Interessen vor Schaden zu bewahren. Die rechten Lehrmeister der Verschwiegenheit sind die
Diplomaten. Talleyrand stellte sogar den Satz auf, die Sprache sei dazu da, um die Gedanken zu verbergen. „Reden
ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagt das Sprichwort. Es gibt Geheimnisse einzelner und ganzer Familien, die uns
anvertraut werden und durch deren Verrat unabsehbares Unheil gestiftet werden kann. Der Arzt und der Beichtvater
sind sogar vor dem Gesetz strafbar, wenn sie solche Geheimnisse ausplaudern.
Aber auch jeder einzelne Mensch hat seine Geheimnisse, die er niemandem anvertrauen mag; sie zu hüten, ist freilich
nicht schwer. Vielfach sind sie trauriger Art. Anderseits aber treibt es uns, auch das höchste Glück, das wir erfahren
haben, tief in unser Herz einzuschließen, und nur dem erprobten Freunde gestatten wir, Blicke in unser Innerstes zu
tun. Wir tragen unsere Familienangelegenheiten nicht auf den öffentlichen Markt des Lebens und predigen das, was
unser Herz bewegt, nicht von den Dächern. Nur dem allmächtigen Baumeister ist unser Herz geöffnet, und sein
allsehendes Auge durchschaut unser Innerstes. Aber wenn wir uns betend zu ihm wenden, so geschieht das am besten
in geheimer Stille, denn der Obermeister hat gesagt: „Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die
Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ — Im Herzen des Menschen ist ein Allerheiligstes, ein zartes
keusches Geheimnis, zu dem kein profaner Blick dringen darf, und das durch jede Berührung entweiht wird. Hier nun
haben wir den Punkt gefunden, wo die Verschwiegenheit des profanen Lebens sich mit der maurerischen Pflicht des
Schweigens berührt. >36<
Auch auf maurerischem Gebiete tritt uns die Forderung der Verschwiegenheit ganz besonders nachdrücklich
entgegen. Diskretion wird zunächst von uns verlangt und durch ein feierliches Gelübde zugesagt. Wir sind eben
Brüder und leben in der Loge in einer großen Familie, deren Angelegenheiten wir für uns zu behalten haben, und
deren Geheimnisse von uns bewahrt werden müssen. Wir können nicht vorsichtig genug darin sein. Zu diesen
Familiengeheimnissen gehört alles, was in der Loge vor sich geht, nicht nur die Angelegenheiten der Brüderschaft,
sondern auch Ritus, Symbolik, Erkennungszeichen usw. Nun sind wir aber nicht bloß maurerische Familienglieder,
sondern auch Glieder eines Ordens, und auch dieser hat seine Geheimnisse, die wir zu hüten haben. Worin aber
bestehen diese ? Gibt es denn im Orden noch andere Geheimnisse als die oben genannten? Viele wollen behaupten,
es gebe dergleichen nicht, ja, es gebe überhaupt keine maurerischen Geheimnisse mehr, seitdem Symbole, Riten und
Erkennungszeichen längst durch Schrift und Druck veröffentlicht seien. Traurig wäre es, wenn dem also wäre. Dann
hätten jene Übelwollenden recht, welche durch Veröffentlichung jener geheimzuhaltenden Dinge den Orden zu
zerstören vermeinten. Ja, es gibt ein Ordensgeheimnis, das hoch erhaben ist über jenen unter bloßer Diskretion
stehenden Dingen. Das kurze Gelübde, das wir bei der Aufnahme abgelegt haben, weist deutlich darauf hin:
„Ja, ich gelobe, von den Geheimnissen der Freimaurerei mit keinem Unberechtigten zu reden oder solche auf
irgend eine Weise zu verraten, auch den Ordensgesetzen gehorsam zu sein.“
Mit dem Ausdruck „Geheimnisse der Freimaurerei“ hat hier der Orden beides zusammen bezeichnet, das
Geheimzuhaltende und das Geheimnis selbst. Im Nachsatz aber hält er beides genau auseinander und spricht von
Geheimnissen, über die wir nicht reden oder sonst durch Schreiben, Drucken, Zeichnen oder Eingraben, wie es im
alten Eide heißt, etwas an die Öffentlichkeit bringen dürfen, und von solchen, die wir nicht verraten sollen. Mit
letzteren ist das eigentliche Kunstgeheimnis des Ordens gemeint, jenes Geheimnis, das wir innerlich erleben müssen,
das nicht aufgeschrieben und uns mitgeteilt werden kann, sondern hinter welches wir nur kommen können durch
innere Erfahrungen an uns selbst, wenn wir die Werkzeuge unserer Kunst auf uns anwenden. Das ist das
Kunstgeheimnis, das wir nicht mitteilen und ausplaudern können; wohl aber können wir es verraten, nämlich dadurch,
daß wir an ihm zu Verrätern werden. Und das werden wir, wenn wir, anstatt die Wege einzuschlagen, die der Orden
uns zeigt, die entgegengesetzten Wege gehen, wenn wir uns der Finsternis zuwenden, statt zum Lichte zu streben,
wenn wir die Mittel der Erleuchtung, die der Orden uns darbietet, unbenutzt lassen und auf das Fleisch säen statt auf
den Geist, wenn wir, anstatt die Liebe in unserm Herzen großzuziehen und uns zu reinigen von allem, was Leib und
Seele befleckt, den Haß und die Selbstsucht in uns nähren und unsere Gedanken auf Unreines und Gemeines richten.
Wenn wir uns nicht dem Höchsten zuwenden, so üben wir schwarzen Verrat an des Ordens heiligstem Geheimnis und
willigen ein, daß die Strafe des Verräters, wie sie der alte Eid nennt, an uns vollzogen werde, d.i. die Vernichtung
unseres Selbst.
Um dieses heiligste Geheimnis nicht zu verraten, wird mehr von uns gefordert als Verschwiegenheit: Die höchste
Lehrlingspflicht heilst Schweigen! Schweigen im höchsten Sinne ist etwas Positives, das dem negativen
Verschweigen geradezu entgegengesetzt ist. Schweigen ist eine Fassung unserer Seele, ein Zusammennehmen ihrer
Kräfte zur Richtung auf das Ewige; es ist ein Stillesein zu Gott, ein Lauschen auf seine Stimme, die in unserem
Inneren laut werden will. Unser Inneres soll zu einem Tempel des Höchsten gestaltet werden. In einem Tempel aber
muß es stille sein, damit das Wort der Wahrheit, das darinnen verkündigt wird, vernehmlich sei. Und das göttliche
Wort ruht in uns; durch Arbeit und Gehorsam soll es laut werden; wohl dem, dem es in deutlicher Rede die Wege des
Lebens weist. Das erste Kindeslallen des göttlichen Wortes vernimmt der Lehrling an der Säule J ...., die er aufrichtet
am Eingange seines inneren Tempels, und die da spricht: „G. h. m. e.“ Und deutlich redet das Wort in uns als Stimme
des Gewissens. Aber nur der Schweigende vernimmt sie. Das Herz, das unlauteren Trieben nachgeht, und in dem
Leidenschaften toben, das Herz, in dem die Selbstsucht in ungesättigtem Anspruch das Ihre fordert, wo Hochmut voll
Überhebung seine Stimme erhebt, — das hat nicht schweigen gelernt.
Darum, o Lehrling, dessen Zunge mit Salomos Siegel versiegelt ist, — lerne schweigen! Sei still zu Gott; murre nicht
gegen ihn und achte auf sein Wort. Sei still in dir; in einem Herzen, wo Geschwätz und Geschrei, Lärm und Toben
herrscht, kann die Stimme der Wahrheit nicht zu Wort kommen; sei still in dir, und statt Unruhe und Sorge wird
>38< Friede in dein Herz einkehren. Und dann: sei still zu den Menschen; suche nicht das Deine, begehre nicht auf,
laß dich nicht erbittern, so wird dir, wenn auch erst spät, das göttliche Wort der Wahrheit auch aus des
miterschaffenen Bruders Herzen entgegen schallen.
Ich habe oben am Eingange gesagt, daß die drei Lehrlingspflichten, Arbeiten, Gehorchen und Schweigen, sich
gegenseitig bedingen und unauflöslich miteinander verbunden sind wie die drei Eckpunkte eines gleichseitigen
Dreiecks. Dies können wir jetzt erkennen:
Wer schweigen kann, der vermag ohne Störung zu arbeiten, weil er die göttliche Stimme im Innern vernimmt
und ihr freudig gehorcht;
wer gehorcht dem ewigen Gesetz des Geistes, vor dem des Fleisches Gesetz schweigen muß, der darf nicht
fürchten, fehlerhafte Arbeit zu liefern;
wer unermüdlich ist in der Arbeit, der gehorcht dem Ewigen, und das Wort redet laut dem Schweigenden.
(1897.)
Was ist die Loge?
Die erste Frage, die sich jedem Neueintretenden aufdrängt, ist die: Was ist die Loge ? Was stellt sie dar ? Und daran
schließt sich die zweite Frage: Was habe ich in der Loge zu tun ? Welche Aufgabe habe ich in ihr und durch sie zu
erfüllen?
Was ist die Loge? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach. Halten wir uns zunächst an das, was die
sinnliche Erscheinung dem Eintretenden darbietet. Wir treten in einen abgeschlossenen, gegen Eindringlinge von
außen wohl bewahrten Raum. In ihm hat eine Versammlung von Männern Platz genommen, welche einem Gesetze zu
gehorchen, einem Zwecke sich hinzugeben scheinen. Am östlichen Ende des Raumes ist ein Altar errichtet auf einer
Erhöhung von drei Stufen; auf ihm befinden sich drei brennende Lichter, welche ihre Strahlen auf das Buch der
Bücher werfen und auf Winkelmaß und Zirkel, die daneben liegen. Am Altare im Osten aber sitzt einer, welcher
Meister genannt wird; ihm ist die Kraft des Wortes übertragen; er ist der Verkündiger des Gesetzes, der durch den
Schlag seines Hammers zur Tätigkeit ruft; der durch die Austeilung des Lichtes das erleuchten soll, was im Dunkeln
lag; der zur Ordnung ruft, was zerstreut und verstört war. Ihm gegenüber im Westen haben die Aufseher ihre Stellen,
des Meisters Gehilfen, die, seines Winkes gewärtig, sein Licht verbreiten durch das Dunkel der Loge, die seinen
Hammerschlag widerhallen lassen, damit durch Süd und Nord verbreitet werde der Ruf zur maurerischen Tat. Mitten
aber zwischen Süd und Nord, Ost und West liegt eine Tafel ausgebreitet, bedeckt mit Zeichen und Bildern, Symbolen
dessen, was sich hier vollziehen soll. Wiederum sind es drei Lichter, welche die Tafel beleuchten, aber sie brennen
nicht unwandelbar fort >40< wie die Kerzen auf dem Altar, sondern sie werden entzündet bei der Eröffnung und
gelöscht beim Schluß der Arbeit. Sobald ihr Schein erlischt, ist auch die Tafel verschwunden, und Dunkel verbreitet
sich aufs neue durch den Raum.
Was will nun dies alles sagen? — Das tief ernste, feierliche Auftreten dieser Dinge läßt uns ahnen, daß etwas Großes,
ja vielleicht das Größte und Höchste sich dahinter verbergen muß, und ein Blick zu der mit Sternen besäten Decke
des Zimmers führt uns zu der Annahme, daß die Loge ein Bild der Welt, des Universums vorstellen soll, welches
durch eine unteilbare, sich ewig selbst gleiche Kraft gehalten und regiert wird. Diese Kraft ist das Göttliche. Eine
Ahnung davon setzen wir bei jedem Menschenkinde voraus. Diese Ahnung soll sich erheben zum Glauben, zur
unerschütterlichen Zuversicht in der Annahme der Existenz eines höchsten Wesens oder, wie die Freimaurerei sich
ausdrückt, des „dreifach großen Baumeisters der Welt“. Wir nennen ihn, den Unnahbaren, Unerforschlichen dreifach,
weil er von uns schwachen, an die Materie gefesselten, in Raum und Zeit sich bewegenden Menschen als Einheit nur
geahnt werden kann, und weil er dem denkenden, sich zu ihm erhebenden Geiste sein ewiges Wesen nach drei
Richtungen hin offenbart hat.
Wir erkennen ihn erstens als Ursprung und Ausgang aller Dinge, als Vater, der die sichtbare Welt so
hingestellt hat, wie sie steht, nach dem Plane seiner unergründlichen Weisheit.
Wir erkennen ihn zweitens im Geschaffenen, im Sohne, in welchem, durch den Schleier der materiellen Hülle
hindurchschimmernd, sich das Wesen der Gottheit manifestiert als Schönheit, am deutlichsten und
vollkommensten in der Krone der Schöpfung, im Menschen, der vom Allvater das köstlichste Erbe erhielt: die
Fähigkeit, ihn zu empfinden und zu denken, und die Freiheit, sich zu ihm aus dem Staube des Irdischen und
Vergänglichen zu erheben.
Endlich erkennen wir ihn drittens in dem treibenden und emporhebenden Agens, welches das Geschaffene
durch Reinigung vom Vergänglichen und durch Heiligung zum Schöpfer zurückführt, als Band des Geistes,
welches Schöpfer und Geschöpf verbindet, oder, wie die Freimaurerei sich ausdrückt, als Stärke.
Dieses dreifach sich offenbarende Wesen will nun die Loge versinnbildlichen überall, wo die Dreizahl uns
entgegentritt: zunächst in ihren drei ersten Beamten, dem Meister und den beiden Aufsehern. Das Walten und Weben
der im All tätigen Kräfte ist der tiefe Sinn der Wechselwirkungen des Meisters mit seinen beiden Aufsehern, wie es
sich bei der Eröffnung und beim Schluß der Loge kundgibt. Der Altar aber ist in seiner vollendeten rechtwinkligen
Gestalt der Sitz der ewigen Einheit. Das redende Zeugnis des göttlichen Wortes, die Fundamentalurkunde des
Menschengeschlechts, liegt aufgeschlagen auf ihm, und seine Lichter werden nicht ausgelöscht, sie brennen ewig fort;
aber im Raum der Loge, an der Stätte, wo das Geschaffene im steten Arbeiten, Ringen und Kämpfen sich
emporschwingen muß, da wechseln Hell und Dunkel, da regieren Sonne und Mond, da ist es bald Tag und bald
Nacht, da flammen die drei großen Kerzen hell auf, und dann verlöschen sie wieder; und die Arbeitstafel, die uns die
Gesetze und Werkzeuge jener Arbeit zeigt, erscheint und verschwindet wieder. Der Meister, der im Osten am Altare
sitzt, trägt das Winkelmaß auf seiner Brust, das Werkzeug, in welchem Senkrecht und Waagerecht, die überall in
allen Lebensäußerungen sich zeigenden Gegensätze, ohne welche kein Leben denkbar ist, zu einem
unverbrüchlichen, einigen Gesetz miteinander vereinigt sind. Die Aufseher dagegen, die im Westen, wo das Licht des
Tages niedergeht, sitzen, tragen Wasserwaage und Senkblei. In ihnen erscheinen Wagerecht und Senkrecht noch
getrennt. Erst durch den Weg von Westen nach Osten, wie ihn der Suchende bei seiner Aufnahme zurücklegt, erst
durch das Streben vom Dunkel zum Licht, vom Irdischen zum Göttlichen, werden Wasserwaage und Senkblei
vereinigt zum rechten Winkel, erst dadurch wird das veränderliche Schwanken von Ansichten und Meinungen zur
ewigen unumstößlichen Wahrheit.
Dieses Bild des Alls wird für uns nun zur Werkstätte, in welcher die tiefsten Geheimnisse und Probleme, mit welchen
sich der menschliche Geist jemals beschäftigt hat, berührt werden. Welche Aufgabe habe ich nun in dieser Werkstätte
zu erfüllen?
Wenn ich in die Arbeitsstätte eintrete, in welcher die Kräfte göttlichen Lebens und Strebens frei werden, in welcher
das Dunkle erleuchtet, das Verwirrte geordnet werden soll, dann folgt daraus von selbst, daß ich nicht müßig darin
stehen bleiben darf als Stein des Anstoßes, sondern daß ich zu dem großen Werke, das sich hier gestalten soll, meine
Kraft beitrage, daß ich das Göttliche in mich aufnehme, auf mich wirken lasse und mein ganzes Selbst den
Einwirkungen der göttlichen Kräfte in unbedingter Hingabe überlasse. Deshalb sind wir hier mit Schurz und Kelle
ausgerüstet, deshalb ist das ritterliche Schwert in unsere Hand gelegt, deshalb haben wir Zeichen, Griff und Wort
erhalten und sind eingetreten >42< in die Reinen der durch das festeste Band gemeinsamen Strebens verbundenen
Brüder. Wir haben alle dieselbe Aufgabe und dasselbe Ziel: in uns zu finden und zu erkennen das göttliche Erbe, es
herauszuarbeiten und hervorzuziehen aus dem Schutt der Alltäglichkeit und uns erleuchten zu lassen durch das
maurerische Licht, dessen Fülle der dreifach große Baumeister der Welt in tausend und abertausend Offenbarungen
durch seine Welt ergossen hat. Ja, wir streben nach Licht, nicht nach dem Flitterschimmer irdischen Tandes und
weltlicher Macht, sondern nach dem Lichte der höchsten Wahrheit, nach der Tiefe der Weisheit und nach der Fülle
der Erkenntnis Gottes. Das uns auf Schritt und Tritt geoffenbarte dreifache maurerische Licht suchen wir überall zu
finden und zu erkennen; haben wir es aber gefunden, dann suchen wir es in uns zusammenzufassen als große Einheit,
als das wahre Wesen der Gottheit selbst.
Keine Wissenschaft, keine Philosophie, kein Grübeln und Forschen, keine Hebel und Schrauben können dieses innere
Licht uns erringen. Dem reinen Herzen allein, das zur Kundschaft gelangt ist, geht es von selbst auf; ihm leuchten die
Offenbarungen des ewigen Wesens überall, und alle Geheimnisse des Seins erschließen sich ihm. Darum erhielten
wir den weißen Lehrlingsschurz, das Kleid der Reinheit, das uns beständig mahnt, zu arbeiten an uns selbst und zu
wachen über uns selbst. Die Kelle aber zeigt uns in ihrer dreieckigen Gestalt, daß wir jenes dreifache Licht, das in
den Tempel unseres Inneren hineingebracht worden ist, als der Meister mit drei Schlägen des Hammers auf den
Zirkel, den wir uns selbst, rechtwinklig geöffnet, auf das Herz setzten, uns die Weihe erteilte, — daß wir, sage ich,
dieses dreifache Licht zu bewahren und zu schüren haben als ein Vestafeuer unseres innersten Heiligtums. In jedem
Menschen ist im Innern ein Raum, der keusch und unentweiht geblieben ist von den Stürmen des Lebens. Diesen
Raum gilt es zu finden, zu vergrößern, auszubreiten durch unser ganzes Ich, auf daß unser ganzes Wesen ein Tempel
des Höchsten werde, in dem die Kräfte seines heiligen Wesens walten, und in dem auf den drei Pfeilern der Weisheit,
Stärke und Schönheit die drei heiligen Leuchten des Lebens in immer hellerem Lichte erstrahlen mögen. Was du aber
errungen hast, das halte fest, das verteidige mit ritterlichem Schwerte gegen die Angriffe der Finsternis. Das höchste
geistige Streben adelt und verleiht Ritterschaft. Wohlauf denn, ihr Ritter vom Geiste! Es gilt den Kampf mit dem
Drachen der Selbstsucht und mit dem Riesen der Trägheit! Laßt sie nicht in eure innere Loge eindringen, die Mächte
der Finsternis, sondern wie die Weltenloge wohl befleckt ist, in die nichts hereinbrechen kann, was den Lauf ihrer
ewigen Gesetze zu hemmen vermöchte, und so wie an der Pforte unseres Tempels der wachthabende Bruder seine
blanke Waffe den fremden Unkundigen entgegenstreckt, so haltet auch ihr euer gutes Schwert bereit, zu treffen das
Gemeine und zu verteidigen das Wahre, Gute und Schöne! Unentweiht bleibe unser innerer Tempel, sowie wir den
Raum unserer Loge bewahren vor allem, was ihre Arbeit stören und ihre Weihe gefährden könnte. Dann wird der
Ordensherr selbst in sein Heiligtum einziehen und Wohnung darin nehmen, und der Glanz seines ewigen Lichts wird
uns umleuchten für und für.
Es geschehe also! (1879.)
Die Gestalt der Loge.
Ein hohes und heiliges Gut ist es, was in jeder Loge bewahrt und gepflegt werden soll: das ist die Kunde von dem
Lichte, das da scheinet in die Finsternis, und das von denen, die in der Finsternis bleiben, nicht begriffen wird,
sondern nur allein von denen geschaut, ergriffen und verteidigt werden kann, die mit allen Kräften ihres Geistes und
ihres Gemütes danach ringen, durch unablässige Arbeit die verhüllende Binde fallen zu machen, und sich durch
Selbstveredlung dem Urquell der ewigen Wahrheit zu nähern. Eine Loge, welche diese Kunde und dies Streben über
anderen Bemühungen vernachlässigt oder ganz aus dem Gesichte verliert, ist keine Loge mehr. Sie würdigt die Idee
der Freimaurerei herab und verdient nicht den Namen einer Stätte der k. Kunst. Hoch über jedem Wechsel und über
jedem Zeitgeist erhaben ist das, was den eigentlichen Lebensnerv der Freimaurerei ausmacht. Es kann nicht
untergehen und verlöschen, denn es ist tief in der menschlichen Natur begründet; aber es kann verdunkelt werden,
und den jeweiligen Vertretern der Freimaurerei ganz oder teilweise abhanden kommen. Denn die einzelnen, die durch
die Aufnahme in die Logen zur tätigen Teilnahme an dem Werke der Freimaurerei berufen werden, stehen eben
mitten im Strome des Zeitgeistes und unterliegen seinen Schwankungen und Strömungen. Nicht allen ist gleich
lebendig die Kunde vom Licht, nicht alle sind gleich mächtig beseelt vom Streben zur Wahrheit, ja, manchen fehlt es
wohl ganz. Darum bedarf die Loge von Zeit zu Zeit einer Erneuerung. Sie soll sich besinnen auf das, was ihr wahres
eigentliches Wesen ausmacht, und sich prüfen, ob der Geist, der in ihr weht, der rechte Geist des Bundes ist.
Unsere Akten reden in monumentalen Worten von einem Idealbilde der Loge, das für ihre stete Erneuerung uns nicht
nur vorschweben, sondern auch von uns verstanden werden soll. Wir finden dieses Bild in unserem Fragebuche,
welches folgendermaßen zu uns redet:
Wie ist die Gestalt der Loge?
Viereckig und gleichseitig.
Was will das sagen?
Daß deren Länge gleich ihrer Breite und deren Höhe gleich ihrer Tiefe ist.
Was wird darunter verstanden?
Daß die königliche Wissenschaft den Weltkreis umfaßt.
Welches ist also die Länge der Loge?
Von Osten nach Westen.
Und ihre Breite?
Von Süden nach Norden.
Welches ist ihre Höhe?
Eine unzählbare Anzahl von Ellen.
Und ihre Tiefe ?
Von der Oberfläche der Erde bis zu deren Mittelpunkte.
Womit ist die Loge bedeckt?
Mit einer himmelblauen Decke, bestreut mit goldenen Sternen.
Was bezeichnen diese Antworten?
Daß unsere Freimaurer-Brüder in der ganzen Welt zerstreut gefunden werden.
(Fragb.Abt.II, Art 2, Frage l bis 9)
Wir finden hier die Gestalt der Loge gezeichnet als die eines Kubus; denn ihre Länge ist gleich ihrer Breite und ihre
Höhe gleich ihrer Tiefe. Der Kubus aber ist der vollendetste Körper, den wir kennen; denn er veranschaulicht uns in
einfachster und zugleich vollkommenster Weise die Idee des Raumes nach seinen drei Dimensionen. Darum ist auch
im maurerischen Sinne die Anschauung des Kubus übergegangen auf die Vorstellung des Weltalls, des großen
Gebäudes, das der allmächtige, dreifach große Baumeister sich gegründet und geschaffen hat, und in dessen
mittelstem Raume (Selbstverständlich kann dies nicht im geometrischen Sinne gemeint sein.) er wohnt, um das Ganze von hier aus
mit seinem Geiste zu durchdringen. >46<
Der Kubus, das Bild der Vollkommenheit, wird uns vor Augen gestellt, nicht im geometrischen, sondern im idealen
Sinne. So wie im geometrischen Kubus der rechte Winkel das Bestimmende ist, so herrscht auch in dem großen
Bauwerk der Welt das ewige Gesetz des Meisters, das der rechte Winkel versinnbildlicht. Überall finden wir es
wieder, in unendlichen Höhen und in unendlichen Tiefen. Und von diesem unendlichen Gebäude soll die Loge ein
Abbild sein; „denn,“ sagt das Fragebuch, „die königliche Wissenschaft umfaßt in ihrer Vollkommenheit den Umkreis
der Welt“. Derselbe Geist, der vom Mittelpunkte aus das All beherrscht, soll auch die Loge regieren, seine Gesetze,
durch die die Welt in ihren Angeln gehalten wird, sollen auch hier zur Geltung kommen, seine Gerechtigkeit soll hier
richten, seine Güte und Liebe soll hier gewähren, spenden, vergeben und begnadigen, und seine Heiligkeit soll hier
verklären alle Dinge; denn alles, was geschieht, vollzieht sich nach den ewigen Gesetzen, welche ebenso heilig sind
wie der, welcher sie gegeben hat. Ja, die königliche Wissenschaft umfaßt in ihrer Vollkommenheit den Umkreis der
Welt. Alles, was entsteht, sich entwickelt und herausbildet, nach Gestaltung ringt und wirksam zu werden anfängt,
erfährt durch den Geist des Göttlichen seine Prüfung und Würdigung, Anerkennung und Verwerfung.
So allumfassend soll auch unsere Loge sein. Dieser kleine enge Raum, der unseren Arbeiten und Versammlungen
dient, — er dehnt sich vor unserem Geistesauge aus nach allen drei Richtungen in die Unendlichkeit. Und diese
Unendlichkeit soll von uns kleinen, schwachen, endlichen Wesen durchmessen und ausgefüllt werden. Wohl überfällt
uns Schwindel und Zagen, wenn wir vor der Unendlichkeit stehen, und doch müssen wir hinein, müssen vorwärts.
Wir müssen ausmessen den Raum unserer Loge nach Länge, Breite und Höhe. — „Welches ist die Länge der Loge?
— Von Osten nach Westen.“ Erkennen wir hierin den Weg, den wir zurückzulegen haben, von der Dunkelheit, aus
der wir zum Leben erwacht sind, von Westen her, dem Lichte im Osten entgegen; von dem Schein und Abglanz zur
ewigen Wahrheit selbst. Der Weg ist weit. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge zum äußersten Meere,“ es
würde immer und immer wieder eine neue Unendlichkeit vor mir liegen, denn der Weg zum Lichte läßt sich nicht mit
irdischem Maße ausmessen und nicht mit irdischen Schwingen zurücklegen. — „Und welches ist die Breite der
Loge? — Von Norden nach Süden.“ Das ist das Arbeitsfeld, dessen Länge unser Weg ausmacht, und das auch nun in
einer Breite vor uns liegt, die gleich ist jenem unendlichen Wege. Nord und Süd! — Wer will ermessen, was
dazwischen liegt? Wer will schlichten den ewigen Streit der Gegensätze zwischen Licht und Finsternis? Wer will versöhnen, was in unlöslichem Widerspruch miteinander im Kampf liegt? Ach, wir selbst werden mitten hineingerissen
in diesen Kampf. Unaufhaltsam zieht sein Strudel uns mit fort, und wir geraten ab von dem Wege nach Osten. Gefahr
und Not auf beiden Seiten: hier versengt uns des Südens Glut, dort erstarren wir in der Kälte des Nordens. Und doch
müssen wir hindurch, doch müssen wir alles, was uns entgegentritt, ermessen und umfassen, doch müssen wir
voranschreiten trotz aller Hindernisse, denn wir dürfen nicht zurück.
Und was ist es, was uns Kraft verleiht, unsere Bahn zu wallen, was richtet uns auf, wenn wir ermattet niedersinken
wollen? Es ist der Blick nach oben, nach jenen Höhen, von denen uns Stärke kommt. Eine unzählbare Anzahl von
Ellen beträgt wohl die Höhe unserer Loge, und ihre Tiefe reicht von der Oberfläche der Erde bis zu ihrem
Mittelpunkte. Wohl wissen wir, daß unser, in Erdenschranken befangener Geist auch diese Maße nicht nachmessen
kann. Aber der Blick hinauf zu dem, der sein Kleid, die Sternendecke von Gold und Azur, über unsere Loge
ausgebreitet hat, läßt uns eingedenk bleiben, daß wir seines Geschlechtes sind, Kinder des großen Vaters, der seine
Unendlichkeit in unsere Brust gelegt hat. Und wenn das Herz sich weitet in wonnigem Erschauern vor der Nähe des
Höchsten, wenn wir die Kraft in uns spüren, die irdischen Schranken zu durchbrechen, dann liegt er vor uns, der
ewige Osten, das Ziel unserer Sehnsucht, dann ist die Reise zurückgelegt, dann sind des Lebens Rätsel gelöst, und
was unerreichbar schien, ist nahe gerückt. „Der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.“ (1. Kor. 2,
10.) Auch uns ist er gegeben, wenn wir ihn suchen, nicht in menschlichem Wissen und spitzfindigen Grübeleien,
sondern in der Kraft des Ewigen, die in uns schlummert und der Erweckung harrt.
Das ist der Idealbau der Loge. Ein solches Werk aber ist — wie leicht einzusehen — nur dann möglich, wenn jeder
einzelne ohne Ausnahme für sich seine innere Loge ausbaut nach dem ewigen Bauriß.
Uns können nur Männer taugen, die, frei von den Fesseln ihrer irdischen Begierden, erhobenen Hauptes die drei
Schritte tun können von Westen durch Süden und Norden nach Osten; uns können nur Männer taugen, die die
Mittagssonne nicht blendet, und die das Dunkel der Mitternacht nicht schreckt, die nicht, in lauer Mattherzigkeit an
>48< der Oberfläche bleibend, Nebendinge zur Hauptsache machen, sondern denen nichts mehr am Herzen liegt, als
nach Osten zu kommen. Uns können nur Männer taugen, die in kindlichem Vertrauen nach oben schauen zu den
ewigen Höhen des Lichtes, von denen uns Hilfe kommt, die mit dem Adlerflug des Gedankens sich erheben zur
Unendlichkeit der Gottheit, und die den kleinen beschränkten Raum, der ihnen für ihre irdische Arbeit gegeben ist,
auszufüllen wissen mit der Idee des Unendlichen. Nur mit solchen Ordensgliedern baut sich die Loge fest und sicher
auf, allumfassend, wie der Plan sie darstellt. Sie soll reichen von Westen, nach Osten, d.h. sie soll sein ein Herd des
ewigen Lichtes, das aus Osten strahlt und seine Strahlen nach Westen sendet, dorthin, wo Erleuchtung nötig ist, und
sie reiche mit ihrer Breite von Norden nach Süden, d.h. sie umfasse das Menschenleben mit seinen Licht- und seinen
Schattenseiten, seinen Höhen und seinen Abgründen, mit seinen Freuden und Schmerzen und leite die Strebenden
zwischen die Pole unseres Daseins hindurch dorthin, wo kein Wechsel mehr ist. Sie reiche bis zum Mittelpunkte der
Erde und leite uns an zum tiefsten Erfassen und Begreifen unseres irdischen Daseins, daß wir es erkennen als
Grundlage und Ackerfeld für die Saat eines höheren Lebens, und sie erhebe unsern Geist eine unzählige Anzahl von
Ellen zu den Sternengefilden, die uns die Lichter der ewigen Heimat zeigen.
Also sei unsere Loge beschaffen und erbaut. So wie droben am Himmelsgewölbe sich Stern an Stern reiht, so sei auch
sie ein Lichtpunkt, der sich den zerstreuten Herden würdig anreiht. „Unsere Brüder sind in der ganzen Welt
zerstreut,“ daran sollen uns die Antworten auf die oben angeführten Fragen erinnern. Nicht bloß auf der Oberfläche
der Erde, sondern in der ganzen Welt! Gewiß; denn überall, wo Gottes Wille sich offenbart, und sein Gesetz herrscht,
da strebt auch das Geschaffene zum Schöpfer zurück. Wo aber dieses Streben sich zeigt, da herrscht die große Idee,
die sich in unserer Loge zeigt, da waltet der aufbauende, der freimaurerische Geist. —
(1886.)
Die Bedeutung des Wortes „Loge“
Zum Stiftungsfest 1903.
Hundertundeinunddreißig Jahre sind verflossen, seitdem wenige, für die k. Kunst begeisterte Brüder zusammentraten,
um in unserer Stadt eine neue Loge neben einer älteren, bereits zu hoher Blüte gelangten, zu errichten. Eine nach
menschlichen Begriffen lange Zeit ist es, die über unsere Loge hinweg gerauscht ist, und die wechselnden äußeren
Verhältnisse, unter denen sie bestanden hat, haben in ihr verschiedene Zeitperioden geschaffen und ihrer Geschichte
ein eigentümliches Gepräge aufgedrückt. Zeiten schwerer äußerer Bedrängnis und heftiger innerer Kämpfe haben
abgewechselt mit stillen, friedvollen Tagen, in denen sich die in trüben Zeiten gestählten Kräfte ruhig entfalten
konnten zu gedeihlicher Maurerarbeit. So ist unsere Loge erstarkt und gefestigt und hat sich zu einer Bedeutung
entwickelt, welche uns mit Vertrauen in die Zukunft blicken läßt. Eins jedoch dürfen wir nicht vergessen: von Zeit zu
Zeit nachzusehen, wie es mit der Sicherheit und Festigkeit unseres Baues bestellt ist, ob nicht irgendwo etwas sich
gelockert und verschoben hat, und ob alles so in Ordnung ist, daß wir mit Sicherheit in unserer Loge wohnen und
arbeiten können. So wie solche Vorsicht an dem alten Hause, welches die Stätte unserer Arbeiten fast von der Stiftung unserer Loge an gewesen ist, geboten erscheint, so wird sie auch bei dem inneren geistigen Bau, dessen
lebendige Bausteine die Brüder selbst sein sollen, durchaus notwendig; kein Tag aber ist so geeignet, unsern geistigen
Bau auf seine Festigkeit und seinen inneren Wert zu prüfen als das Stiftungsfest; denn an diesem jährlich
wiederkehrenden Tage soll die Loge als Ganzes sich jedesmal innerlich erneuern. >50<
Wie ist es nun, wenn wir solche Prüfung anstellen ? Sollte da nicht unser Mut und unser Selbstvertrauen in ein
bedenkliches Wanken kommen? — Sehen wir doch einmal uns unsere lebendigen Bausteine an. Hat jeder die richtige
Form? Ist jeder von der erforderlichen Festigkeit? Steht jeder an seinem rechten Platze? Ist jeder mit seinen
benachbarten Steinen so fest verbunden, wie es für die Sicherheit und den Bestand des Baues nötig ist ? — Das sind
Fragen, die wir uns heute vorlegen müssen, und der Mut, sie zu bejahen, dürfte uns doch wohl gebrechen. O gewiß,
es fehlt unserem Bau an allen Ecken und Enden, denn wir sind Menschen, mit Schwächen und Fehlern behaftet wie
die rohen Bruchsteine mit Schroffheiten und Unebenheiten. Aber, wenn wir sagen, wir sind Menschen, so heißt das
auch: wir sind vernunftbegabte Wesen, in denen das Göttliche nach Gestaltung ringt, und die berufen sind, durch des
Geistes Kraft die Finsternis zu besiegen. Solcher Sieg kann uns aber nicht beschieden sein, wenn wir den Feind nicht
ins Auge fassen. Und eben darum haben wir heute unsern Bau zu prüfen.
Wie viele Bausteine finden wir nun aber bei solcher Prüfung, die nicht das sind, was sie sein sollen! Ich will nicht
davon reden, daß alle des Ruhmes ermangeln, den wir vor dem richtenden Winkelmaß des höchsten Meisters haben
sollen; nein! wir dürfen nur einen menschlichen Maßstab anlegen. Ein irdischer Meister, der da prüfen und richten
will, muß sich bescheiden und vorlieb nehmen. Er kann nicht den Brüdern ins innerste Herz sehen, aber er kann und
muß verlangen, daß bei jedem Mitgliede sich Streben und guter Wille zeige. Sieht er nun so manchen lässig am Bau,
sieht er so viele gleichgültig und interesselos sich ganz fernhalten, so darf ihn das nicht entmutigen, vielmehr muß es
ihn gerade anfeuern, seinen Mahn- und Weckruf immer und immer wieder erschallen zu lassen und immer wieder zu
versuchen, die Säumigen, die abseits liegenden Bausteine heranzuziehen, sie in den Bau einzufügen und mit den
anderen Steinen zu verbinden.
Wie überall, wo es sich im Menschenleben um die Gegensätze von Ideal und Wirklichkeit handelt, so muß man auch
hier die Wirklichkeit in Rechnung ziehen, ohne das Ideal und seine wirksame Kraft aufzugeben; und das ist gerade
das Große an unserer k. Kunst, daß sie uns das Ideal stets in seiner ganzen Größe und Hoheit vor Augen führt und uns
doch stets dabei lehrt, den realen Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Diejenigen, die da meinen, die
Freimaurerei sei nichts als eitel Schwärmerei, haben Unrecht, weil sie die k. Kunst nicht verstehen und nicht die
Fingerzeige unserer Akten zu benutzen wissen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wir werden überall, auf allen
Stufen, hingewiesen auf das Praktische, das Notwendige, das, vom Lichte des Ideals erleuchtet und geheiligt, uns den
rechten Weg führen soll, nicht einen Weg der traurigen Mittelmäßigkeit, sondern einen Weg der Mitte, von dem sich
alles überschauen läßt, der uns die Wahrheit offenbart, und der uns sicher dem Ziel entgegenführt. Solch eine Stelle
unserer Akten, wo es sich um die unmittelbare Zusammenstellung von Ideal und Wirklichkeit handelt, möchte ich
heute zur Betrachtung heranziehen, eine Stelle, die gerade von dem handelt, was uns heute beschäftigt, — von der
Loge.
In unserem ersten Fragebuche (II. Abt., 2. Art., Fr. l bis 9) finden wir eine Beschreibung der Loge, die von der
Ausdehnung derselben nach Länge und Breite, Höhe und Tiefe redet. Ein Bild der Unendlichkeit wurde uns dort
entrollt; denn alle diese Dimensionen gehen ins Unermeßliche, und gekrönt wurde dieses Bild durch die himmelblaue
Decke, bestreut mit goldenen Sternen; das Gewand des ewigen Meisters, der, wie es an einer anderen Stelle heißt (III.
Abt., 3. Art., Fr. 14 bis 16), gekleidet ist „in Gold und Himmelblau“, bildet das Gewölbe, unter welchem der Bau der
Loge sicher ruht. Im vorhergehenden Vortrage habe ich mich über diese Aktenstelle ausführlicher verbreitet, heute
wollen wir die sich daran anschließenden Fragen (10 bis 12) betrachten.
Wenn uns jene erwähnten Fragen einen Flug in die Unendlichkeit tun lassen, so werden wir durch die folgenden
Fragen zurückgeführt zur menschlichen Beschränktheit, aus dem Reiche der Ideale zur Wirklichkeit. Dort handelt es
sich um das Urbild der Loge, die der ewige Meister sich selbst errichtet hat; hier werden wir erinnert an die Loge, wie
sie die Menschen sich nach jenem Muster zu erbauen suchen. Die betreffenden Fragen aber lauten folgendermaßen:
„Warum wird der Name Loge den Gesellschaften gegeben, welche die Freimaurerbrüder ausmachen?
Zum Andenken an die verschiedenen Lager, welche die Israeliten während ihres vierzigjährigen
Zuges von Ägypten nach dem gelobten Lande in der Wüste aufschlugen.
Warum werden die Versammlungen in der ersten Abteilung des Ordens Johannislogen genannt? >52<
Weil der Orden den heiligen Johannes zum Patron angenommen hat.
Wann nannten sich die Mitglieder dieser Gesellschaften Freimaurer-Ritter?
Sie haben diese Benennung in späterer Zeit, die mir noch nicht bekannt ist, angenommen, obgleich sie
vorhin nie so genannt sein wollten.“
Es ist uns wohlbekannt, daß unsere Akten zur symbolischen Darstellung dessen, was sie uns überliefern wollen, die
Traditionen des Volkes Israel, des auserwählten Volkes Gottes, vielfach heranziehen. Personen, Örtlichkeiten,
Bauwerke, wie der Tempel Salomos, historische Ereignisse u. dgl. müssen diesem Zwecke dienen. So auch hier. Die
Zeit des Auszuges aus Ägypten und der vierzigjährigen Wanderung nach Kanaan wird uns ins Gedächtnis
zurückgerufen. Wenn nun unsere Logen mit den Lagern verglichen werden, welche die Juden während ihres langen
Weges durch die Wüste aufschlugen, so ist wohl der erste Gedanke, der uns dabei aufsteigt, die Erinnerung an das
Schriftwort:
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr. 13,14.)
Eine Wanderung ist dein Leben, o Mensch, einem Zuge durch eine weite Wüste zur fernen Heimat zu vergleichen.
Zwar werden die Kinder der Welt das nicht zugeben wollen, denn sie meinen, die Welt, in der wir wandern, sei so
übel nicht, und mannigfache Freuden erblühen uns auf unserm Wege. Gewiß; das wollen wir nicht verkennen und
dankbar annehmen, was Gottes Güte uns bereitet hat. Auch über der Wüste, durch welche Israel zog, ging die
strahlende Sonne auf, und der Mond ergoß nachts sein mildes Licht auf den Weg der Wanderer. In der Pracht des
Sternhimmels schimmerten ihnen die Lichter der ewigen Heimat entgegen, und wenn die Sonne mit glühenden
Pfeilen die müden Pilger versengt hatte, dann winkten ihnen wohl freundliche Oasen mit ihrem Palmenschatten und
ihren erfrischenden Quellen. Aber es war doch immer eine Wüste, durch die sie zogen, es war ein Marsch voll Plagen
und Entbehrungen. Und so ziehen auch wir Maurer durch die Welt, suchend die bleibende Stadt, die ewige Heimat,
wo Ruhe und Frieden uns verheißen ist. Auch wir kommen aus der Knechtschaft und suchen Freiheit. Wie die
Israeliten dem harten Frondienst des Pharao entflohen, so wollen auch wir uns befreien von aller Sklaverei, die
unsern Geist in Fesseln schlagen will. Und für diese mühevolle Wanderung in das Land der Freiheit haben wir uns
verbunden, um mit vereinten Kräften die Wegesmühen zu überwinden. Der Mensch erbaut sich sein Haus auf Erden,
er will ein Heim haben, dessen Frieden ihm schon hienieden den Himmel bereitet, er gründet eine Familie,
sammelt Schätze und ein reiches Besitztum: aber — er hat keine bleibende Stätte; seine Lieben kann ihm der Tod
entreißen, sein Haus kann des Feuers Wut zerstören, seine Habe kann zerstreut werden, und nichts bleibt dem müden
Pilger dann übrig, wenn er nicht seine Hoffnung auf Höheres gesetzt hat. So geht es auch uns mit unserer Loge.
Unsere Väter haben sie erbaut, und wir bewohnen sie nach ihnen, aber es ist keine bleibende Stätte. Lagerzelte sind
die Logen, in denen die einzelnen Freimaurer-Familien wohnen, aber nichts Festes. Das merken wir, wenn das Licht
in unserer Loge sich entzündet und verlischt, wenn sie geöffnet und wieder geschlossen wird. Dann werden die
Pflöcke, welche die Zeltseile hielten, ausgezogen, und die Leinwand wird zusammengerollt, wie unsere Arbeitstafel
zusammengerollt wird. Wir müssen weiter, wieder hinaus in die Wüste — in die Welt. Wohl uns aber, wenn wir im
Innern unserer Arbeitsstätte sowie in unserm Herzen das zu bewahren wissen, was der Loge ihren ewigen Gehalt gibt,
und wodurch sie sich immer von neuem aufrichtet: das ist die Sehnsucht nach der Heimat, nach dem Lande des
Friedens, wo das Licht nicht mehr wechselt, wo der Friede dessen wohnt, der unsere Hoffnung in dieser Zeit voll
Unruhe war. Auch die Kinder Israel zog diese Hoffnung vorwärts. Die Zeit der Knechtschaft war vorüber, und die
Zeit der Wanderung und Prüfung begann. Wohl wollte ihnen oft der Mut sinken, wenn der dürre Wüstensand, vom
Sturm gepeitscht, sie wie mit glühenden Nadeln stach und der rauhe Fels der Einöde ihren Fuß verwundete; wohl
sehnten sie sich manchmal aus Mühen und Beschwerden zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens, wo sie zwar in
dumpfer Sklaverei dahinlebten, aber es doch bequem und vollauf hatten. So geht es auch uns, so geht es dem
strebenden Maurer, wenn ihm der steile Pfad zur Höhe zu rauh wird; er sehnt sich wohl zurück auf den breiten Weg,
den alle Welt dahingeht. Aber wie die Kinder Israel sich aufrafften zu neuer Tatkraft, so auch er. Der Herr selbst
stärkte und erquickte sie; er ließ dem darbenden Volke Manna vom Himmel fallen und sandte ihm Wachteln zur
Speise, und der Stab ihres Führers schlug an den starren Fels, also daß der erfrischende Quell lebendigen Wassers
>54< hervorsprang. Und der Herr selbst ging seinem Volke voran. Es wird erzählt, daß er den Wanderern den Weg
zeigte, bei Tage als eine Wolkensäule und bei Nacht als eine Feuersäule. — Also werden auch wir gestärkt und
aufgerichtet, wenn wir schwach werden und wanken wollen, durch die Himmelsspeise, die da ist, daß wir den Willen
des Vaters tun. Und auch die Wolken- und die Feuersäule geht uns voran; beide sind uns gezeigt auf unserer
Arbeitstafel in den im Westen stehenden Säulen; über der zur Rechten erblicken wir das Zeichen des Wassers, die
Wasserwaage, und über der zur Linken das Zeichen des Feuers, das Senkblei. In beiden aber versinnbildlicht sich die
Kraft des göttlichen Lebens, das uns vorwärts bringt.
Mitten in der Wüste aber erhielt Israel das Palladium, das es aus einer flüchtigen Nomadenschar zu einem
einheitlichen Volke erheben sollte: das war das Gesetz des Herrn, welches sein gewaltiger Führer Moses ihm von des
Sinai Höhen herab brachte, das Gesetz, vor dessen erhabener Größe der Dienst um das goldene Kalb in sein Nichts
zurücksinken mußte. Nun hatte die zerstreute Herde ihren rechten Halt und ihren wahren Mittelpunkt gefunden, und
wenn nun die Lagerzelte aufgeschlagen wurden, dann scharten sie sich um die Hütte des Stiftes, die das Heiligtum
des Volkes, die Bundeslade mit den Gesetzestafeln, barg, und die prangend in der Mitte der Zeltstadt sich erhob, ein
Vorbild jenes festen Tempels, den einst Salomo in der neuen Heimat dem lebendigen Gott errichten sollte.
Also sind auch unsere Logen gereinigt durch das allen gemeinsame Heiligtum, durch den Glauben an Gott, den
allmächtigen Baumeister der Welt, und an sein heiliges Wort der Wahrheit, wie es uns offenbart ist in dem Buche,
das auf unseren Altären ruht. Kein Götzendienst darf uns davon abwenden, nichts Fremdartiges darf den reinen
Dienst des Lichtes, zu dem wir versammelt sind, durchsetzen und verunreinigen. Das auserwählte Volk hatte seinen
Moses zum Führer, der ihm das Gesetz gebracht hatte, und der es richtete und strafte, wenn es von Jehovah abfallen
wollte. Auch wir haben uns unsern Führer erwählt: Johannes den Täufer. Er ist der rechte Prediger in der Wüste,
durch die er uns dem gelobten Lande entgegenführt, wo der regiert, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Darum
werden unsere Logen Johannislogen genannt. Johannes ist der rechte Wegweiser, der uns vorwärts führt. Moses
führte die Seinen aus dem Diensthause in Ägypten hinaus, um sie zu einem großen und selbständigen Volke zu
machen. Aber das Volk war in der Knechtschaft entartet und so, wie es da war, durchaus ungeeignet, seine große
Bestimmung zu erfüllen. Es mußte erst geprüft werden und innere Wandlungen erfahren, ehe der edle Kern, der in
ihm ruhte, sich entwickeln konnte. Während der vierzig Jahre der Wüstenwanderung entstand ein ganz neues
Geschlecht, das allein so tüchtig war, daß es sich die neuen Wohnsitze erkämpfen und das neue Reich gründen
konnte, und nur wenige von denen, die aus Ägypten ausgezogen waren, bekamen das gelobte Land zu schauen. Selbst
Moses war nicht unter diesen. So läutert und reinigt uns Johannes von Grund aus durch seinen strengen Mahnruf zur
inneren Erneuerung. Und so wie Moses auf das in starre Steintafeln geschriebene Gesetz hinwies, so zeigt uns
Johannes das innere Gesetz des Lebens und der Entwicklung, das eben das Gesetz der Umwandlung und Erneuerung
ist.
Und noch mehr! Wie Moses die Israeliten in blutigen Schlachten anführte gegen die feindlichen Völkerstämme,
welche sich dem Zuge des Volkes nach Kanaan entgegenstellten, so drückt auch Johannes uns das ritterliche Schwert
in die Hand zum Kampfe gegen die feindlichen Gewalten, welche unser Werk stören und unsern Bau hindern wollen.
Freimaurer-Ritter nennen wir uns, nicht allein zur Erinnerung an jenen alten, längst untergegangenen Ritterorden, mit
welchem, wie man früher mit Bestimmtheit annahm, die Geschichte unserer Ordensverbindung verknüpft sein sollte,
sondern als eine Mahnung, daß wir mit der strengen Pflicht der Arbeit an unserm geistigen Tempelbau auch jene
Tugenden verbinden sollen, welche die ritterlichen Ordensverbindungen des Mittelalters auszeichneten: Mut und
Unerschrockenheit im Kampfe für die höchsten Güter der Menschheit, wahre Frömmigkeit und Demut vor Gott,
unserm höchsten Herrn und Meister, Gehorsam seinem heiligen Willen, Reinheit der Sitten und Barmherzigkeit, die
uns sein läßt ein Hort und Beschützer der bedrängten Unschuld.
Unsere Loge aber, die heute von neuem sich aufbaut, soll, wenn sie auch nur, wie die Stiftshütte, ein Zelt ist, das
aufgeschlagen und wieder abgebrochen wird, dennoch das Urbild des ewigen Baues in sich tragen, das da
hergenommen ist von dem unendlichen Bauwerk der Welten; in ihm soll thronen der ewige Meister, wie einst im
Allerheiligsten auf der Bundeslade über den Cherubim, und die Mitglieder, die sie in fester Bruderkette bilden, sollen
sein Bürger des ewigen Gottesreiches, zwar hier ohne bleibende Stadt, aber voll froher Gewißheit der ewigen Heimat,
so wie der Psalmist singt: „Ich bin beides, dein Pilgrim und dein >56< Bürger, wie alle meine Väter“ (Ps. 39, 13),
und sie sollen sein nicht nur treue Arbeiter am großen Geisteswerke, sondern auch mutige Kämpfer und Ritter, die
bereit sind, sich zu opfern im Kampfe für Licht und Wahrheit. Ein jeder von uns prüfe sich selbst heute am Tage der
Rechenschaft, ob er solchen Anforderungen genügt, denn nur dann, wenn jeder an seiner rechten Stelle steht, wenn
jeder seine Pflicht tut und jeder mit seinen Brüdern in Eintracht und Liebe fest verbunden ist, kann die Loge das sein,
was sie sein soll, und sich aufbauen, Segen verbreitend nach innen und nach außen als „eine Hütte Gottes bei den
Menschen“. (1903.)
Orden und Ritterschaft.
Zum Johannisfest.
Das Fest, das wir heute begehen, vereinigt alles, was des Maurers Herz erwärmen und begeistern kann. Mit tausend
Stimmen predigt uns die erwachte und bräutlich geschmückte Natur die Allmacht und Allgüte des Schöpfers und
erfüllt unsere Herzen mit Dank und Freude. Ein Licht flutet heute auf uns herab, in dessen hellem Scheine wir
deutlicher als sonst erkennen, was uns die unergründliche Huld des Vaters gegeben hat. Die Rosen heften wir an
unsere Brust als Zeichen unserer Festfreude, aber wir sehen sie auch am Herzen des Bruders, aus dem sie uns
gleichsam entgegen blühen. Auch in seiner Brust sind dieselben festlichen Gefühle heute wach geworden; Freude,
Begeisterung, Hingebung, Liebe und Treue wohnen in seinem Innern, und die Rosen erzählen uns davon mit ihrem
Farbenschmelz und Duft: Das alles ist für dich bereitet, zu deiner Festfreude hergerichtet. Ja, noch schöner als das
Prachtgewand der Schöpfung strahlt uns heute das Licht aus den Herzen der Brüder. Zwingt uns der geschmückte
Tempel der Natur zur Andacht und läßt uns unsere Kniee beugen vor dem großen Weltenmeister, so zieht uns das,
was aus dem Bruderherzen uns entgegenkommt, empor und läßt die gleichgestimmten Saiten in unserm Inneren
anklingen.
Aber diese Saiten können nur zum Tönen gebracht werden, wenn sie die gleiche Stimmung haben. Nicht mühelos
dürfen wir die Gaben hinnehmen, welche das heutige Fest uns spenden will, und nur ein wohl vorbereitetes Herz kann
sie würdig empfangen und sich ihrer erfreuen. Darum ist es unsere erste Pflicht am heutigen Feste, uns solcher
Vorbereitung zu unterziehen, damit wir wohl geschickt seien, die Feier zu begehen. >58<
Das erste Wort, welches heute an die Brüder gerichtet wurde, war der Ruf: „In Ordnung!“ welcher, unterstützt von
einem harten Schlage des Hammers, alle Glieder unserer Kette zwang, in das Zeichen zu treten und den rechten
Winkel an sich anzulegen. Das geschieht wohl bei jeder Arbeit, die wir eröffnen; aber stärker und eindringlicher als
sonst ergeht an uns der Ordnungsruf am heutigen Feste, heute, wo der Grundgedanke und das Wesen unserer
Vereinigung in höherem Maße als sonst in uns lebendig werden soll. Das Wort „Ordnung“ mahnt uns daran, daß wir
uns in einem Orden befinden und als Glieder eines solchen zu fühlen haben. Wir halten diese Bezeichnung, entgegen
anderen freimaurerischen Lehrarten, welche dafür das Wort „Bund“ gebrauchen, aufrecht, und zwar mit gutem
Grunde. In unserm Lehrlings-Fragebuche findet sich die Frage:
„Wann nannten sich die Mitglieder unserer Gesellschaften Freimaurer-Ritter?“
und die Antwort darauf lautet:
„Sie haben diese Bezeichnung in einer späteren Zeit, die mir noch nicht bekannt ist, angenommen,
obgleich sie vorhin nie so genannt sein wollten.“
Wenn nun aber auch unsere frühsten Vorfahren die ritterliche Benennung nicht geführt haben, und wenn auch die
faktische historische Verbindung mit einem mittelalterlichen Ritterorden durch die Geschichtsforschung, wenn auch
nicht widerlegt ist, so doch sehr zweifelhaft erscheint, so hat doch jene Zeit, in der man fest an diesen Zusammenhang
glaubte, ihre Signatur an unserer Verbindung zurückgelassen, und schon in pietätvoller Erinnerung an jene Zeit lassen
wir die Bezeichnung „Orden“ nicht fallen. Außerdem aber gibt es noch innere Gründe, aus denen wir sie beibehalten.
Ein Bund kann gelöst werden; Bündnisse, die zwischen Völkern geschlossen werden, sind nicht beständig, sie können
rückgängig gemacht werden, wenn die politische Konstellation sich ändert, ebenso Bündnisse zwischen
Gesellschaften und einzelnen Personen. Eine Ordensverbindung dagegen ist unverbrüchlich und für die Ewigkeit
geschlossen, und unser Handbuch sagt in seinem ersten Paragraphen, daß wir uns einen Orden nennen, weil unsere
Mitglieder durch ein feierliches, für alle Zeit bindendes Gelübde verpflichtet sind, ihr Leben nach einer bestimmten
Regel einzurichten. Erhält hierdurch die Bezeichnung „Orden“ einen viel stärkeren moralischen Nachdruck, so
erinnert sie uns außerdem durch ihre Abstammung an die Ordnung, zu welcher uns der Hammer ruft; denn das
lateinische Wort „ordo“ bedeutet Reihe, Ordnung, und das ist es gerade, was uns die Benennung „Orden“ so wert
macht, daß wir sie beibehalten.
Wenn ich eine Menge von Gegenständen gleichartiger oder ungleichartiger Natur, planlos durcheinander geworfen,
vor mir liegen sehe, so empfange ich damit den Eindruck der Verwirrung, und mit einem gewissen Unbehagen, das
ich darüber empfinde, regt sich in mir der in der menschlichen Natur tief begründete Trieb, diese Verwirrung zu
beseitigen, Klarheit, Übersichtlichkeit zu schaffen, das Gleichartige von dem Ungleichartigen zu scheiden und
zusammenzubringen, jedem Dinge nach seinem Werte und seiner Beschaffenheit die rechte Stelle zu geben, mit
einem Worte: Ordnung zu schaffen.
Aber dieser Ordnungstrieb ist dem Menschen nicht allein eigen. Sogar in der Tierwelt sehen wir seine Betätigung,
und merkwürdigerweise bei niederen Tieren, bei denen wir nur eine geringe Intelligenz voraussetzen können. Wenn
wir einen Ameisenhaufen anschauen, so sehen wir einen Staat vor uns, in welchem Ordnung und Gesetz herrschen.
Alle scheinen durcheinander zu laufen, und doch weiß jeder, was er zu tun hat, und wo er hin soll. Und die Bienen
bauen ihre sechsseitigen Zellen mit einer Regelmäßigkeit und Ordnung, als hätten sie sich dazu des Zirkels und des
Lineals bedient.
Was aber das Tier ein dunkler Trieb tun heißt, dem es notwendig gehorchen muß, das geschieht beim Menschen aus
einer höheren Einsicht heraus, die er durch das Göttergeschenk seiner Vernunft erlangt. Jedes Werk, das von der
Intelligenz des Menschen Zeugnis ablegt, hat zur Vorbedingung die Ordnung. Ein Kaufmann kann durch Fleiß und
Betriebsamkeit nicht zum Wohlstand gelangen, wenn die Ordnung in seinen Rechnungsbüchern fehlt; der Industrielle
kann nichts vor sich bringen, wenn nicht der Organismus seiner Fabrik auf strenger Gesetzmäßigkeit und Ordnung
gegründet ist; ein Kriegsheer ist nur dann schlagfertig und unüberwindlich, wenn in allen seinen Teilen, im größten
wie im kleinsten, Ordnung und Gesetzmäßigkeit das Ganze zusammenhalten und leiten. Das ganze Staatswesen, seine
Regierung, seine Verfassung, seine Einrichtungen beruhen auf Ordnung. Alles muß seinen geregelten Gang gehen,
alles muß ineinandergreifen, alles bedingt >60< sich gegenseitig und dient dem Ganzen, das durch das
unverbrüchliche Band der Ordnung zusammengehalten wird.
Am herrlichsten aber offenbart sich der Ordnungssinn in der Wissenschaft und in der Kunst: Die Wissenschaft baut
ihre Systeme nach logischen Gesetzen; durch ihre Einteilungen und Klassifikationen schlingt sich das Band der
Ordnung; in der Kunst führt wohl die Phantasie ihr freies Zepter, und der Genius des Künstlers sucht sich seine
eigenen unbetretenen Pfade. Aber hinter ihm geht die Ordnung ihren stillen, festen Schritt, und ihrer sanften Fessel
fügt er sich gern. Wie ein brausender Strom treffen die Tonwogen der Symphonie unser Ohr, und doch herrscht
Ordnung darin; was uns erschütternd und erhebend mit sich fortreißt, beruht in seinem Innern auf den einfachen
Gesetzen der Ordnung, auf der Reihe der Tonskala, auf den einfachen Verhältnissen der Schwingungszahlen, die den
Wohlklang der Töne eines Akkordes bedingen, auf dem Ebenmaß des Taktes, auf dem Pulsschlag des Rhythmus. Die
Schöpfungen der Architektur erfüllen uns mit Bewunderung, ihre Dome erheben uns zur Andacht; aber gerade in
ihren Kunstwerken zeigt es sich am augenfälligsten, daß alle Wirkung auf der Ordnung beruht, die alles in ihre
strenge Regel gezwungen hat. Wir sprechen von Säulenordnungen, nicht nur insofern, als sich uns Reihen von Säulen
zeigen, die in gleichmäßigen Abständen geordnet sind, sondern auch, weil in jeder Säule für sich Verhältnisse der
einfachen Zahlen sich zeigen.
Doch genug! Dies Wenige mag uns zeigen, welch hohe Macht es ist, die der Dichter preist, wenn er singt:
Heil'ge Ordnung, segensreiche
Himmelstochter, die das Gleiche
Frei und leicht und einig bindet,
Die der Städte Bau gegründet,
Die herein von den Gefilden
Rief den ungesell'gen Wilden,
Eintrat in der Menschen Hütten,
Sie gewöhnt zu sanften Sitten,
Und die heiligste der Bande
Wob, den Trieb zum Vaterlande!
Und nun unsere k. Kunst! Wie sollte sie sich der Ordnung und Regel entziehen können, sie, die, ich möchte sagen,
die Inkarnation aller Ordnung ist! Wenn bei jedem anderen Kunstschaffen die Ordnung im Anfange nicht nötig und
entbehrlich erscheint und sich erst später als die notwendige Führerin einstellt, so ist sie in unserer Kunst die
unerläßliche Vorbedingung, welche erfüllt sein muß, ehe von einem Anfang überhaupt die Rede sein kann. Daher die
erste Forderung bei jeder Arbeit: „In Ordnung!“ die heute an unserem Feste ganz besonders mahnend an unser
Inneres ergeht; daher das Stellen in das Zeichen, das Anlegen des rechten Winkels an uns selbst; daher die
Bezeichnung unserer Verbindung, in welcher Gesetz und Regel die Vorbedingungen sind, mit dem Namen „Orden“.
Zu einem Tempelbau sind wir gerufen. Unser Inneres sollen wir ausgestalten zu einem solchen und dabei das große
Ziel im Auge behalten, daß die ganze Menschheit, die noch so vielfach durch die Mächte der Finsternis zerrissen und
zerspalten ist, gleichfalls zu einem Tempel sich aufbaue, in dem der Name des Herrn gepredigt werde, und in dem
alle anbeten sollen den Einen, der der Vater aller ist. — Wie beginnen wir das ? — Wir müssen uns ordnen, die
geistigen Kräfte unseres Inneren konzentrieren und auf den einen Punkt leiten, aus dem heraus allein dem Werke
Gedeihen entsprießen kann. Das Leben hat uns eine Unzahl Eindrücke gebracht, und unser Gedächtnis hat in unserm
Inneren Tausende von Dingen, Gedanken, Erinnerungen, Lehrsätze, Pläne angehäuft. Hier muß Ordnung geschaffen
werden. Hier gilt es zu prüfen, zu sichten, das Wichtige, für unseren Bau Ersprießliche, heranzuziehen, das Unnütze,
Hindernde, Schädliche zurückzudrängen, abzuweisen und, wenn möglich, ganz auszustoßen. Und die Regungen, die
aus unserm Inneren aufsteigen, dürfen uns nicht aus der Bahn werfen, das Edle und Reine muß genährt, das Üble muß
bekämpft und bezwungen werden. Die ewige Norm aber gibt uns dafür der Gedanke, daß wir einen Meister haben,
dessen allsehendes Auge unsere Arbeit prüft, vor dem keine Unordnung und Zügellosigkeit bestehen kann, der uns im
Tempel seiner Natur die herrlichste Ordnung zeigt, wo jedes seine Stelle ziert und nach ewigen Gesetzen regiert wird.
In unserer Brust pocht sein Hammer, der uns mit jedem Pulsschlage zur Ordnung ruft. Und unsere Werkzeuge
verkündigen uns seine Gesetze. Was wollen denn alle diese Geräte, Wasserwaage und Senkblei, nach denen wir uns
stellen, das Winkelmaß, das wir an uns anlegen, der Zirkel, den wir uns auf das Herz setzen, der Hammer, dem wir
gehorchen, die Kelle, die uns das ewige Wort der Wahrheit verkündet — was wollen sie anders als uns ordnen und
richten und uns führen von der Finsternis zum Licht! >62< Und selbst das Schwert in unserer Hand, das wir
ritterlich als Glieder eines Ordens führen sollen, es will nichts anderes als Ordnung schaffen, freie Bahn für unsere
Arbeit; es will nicht töten, es will Leben erwecken. Nur den finsteren Mächten ist unser blanker Stahl geschliffen, und
schützend streckt er sich aus über das, was unschuldig, rein und heilig ist.
So stehen wir fest zusammen, wohl geordnet und gerichtet als ritterliche Brüderschaft und richten heute, am hohen
Feste des Ordens, unsern Blick auf unser höchstes Ziel: ein Hirt und eine Herde! eine Ordnung für alle. Die
Unerreichbarkeit dieses Ideals darf uns nicht entmutigen. Suchen wir es zunächst in unserm kleinen Kreise zu
verkörpern, und bleiben wir heute fest in dem Gedanken, daß wir nicht für uns allein in Ordnung treten, sondern daß,
wenn wir Schulter an Schulter in der Kette stehen, geordnete Reihen bildend durch Süd und Nord, Ost und West, der
große Gedanke einer Verbrüderung der Menschheit hier nach Gestaltung ringt.
Wenn wir uns also ordnen und richten wollen, dann dürfen wir dessen nicht vergessen, der uns unterweist, wie wir
unsere Werkzeuge gehrauchen sollen. Ganz benachbart jener vorhin von mir herangezogenen Frage unseres
Fragebuches, die uns von unserer Ritterschaft spricht, steht noch eine andere, die unseres Führers erwähnt, dessen
Fest wir heute begehen:
„Warum werden die Versammlungen in der ersten Abteilung des Ordens Johannislogen genannt?“
„Weil der Orden den heiligen Johannes zu seinem Patron angenommen hat.“
Wenn er heute unter uns träte und sähe das Fest, das wir ihm zu Ehren veranstalten, was würde er sagen? Würden
nicht seine Worte uns ebenso schwer treffen, wie seine Zeitgenossen davon getroffen wurden? — „Ich habe“, würde
er sagen, „meinem Volke die Umwandlung von innen heraus gepredigt, die Erweckung eines inneren Lebens durch
rechtschaffene Früchte der Buße. Wenn ich also redete zu meinem Volke, so wollte ich nichts anderes, als Ordnung
schaffen in ihrem Herzen. Ordnung tat meiner Zeit not, und glaubet nicht, daß sie eurer Zeit nicht not täte, so weit sie
auch fortgeschritten sein, und so viel sie auch errungen haben mag im Vergleich mit jenen Tagen. Ihr stellt euch in
Ordnung durch euer Zeichen. Wohl, ihr tut recht daran; aber sorget, daß dieses Zeichen mehr sei als eine äußere
Gebärde; laßt es euer Inneres auf schließen und eures Herzens Härtigkeit überwinden! Ihr wollt Bauleute sein am
ewigen Tempel der Menschheit. Wohl, ihr tut recht daran; aber sorget auch, daß das Werk sich fördere, und
bedenket, daß es nicht gefördert werden kann mit Redensarten, sondern nur mit Taten, und bedenket ferner, daß,
wenn das Werk gedeihen soll, ihr mit euch selbst den Anfang machen müßt! Ihr nennt euch Ritter. Ein hoher Name!
Wenn ihr ihn führen wollt, so führt ihn würdig! Er erhält seinen Wert nicht durch Prunk und Eitelkeit, sondern der
rechte Adelsbrief wird errungen durch Demut, Edelsinn, Unerschrockenheit und Hilfsbereitschaft, und bedenket, daß
das Wort, das ich einst zu den Kriegsleuten gesprochen habe: »Begnüget euch mit eurem Solde!« auch noch heute für
euch gilt: Laßt euch genügen an dem Lohne, den ihr in eurer Brust findet als Preis eurer guten Taten und
Gesinnungen! — Ihr feiert mir zu Ehren ein Fest, mir, der ich den Dornenpfad der Wüste ging, wo ein härenes
Gewand meine Glieder deckte, und ein Stein meines Hauptes Pfühl war. Ihr setzt euch an die wohlbesetzte Tafel und
freuet euch des Weines, da doch wilder Honig und Heuschrecken meine Speise waren, und der spärliche Quell der
Einöde meinen Gaumen letzte. Freuet euch immerhin und genießet, was euch der allgütige Vater beschieden! Freuet
euch eurer schönen Gedanken und schönen Empfindungen, aber sorget, daß sie zur Wahrheit werden! — Ihr
schmücket eure Brust mit Rosen. Mir haben keine geblüht im dürren Wüstensande. Aber schmücket euch immerhin!
Bedenket aber wohl, daß dieser Schmuck euch nicht geschenkt ist, sondern, daß ihr ihn verdienen müßt! So verdienet
denn die weiße Rose durch Reinheit des Herzens und Lauterkeit der Gesinnungen; traget mit Ehren die hellrote Rose
auf einem Herzen, in dem Menschenliebe und Begeisterung für alles Wahre, Gute und Schöne wohnt, und machet
euch würdig der Purpurrose durch selbstlose Hingabe und freudigen Opfermut für alles Große und Göttliche!
Gesegnet sei euer Fest, wenn ihr es feiert im rechten Sinne, wie es meines Namens und meiner Lehre würdig ist! —“
(1903.) >64<
Wo ist die allgemeine oder
Johannis - Freimaurerloge
gelegen?
In dem zweiten Artikel der zweiten Abteilung unseres Fragebuches unterrichtet uns der Orden über die
Beschaffenheit der Loge. Er spricht zunächst von ihrer Gestalt und führt uns ein Idealbild vor, das mit allen seinen
Dimensionen, Länge, Breite, Höhe, Tiefe, die Unendlichkeit umfaßt. Als Abbild des ewigen Tempels der Natur wird
uns die Loge vorgeführt in Frage l bis 9. Die folgenden Fragen stehen dazu in einem gewissen Gegensatz; sie
verlassen den allgemeinen Begriff der Loge und gehen ins Spezielle ein, indem sie sprechen von den Logen als
Vereinigungen von Brüdern, von Bauleuten, die in ihnen versammelt sind zur Förderung des Werkes, das durch sie
zur Ausführung gelangen soll; dann wird noch spezieller auf die die unterste Abteilung des Ordens bildenden
Johannislogen und auf ihre Bewohner sowie deren Benennung eingegangen. Nun endlich folgen die Fragen 13 bis 22,
welche uns wieder in das ideale Gebiet erheben. Sie behandeln die Lage der allgemeinen oder JohannisFreimaurerloge und führen uns, anstatt uns die Unendlichkeit nach allen Dimensionen zu zeigen, an eine ganz
bestimmte Örtlichkeit des bewohnten Erdkreises. Nicht jene leicht beweglichen, veränderlichen Lager, die heute
aufgeschlagen und morgen abgebrochen werden wie jene Zeltlager des Volkes Israel bei seinem vierzigjährigen Zuge
durch die Wüste, kommen hier in Betracht, mit welchen die vielen Logen, die sich hier und dort erheben, in Frage 10
verglichen wurden, sondern die allgemeine oder Johannis-Freimaurerloge. Es handelt sich also hier um die Idee der
Loge, um ihren eigentlichen geistigen Inhalt. Die hierher gehörenden Fragen lauten folgendermaßen:
„Wo ist die allgemeine oder Johannis-Freimaurerloge gelegen?
Im Tale Josaphat.
Wo finden Sie dieses Tal?
Im gelobten Lande bei Jerusalem.
Wo da?
Nahe den beiden Spitzen eines hohen Berges.
Wie heißt dieser Berg?
Der Berg Sion.
Und seine beiden Spitzen?
Die eine heißt Sion und die andere Moria.
Was war auf dem Berge Sion?
Die Stadt Davids oder das königliche Schloß.
Was stand auf dem Berge Moria?
Der Tempel Salomonis.
Hatte dieser Berg nicht mehr als zwei Spitzen?
Noch eine dritte, die von den beiden anderen mehr geschieden war.
Wie wird dieselbe genannt?
Der Berg Acra.
Welches Gebäude stand auf dieser dritten Spitze?
Dort war später die Residenz der jüdischen Fürsten und Könige nach der Rückkehr aus Babylon.“
In das gelobte Land, nach Jerusalem, der heiligen Stadt, werden wir hier im Geiste von unsern Akten geführt.
Jerusalem! Welche Gedankenreihen und Vorstellungen werden in uns durch die bloße Nennung dieses Namens
wachgerufen! Eine Weltstadt ersten Ranges wird durch diesen Namen genannt, ja, ich möchte sagen: Jerusalem ist
geradezu die Hauptstadt der ganzen Welt. Freilich suchen wir bei ihr alle die Vorzüge vergebens, welche die anderen
sog. Weltstädte auszeichnen. Es ist nicht mehr die Residenz eines mächtigen Fürsten; der Thron, der dort einst stand,
ist längst zertrümmert und dahin gesunken; es ist nicht der Konzentrationspunkt eines großen einigen Volkes; seine
Einwohnerschaft zeigt ein buntscheckiges Gemisch von verschiedenen Völkerstämmen und Nationalitäten. Die Lage
der Stadt ist mit der anderer Hauptstädte gar nicht zu vergleichen. Beinahe eine Wüste zu nennen >66< ist das Land,
in welchem Jerusalem liegt. Es liegt weder am Meere, noch hat es durch einen Fluß eine Wasserstraße, welche einen
regeren Handelsverkehr vermitteln könnte. Stätten der Kunst, Luxus und Wohlleben suchen wir vergebens in ihr.
Dennoch bleibt Jerusalem eine Weltstadt ohnegleichen durch die weltbewegenden Ideen, deren Träger und Bewahrer
es geworden ist, durch die hell leuchtenden und erwärmenden Offenbarungen, die von ihm aus die ganze Welt
durchdrangen, und durch die historische Bestimmung, welche ihm, als der Hauptstadt des auserwählten Gottesvolkes,
auch noch jetzt zugeteilt ist. „Stätte des Friedens,“ das ist die Bedeutung des Namens dieser heiligen Stadt. Aber der
Genius des Friedens hat selten längere Zeit in ihr geweilt. Erbitterte Kämpfe sind noch vor ihrer Erbauung um die
Stätten, auf welchen sie errichtet wurde, ausgefochten worden, erbitterte Kämpfe haben vor und um ihre Mauern
getobt, alle Gräuel der Zerstörung und Verwüstung sind über sie ergangen, und die Prophezeiung hat sich an ihr
erfüllt, daß kein Stein auf dem andern bleiben werde. Aber dennoch ist die Kunde von dem, was einst Großes und
Heiliges in ihr lebte, die Friedensbotschaft, die ihr den Namen verlieh, nicht verschollen und verklungen; sie wirkt
hinaus über den ganzen Erdkreis, und alle falschen Propheten, alles wüste Geschrei und alle Verwirrung können die
sanfte Gewalt nicht hemmen, mit welcher sie sich die Welt erobert. In die Nähe der heiligen Stadt, in einem tiefen
Tale, nahe bei den Spitzen eines hohen Berges verlegt nun unsere Überlieferung den idealen Sitz der allgemeinen
Johannisloge. Wann die heilige Stadt gegründet wurde, ist unbekannt. Als das Volk Israel nach seiner vierzigjährigen
Wanderschaft das Land der Verheißung in Besitz nahm, da gelang es ihm noch lange nicht, sich des Platzes zu
bemächtigen, auf dem später seine Hauptstadt und seine Nationalheiligtümer sich erheben sollten. Jene Stätten waren
damals der Sitz des Jebusiterstammes, und erst dem König David gelang es, dieses Volk zu unterwerfen. Er eroberte
das feste Bergschloß desselben, Zion oder Sion (In der lateinischen Bibelübersetzung findet sich stets Sion, ebenso in unseren Akten,
weshalb wir auch bei dieser Bezeichnung bleiben.) genannt, und baute die Feste zu seiner Königsburg aus. Der Berg, auf
welchem dieses Schloß lag, war der schmale südliche Ausläufer eines Gebirgsstockes, welcher von Norden her sich
längs den Kidrontales, das auch das Tal Josaphat genannt wird, erstreckte. Hoch und steil erhob sich der Berg über
diesem und über dem an der Westseite hinlaufenden Tal, welches später den Namen Tyropöon, d.h. Käsemachertal,
erhielt, und das sich mit dem das Südwestende der Stadt umgebenden Tal Hinnom und dem Kidrontal am Südende
des Berges vereinigt. Das Tyropöon verschwand in späterer Zeit durch Ausfüllungen vollständig, ebenso die
Einsenkung, welche den Berg Sion im Norden von der benachbarten Höhe Moria, oder Morijah, trennte.
Dieser Berg Moria war von alters her eine heilige Stätte. Auf ihm soll Abraham den Opferherd errichtet haben, wo er
auf Befehl des Herrn seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern bereit war. Der Name Moria bedeutet: Der Herr siehet,
d.h. der Herr siehet gnädig darein. Als David schon auf Sion seine Residenz aufgeschlagen hatte, da gehörte der Berg
Moria noch dem vom Könige überwundenen Jebusiterhäuptling Arafna, welcher dort seine Tenne hatte, und als der
König auf dem Berge einen Opferaltar errichten wollte, um Jehovahs Zorn zu versöhnen, welche das Volk durch die
Pest heimgesucht hatte, da wollte der fromme Arafna freiwillig den Platz hergeben. Der König aber kaufte ihm die
Stätte ab. Salomo ließ später die Spitze des Berges Moria abtragen und die Einsenkung zwischen diesem und dem
Berge Sion durch die Abtragung ausfüllen, die Abhänge aber durch sehr steile, aus ungeheuren Quadersteinen
bestehende Strebemauern befestigen. Die sog. Klagemauer, an welcher
die
Juden
noch
heute
die
hingesunkene Herrlichkeit ihres Tempels betrauern, stammt möglicherweise noch aus jener alten Zeit. So entstand
eine große Plattform, auf deren, nördlichem Ende, dem eigentlichen Moria, sich der Tempel Salomos erheben sollte,
während ihr südlicher Teil von Salomo, der dem Tempel nahe wohnen wollte, für seine aus einer Reihe prächtiger
Gebäude bestehende neue Residenz ausersehen wurde. Der Name Moria verschwand nun immer mehr und mehr;
das Ganze hieß Zion oder Sion, und endlich wurde auch die ganze Stadt Jerusalem mit diesem Namen, namentlich
von den Psalmisten und Propheten, bezeichnet.
Nun sprechen unsere Akten noch von einer dritten Spitze des Sion-Berges, von der Spitze Akra, auf welcher, wie das
Fragebuch sagt, die Residenz der jüdischen Könige nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft
gestanden haben soll. Wo diese Bergspitze gelegen war, >68< läßt sich nicht genau ermitteln. In den biblischen
Büchern wird der Name Akra gar nicht erwähnt. Die Nachrichten über sie stammen aus späteren Schriftstellern. Der
Name legt die Vermutung nahe, daß die Benennung erst in späterer Zeit aufgekommen ist, als griechische Kultur bei
den Juden Eingang gefunden hatte; das griechische Wort akra bedeutet „Spitze“. Wo lag nun aber diese Spitze? —
Die mir zugänglichen Pläne des alten Jerusalem (im neuen kommt der Name gar nicht vor) geben darüber
verschiedene Auskunft, auch bezeichnen dieselben mit dem Namen Akra nicht eine Erhöhung, sondern einen ganzen
Stadtteil, die sog. „Untere Stadt“, welche wir entweder südlich vom Sion-Berge oder auch westlich von demselben,
bis in die Nähe von Golgatha sich erstreckend, eingezeichnet finden.
In welcher Beziehung steht nun die Johannisloge zu jenen drei Bergspitzen? Unsere Johannisloge liegt nicht auf der
Höhe, sondern im tiefen Tal, das von jenen Höhen überragt wird. Sie ist zwar getrennt von ihnen, aber sie steht
dennoch mit ihnen in einem geistigen Rapport. Wenn die Maurerschläge in ihr erschallen, wenn unter des Hammers
Streichen die rauhen Steine sich zur kubischen Gestalt formen, dann klingen, wie die Akten späterer Grade uns
erzählen, diese Schläge wieder von jenen Höhen, und wir vernehmen unten im Tale ein Echo, das von Sion und
Moria zu uns hernieder schallt. Das will sagen, daß das Werk, das wir hier unten bereiten, dort oben auf den Höhen,
die im Lichte stehen, vernommen, verstanden und gewürdigt wird. Aber es ist kein leerer Schall, der uns von dort her
wiederkommt, es ist der Friedensgruß, den uns die heiligen Stätten senden, der mit Mut und Vertrauen unsere Herzen
erfüllt, und „wir heben unsere Augen auf zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt“. Das Werk, das wir im tiefen
Tale bereiten, ist nicht für uns allein; es soll dienen den großen Ideen, die sich in jenen Höhen verkörpern, und das
Licht, das wir hier unten im Dämmerschein uns erringen, ist nicht unser eigen, sondern es soll sich vereinigen mit
dem Licht, das uns von den Spitzen des heiligen Berges hernieder strahlt.
Ja, groß, erhaben, menschheitsumfassend ist das, was sich uns in Sion, Moria und Akra verkörpert. Jerusalem ist zu
allen Zeiten das Heiligtum der Menschheit gewesen, eine Stätte des Lichtes, von der die Strahlen ausgegangen sind,
die die Völker der Erde erleuchtet haben. Langsam aber sicher hat sich das Licht von dort aus verbreitet und hört
nicht auf, sich ferner zu verbreiten, denn sein Lauf über den Erdkreis ist noch nicht vollendet. Aller Fortschritt und
alle Entwicklung ruht in diesem Licht, und selbst diejenigen, die es schmähen und nicht annehmen wollen, werden
langsam, aber unaufhaltsam in seine Bahnen hineingezogen. Jerusalem war der Zentralpunkt des Landes, welches
dem auserwählten Volke Gottes als Wohnsitz angewiesen war. Daß Israel, obschon keineswegs weder das größte
noch das mächtigste Volk, dennoch die anderen Völker an Bedeutung überragte, ist unzweifelhaft; verkörperte sich
doch in ihm zum ersten Male der Glaube an einen einigen Gott und gelangte in ihm zum stärksten Ausdruck,
(dies wird in neuerer Zeit bestritten. Die Altertumsforschungen unserer Tage haben, wie Fr. Deutsch in seiner Schrift „Babel und Bibel“
nachweist, ergeben, daß die religiösen Überlieferungen des jüdischen Volkes nicht Original, sondern von Babylon her überkommen seien. Wenn
das auch richtig sein mag, so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß die lebendige Kraft, die in diesen Überlieferungen liegt, in Babylon
nur zu einer geringen Wirksamkeit gelangte, vielmehr latent blieb, während sie in Israel sich entfaltete und endlich eine weltbewegende
Bedeutung erlangte. )
ja, dieser Glaube verdichtete sich gleichsam zur Theokratie, d.h. zu einer Staatsverfassung, in welcher Gott selbst der
Herrscher und alle Gesetze Ausflüsse seines heiligen Willens waren. Auf dem Throne der Königsburg zu Sion saß
also eigentlich Jehovah selbst, und der zum König gesalbte Sterbliche, der jenen Sitz einnahm, stellte die ihm
verliehene Macht unter den Befehl des höchsten Gottes. Eine theokratische Verfassung aber, wenn sie sich auch auf
die Dauer nicht halten kann und vollends in unseren modernen Zeiten eine absolute Unmöglichkeit ist, schließt
dennoch das höchste und herrlichste Ideal in sich, das der Menschengeist überhaupt zu fassen vermag, das ist die Idee
des Reiches Gottes. Die Bergspitze Sion verkörpert für uns Freimaurer diese Idee des Gottesreiches, die Hoffnung
auf die große Zukunft unseres höchsten Herrn und Meisters, ein Reich, in welchem alle Kräfte einem heiligen Willen
dienstbar sind, eine Gemeinschaft der Kinder Gottes, in welcher alle Glieder vereint sein sollen durch das
unzerreißliche Band der Liebe, alle vereint im seligen Anschauen des Vaters als seine Kinder, als Brüder und
Bürger der ewigen Gottesstadt. Sion ist der Zentralpunkt dieses Gottesreiches von seinen alttestamentlichen
Anfängen an bis zu seiner irdischen und himmlischen Vollendung als ein großes Ganzes. >70< Sion ist die Stätte,
wo der Herr selbst den Grund zu seinem ewigen Reiche gelegt hat, wie der Prophet spricht: „Siehe, ich lege in Sion
einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen köstlichen Eckstein, der wohl gegründet ist. Wer glaubet, der fliehet
nicht.“ (Jes. 28, 16.) Und auf Sion ist den Vollendeten die Stätte bereitet, wie der Prophet spricht: „Die Erlösten des
Herrn werden wiederkommen und gen Sion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein.“ (Jes.
35,10.) Dort hat der Herr seinen König eingesetzt (Psalm 2, 6), und „der Herr wird wohnen zu Sion“, wie es am
Schlusse des Propheten Joel heißt. Am herrlichsten zeigt uns das Bild der Vollendung auf Sion der Verfasser der
Apokalypse (Offenb. Joh. 21), indem er uns ein Bild der heiligen Stadt zeichnet, wie es sein Seherauge erschaut hat,
ganz erfüllt vom Glanz und von der Herrlichkeit Gottes und nicht mehr von dem Licht vergänglicher Gestirne; kein
Tempel ist in ihr, sondern Gott selbst ist ihr Tempel.
Das irdische Abbild dieses Tempels aber stand auf Moria, der anderen Spitze des Berges Sion. In ihm verkörperte
sich zum erstenmal in der Weltgeschichte die Idee des Monotheismus, der Glaube an einen einigen Gott. Diesem war
das Heiligtum von Salomo errichtet in verschwenderischer Pracht und doch einfach und schlicht in seiner ganzen
Anlage, nicht eine Wohnung des Unsichtbaren und Unbegreiflichen, sondern ein Sinnbild des Universums, des
ewigen Tempels, das der ewige Meister sich zu seinem Wohnsitz erschaffen hat. Durch diese Macht der Idee wurde
dieser Tempel, obgleich er keineswegs der größte und prächtigste der damaligen Zeit war, nicht nur zum
Nationalheiligtum des jüdischen Volkes, sondern der ganzen Welt. Uns Freimaurern aber bleibt er das unverlierbare
Urbild und Muster unseres Werkes. Er stand nachbarlich gesellt der hehren Königsburg auf Sion, und wenn diese auf
der Stätte des Segens errichtet war, so erhob sich jener Tempel auf Moria, der Stätte des Opfers. Dort war Abraham
zum Opfer bereit, dort brachte man Jehovah Brandopfer und Speiseopfer, und einmal im Jahre betrat der
Hohepriester verhüllten Hauptes das Allerheiligste, um am Versöhnungsfeste das Sühneopfer für das ganze Volk
darzubringen und im Gebet Gnade herab zu flehen auf die Kinder Israel. Nur auf das Opfer folgt der Segen, das
lernen auch wir bei unserer Arbeit. Wenn wir uns nicht selbst mit all unseren irdischen Trieben und Begierden
hingeben an das Heilige, wenn wir nicht unser Leben verlieren, um es wieder zu erhalten zum ewigen Leben, dann
wird der Geistestempel, an dessen Bau wir gestellt sind, sich nicht erheben. Von Moria, dem Berge des Opfers,
kommt uns Kraft und Hilfe zur Förderung unseres Werkes.
Und was soll uns nun die dritte Spitze, der Berg Akra ? Was bedeutet sie für uns ? — Unsere Akten sagen, daß auf
ihr die Residenz der späteren jüdischen Könige und Fürsten nach der Rückkehr aus der babylonischen
Gefangenschaft gestanden habe. Wir werden dadurch erinnert an die Zeiten des Verfalls und der Zerstörung, die auch
jenen Heiligtümern nicht erspart geblieben sind, an jene Zeiten, da Sion verwüstet und der Tempel auf Moria seiner
Heiligtümer beraubt und in Trümmer gestürzt war. Das Volk war von Jehovah abgefallen; Könige hatten es regiert,
die da taten, was dem Herrn übel gefiel; Baalsdienst und allerlei Abgötterei hatte Eingang gefunden beim Volke und
hatte an seinem besten Mark gezehrt. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß Jehovahs Strafgericht die Abtrünnigen
traf, als der fremde Eroberer sie überwältigte und das ganze Volk von den geheiligten Heimstätten hinweg in die
Gefangenschaft führte. Aber auch in der tiefsten Erniedrigung konnte der Glaube an den alten Gott im Volke nicht
ganz erlöschen. In dem tiefen Schmerz, als sie „an den Wassern zu Babel saßen und weinten, wenn sie an Sion
gedachten“ (Psalm 137, 1), da erwachte mit der Sehnsucht nach dem geschändeten Heiligtum auch der alte Glaube
und das Vertrauen zu dem, der da allein Gott ist. „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten
vergessen!“ (Psalm 137, 5.) Das war das Losungswort, unter dem die endlich von der Knechtschaft Befreiten sich
unter Leitung bewährter Führer sammelten, um in die geliebte Heimat zurückzukehren und mit Mut und Kraft, zwar
viel bedrängt von Feinden, aber dennoch siegreich, mit dem Schwerte in der einen und mit der Kelle in der anderen
Hand, die Stadt und den Tempel wieder aufzubauen. Da war es, als sich auf Akra eine neue Königsburg erhob, ein
fester Halt dem neu erstandenen Volke. — Solche Zeiten der Erniedrigung, wie sie im Leben der Völker kommen,
bleiben auch dem einzelnen nicht erspart. Jeder strebsame Mensch erlebt Tage, wo sein Gottvertrauen wankt, wo er
abfällt und seine Kraft nicht da sucht, wo sie wirklich liegt, sondern, wo er sich auf allerlei irdische Götzen verläßt;
Zeiten, in denen er sich überhebt, um desto tiefer zu fallen. Wohl dem, der aus solchen Irrwegen die Rückkehr findet,
wohl dem, der, wenn auch seine Ideale zerstört und seine Hoffnungen dahin gesunken sind, sich dennoch in neuer
Kraft zu erheben vermag; dem leuchtet >72< die Spitze Akra und gibt ihm das Heil wieder. Akra ist uns das Symbol
der Demütigung und Buße, aber auch der Wiederaufrichtung des Verfallenen und der unzerstörbaren Kraft, durch die
sich das Göttliche aus Erniedrigung und Zerstörung wieder emporhebt.
Wir wissen nicht genau, wo die Spitze Akra gelegen war; vielleicht aber befand sie sich in der Nähe jenes Hügels, auf
welchem einst dem „König der Juden“, wie nie ein zweiter dem Volke erstanden war, nicht ein Thron, sondern ein
Marterpfahl bereitet war, wo er, dem die größte Macht gegeben war durch die göttliche Liebe, die sich in ihm in
höchster Vollendung verkörperte, in tiefster Erniedrigung verblutete und dennoch durch diese Erlösungstat den Tod
besiegte und die Finsternis in Fesseln schlug. Auch hier war tiefste Schmach und höchster Triumph miteinander
vereinigt. Ob unsere Väter, als sie unsere Akten niederschrieben, durch die Spitze Akra schon dem Lehrling eine
verdeckte Hinweisung auf Golgatha haben geben wollen? — Ich weiß es nicht, aber die Möglichkeit ist wohl
vorhanden.
Nun aber von der Höhe der Berge hinab in das tiefe Tal, wo unsere Johannisloge gelegen ist! — Überall, wo
mächtige Bauten sich erheben, sehen wir neben der eigentlichen Baustätte eine Bauhütte errichtet, ein leichtes Gezelt,
in welchem die Steine für den Bau bebauen und hergerichtet werden. Solch eine Bauhütte hat der Tempel Salomos
sicherlich auch gehabt. Aber auf der Plattform, wo einst die Tenne des Arafna lag, wird schwerlich Raum genug
vorhanden gewesen sein, um neben dem mächtigen Bau auch noch die Werkstätte für die Zubereitung der Steine
aufzuschlagen. Es ist daher sehr möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß die Bauhütte in das tiefe Tal Josaphat
verlegt worden ist, über welchem der Tempelberg durch die Anlage der oben erwähnten Strebemauern sich fast
senkrecht erhob. Dort unten also wurden die Steine bearbeitet nach Winkelmaß, Wasserwaage und Senkblei, um dann
als fertige Baustücke, mit der Steinklammer versehen, an einem Baukran mittels eines Seiles auf die Höhe Moria
emporgehoben zu werden und dort ihre Bestimmung zu erreichen. Das Wort Josaphat bedeutet: „Der Herr richtet“
oder auch „das Gericht des Herrn“. Aus diesem Namen ist wohl die Sage herzuleiten, welche im jüdischen Volke
noch heute lebt, daß in diesem Tale einst das Weltgericht stattfinden werde. Es ist die Sehnsucht der Juden, dort begraben zu werden, und in der Tat finden sich in den Felswänden des Tales viele Gräber. Auch für uns Freimaurer ist
das Wort Josaphat bedeutungsvoll. Die Johannisloge, deren idealer Sitz in das Tal verlegt wird, ist auch für uns eine
Stätte des Richtens, zwar nicht in dem Sinne, daß durch solches Richten Schuld oder Unschuld festgestellt, Strafe
oder Lohn abgewogen und Lossprechung oder Verurteilung verkündigt wird; hier hat vielmehr das Wort „Richten“
den Sinn von recht machen, gerade machen, aufrecht stellen, wie der Prophet spricht: „Was ungleich ist, soll eben,
und was höckrig ist, soll schlicht werden“. (Jes. 40, 4.) Wie unser Fragebuch (II. Abt., 1. Art., Fr. 45) uns sagt, hat
die Johannisloge die Aufgabe, „Baumaterialien herbeizuschaffen und zuzubereiten“. Sie beschäftigt sich also, wie die
Bauhütte, mit den rauhen Steinen, und diese rauhen Steine sind wir selbst. Hier in unserer Werkstätte unterwerfen wir
uns selbst der richtenden Hand des Meisters; sein Senkblei, das er in des zweiten Aufsehers Hand gelegt hat, richtet
uns auf, wie ja auch die Lehrlingssäule es ausspricht, deren Name J .. . . eigentlich bedeutet: „Er richtet auf“; seine
Wasserwaage, die der erste Aufseher führt, weist uns die rechte Bahn, und alles dies geschieht nach seinem
Winkelmaß, nach seinem unabänderlichen Gesetz. Wir richten uns wohl nach diesem Gesetz, wir stellen uns wohl
selbst in das rechtwinklige Zeichen, aber doch sind wir es nicht, sondern der Herr ist es, der uns richtet, und dieses
Richten ist kein Strafgericht, kein kurzer Akt, vor dem wir zittern, sondern ein langsamer Vorgang allmählicher
Entwicklung, dem wir uns mit freudiger Hingebung unterwerfen.
Das ist die Arbeit der Johannisloge im Tale Josaphat. Möge sie sich an uns allen vollziehen und zur Wahrheit
werden, auf daß wir einst nicht verworfen, sondern als recht bereitete Bausteine emporgehoben werden aus dem
dunkeln Tale zur lichten Tempelhöhe auf Sion und auf Moria, welches heißt: „Anschauen Gottes“.
Ja, „selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!“
Es geschehe also! (1895. 1904.) >74<
Der Altar.
Niemand von all den Unkundigen, die draußen an unserem Logenhause vorbeigehen, weiß, was das schlichte
Gebäude in sich birgt; es ist ein Haus wie andere mehr. Eine bedeutsame Architektonik wird an ihm nicht bemerkt,
kein ragender Turmbau weist gen Himmel wie bei den Kirchen, und doch ist die Loge ein Heiligtum, nicht weniger
heilig als jene, zu denen laute Glockenklänge allsonntäglich die frommen Seelen einladen. Ein Heiligtum ist die
Loge, in welchem Männer, die die Jahre der überschäumenden Jugend hinter sich haben, versammelt sind, um den
höchsten Gott zu suchen, zu finden und ihm zu dienen. Von jedem, der als Suchender den geweihten Raum betritt,
hoffen wir, daß er die Loge stets als ein solches Heiligtum betrachte, in welchem das Höchste, das den Menschengeist
beschäftigt und das Menschenherz bewegt, fern von dem stürmenden Geräusch der Welt gepflegt wird, als einen
Tempel, wo das Unreine und Gemeine gebannt vor der Schwelle liegen bleiben muß, wo Leidenschaften und
Begierden nicht hinein dürfen, und wo die Finsternis weichen soll vor den Strahlen des ewigen Lichtes und die Lüge
verstummen soll vor dem lebendigen Worte der Wahrheit.
Der Weg zu diesem Heiligtum ist nicht leicht zu finden; nicht jedem liegt er offen, und geblendet, auf ungewissen
Pfaden nahet sich ihm der fremde Suchende. Aber dem blinden Wanderer, der im rechten Glauben kommt, sendet der
Orden seine Hilfe entgegen, einen Führer, der ihn auf den rechten Weg bringt und mit Freundeshand vorwärts leitet.
So sucht und findet er die Pforte; es wird für ihn angeklopft und ihm wird aufgetan, er bittet, und es wird ihm
gegeben, mehr gegeben, als er bei seinem ersten Eintritt ahnen und begreifen kann. Und dieses Suchen, Anklopfen
und Bitten darf auf unserer ganzen Maurerbahn nie aufhören. Aus dem Suchenden muß ein Anhaltender, aus dem
Anhaltenden ein Leidender werden; nur dadurch allein kommen wir vorwärts. Nur wer dem Reiche des ewigen
Lichtes Gewalt antut, dem öffnet es sich; nur wer zu seinem Gott schreit: „Herr, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich
denn!“ (1. Mos. 32, 26), den wird der Allvater an sein Herz ziehen, nur der gelangt im Geiste und in der Wahrheit in
das Allerheiligste seines unvergänglichen Tempels.
Von diesem Allerheiligsten erhält schon der neuaufgenommene Bruder eine Ahnung; denn der Lehrlingsgrad ist
allumfassend; er begreift den ganzen Inhalt des Ordens, alles, was die späteren Grade uns bieten, schon in sich,
freilich, ohne es deutlich zu entwickeln. Schon am ersten Tage wird dem Neuaufgenommenen gezeigt, welche
Erfüllung im Innersten unseres Tempels seiner wartet. Das Sinnbild dieses innersten Heiligtums, unseres
Geistestempels, ist der Altar, den der Suchende nur auf Umwegen nach langem Irren findet, an welchem er
niederkniet, das Gelübde ablegt und die Maurerweihe empfängt.
Welche Bedeutung hat nun der Altar in unserer Loge? Diese Bedeutung ist eine dreifache:
erstens ist er für uns der Sitz und die Wohnstätte der Gottheit selbst;
zweitens ist er uns eine Stätte der Anbetung und demutsvollen Verehrung; und
drittens ist er die Stätte des Opfers, wo wir dem Höchsten darbringen, woran er Wohlgefallen hat und was
ihn versöhnt.
Wir sagen, der Altar sei der Sitz und die Wohnstätte des ewigen Gottes selbst. Wie das? Ist Gott nicht unendlich,
ewig und allgegenwärtig? Erscheint es nicht vermessen, wenn der Mensch in seiner Beschränktheit und Ohnmacht
einen Stein aufrichtet und sagt: Hier soll Jehovah wohnen? — Gewiß ist der Ewige und Allgegenwärtige an keinen
Raum und an keine Zeit gebunden, wohl aber der Mensch. Der kurzsichtige, auf das Endliche angelegte Mensch
braucht Sinnbilder, um das Unfaßbare sich zu vergegenwärtigen. Der Mensch richtet Tempel und Altäre auf, baut
Kirchen und Heiligtümer, nicht, weil Gott das nötig hat, sondern, damit der Name des Höchsten in dem sterblichen
Geschlecht lebendig bleibe. — „Wo hat der Meister seinen Sitz?“, so wird bei Eröffnung und Schließung der Loge
gefragt, und die Antwort lautet: „Im Osten“. Dort, wo die Gestirne des Tages und der Nacht empor tauchen, um uns
das Licht zu spenden, dorthin verlegen wir den Sitz des ewigen Geisteslichtes, das uns erleuchten soll. Deshalb steht
>76< auch unser Altar im Osten, und hinter ihm sitzt der schwache Sterbliche, der durch die Wahl seiner Brüder
berufen ist, ihnen im Namen des Meisters, der im ewigen Osten seinen Sitz hat, das Licht zu spenden. Ein Sinnbild
dieses ewigen Lichtes sind die drei Kerzen, welche den Altar erleuchten; die erste bedeutet, wie es jetzt wohl
meistens angenommen wird, Weisheit, die sich offenbart in der heiligen Ordnung, die in allen geschaffenen Dingen
herrscht; die zweite Stärke, die Allmacht Gottes, mit der er alles regiert und in fester Hand zusammenhält; die dritte
bedeutet Schönheit, mit der Gott alles, was ist und lebt, verklärt, weil er die Liebe ist. (Die Deutung der drei Altarlichter, als
Weisheit, Stärke und Schönheit, findet sich zwar nicht in unsern Akten, erscheint aber doch natürlich und sinngemäß, weshalb sie auch in dem
später entstandenen Ritual für die Lichteinbringung diese Deutung offiziell erhalten haben. Will man also an dieser Deutung festhalten, so ist
sicherlich nichts dagegen zu sagen (vgl. den zweiten Vortrag über die Lichterteilung).) Weisheit, Stärke und Schönheit, diese drei
höchsten Eigenschaften Gottes, bilden die Punkte des unauflöslichen Dreiecks, welches uns das Wesen des
Göttlichen ausspricht. Wir finden es wieder auf der Vorderfläche des Altars, und in seiner Mitte das allsehende Auge,
das Sinnbild der Allwissenheit. Und auf der Platte des Altars liegt das Winkelmaß, das Bild der Gerechtigkeit und
Heiligkeit, des unverbrüchlichen, göttlichen Gesetzes, und daneben der Zirkel, das Sinnbild der allumfassenden
Gnade und Güte. Als größtes Licht aber ziert unsern Altar die Bibel, die heilige Schrift, welche auf jedem Blatt ihrer
heiligen Bücher Zeugnis davon ablegt, wie jene Eigenschaften Gottes im Menschengeschlecht gewirkt haben und
noch heute fortwirken.
Wir wissen nun, wie uns unser Altar zum Wohnsitz Gottes und darum zu unserem höchsten Heiligtum wird.
Aus diesem Ersten folgt das Zweite: die Stätte, die uns den Wohnsitz Gottes bedeutet, muß uns zu einer Stätte der
Anbetung und demutsvollen Verehrung werden. Zwar können wir uns, wo wir uns auch befinden mögen, überall dem
Ewigen nahen und uns vor ihm im Gebet beugen; denn der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die von
Menschenhänden gemacht sind, und auch im stillen Kämmerlein, wo ein bedrängtes Herz vor seinem Gott ringt, hält
der Allgegenwärtige seinen Einzug. Aber der irdische Mensch braucht eine Stätte der Sammlung, der er sich
zuwendet, die er als einen Hort seiner Andacht betrachtet, und wo er sich vereinigt mit seinen miterschaffenen
Brüdern, um mit ihnen, verbunden zu einer Gemeinde, vor dem Höchsten zu stehen. Und solche Bedeutung gewinnt
unser Maureraltar auch für uns. Er ist der Vereinigungspunkt für uns verbundene Brüder, um welchen wir uns scharen
zum Dienst des Höchsten. Aber er ist uns noch mehr als ein bloßer Ort der Erhebung und Anbetung; er ist der
Mittelpunkt unserer Arbeitsstätte, von der uns Licht und Kraft kommt für das, was wir hier zu verrichten haben. Mit
bloßer Andacht und Versenken in die höchsten Ideen ist es hier nicht getan, sondern wir haben hier zu arbeiten und
ein Werk zu fördern, zu dem vom Altare aus der Ruf an uns ergeht. Alles das, was den Altar ausrüstet und ziert, ist
nicht nur dem höchsten Gotte geweiht, sondern es gehört auch uns, und wir empfangen es von dort gleichsam aus
seinen Händen, um es zu benutzen und für den Bau des Heiligtums, das wir in unserem Herzen aufzurichten haben,
fruchtbar zu machen. Die Lichter, die den Altar erleuchten, Weisheit, Stärke, Schönheit, pflanzen wir in unserm
Inneren auf als die drei unerschütterlichen Pfeiler, auf welchen unsere Arbeit ruht. So wie beim Beginn der Arbeit
von jenen Kerzen das Licht in das Dunkel der Loge hinausgetragen wird, so entzünden sich auch in uns die drei
Lichter und verleihen uns Weisheit zum Unternehmen, Stärke zum Ausführen, Schönheit zum Zieren. Des Maurers
Weisheit soll in Gott gegründet sein; seine Stärke soll ihm aus der ewigen Kraft fließen, die auch in dem Schwachen
mächtig ist, und seine Schönheit soll sein ein Abglanz der göttlichen Liebe. Und vor dem ewigen Vater soll das Herz
des Maurers rein sein, damit er darin Wohnung nehme. „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen
neuen, gewissen Geist; verwirf mich nicht vor Deinem Angesicht und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir!“
(Psalm 51, 12 bis 13), das soll unser tägliches Gebet sein. Vor dem allsehenden Auge Gottes soll unser Herz offen
liegen und rein sein vor ihm bis in seine verborgensten Falten. Darum tragen wir das Dreieck, das mit dem
allsehenden Auge den Altar ziert, im Bilde der Maurerkelle als des Maurers höchsten Schmuck auf unserm Herzen.
Auf dem Altar liegt die heilige Schrift, und diese unvergleichliche Urkunde von dem Schaffen und Wirken des
Gottesgeistes ist für uns geschrieben, sie gehört uns und hat für unser inneres Leben die tiefste Bedeutung. „Die Bibel
regelt unsern Glauben“, so heißt es im altenglischen Ritual, d.h. sie zwängt ihn nicht in Formeln ein, sondern sie
erweckt in uns die Vorstellung von dem ewigen Wirken und Wachsen der Wahrheit und des Lichtes im
Menschengeschlechte und wandelt so >78< unsern Glauben zur lebendigen Kraft, die uns erhebt über alle Not und
Unzulänglichkeit des irdischen Daseins. Winkelmaß und Zirkel, welche neben der Bibel liegen, sind nicht bloß
Attribute Gottes, sondern sie gehören uns; das Winkelmaß weist uns hin auf das unverbrüchliche heilige Gesetz
Gottes, das wir nicht bloß aus der Ferne anbeten, und dem wir uns stumm zu unterwerfen haben, nein, das Gesetz
tragen wir in unser Herz hinein, denn wir wollen nicht Knechte des Gesetzes sein, sondern seine Teilhaber und Hüter,
die da „Lust haben an dem Gesetz und reden von dem Gesetz des Herrn Tag und Nacht“. (Psalm l, 2.) Und der Zirkel
gehört uns; er ist uns allen gegeben. Wir alle haben ihn selbst auf unser Herz gesetzt, als wir uns der heiligen
Maurerpflicht angelobten. Der rechtwinklig geöffnete Zirkel weist uns darauf hin, daß der Mensch durch seine
Vernunft und durch sein Empfinden befähigt ist, das göttliche Gesetz nicht nur aufzusuchen und zu verstehen,
sondern es auch in sich hineinzutragen und sich von ihm durchdringen zu lassen. Das ist unser Gottesdienst. Unser
Gebet am Altare vor dem Ewigen heißt Arbeit. Das Sprichwort sagt: „Bete und arbeite!“ Bei uns freien
Maurerbrüdern ist Beten und Arbeiten ein und dasselbe.
Und endlich drittens ist uns der Altar eine Stätte des Opfers. Unter Opfer versteht man eine Darbringung von Gaben
an die Gottheit, um diese geneigt zu machen, oder sie zu versöhnen, oder ihr zu danken. Die Sitte des Opfers ist uralt.
Die heidnischen Völkerstämme opferten ihren Göttern das Beste, was sie hatten, die Erstlinge der Feldfrüchte und die
schönsten Stücke ihrer Herden. Speiseopfer, Trankopfer, Brandopfer wurden an den Altären dargebracht, und das
Blut der Farren und Böcke rötete die Opfersteine. Selbst in dem monotheistischen Kultus des jüdischen Volkes hat
sich die Sitte des Opferns lange Zeit hindurch erhalten. Aber schon im alten Testament erheben sich prophetische
Stimmen, die auf das Vergebliche der Opfer hinweisen und diese Sitte zu einem Symbol einer geistigen Darbringung
zu erheben suchen. So singt der Psalmist (Psalm 51, 18, 19) : „Du hast nicht Lust zum Opfer, ich wollte Dir's sonst
wohl geben, und Brandopfer gefallen Dir nicht. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstet
und zerschlagen Herz wirst Du, Gott, nicht verachten.“ Und durch des Propheten Hosea Mund spricht der Herr: „Ich
habe Lust an der Liebe, und nicht am Opfer; und an der Erkenntnis Gottes, und nicht an Brandopfer.“ (Hos. 6, 6.)
Und der Schriftgelehrte, der von Jesus überzeugt war, brach, wie der Evangelist Markus erzählt, in die Worte aus:
„Meister, Du hast wahrlich recht geredet; denn es ist ein Gott, und ist kein anderer außer ihm, und denselbigen lieben
von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten als
sich selbst, das ist mehr, denn Brandopfer und alle Opfer.“ (Mark. 12, 32, 33.)
In diesem Sinne wird uns auch unser Altar zu einem Opfersteine, an dem wir darbringen geistliche Opfer, die Gott
angenehm sind. Unser eigenes Selbst geben wir hin an Gott, unser eigenes Leben bringen wir dar, im Sinne der Worte
des Obermeisters: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen,
der wird es finden.“ (Matth. 16, 25.) Das ist auch unser Opfer, und sein Symbol ist die Bereitwilligkeit des
Suchenden, sein Blut mit dem Blute der Brüder zu vermischen. Unseres Fleisches Leben opfern wir dahin und setzen
es daran, um ewiges Leben zu gewinnen. Wie das Opfertier verblutete am Altar, so müssen wir uns selbst darbringen
dem ewigen Gott. Sterben müssen wir, um zu leben, d.h. um als Gott wohlgefällige Opfer von ihm empfangen zu
werden. „Stirb und werde!“, das ist das Losungswort, mit dem der Maurer sich seinem Gotte hingibt. Sterben soll das
Unreine und Unheilige in uns, auf daß das Göttliche zum Leben erwache, auf daß das Wort der Wahrheit aus uns
erschalle und das Licht des Lebens aus uns leuchte. Die Schwerter, die der Suchende, wenn die Binde fällt, auf sich
gerichtet sieht, wollen töten in ihm, was der Finsternis angehört, und befreien, was licht und rein, aber bis dahin
gefesselt, in seiner Seele lebt.
So dienen wir Maurer an unserm Altar dem höchsten Gotte; so beten wir ihn an, so arbeiten wir und so opfern wir
ihm. Gehen wir jetzt hin und tun wir desgleichen. Der Allerhöchste aber geleite uns auf unserer Maurerbahn mit
seinem Segen! (1896. 1903.) >80<
Winkelmaß und Zirkel auf dem Altar.
Wir haben bei unserem vorigen Vortrage den Altar der Loge kennen gelernt als eine der höchsten Gottheit geweihte
Stätte, die da ist für den Menschen eine Stätte demutsvoller Verehrung und Anbetung sowie eine Stätte
opferfreudiger Hingebung seiner selbst. Wir haben nun noch das zu betrachten, was sich mitten auf der oberen Fläche
des Altars befindet.
Zwischen dem Meister, der da sein soll ein Sinnbild des ewigen Meisters, und der heiligen Schrift, in welcher sich
das Wort des ewigen Meisters dem Menschen offenbart, sehen wir zwei Werkzeuge liegen, ein Winkelmaß und einen
Zirkel. Sie bilden nicht, wie es in den anderen Lehrarten wohl überall der Fall ist, ein Quadrat, sondern sie liegen
nebeneinander, und zwar so, daß das Winkelmaß dem Meister zur Linken sich befindet und den einen seiner
Schenkel nach Süden, den anderen nach Osten ausstreckt, während die beiden Schenkel des rechtwinklig geöffneten
Zirkels sich nach Norden und Osten richten. Der Scheitelpunkt des Winkelmaßes und der Kopf des Zirkels liegen
dicht nebeneinander, ebenso die beiden nach Osten gerichteten Schenkel der Werkzeuge, so daß das Ganze die Figur
des Buchstaben T bildet.
Zwei Werkzeuge sind es, schlicht und unscheinbar, wie sie in jeder Werkstätte eines Steinmetzen oder
Bauhandwerkers zu finden sind, und dennoch sind sie von tiefster Bedeutung und stehen mit dem, was der Altar
versinnbildlichen soll, im innigsten Zusammenhange.
Wir Freimaurer benennen die Gottheit mit dem Namen des dreifach großen Baumeisters der Welt. Die Loge hat
keinen Raum für eine pantheistische Weltanschauung, die das Geschaffene mit dem Schöpfer identifiziert, oder gar
für jenen krassen Materialismus, der den Geist leugnet und die Welt und den Menschen mit ihr als eine Maschine
betrachtet. Der Freimaurer blickt zum Ewigen empor als zum Urheber und Schöpfer aller Dinge, als zu seinem
liebenden Vater, aus dessen heiligem Wesen auch das Leben entsprungen ist, das die Hülle des Menschenleibes
einschließt. Der Freimaurer glaubt an ein persönliches göttliches Wesen, das der Inbegriff alles wahren Seins, der
höchsten Vernunft, der unendlichen Liebe ist, ein Wesen, das durch seine nie erschöpfte Kraft in sich selber
fortdauernd die Nötigung findet zu einer ununterbrochenen Wirksamkeit und zum Schaffen des Abbildes seiner
selbst, wie es sich uns in der Welt darstellt. Das Universum ist nicht nur der Gedanke, sondern auch die Tat Gottes.
Auf diese ewige Tätigkeit der Gottheit weist die Bezeichnung „Baumeister“ hin. Der irdische Baumeister entwirft
seinen Plan und stellt den Tempel fertig, der ewige Baumeister schafft ohne Unterlaß; Schaffen ist sein Wesen, und
sein Werk ist unendlich wie er selbst. Und wir sprechen von einem dreifach großen Baumeister der Welt, weil
Gedanke, Wille und Tat, welche bei uns schwachen, irdischen Menschenkindern sich oft genug nicht decken, sondern
eins hinter dem andern zurückbleiben, bei dem ewigen, vollkommenen Wesen eins und untrennbar sind. Wir haben
daher das uralte Symbol der Gottheit, das gleichseitige Dreieck, angenommen und finden es auf der vorderen, nach
Westen gerichteten Fläche des Altars, im Mittelpunkte das allsehende Auge tragend. So wie die drei Seiten eines
Dreiecks unveränderlich und unverschieblich miteinander zu drei Winkeln verbunden sind, so ist auch das Wesen der
Gottheit sich ewig gleich und in sich eins. Nun wissen wir aus der Geometrie, daß die Summe der Winkel eines jeden
Dreiecks gleich zwei rechten Winkeln ist, und diese beiden rechten Winkel finden wir mitten auf dem Altar wieder
als Winkelmaß und als rechtwinklig geöffneten Zirkel.
Es ist natürlich, daß, wenn wir von einem Baumeister reden, wir auch, unserer menschlichen Vorstellung
entsprechend, Werkzeuge annehmen müssen, deren er sich bei Ausführung seines Baues bedient, und das sind eben
Winkelmaß und Zirkel.
Woraus besteht das Winkelmaß ? Zwei Linien, eine senkrechte und eine wagerechte, in einem Punkte unbeweglich
miteinander verbunden, und das Winkelmaß ist fertig. Nichts kann einfacher sein als dieses Werkzeug, und dennoch
liegt in ihm das Gesetz, das die Welt in ihren Fugen zusammenhält. Alle Sätze der Geometrie lassen sich auf den
rechten Winkel zurückführen. So wird er uns zum Sinnbild des >82< unabänderlichen Gesetzes, das auch im Reiche
des Geistes herrscht, des Gesetzes des Göttlichen, Ewigen, der absoluten Wahrheit. Der rechte Winkel ist unendlich
und allumfassend, denn wir können seine Schenkel verlängern, so weit wir wollen, er bleibt derselbe und schließt
alles ein. und „nähmen wir Flügel der Morgenröte und flögen zum äußersten Meer“, ja bis in die äußersten Fernen
des Weltalls — der rechte Winkel hält uns fest und entläßt uns nicht aus seinem Bann.
Anders verhält sich das Werkzeug, das neben dem Winkelmaß liegt, der Zirkel. Er ist ein getreues Abbild des
Winkelmaßes und besteht, genau wie dieses, aus zwei in einem Punkte vereinigten Schenkeln. Aber seine Schenkel
sind nicht fest miteinander verbunden, sondern gegeneinander verschiebbar, so daß der Winkel, den sie bilden,
veränderlich ist, wenngleich der auf dem Altar liegende Zirkel rechtwinklig geöffnet ist. Wenn das Winkelmaß uns
auf das Unendliche hinweist, so zeigt der Zirkel uns zunächst das Endliche. Er ist das Werkzeug des Abmessens und
Konstruierens. Gemessen aber kann nur das Endliche werden, denn das Unendliche ist unermeßlich. Der Zirkel
erinnert uns also an das, was innerhalb des Raumes und der Zeit sich darstellt, und das ist die Welt, die wir als das
Werk des großen Baumeisters erblicken, als Bild, das uns durch unsere .Sinnesorgane in unserer Erfahrung gegeben
ist, und von dem wir schließen auf eine höhere Realität, auf das wahre Sein, das unserer sinnlichen Erkenntnis nicht
zugänglich, sondern nur unserer Vernunft spürbar ist.
Der Zirkel ist aber auch wiederum das Werkzeug, mittels welches wir einen Kreis ziehen können; der Kreis kann
beliebig groß gedacht werden, aber er findet in der Kreislinie stets seine endliche Grenze. Und diese Kreislinie, die
wieder in sich zurückkehrt, ist gleichfalls ein Bild der Unendlichkeit, und zwar — möchte ich sagen — der
Unendlichkeit, wie sie der Auffassungsfähigkeit der menschlichen Vernunft erscheint. Das Winkelmaß gehört dem
Meister; es ist sein unveräußerliches Attribut; darum trägt es auch der Meister als Zeichen seiner Würde auf der
Brust. Der Zirkel aber ist, wie es in unseren Akten heißt, „allen Brüdern zu einem Sinnbilde gegeben“, d.h. allen
erschaffenen, fühlenden und denkenden Wesen. — Bei der Lehrlingsaufnahme bleibt das Winkelmaß ruhig auf dem
Altar liegen; den Zirkel aber ergreift der Meister und reicht ihn dem Aufzunehmenden, rechtwinklig geöffnet, dar,
damit er sich die Spitze desselben auf das Herz setze und sein Inneres prüfe, damit er fähig werde zu erkennen und zu
lernen, in der eigenen Endlichkeit das Unendliche zu finden und zu verstehen.
Noch deutlicher zeigt dies die Arbeitstafel, auf welcher der Lehrling Winkelmaß und Zirkel wiederfindet. Das
Winkelmals ruht hier im Osten, der Region des Lichtes und des göttlichen Lebens; es steht zwischen Sonne und
Mond, als Zeugnis des Weltgesetzes, von dem das Weltall regiert wird. Der Zirkel aber liegt dem Winkelmaß
gegenüber im Westen, wo sich der musivische Fußboden ausbreitet, d.h. wo das Irdische, Erschaffene, Menschliche
seinen Sitz hat, das Menschliche, das zum Göttlichen emporstrebt, wie es die beiden Säulen bezeugen, die von dem
die Grundfeste des Tempels deckenden Pflaster aufsteigen zur Höhe als Verkörperungen des Gottesgedankens, wie er
im Menschen erwacht und lebendig wird. Auch hier ist der Zirkel rechtwinklig geöffnet; er steht dem Winkelmaß
gegenüber und erscheint gleichsam wie dessen Spiegelbild. Er richtet seine beiden Spitzen gegen die Kapitale der
beiden Säulen und sucht mit dem Winkelmaß das Quadrat der Vollkommenheit zu bilden, aber er erreicht es nicht. So
ist es mit der Sehnsucht des Menschen, die das Ewige zu umfassen und sich mit ihm in Einklang zu setzen strebt. Sie
erreicht es nicht, aber es gehört doch ihr, und sie umfaßt es mit dem Zirkel der Vernunft, die es ermessen kann.
Das ist der Wille des allmächtigen Meisters. Der Zirkel, den er uns dargereicht hat, wird auch in seiner Hand zum
Meßwerkzeug. Was wären wir, wenn er uns mit dem Winkelmaß seines strengen Gesetzes richten wollte! Nein, der
Zirkel seiner unendlichen Liebe und Gnade ist es, den er — so hoffen wir — an unsere Schwäche anlegt. Unsere
Akten sagen:
„Auch unsere Arbeiten untersucht und misset ein vollkommener Obermeister mit seinem weit ausgestreckten
Zirkel.“
Der Suchende soll daher seine Arbeiten so gestalten,
„daß dieser Baumeister, wenn er die Arbeit einst nach seiner Gerechtigkeit prüfen wird, zum wenigsten finden
möge, daß es unser Bemühen gewesen ist, unsere Arbeit mit seinem, auf dem Reißbrette gemachten Entwurfe
in Übereinstimmung zu bringen.“
So, wie wir den Meister zu ermessen suchen, so wird er uns abmessen, nicht mit dem Winkelmaß der Gerechtigkeit,
vor dem wir nicht bestehen können, sondern mit dem Zirkel der Liebe und Gnade, der auch im Kleinsten die Spur der
Unendlichkeit findet und nicht will, daß das zum Leben Berufene verloren gehe. >84<
So sind wir eingeschlossen in den Kreis, mit dem der Allmächtige seine geschaffenen Wesen in unendlicher Liebe
umschließt. Darum ruft uns der Zirkel die ernste Mahnung zu: „Lasset uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt!“
(1. Joh. 4, 19). Wenn aber die Liebe zu Gott unser Herz entzündet, dann durchflammt ein heiliges Feuer unser ganzes
Wesen, und der Abglanz des Ewigen wird lebendig in uns; dann wird es uns klar, wie durch die Liebe Gottes die
Welt in die Erscheinung trat, und wie es die Bestimmung der Welt ist, liebend wieder zu ihm, der sie erschaffen hat,
zurückzukehren.
Wer kann es fassen, das unergründlich tiefe Geheimnis des Lebens? — Nur der, in dessen Herzen die Liebe lebendig
geworden ist. Wer sich selbst als den Mittelpunkt des Kreises hinstellt und alles nur auf sich bezieht, den beherrscht
die Selbstsucht; er hat auf sein Fleisch gesäet und hat seinen Lohn dahin. Wer sich aber als Punkt der Peripherie fühlt,
der wird hingezogen werden zum Mittelpunkte, dem er in Liebe zustrebte, und von dem er sich abhängig fühlte, und
aus diesem Mittelpunkte heraus, aus dem alle Wahrheit, alles Licht und alle Erkenntnis fließt, wird er sich
unauflöslich verbunden fühlen mit seinen Miterschaffenen, seinen Brüdern, durch ein heiliges, unzerreißbares Band,
das keine Macht der Finsternis aufzulösen vermag, und an dem selbst der Tod seine Macht verloren hat. —
(1898. 1904.)
Das Hausgerät der Loge.
Die Loge ist des Maurers Haus, seine Heimstätte; in ihr soll er sich wohnlich einrichten und gleichsam mit ihr
verwachsen sein. Somit hat er eine doppelte Heimat; erstens sein Haus, das er mit seiner Familie bewohnt; da ist er
der Hausherr und führt das Regiment; zweitens die Loge, die er mit seinen Brüdern teilt; da ist er Kind des Hauses,
da steht er unter dem Gesetz dessen, der die Loge regiert, des ewigen Meisters, und ist Miterbe und Teilnehmer an
den unvergänglichen Schätzen des Lichtes und der Wahrheit, die der Allvater seinen Kindern spendet.
Sein Heim soll jeder kennen. Darum unterrichtet der Orden uns über die Loge, ihre Beschaffenheit, ihre Lage usw.
Aber ein Haus ist nicht bewohnbar, wenn ihm das Hausgerät fehlt. Auch muß das Hausgerät sich an der rechten Stelle
befinden; es darf nicht unbeachtet in der Ecke liegen, es muß der rechte Gebrauch davon gemacht werden. Auch über
die Geräte der Loge unterrichtet uns der Orden, und wir erhalten darüber in unserem Fragebuche (II. Abt., 2. Art., Fr.
23 bis 25) folgende Auskunft:
„Welches sind die notwendigsten Geräte in einer Freimaurerloge?“
„Die heilige Schrift, der Zirkel und der Hammer des wortführenden Meisters.“
„Was haben Sie unter diesen Geräten erblickt?“
„Ein sehr großes Licht, ja das größte aller Lichter“.
„Was war das für ein großes Licht ?“
„Die Bibel oder die heilige Schrift.“ >86<
Daß diese drei Dinge als die notwendigsten Geräte der Loge bezeichnet werden, ist einleuchtend, wenn wir uns daran
erinnern, daß sie bei jeder Aufnahme gebraucht werden, und daß ohne sie niemand zum Freimaurer geweiht werden
kann. Auf die Bibel legt der Suchende seine Hand und gelobt sich angesichts dieses heiligen Zeugnisses dem Lichte
an, von dessen Ausbreitung im Menschengeschlecht die Bibel Kunde gibt; den Zirkel setzt er sich selbst auf seine
Brust, da, wo das Herz schlägt; und mit dem Hammer geschehen die Weiheschläge auf den Kopf des Zirkels, durch
welche die auf dem Herzen ruhende Spitze gleichsam hineingetrieben wird, um dort die verborgenen Quellen des
Lebens zu öffnen. Und noch einen zweiten Beweis gibt es dafür, daß man diese drei als die notwendigsten
Werkzeuge der k. Kunst betrachtet. Sie entsprechen nämlich den drei wichtigsten Merkmalen, an welchen man den
Freimaurer erkennt, und welche nicht nur an ihm stets wahrzunehmen, sondern auch ihm selbst in seiner innersten
Werkstatt stets gegenwärtig sein sollen: das sind die Erkennungszeichen. Der Hammer entspricht dem Zeichen,
welches stets aus einem rechten Winkel besteht; und der Hammer ist nichts anderes als der doppelte rechte Winkel,
auf dessen Schlag wir in das Zeichen treten; den Griff finden wir wieder im Zirkel, dem umspannenden und umfassenden Werkzeug; das Wort aber entspricht der heiligen Schrift, die als das in der Menschheit sich offenbarende
Wort der Gottheit bei unsern Arbeiten aufgeschlagen ist.
Alle drei Werkzeuge liegen auf dem Altar. Zwischen der Bibel und dem Meister liegt der Zirkel neben einem
Winkelmaß, mit welchem er, rechtwinklig geöffnet, einen doppelten rechten Winkel, die Form des Hammers, bildet.
Dieser selbst liegt noch näher dem Meister und gewinnt gleichsam Leben, sobald die Hand, die zu seiner Führung
ausersehen ist, ihn ergreift. Sein Schlag durchhallt den Raum der Loge und findet sein Echo bei den Aufsehern, die
dem Meister gegenüber sitzen, und soll wiederklingen in den Herzen der Brüder, welche durch ihn in Ordnung
gerufen werden. Das Gesetz des göttlichen Baumeisters ist es, das er verkündigen und unter welches er die Brüder
stellen soll. So wie der rechte Winkel das gestalt- und maßgebende Prinzip eines jeden Gebäudes ist, so ist der
Hammer des Meisters als der gleichsam lebendig gewordene rechte Winkel die Grundbedingung für unsern geistigen
Bau. Er schafft, was im Hause zuerst notwendig ist: Ordnung. Wie der rechte Winkel jedem Gebäude Ebenmaß und
Festigkeit gibt, so wird durch des Hammers Schlag eine Ordnung der in der Loge vorhandenen geistigen Kräfte
geschaffen. Er erweckt die Brüder und lenkt sie ab von dem, was zerstreut und ihr Erkennen und Wollen hemmt, und
sucht sie hinzuweisen auf das, was da sammelt und vereinigt für den hohen Zweck der k. Kunst, was uns dem
Irdischen und Gemeinen ab- und dem Ewigen und Göttlichen zuwendet.
Schon der Aufzunehmende, dessen Augen noch von einer undurchdringlichen Binde bedeckt sind, vernimmt den
Schall des maurerischen Klopfens. Das Zeichen des rechten Winkels kann er noch nicht schauen, aber er vernimmt
bereits sein Walten im Schlage des Hammers. Er empfängt und ergreift den rechten Winkel erst nach mühevoller
Wanderung in dem rechtwinklig geöffneten Zirkel, den der Meister ihm darreicht, damit er sich die Spitze desselben
auf das Herz setze. Darum ist der Zirkel das zweite notwendige Hausgerät. So wie der Hammer allein in die Hände
des Meisters und seiner Gehilfen, der Aufseher, gelegt ist, so ist der Zirkel „allen Brüdern gegeben“; das will sagen:
Es ist nicht genug, in Ordnung zu treten und in Ordnung stehen zu bleiben, sondern es soll sich innerhalb dieser
Ordnung und geleitet von ihr etwas zu regen beginnen. Das Gesetz des göttlichen Baumeisters soll nicht nur von uns
erkannt und aufgefaßt werden, sondern es soll in unsern Herzen zur Wahrheit und aus ihnen heraus neu geboren
werden. Aus unserm Innern soll es zurückstrahlen als Bruderliebe und als allgemeine Liebe, die des Gesetzes
Erfüllung ist. Darum setzen wir uns den rechtwinklig geöffneten Zirkel selbst auf unsere Brust, da, wo das Herz
schlägt, und seine Spitze übermittelt uns die Weiheschläge, die uns erst zu Söhnen des Hauses werden lassen. Er ist
das wichtige Gerät, das uns vereinigt hält mit unsern Brüdern und durch die Brüder mit dem Vater. Die im gleichen
Sinnen und Denken ihr Streben auf das Höchste richten, finden sich und vereinigen sich zum unzertrennlichen Bunde;
und wenn sie sich jemals verlieren, so müssen sie sich „wiederfinden zwischen dem Winkelmaß und dem Zirkel“.
Was nach dem Buchstaben des Gesetzes ihrer menschlichen Schwäche wegen nicht auszufüllen war, das schlichtet
zwischen ihnen die alles duldende, alles versöhnende Liebe. So wird der Zirkel mit seiner alles umspannenden Kraft
zum Werkzeug der Vereinigung, das die zerstreuten Glieder zusammenfügt zu einem Ganzen. Und nun das dritte
Gerät; es ist ein Licht, das den Raum unseres Hauses mit Himmelsglanz erfüllt, mit einem Glanz, von dem die andern
>88< Lichter, welche die Loge erleuchten, ihre Strahlen geborgt haben; und darum heißt es das größte aller Lichter,
die Bibel oder die heilige Schrift. Ein solches Licht stellt man nicht unter den Scheffel, sondern man setzt es an einen
erhöhten Ort, auf daß es auch die fernste Ecke erhelle und erleuchte alle diejenigen, die im Hause versammelt sind.
Darum liegt die heilige Schrift an bevorzugter Stelle auf dem Altar des Ordens als sein größtes Heiligtum; denn aus
ihr leuchtet mit dem unvergänglichen Lichte der Vollendung das Wort der göttlichen Wahrheit. Der Aufzunehmende
tastet nach diesem höchsten Lichte, das auch seines Fußes Leuchte werden soll. Seine Hand ruht auf der Stelle, die
am reinsten und hellsten uns die Strahlen dieses göttlichen Lichtes schauen läßt; und wenn seine Augen auch noch
gehalten sind, so soll doch der Glaube an das Licht in seinem Herzen lebendig sein, mag er auch noch schlummernd
ihm nicht zum Bewußtsein gekommen sein. Sein Inneres für diese Strahlen zu öffnen und den Glauben an dieses
Licht zu wecken, das ist gerade eine hervorragende Aufgabe seiner Maurerarbeit. So gelangt in ihm das Wort
göttlicher Wahrheit zum Leben.
Diese Aufgabe ist schwierig, aber sie führt zum schönsten Lohne, und daß es notwendig ist, sie im rechten, vom
Orden gewollten Sinne zu lösen zu versuchen, kann uns nicht zweifelhaft sein, wenn wir sehen, wie vielfach nicht nur
im profanen Leben, sondern auch innerhalb des geweihten Raumes der Loge das Buch der Bücher nicht verstanden
wird, weil es von einem falschen Gesichtspunkte aus betrachtet wird. Da gibt es Leute, die da meinen, von den
Wundern dieses Lichtes ganz und gar ergriffen zu sein und die in ihm liegende Weisheit vollkommen erschöpft zu
haben, und doch kleben sie am Buchstaben und können nicht zum Geiste vordringen, der lebendig macht. Andere
lassen sich von ganz anderen Lichtern blenden; sie gehen ihrem Irrwahn nach und wenden sich in törichtem
Libertinismus ganz von unserm größten Lichte ab. Die ersteren gleichen dem Schmetterling; er sieht das Licht und
wird von ihm angezogen, aber anstatt es vernünftig zu gebrauchen, um bei seinem hellen Scheine die Welt um sich
her zu erkennen, fliegt er hinein, versengt sich die Flügel und fällt zu Boden. So machen es die am Buchstaben
Haftenden. Sie bedenken nicht, daß ein Licht nicht um seiner selbst willen da ist, sondern daß es dienen soll zum
Erleuchten. Und die andern gleichen der Eule. Sie scheuen das Licht, es ist ihnen widerwärtig, weil sie davon
geblendet werden. Darum wenden sie sich ganz davon ab und wandeln Pfade, wo es ihnen nicht scheint, sondern wo
andere Lichter ihnen leuchten, die sie für die einzig wahren Wegweiser halten.
Ja, es wird vielfach verkannt, unser größtes Licht, und zwar nicht bloß außerhalb, sondern auch innerhalb unseres
Bundes selbst. In gewissen Kreisen des Maurerbundes hat sich eine, wenn auch nur auf einzelne Logen beschränkte
Bewegung bemerkbar gemacht, welche darauf ausgeht, die Bibel vom Altar zu verbannen und ein Buch mit weißen
Blättern oder gar die Konstitutionsurkunde an ihre Stelle treten zu lassen; und selbst Großlogen, welche Bibel,
Winkelmaß und Zirkel als die „drei Großen Lichter“ und „unveränderlichen Hauptsymbole der Freimaurerei“
hinstellen, lassen das geschehen. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, zu kritisieren, was in anderen Lehrarten
Brauch ist, oder gar dagegen eine Polemik zu eröffnen, aber ich kann, obschon ich nicht recht unterrichtet darüber
bin, was jene Brüder unter dem weißen Buche sich eigentlich vorstellen, dennoch die Bemerkung nicht unterdrücken,
daß dieser Brauch auf einem Mißverständnis zu beruhen scheint, auf einer irrigen Anschauung darüber, was das Buch
der Bücher für die k. Kunst zu bedeuten hat. Die Bibel soll uns nicht eine Urkunde sein, auf deren buchstäblichen
Wortlaut wir eingeschworen sind, sondern sie ist eben ein Licht, in welchem wir lernen, daß der Buchstabe tötet, der
Geist aber lebendig macht, ein Licht, in dessen hellem Scheine wir zur Erkenntnis gelangen sollen, und vor allem ein
Licht, dessen Gebrauch wir erst zu erlernen haben. Das Höchste und Kostbarste gibt sich nicht von selbst, sondern
will erworben und errungen sein. So auch hier. Unser größtes Licht erschließt seine ganze Fülle nur dem, der danach
trachtet mit allen Kräften. Wer Gottes Gesetz sucht und hat Lust an diesem Gesetz, dem wird sich das Buch auf
unserm Altar entschleiern als das Buch der Bücher, ja, als das Buch der Menschheit. Er wird aus ihm den Plan
erkennen, nach dem der ewige Meister das Menschengeschlecht erzieht, und wird ferner finden, daß auch die
Entwicklung des einzelnen sich nach diesem Plane vollzieht. Wenn das heilige Buch uns aufgeschlagen vom
Freimaureraltare her leuchtet, so will es nicht unsern freien Geist in Fesseln schlagen, sondern uns erleuchten und
führen; nicht in Widerspruch will es uns setzen mit unserer Vernunft, sondern uns dahin geleiten, wo Glauben und
Wissen versöhnt sind. >90<
Dahin gelangen aber nur diejenigen, welche in Demut ihr Inneres der Erleuchtung öffnen, welche vor dem Gesetz des
göttlichen Lebens in Ordnung treten und durch des Gesetzes Erfüllung sich mit Gott und Menschen vereinigen; oder
anders ausgedrückt: Wer sich ins Zeichen stellt, und wer den Griff übt, dem öffnet sich das Verständnis des Wortes.
Oder noch anders: Wer dem Hammer folgt, des Zirkels Spitze auf dem Herzen festhält, dem strahlt das größte Licht
und führt ihn zum Anschauen der Vollendung.
Darum Geräte am Ort! In des Meisters Hand regiere der Hammer; der Zirkel ist den Brüdern gegeben, und das größte
Licht strahle vom Altar und erleuchte uns alle!
(1895. 1904.)
Die Bibel, unser größtes Licht.
Wenn mir aufgegeben ist, einen unbekannten Weg zurückzulegen, so muß ich, wenn dieser Weg dunkel ist, mag auch
dem Wanderer das Ziel wie ein leuchtender Stern aus der Ferne winken, eine Fackel mit mir nehmen, damit ich
meinen Weg sehen kann. Oder wenn ich mir ein Haus baue, eine Werkstätte, in der ich eine mir aufgetragene Arbeit
verrichten soll, so muß es drinnen hell sein; ich muß für wohlangebrachte Fenster sorgen, und ich muß, wenn der Tag
mir nicht scheint, ein anderes Licht hineinbringen und mitten auf einen erhöhten Ort stellen, auf daß es leuchte bis in
die fernste Ecke. Ganz so ist es auch bei uns Freimaurern. Wir führen mit uns das Licht der Vernunft, den göttlichen
Funken, den wir als Erbteil vom Vater erhalten haben, das Licht, das uns sicher führt, wenn wir es zu erwecken
verstehen. Das aber ist eben unsere Arbeit, die uns in unserem Hause, der Loge, vereinigt. Dieselbe hat auch Fenster;
das Fragebuch des Lehrlings erzählt davon und sagt, daß es deren drei gibt, im Osten, Westen und Süden. „Sie waren
vormals auf der Lehrlingstafel abgebildet und dienten den Arbeitern, zu leuchten, wenn sie von der Arbeit kamen und
zu derselben gingen“; symbolisch aber bedeuten sie: „die Vernunft, den Verstand und den guten Willen des Meisters,
wodurch die Brüder aller Grade unterrichtet werden.“ (Fr. B. Abt. III, Art. 3, Fr. 17 bis 20.)
Aber diese dreifache Geisteskraft des einen fehlbaren Sterblichen, dem das verantwortungsvolle Amt geworden ist,
die Loge zu erleuchten und zu regieren, reicht nicht aus; darum ist für ein anderes Licht gesorgt, das aus dem
Mittelpunkte strahlt, dessen Leuchtkraft ungeschwächt fortbesteht und seine Strahlen bis in des Tempels äußerste
Vorhöfe sendet: es ist unser vornehmstes Hausgerät, das größte Licht der Maurerei, die Bibel oder die heilige Schrift,
welche >92< in jeder Loge auf dem Altar liegt. Erst wenn sie aufgeschlagen ist, und wenn der Meister sein Schwert,
das Zeichen seiner ausübenden Gewalt, über sie gelegt hat, dann erst ist es Hochmittag, dann erst ist die rechte Zeit
und die rechte Helligkeit vorhanden, unsere Arbeiten zu beginnen. Schon der Neuaufzunehmende wird, noch ehe die
Binde von seinen Augen fällt, auf dieses Licht hingewiesen, und er muß sich, indem er die Hand auf dieses Heiligtum
unseres Bundes legt, dem Lichte, das aus ihm leuchtet, zum ewigen Eigentum angeloben.
„Das Buch, auf welchem jetzt Ihre Hand ruht, und auf welches Sie Ihr Gelübde abzulegen haben, ist die heilige
Schrift, aufgeschlagen beim Evangelium St. Johannis. .... Glauben Sie es? —“, so spricht der Meister zu dem
Aufzunehmenden, und man könnte die letzte Frage so auffassen, als ob der Meister sich die Überzeugung verschaffen
wollte, daß der Suchende das Buch auch wirklich für die Bibel hält, trotzdem er es nicht sieht. Wohl aber kann man
diesem „Glauben Sie es?“ eine tiefere Bedeutung unterlegen. Wohl dem, welchem in der Dunkelheit das Licht des
Göttlichen, das Evangelium im Glauben an die ewige Wahrheit und Liebe aufgeht! Solch ein Licht soll die Bibel im
freimaurerischen Sinne sein.
Das Buch auf unserem Altar ist stets, seitdem es eben die Form angenommen hat, in der wir es jetzt besitzen, für das
merkwürdigste von allen gehalten und mit ganzem Recht das Buch der Bücher genannt worden. Zu allen Zeiten
haben Priester und Weise, Kritiker und Exegeten ihren Scharfsinn daran geübt, und wenn wir die Bücher zusammenbringen könnten, die über dieses Buch allein geschrieben worden sind, so möchten dieselben eine große
Bibliothek ausmachen. Wenn nun aber ein Buch mit solchem Interesse von allen Generationen betrachtet wird, so
liegt darin schon eine gewisse Berechtigung zu der Annahme, daß es nicht bloß das interessanteste, sondern auch das
für die Menschheit wichtigste sein müsse. Um diese Annahme zu prüfen, wird es nötig sein, einen kurzen Blick auf
den Inhalt des Buches zu werfen, denn uns ist die Bibel nicht bloß ein Symbol des Gottesglaubens, wie es in anderen
Lehrarten der Fall ist, von denen manche das Buch geschlossen auf dem Altar liegen haben, sondern uns kommt es
darauf an, was das Buch uns zu sagen hat.
Es ist bekannt, daß das Ganze in zwei Hauptteile zerfällt, das sog. Alte und Neue Testament, wofür besser das Wort
„Bund“ oder „Vertrag“ zu setzen wäre, da diese Bezeichnung das Wort des Urtextes besser wiedergibt. Jeder dieser
Teile besteht wieder aus mehreren kleineren Abteilungen oder Büchern. Der überwiegend größere Teil aller dieser
Schriften trägt einen historischen Charakter, der kleinere Teil ist poetisch-didaktischen Inhalts und dient den
Geschichtsbüchern gleichsam als Ergänzung und Erläuterung.
Der Anfang der biblischen Geschichtserzählung beginnt mit dem Anfang der Dinge überhaupt. Das erste, was uns
entgegentritt, ist Gott, der urewige, allmächtige, schaffende Gott, der durch sein Wort das Licht hervorruft und von
der Finsternis scheidet, der den Himmel wölbt und die Feste der Erde gründet und mit Pflanzen und Tieren
bevölkert. Beschlossen aber wird das Schöpfungswerk mit dem Menschen, dem Ebenbilde Gottes, dem er seinen
lebendigen Odem einblies und dadurch die Fähigkeit gab, sich selbst und seinen Schöpfer zu erkennen. Er stellte ihn
hin, aufrecht, als den Erstgeborenen seines Lichtes, als sein liebstes Kind, ausgestattet mit allen Gaben. Aber der
Mensch wollte seinen eigenen Weg gehen; er unterlag der Verführung und verlor das Paradies. Er zeugte ein
sündiges Geschlecht. Bruderblut färbte den Boden, den er im Schweiße seines Angesichts bebauen sollte, und Gewalttat herrschte auf der Erde. Aber der Funke des Lichts verlosch nicht; der schaffende Geist Gottes regte sich im
Staubgeborenen auch in seinem tiefen Fall. Wir sehen in Tubalkain die ersten Regungen der bildenden Kunst empor
keimen, und die Flöten Jubals ertönen zum Lobe des ewigen Gottes (1. Mos. 4, 21,22). Selbst als die große
Wasserflut hernieder kam, welche das sündige Geschlecht ersäufen sollte, da schwebte die Arche über den Fluten,
und als die Sonne wieder hervorbrach, stand der Bogen des Friedens in den Wolken als ein Zeichen der Gnade Gottes
und des ewigen Bündnisses zwischen ihm und dem Menschengeschlecht. Aber die Gottinnigkeit Noahs vererbte sich
nicht auf seine ganze Nachkommenschaft. Abgötterei fand Eingang in den kommenden Generationen, und
himmelstürmender Trotz erbaute den Turm zu Babel. Doch in den Kindern Sems, in den Patriarchen Abraham, Isaak
und Jacob erhielt sich die alte Kunde und der Glaube an den einigen Gott. Er konnte nicht erstickt werden durch das
Joch der Knechtschaft, unter dem die Nachkommen Abrahams in Ägypten seufzten, sondern er ward lebendig und
gewaltig in Moses, der die Kinder Israel aus dem Diensthause ihrer Bedrücker hinaus führte, der ihnen von des Sinai
Höhen das Gesetz hernieder brachte und sie endlich nach langen Mühsalen, die sie in der Wüste während vierzig
Jahren erduldeten, in das Land der >94< Verheißung geleitete, wo sie als ein einiges, großes Volk, geleitet durch
eine theokratische Verfassung, d.h. durch die Herrschaft Gottes selbst, erstarken und den Heiden gebieten sollten. Die
Kämpfe, die sie unter der Führung der Richter gegen ihre feindseligen Nachbarn auszufechten hatten, befestigten das
Volk immer mehr in dem edlen Selbstvertrauen, in dem Bewußtsein seiner göttlichen Mission, und führten es seiner
Blütezeit entgegen, welche unter den Königen anbrach, unter David, der neben der Führung der Waffen auch die
Harfe des Dichters zu rühren verstand und in seinen unsterblichen Psalmliedern den Ruhm Jehovahs verkündigte, und
unter Salomo, dem es endlich vergönnt war, seinem Gotte ein Haus zu bauen in bis dahin noch nicht gesehener Pracht
und Herrlichkeit, ein Nationalmonument, das für alle Zeiten ein Symbol bleiben muß für das Lebendigwerden des
Glaubens an einen einigen Gott im Menschengeschlecht. Aber diese Blütezeit sollte nicht lange währen. So wie nach
der alten Kunde das Weib im Paradiese den Mann zur Sünde verführte, so waren es auch jetzt Weiber, die den
altersschwachen König, sonst den Weisesten seiner Zeit, zur Abgötterei verleiteten, welche unter seinen Nachfolgern
immer mehr um sich griff und endlich zu Zwiespalt und Teilung des Reiches führte. Vergebens kämpfte der alte
Glaube, der in den Propheten immer wieder von neuem sich regte, gegen die Finsternis des Baalsdienstes. Den
fremden Eroberern machte der Zerfall die Mühe leicht. Der Assyrerkönig Salmanassar zerstörte das Reich Israel, und
nicht lange dauerte es, da fiel auch Juda durch Nebukadnezar. Die Warnungen eines Jesaias und Jeremias hatten den
Vernichtungsschlag nicht abwehren können. Der Eroberer führte das Volk, den unglücklichen König Zedekias an der
Spitze, in die Gefangenschaft. Die heilige Stadt Jerusalem ward in einen Schutthaufen verwandelt, der kostbare
Tempel ging in Flammen unter, und seine Säulen wurden zerschmettert und niedergestürzt, die Heiligtümer aber
hinweg geschleppt. Doch selbst in dieser tiefsten Erniedrigung fehlte dem unglücklichen Volke nicht das lebendige
Wort seines alten Gottes; es erscholl zu ihm aus dem tröstenden Munde eines Hesekiel, der mit in das Exil gegangen
war, und befestigte in ihm die Hoffnung, daß das furchtbare Strafgericht des Herrn doch wieder seiner Gnade
weichen müsse. Es erscholl am herzlichsten und hoffnungsreichsten in den tröstenden Worten des Deutero-Jesaias (d.
i. Jes. Kap. 40 u. ff.). Und diese Hoffnung wurde erfüllt, als der milde Herrscher Cyrus den Juden die Heimkehr
gestattete, als Serubabel sie wieder zurückführte zu den heiligen Stätten, und auch der Tempel unter Esras und
Nehemias Leitung sich wieder aus dem Schutt erhob. Aber zu der alten Herrlichkeit konnte sich das Volk nicht mehr
aufschwingen. Wir sehen noch ein letztes Aufflackern seiner Größe in dem Heldengeschlecht der Makkabäer, dann
aber versinkt es immer mehr und mehr in Abhängigkeit von Rom, dessen Weltherrschaft damals begann. Der
lebendige Glaube an Jehovah erstarrt immer mehr und mehr in dem toten Formeldienst des Pharisäertums, oder er
verflacht im Skeptizismus der Sadduzäer. Aus dem alten Israel geht das starre, orthodoxe Judentum hervor, wie es
sich im detailliert durchgeführten Zeremonialgesetz zeigt. Der alte Brauch der Väter wird durchsetzt mit griechischer
Kultur, und das Nationalbewußtsein geht immer mehr verloren, so daß es selbst durch abermaligen Aufbau des
wiederum zerstörten Tempels unter Herodes nicht hergestellt werden konnte.
Aber das Volk sollte nicht untergehen, ehe es der Welt, der ganzen Menschheit, das gegeben hatte, was es
der Welt zu geben bestimmt war. Was die Patriarchen in frommem Sinn geahnt, was die Propheten in Gesichten
erschaut und mit Inbrunst ersehnt hatten, was in den späteren Psalmen aus dem Munde der Volksdichter erklingt, das
ging, als die Zeit erfüllet war, hervor aus der Krippe zu Bethlehem, als der große, göttliche Held, dem es aufbehalten
war, ein neues Reich zu gründen, das da nicht ist von dieser Welt, der einen neuen Tempel erbaute, nicht sichtbar
und von Menschenhänden gemacht, aber allumfassend und vollendend das, was bis dahin unvollkommen gewesen
war, einen Tempel, in welchem die ganze Menschheit, alle Kinder des einen Vaters, anbeten soll. Er, der Reine, der
Fleckenlose, in dem das ewige göttliche Wort im Fleisch erschienen war, gab der gesunkenen Menschheit durch sein
Leben und Lehren, durch sein Leiden und seinen Tod den Glauben an sich selbst wieder. Durch die gewaltige Sonne
seines Geistes erleuchtete und erfüllte er das Gesetz, das sein Volk schon längst besaß, aber nicht verstand; er zeigte
ihm erst das Licht desselben, das es bis dahin in totem Buchstabendienst nicht benutzt hatte, und er eröffnete neue
Bahnen, indem er die Schranken der Rassen und Stämme durchbrach und seine Jünger hieß, die frohe Botschaft der
Erlösung aller Welt zu predigen. — Von ihm, der den alten Bund, den Gott mit dem Menschengeschlechte
geschlossen hatte, damals, als der Geist Gottes im ersten Menschen lebendig wurde, erneute und erfüllte, gibt Kunde
das Neue Testament, der zweite Teil >96< unseres Buches. Die Evangelien erzählen von Jesu Wandel auf Erden,
die Apostelgeschichte von der ersten Ausbreitung der neuen Lehre; in den Briefen sehen wir die Kämpfer für das
neue Licht, in erster Reihe den Feuergeist des Paulus, die Waffen schwingen, und endlich finden wir in der
Offenbarung Johannis, mit welcher das Bibelbuch schließt, zwar durchsetzt mit mannigfachen, noch ungeläuterten
Vorstellungen der damaligen Zeit, aber dennoch klar ausgesprochen die feste Zuversicht der Ewigkeit des neuen
Reiches, die unerschütterliche Gewißheit eines endlichen Sieges des Lichtes, das alles neu macht, das einen neuen
Himmel und eine neue Erde gründet und ein neues Jerusalem erbauen wird, wo alle Tränen getrocknet sind und alles
Leid vergangen sein wird.
Es dürfte vielleicht überflüssig erscheinen, daß ich hier in gedrängter Kürze den ganzen Inhalt der heiligen Schrift
vorgeführt habe, der ja bekannt ist. Doch ich habe das in guter Absicht getan; ich habe versucht hervorzuheben, wie
das Licht des göttlichen Geistes im Menschengeschlecht durch mannigfache Prüfungen, durch große Umwälzungen
und welterschütternde Begebenheiten doch nie ganz hat unterdrückt werden können, sondern wie es durch die
wunderbare Kraft, die ihm selbst innewohnt, sich immer wieder aufs neue empor gerungen hat, bis es endlich,
unverlöschlich für alle Zeiten, als Sonne der Wahrheit empor geflammt ist. Das ist das Licht, das für uns in der
heiligen Schrift leuchtet, und daraufhin allein müssen wir als Freimaurer die Bibel ansehen, um dieses Licht für uns
und unsere Arbeit zu verwerten.
Die Bibel wird mit Recht das Buch der Bücher genannt. Es steht auf ihren Blättern eine unendliche Fülle der
Weisheit, Wahrheit und Kraft, welche hoch erhaben ist über den verschiedenen Meinungen des Zeitgeistes und darum
nie veralten kann und eine nie versiegende Quelle bildet für die Verjüngung des Menschengeschlechtes. Aber es ist
nicht allein die Weisheitsfülle ihrer Sprüche, welche der Bibel ihren unschätzbaren Wert verleiht. Sie ist nicht bloß
eine Sammlung von Lehren und Sentenzen wie der Koran und die Veden, sondern sie ist gleichsam eine Art
Universalgeschichte der Menschheit, die uns an dem klassischen Beispiel des jüdischen Volkes zeigt, wie das
göttliche Licht im Menschengeschlechte erwacht und, einmal zum Leben gelangt, nicht mehr erlischt. Diesen
Standpunkt müssen wir bei unserer freimaurerischen Auffassung der Bibel festhalten.
Wie ungemein verschieden ist die Bibel nicht in den verschiedenen Zeiten aufgefaßt worden! „Habent sua fata
libelli.“ (Bücher haben ihre Schicksale.) Von keinem Buch gilt dieser Ausspruch mehr, als von dem Bibelbuch. Die
Zeiten sind noch nicht allzu fern, in denen die Meinung unerschütterlich feststand, daß die heilige Schrift als
unabänderlicher Kanon des Glaubens durch eine übernatürliche, unmittelbare Eingebung des heiligen Geistes, durch
direkte Offenbarung Gottes entstanden sei. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wurde dieser
Standpunkt streng festgehalten trotz einzelner häretischer Sekten. Erst Luther, der im ganzen auch noch auf diesem
Boden steht, brach einer freieren Auffassung Bahn und wagte es, sich über einzelne Schriften freimütig in seiner
derben Weise zu äußern. So nannte er z.B. den Brief des Jacobus eine „stroherne Epistel“, und von der Apokalypse
sagt er: „Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken, und ist mir Ursach genug, daß ich sein nicht hoch achte.“
In der Gegenwart finden wir beide Extreme. Die orthodoxe Kirche hält in starrem Dogmatismus am Buchstaben fest.
Sie verabscheut die freie Forschung und zittert noch heute vor dem Licht der Wissenschaft, durch dessen Aufleuchten
Tatsachen der heiligen Überlieferung, wie sie in den Büchern des Kanons stehen, in Frage gestellt werden. Die
unausbleibliche Folge davon, daß die Kirche nicht mit der Zeit und der fortschreitenden theologischen Wissenschaft
mitgeht, ist das Hervortreten des anderen Extrems. Die Gebildeten wenden sich von der Kirche ab; sie
perhorreszieren eine Auffassung der Bibel, die den Errungenschaften der modernen Wissenschaft zuwiderläuft, weil
sie den Widerspruch nicht zu lösen verstehen. Und wenn sie einmal einen, den sie zu ihresgleichen rechnen, in das
Buch der Bücher versenkt antreffen, dann kann derselbe ihres Hohnlächelns gewiß sein; er gilt für sie dann als ein
höchst frommer Mann, d.h. als ein Pietist, für den der Geist der Wissenschaft nicht existiert. Dahin ist es gekommen!
Würde ich fehlgehen, wenn ich behaupten wollte, daß von denen, die sich zu den Gebildeten zählen, höchstens der
zehnte Teil eine Bibel besitzt, und daß von diesem Bruchteil wiederum neun Zehntel das Buch unberührt im
Bücherschranke verstauben lassen?
Doch ich kann hier eine Richtung der theologischen Wissenschaft nicht unerwähnt lassen, die von größter Bedeutung
für die Stellung zur Bibel geworden ist. Die Tübinger Schule hat die literarhistorische Arbeit für das Neue Testament
begonnen, und sie und ihre Nachfolger haben die zeitliche Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften und ihre
Verfasser festzustellen gesucht. Für das Alte Testament hat >98< die Wellhausensche Schule gleich
Bahnbrechendes geleistet, den alten Kanon aufgelöst und in seine zeitlich sehr verschiedenen Bestandteile zerlegt.
Diese hochbedeutenden Gelehrten haben zu erforschen versucht, inwieweit die biblischen Erzählungen auf
historischer Wahrheit beruhen, und was von ihnen in das Gebiet der Mythe zu verweisen ist usw. Wir sind ihnen für
diese Forschungen außerordentlich dankbar. Sie haben mit der Bibel etwa dasselbe gemacht, was unsere modernen
Astronomen mit der Sonne; sie richten ihre Teleskope darauf und sagen uns dann ganz genau, was für Flecken sie hat,
sie erzählen uns von ihren Protuberanzen und ziehen aus ihnen Schlüsse auf die Natur des Sonnenkörpers, sie wissen
durch den Spektralapparat genau, was für Stoffe in der Sonne brennen und wie groß die Hitze dort ist. Aber trotz aller
dieser Erkenntnis wird sie uns doch nicht zu einem toten Feuerball, sondern sie bleibt für uns die Königin des Tages,
der wir zujauchzen als der Spenderin des Lichtes und Lebens auf Erden, wenn sie sich am Morgen im Osten erhebt,
„zu laufen ihre Bahn als wie ein Held“, und der wir feuchten Blickes nachschauen, wenn sie am Abend in Purpurglut
niedergeht. Wir sehen nur ihr Licht und benutzen es, nicht ihre Flecken. So müssen wir auch das Licht der Bibel
benutzen lernen, dieses Licht, das schon Jahrtausenden geleuchtet hat, das, zwar oft verkannt vom Eigendünkel,
verdunkelt von Pfaffentrug und Aberwitz, verdreht von der Afterweisheit der Toren, immer wieder empor leuchtet
und den Zeiten das gibt, was ihnen not ist. Wir können es aber nicht anders ergreifen, als wenn wir unser Herz
reinigen und in Demut der Erleuchtung öffnen. „Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“
Dies ist auch der Weg der Freimaurerei. Zu dem Erfassen unseres größten Lichtes hilft uns die scharfsinnigste
Exegese, die spitzfindigste Hermeneutik, die schlagfertigste Kritik wenig oder gar nichts: „wenn ihr's nicht fühlt, ihr
werdet's nicht erjagen“. In der heiligen Schrift selbst liegen die Schlüssel zu ihrem wahren Licht und rechten
Verständnis; sie sagt: Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten (Joh.
4, 24); sie sagt: So wir im Geiste leben, so lasset uns auch im Geiste wandeln (Gal. 5, 25); sie sagt: Prüfet alles, und
das Gute behaltet (1. Thess. 5, 21); sie sagt: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig (2. Kor. 3, 6); und
der Obermeister der Menschheit sagt: Suchet in der Schrift, denn ihr meinet, ihr habet das ewige Leben darinnen, und
sie ist's, die von mir zeuget (Joh. 5, 39). Daran ändert die Entstehungszeit der einzelnen Schriften nichts.
Und die Freimaurerei, welche von der Bibel sagt, „sie regle unseren Glauben“ (so vorsichtig und nicht anders darf
sich die Freimaurerei ausdrücken, sie leitet eben ihren Jünger an zum Suchen und Finden des Lichtes mit den
wunderbar einfachsten Mitteln. Sie verweist ihn auf die drei Schläge, mit welchen sich der Meister ankündigt, und
welche die drei Grundursachen bedeuten, die den Verstand erleuchten, befestigen und unterstützen: Natur, Religion
und Stärke. — Sie leiten uns bei jeder Arbeit, und wir müssen sie auch der Bibel gegenüber uns gegenwärtig halten.
Nur durch ein allseitiges Eindringen in die Natur der Dinge gewinnen wir Grund und Fortgang. Wir haben unsere
Sinnesorgane erhalten, damit wir sie gebrauchen, damit wir die Natur erkennen sollen, soweit es uns möglich ist. Die
Fackel der Wissenschaft ist uns vom Schöpfer auch als ein Licht verliehen, das wir nicht unter den Scheffel stellen
sollen. Und wenn uns in unserem Bibelbuche Dinge begegnen, die der Naturwissenschaft und der Geschichte
zuwiderlaufen, Anschauungen, die im Laufe der Zeiten veraltet sind, so haben wir dieselben im Lichte der Errungenschaften unserer Wissenschaft zu berichtigen; denn die Bibel „regelt“ wohl unsern Glauben, aber sie knechtet ihn
nicht. Nicht in starrem Dogmatismus haben wir uns an die wörtliche Bedeutung des Buchstabens zu halten, sondern
wir haben den lebendigen Geist zwischen den Zeilen zu lesen. Denn die Bibel ist kein Naturgeschichtsbuch, aus dem
wir lernen sollen, daß die Welt in sieben Tagen geschaffen ist, sie ist auch kein Fabelbuch, das uns Märchen aufbinden will, sondern sie ist der Kodex des ewigen Geistes, der in der Menschheit gelebt hat und leben wird, solange
Menschen auf diesem Erdball atmen. Sie ist das unvergängliche Zeugnis, daß ein Göttliches im Menschen lebt, eine
unvertilgbare Spur des Ewigen, der einen Bund gemacht hat mit dem staubgeborenen Geschlecht. — Und wenn
unsere Erkenntnis der Natur an ihre Grenze gelangt ist, dann erkennen wir in der Religion, in dem Glauben an das
Göttliche um uns und in uns eine höhere Welt. Die sinnliche Welt wird uns eine Stufe auf der Bahn der Erkenntnis,
auf der wir uns emporarbeiten zu einer Welt des Geistes. Und das Mittelglied, das uns diesen Schritt ermöglicht, das
das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, das Endliche mit dem Unendlichen, das Zeitliche mit dem Ewigen in eins
zusammenfaßt: >100< es ist die Stärke; es ist die Inspiration des Geistes, der die Materie mit seinem Feuer
durchdringt, es ist die innere Gewißheit, die den Glauben zum Schauen erhebt, es ist die wahrhafte Offenbarung des
Göttlichen, das sich unserm inneren Auge erschließt, wenn wir treu und unablässig danach gerungen haben. Das ist
auch die Offenbarung, die den Männern ward, welche einst unsere heiligen Bücher der Bibel niedergeschrieben
haben. Denn die Bibel ist weiter nichts als eine Sammlung von Büchern, von Menschen verfaßt. Übernatürliche,
mystische Visionen und Verzückungen kennen wir nicht, wohl aber die flammende Begeisterung, dieselbe
Begeisterung, die Moses die Erscheinung des Herrn im feurigen Busch erschauen ließ, dieselbe Begeisterung und
Hingabe, die den Heiland in Gethsemane überkam, als ein Engel ihn stärkte, den Leidenskelch zu trinken. Jedes Blatt
der heiligen Schrift gibt Zeugnis von dieser Stärke, die aus dem Staube zum Lichte emporhebt.
Darum ist und bleibt die Bibel die wichtigste und älteste Kunsturkunde der Freimaurerei, ihr größtes Licht. Sie vom
Altare herunterwerfen, hieße unsere Tempel mit Finsternis erfüllen und unser eigenes Todesurteil sprechen. Der Weg
der Freimaurerei ist in ihr vorgezeichnet, es ist der Weg, den die Menschheit gegangen ist, und den jeder einzelne
gehen soll. Oder haben wir etwa nicht alle das Paradies unserer goldenen Kinderzeit verloren? Bleibt sie nicht ewig
wahr, die alte Mär von dem Apfel und der Schlange? Haben wir nicht alle den Tempel unserer Jugendideale erbaut
und ihn durch unsere eigene Schuld und durch die Bosheit und Lüge der Welt in Trümmer stürzen sehen? Haben wir
alle nicht Zeiten des Exils durchleben müssen, wo wir keinen Ausweg fanden und vergehen zu müssen glaubten in
Schmach und Schmerz? Und hat uns dann nicht endlich doch die messianische Hoffnung getröstet, und tröstet sie uns
nicht noch heute, daß es eine Aufrichtung geben müsse aus dem Fall, eine Vollendung des Unvollkommenen, eine
Verklärung des Dunkeln zu nie verlöschender Herrlichkeit ?
Darum, sage ich nochmals, ist und bleibt die Bibel das größte Licht der Maurerei, der Maurerei, die besteht in der
positiven Kenntnis und Anwendung der Mittel, welche seit unvordenklichen Zeiten der Menschheit zur Aufrichtung
und zur Reinigung gedient haben, und zwar — das ist wohl zu merken — die ganze Bibel muß es sein! Wir können
das Neue Testament nicht hinten herausreißen, wir können die Kunde vom neuen Tempel nicht entbehren; denn das,
was auf den Höhen des Sinai gegründet wurde, vollendete sich auf Golgatha, wo das reinste Menschentum verblutete,
um die Menschheit zu dem verlorenen Bewußtsein ihrer selbst zu bringen, und wo der höchste Segen mit dem
höchsten Opfer allen Geschlechtern und allen Zeiten erkauft ward.
Durch diese Erlösungstat ist die Kraft geweckt, durch welche die Nationen das geworden sind, was sie sind, durch
welche die ganze Kultur auf neue Bahnen geleitet worden ist, die mit ihrem Lichte auch die fernsten Kreise
durchflutet, und von deren Fülle alle Menschen, Christen, Juden, Moslems und Heiden, schon jetzt Gnade um Gnade
genommen haben und fort und fort nehmen; denn durch diese Kraft ist erst der Begriff der Humanität geboren, und
ein unzerreißliches Band um die ganze Menschheit geschlungen, das sich von Jahrtausend zu Jahrtausend fester
schürzen wird, bis endlich ein Geist alle regieren soll und ein Hirte und eine Herde sein wird.
Im Hinblick auf dieses Vereinigungsband schließen auch wir unsern Bund enger und fester. Jede Arbeit, die wir hier
im Scheine unseres größten Lichtes vollbringen, sei uns eine neue Erweckung, auf daß in uns stets der Gedanke
lebendig sei, daß auch wir zu Streitern des Lichts, zu Tätern des Worts und nicht zu Hörern allein ausersehen sind,
damit wir nie die Stunde zu scheuen haben, da das Anvertraute von uns zurückgefordert werden wird.
Stehen wir fest im Kampfe für das Licht, und halten wir treu zum Wort. Wie auch die Finsternis toben mag:
„Das Wort, sie sollen's lassen stahn!“
Dieser Gesang Luthers sei auch unser Schlachtgesang!
(1876. 1903.)
Die Beamten der Loge.
Unsere Loge wird eine gesetzmäßige, verbesserte und vollkommene genannt; sie heißt gesetzmäßig, weil ihre Arbeit
auf den ewig gültigen Normen des göttlichen Gesetzes gegründet ist; verbessert heißt sie, weil in ihr das Streben
lebendig werden soll, das jenes göttliche Gesetz überall zur Geltung zu bringen sucht; und vollkommen wird sie
genannt, weil sie die Vollendung dieses Werkes, wenn auch nicht in der Tat herbeiführt, so doch als leuchtendes
Endziel ins Auge faßt und festhält.
Wenn nun auch, wie wir in den vorstehenden Vorträgen gesehen haben, der Orden uns das Haus der Loge als eine
Heimstätte der k. Kunst aufs genaueste kennen lehrt, so bleibt es doch im Innern tot, solange seine Bewohner fehlen,
und vor allem, solange die Kräfte nicht walten, welche die Arbeit, die sich darin vollziehen soll, erst erwecken. Selbst
das größte Licht auf unserem Altar bleibt tot, ein Buch mit starren Lettern, solange sich nicht Stimmen erheben, die
seine Wahrheit verkündigen, und solange sich nicht Herzen öffnen, um diese Wahrheit aufzunehmen.
Diese Kräfte nun werden angedeutet durch die Beamten der Loge, auf welchen ihre Tätigkeit in erster Linie ruht. Sie
sind es, die die Loge erst gesetzmäßig, verbessert und vollkommen machen; denn von ihnen geht das eigentliche
Leben der Loge aus. Unser Fragebuch spricht sich über dieselben folgendermaßen aus (Abt. II, Art. 2, Fr. 26 bis 31) :
„Wieviel Brüder werden erfordert, der Loge die Gestalt zu geben?“
„Drei.“
„Welche sind diese?“
„Der Logenmeister, der Bruder erste und der Bruder zweite Aufseher.“
„Wie viele Brüder verbessern die Loge?“
„Fünf.“
„ Welche sind diese?“
„Die drei erstgenannten nebst dem Sekretär und dem Redner.“
„Wie viele Brüder werden endlich erfordert, eine Loge vollkommen zu machen?“
„Sieben.“
„Nennen Sie mir diese sieben Brüder!“
„Der Logenmeister, der Bruder erste Aufseher, der Bruder zweite Aufseher, der Sekretär, der Redner,
der Rent- oder Schatzmeister und der Zeremonienmeister.“
Diese sieben also sind es, welche die Loge vollenden, und die berufen sind, die Brüderschar zu beleben, zu führen
und zur Arbeit anzuleiten. Wie geschieht das?
Um das zu erkennen, wird es nötig sein, auf die einzelnen Funktionen dieser sieben Beamten näher einzugehen.
Der erste der Beamten ist der Logenmeister. Von ihm geht das eigentliche Leben der Loge aus; denn seine Pflicht ist
es, zu erleuchten und zu regieren. Er hat seinen Sitz im Osten hinter dem Altar, im Osten, wo die Sonne ihren
Tageslauf beginnt; und so wie sie erwärmend und belebend die Erde bestrahlt, so soll auch der Logenmeister sein
Licht leuchten lassen in der Brüderschaft und durch sein Wort die Herzen regieren und zu dem hohen Ziele leiten, wo
die Wahrheit selbst scheint und regiert. Darum ist er es, der das Licht austeilt durch Entzünden der drei Großen
Lichter, welche die Loge erleuchten, darum liegt vor ihm die heilige Schrift, zum Zeichen, daß er der eigentliche
Wortführer und Lichtspender ist; denn Licht und Wort sind es, von denen die Schriftstelle, bei der das heilige Buch
aufgeschlagen ist, Zeugnis ablegt. Und der Meister ist es, der das Buch der Bücher aufschlägt und so den Brüdern
unser größtes Licht enthüllt. In seiner Hand aber ruht der Hammer, das Zeichen der regierenden Gewalt, mit dem er
zur Ordnung ruft, und durch dessen Schlag die ideale Welt der Loge gleichsam erst erschaffen wird. Zwischen ihm
und der heiligen Schrift liegen das Winkelmaß und der Zirkel zu einem doppelten rechten Winkel vereinigt, die
Zeichen der richtenden und abmessenden göttlichen Kräfte, durch die alles ins Werk gesetzt wird. Das Schwert
>104< seiner Gerechtigkeit streckt er über das heilige Wort der Bibel aus, zum Zeichen, daß das Wort zur Tat
werden soll, und daß es zur Durchführung gelange als Licht, das die Schatten der Finsternis vertreibt. So wird der
Meister zum Symbol des großen Weltenmeisters, von welchem ausgeht der Geist der Liebe, der alles zu sich zieht
und alles vereinigt. Auf seiner Brust trägt er das Winkelmaß, das sprechende Symbol des Rechts und des Gesetzes,
das er zu handhaben berufen ist. Was aber wäre das Wort des Meisters, wenn es ungehört verhallte, und welchen
Wert hätte das Licht, das er verbreiten will, wenn es nicht eine Stätte fände, wo es zur Wirksamkeit gelangen könnte.
Dem Meister gegenüber im Westen haben die beiden Aufseher ihre Stellen. Sie strahlen das Licht, das vom Meister
ausgeht, auf die Brüder zurück. Von Osten her dringt des Hammers Ruf nach Westen, und wie ein Echo schallt er
zurück von den beiden Aufsehern. Sie sind die Vermittler zwischen dem Meister und den Brüdern; sie richten des
Meisters Befehle an die Brüder aus, rufen sie zur Arbeit, entlassen sie von derselben und erteilen ihnen am Schluß
der Arbeit ihren Lohn. Der ewige Meister hat sich selbst die Stätte bereitet, wo sein Licht geschaut und sein Wort
vernommen werden kann. Das ist der Geist des Menschen. In ihm ist der ganzen Natur das Organ entstanden, durch
welches die Äußerungen des göttlichen Wesens vernommen und aufgefaßt werden. Dunkel und ahnungsvoll erschallt
der Widerhall des göttlichen Wortes aus dem Geist des Menschen heraus als Gewissensstimme. Sie ist es, die ihn zur
Arbeit ruft und ihm nach getaner Arbeit den Lohn erteilt, die ihn führt und leitet auf dunkeln Wegen. Aber hell
leuchtet ihm auch das Licht der Vernunft, es lehrt ihn erkennen und unterscheiden und zeigt ihm eine über dem
Irdischen erhabene Welt, das Reich der Ideen. Vernunft und Gewissen des Menschen, das sind die beiden Reflexe
des Lichtes und Wortes aus Osten im Westen, das sind die beiden Aufseher, die dem Meister gegenüberstehen, und
sie finden wir wieder in den beiden Logenbeamten, die dem Meister am nächsten sind. Ihre Aufgabe ist es, „dem
Meister zu gehorchen“; das müssen sie; denn sie sind die unmittelbaren Eingebungen des ewigen Meisters selbst. Sie
bilden mit dem Meister ein Dreieck, das gestaltgebende, grundlegende Dreieck der Loge, deren Aufgabe es ja eben
ist, die Kundgebungen des Gottesgeistes in die Erscheinung treten zu lassen und zur Anschauung zu bringen. Der
erste Aufseher, welcher die Wasserwaage auf seiner Brust trägt, versinnbildlicht die Vernunft, welche aus den
Erscheinungen der irdischen Dinge das göttliche Licht und Leben herauszuerkennen vermag. Sie lehrt uns den
Baugrund für unser Gebäude gewinnen durch fortschreitende Erfahrung in der Betrachtung der Dinge um uns her,
eine ebene Fläche, auf welcher der Bau nicht wanken kann. Daher ist die Wasserwaage das Attribut des ersten
Aufsehers. Der zweite Aufseher aber deutet auf das Gewissen, auf die Stimme des Herzens. Wo das Licht der Vernunft versagt, da tritt die Kraft des Glaubens ein und leitet uns auf dunkeln Wegen. Wenn unser Fuß unsicher nach
einem festen Standpunkt tastet, dann wirft der Glaube sein Senkblei in die Tiefen des Seins, die der menschlichen
Erkenntnis verschlossen sind, und die innere Stimme erweckt in uns die Ahnung des Göttlichen auch da, wo uns das
Schauen verwehrt ist. Darum schmückt den zweiten Aufseher das Senkblei.
So erkennen wir also, daß der Meister und die beiden Aufseher die drei Angelpunkte sind, auf welchen die ganze
Arbeit der Loge ruht. Nun sind aber noch andere Kräfte vorhanden, die in der Loge zur Wirksamkeit gelangen. Wir
sehen zu beiden Seiten des Meisters je zwei Beamte sitzen, zur rechten den Sekretär und den Redner, zur linken den
Schatzmeister und den Zeremonienmeister. Das sind die vier, die die Loge verbessern und vollkommen machen. Alle
vier stehen gleichfalls im Dienste des Meisters; sie sind ihm zur Hilfe beigesellt als seine Boten und Genien, die die
Kraft seines Wortes und den Schein seines Lichtes nach verschiedenen Richtungen hin ausbreiten. Die beiden zur
Rechten des Meisters sind die Vertreter des Wortes, und zwar der Sekretär des geschriebenen, der Redner des
gesprochenen Wortes. Der Meister beauftragt den Redner, zu den Brüdern zu sprechen und sein Licht ihnen zu
übermitteln; er ist gleichsam der Mund des Meisters, ja, er muß sogar außerhalb des Logenraumes dem Meister durch
das Wort zu dienen bereit sein. Der Meister, der seinen Platz nicht verlassen kann, sendet ihn hinaus zu dem fremden
Suchenden in die dunkle Kammer, um ihn vorzubereiten und durch das Wort sein Inneres zu bewegen und
empfänglich zu machen für das, was ihm bevorsteht. Weil der Redner der Vertreter des gesprochenen Wortes ist, so
trägt er als Beamtenzeichen ein Buch, das mit einem Dreieck bezeichnet ist, welches den bedeutungsvollen
Buchstaben G. zeigt. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß das Buch die Bibel vorstellen soll, in deren
Schriften das Wort des Höchsten sich in unerschöpflicher >106< Fülle offenbart hat, durch welches Gott „manchmal
und auf mancherlei Weise“ geredet hat zu unseren Vätern, und durch welches er bis auf den heutigen Tag zu uns
spricht, um uns seine Größe und Herrlichkeit erkennen zu lassen.
Wenn so der Redner gleichsam der Mund des Meisters ist, so ist der Sekretär seine rechte Hand; denn er führt die
Feder und trägt darum auch als Amtszeichen zwei gekreuzte Federn, die in dem gestaltgebenden Dreieck der Loge
liegen, weil sie im Dienste der Loge stehen. Er legt das ganze geistige Leben der Loge fest durch seine
Aufzeichnungen, indem er die Worte des Meisters, des Redners und aller Brüder niederschreibt. Durch Abfassung
der Niederschriften aber schafft er die Archive der Loge, die von Geschlecht zu Geschlecht Kunde geben von ihrer
Wirksamkeit. Er sorgt dafür, daß ein Schatz von Weisheit und Erkenntnis aufgespeichert wird, aus dem noch späte
Generationen erkennen sollen, wie die Väter einst gestrebt haben, und wie das ewige Licht der Wahrheit, wenn es
auch von verschiedenen Geistern zu verschiedenen Zeiten verschieden aufgefaßt und dargestellt worden ist, dennoch
dasselbe bleibt, gestern, heute und in alle Ewigkeit.
Und nun endlich die beiden Beamten zur Linken des Meisters, welche die Loge vollkommen machen. Wenn der
Redner und der Sekretär dem Geiste dienen, so sind der Schatzmeister und der Zeremonienmeister die Vertreter der
äußeren Form. Auch diese ist wichtig und darf nicht vernachlässigt oder ganz hintangesetzt werden. Die Form ist der
notwendige Träger des Inhalts; ohne die Form muß der Geist sich verflüchtigen, und nur durch sie kann er in die
Erscheinung treten und zur Wirksamkeit gelangen. So wie der Sekretär geistige Schätze im Archiv der Loge
ansammelt, so sorgt der Schatzmeister für das materielle Vermögen der Loge. Er tut das aber nicht aus Freude am
Mammon, sondern er hat die höheren Zwecke im Auge, welche die Loge durch ihre Mittel zu fördern hat. Für ihn gilt
das Wort: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“ Ein Fluch ruht auf dem Golde, das sehen wir
täglich bewahrheitet. Wir sehen, wie der überwiegend größere Teil der Menschen sich bemüht, Schätze von allen
Seiten her zusammenzuraffen in dem tollen Wahn, daß das Gold allein glücklich macht. O höchste Torheit! Ihr
eigenes Verderben beschwören sie herauf. Der Fluch, der am Golde haftet, kann sich nur in Segen verwandeln, wenn
von den gesammelten Schätzen die rechte Anwendung gemacht wird. Gold ist zu vergleichen dem Dünger, mit
welchem der Landmann seinen Acker bestellt. So wie das Gold ist er von hohem Werte, aber nicht an und für sich,
sondern nur insofern, als durch ihn die Frucht des Feldes gedeihen soll. So sollen auch die Schätze, die der
Schatzmeister ansammelt, allein dem höheren Zwecke dienen, die Aussaat zur Reife zu bringen, welche in der Loge
ausgestreut wird. So wie der Mensch nicht leben soll, um zu essen, sondern essen soll, um zu leben, so sucht der
Schatzmeister das Vermögen der Loge durch kluge Verwaltung zu vermehren, nicht um des Geldes selbst willen,
sondern um diese äußeren Mittel in den Dienst der k. Kunst zu stellen, um ihre Arbeiten so würdig und feierlich als
möglich zu gestalten, und vor allem, um Tränen zu trocknen, wohlzutun und Hilfe zu bringen, wo es nötig ist. Er
zieht nicht nur die regelmäßigen Geldbeiträge von den Brüdern ein, sondern er sammelt am Schlusse jeder Arbeit für
die Armen. Daher kann man wohl den Schatzmeister des Meisters linke Hand nennen, die offene Hand, die vom
Herzen kommt, und die da weiß, daß Geben seliger denn Nehmen ist. Als Zeichen seines Amtes trägt er zwei
gekreuzte Schlüssel innerhalb des Dreiecks. Es sind die Schlüssel zum Schatz, den er verschließt, um zu bewahren,
und den er öffnet, um seinen Segen ausströmen zu lassen.
Der Zeremonienmeister endlich wacht über die äußere Form der Logenarbeiten. Die Ordnung innerhalb der Loge
aufrecht zu erhalten ist sein vornehmstes Augenmerk. Ehe die Arbeit beginnt, hat er darauf zu sehen, daß alles an Ort
und Stelle ist. Er hat die Brüder aufzufordern, die maurerische Bekleidung anzulegen, und ladet sie ein zum Betreten
des Heiligtums. Daselbst hat er darauf zu sehen, daß jeder die Stelle einnehme, die ihm gebührt. Er stellt ferner die
nötigen Wachen aus, im äußeren Zimmer sowohl wie bei der inneren Tür. Der Wachthabende, der an dieser seinen
Platz hat, ist eigentlich nur ein Abgeordneter und Stellvertreter des Zeremonienmeisters; von den beiden Schwertern,
die dieser als Amtszeichen trägt, hat er das eine dem Wachthabenden gleichsam geliehen, „um die fremden
Unkundigen abzuhalten“. Um diesen Zweck zu erfüllen, muß der Zeremonienmeister auch außerhalb des Tempels
seines Amtes walten. Seine Pflicht ruft ihn hinaus, wenn es gilt, einen fremden, den Eintritt begehrenden Bruder zu
prüfen, ob er ein Mitglied einer rechtmäßigen und anerkannten Loge sei. Der Zeremonienmeister ist der einzige
Beamte, der zu jeder Zeit seinen Platz in der Loge verlassen darf, um überall eingreifen zu können, wo seine
ordnende Hand nötig ist. Er >108< vertritt gleichsam des Meisters Füße, da dieser seinen Platz nicht verlassen kann.
Er muß überall seine Augen haben, überall zuspringen, um keine Unordnung aufkommen zu lassen.
So erscheint unsere Loge durch ihre sieben Beamten als eine gesetzmäßige, verbesserte und vollkommene. Sieben,
eine heilige Zahl! Was sie besagen will, darüber an einem anderen Orte ein Weiteres; hier nur soviel, daß diese Zahl
nicht durch weitere Einschiebung von Beamten verwischt werden darf. In anderen Lehrarten sehen wir die Zahl der
Beamten um ein Beträchtliches vermehrt. Da finden wir Schaffner, Almosenpfleger, Bibliothekare, Archivare, sogar
einen Musikdirektor in dem Rat der Beamten aufgeführt und mit besonderen Amtszeichen versehen. Das sollte bei
uns nicht sein. Zwar werden solche Beamte wohl notwendig, und zwar je größer die Loge ist, desto dringender, desto
mehr ist es erforderlich, Hilfskräfte heranzuziehen für die immer verwickelter werdende Verwaltung. Aber niemals
sollen solche Hilfsbeamten eingefügt werden in die organisch abgeschlossene Körperschaft, auf deren Wirken das
Leben der Loge ruht.
Erinnern wir uns, daß unsere Loge ein Abbild sein soll der von Gott geschaffenen Welt. Die Kräfte, die sich in ihr
regen, sollen sich auch in der Loge abbilden. Wie der ewige Meister im Osten sitzt und die Welt erleuchtet und
regiert, wie er das Licht seiner Vernunft dem Menschen gegeben und die Stimme des Gewissens ihm ins Herz gelegt
hat, damit sein heiliges Wesen dem Sterblichen offenbar werde, das haben wir gesehen. Nun fragen wir aber weiter:
Hat der dreifach große Baumeister auch die beiden anderen Beamtenpaare zu seiner Rechten und Linken? Wie sollte
er nicht! Finden wir nicht die Urkunden seiner Macht, Herrlichkeit und Größe aufgezeichnet mit unverlöschlicher
Schrift im großen Buche der Natur? Wohin auch immer wir unsere Blicke richten, sei es auf Erden, sei es am
Himmel, es gibt für uns genug zu lesen, woraus wir das Wirken des Meisters erkennen, und die Geologen und
Paläontologen eröffnen uns sogar die Archive des großen Meisters, die uns von längst vergangenen Zeiten und
Epochen unseres Erdballs erzählen. Und seine Redner hat sich der Meister zu allen Zeiten erweckt. Dichter und
Propheten haben zu uns geredet, getrieben von dem heiligen Geist Gottes, haben seine Taten gepriesen und haben
gezeugt von seiner Güte und Barmherzigkeit. Und wenn wir beten: „Gib uns unser täglich Brot!“, dann tritt
ungesehen der Rent- und Schatzmeister des großen Vaters droben zu uns und gibt uns zur Genüge aus nie erschöpften
Vorratskammern. Jedes erhält seine Speise zur rechten Zeit, und alles, was lebt, wird erfüllt mit Wohlgefallen. Und
sein Zeremonienmeister, das ist der Sinn für Ordnung und Gesetz, der unverlöschlich im Menschengeschlecht waltet.
Mag auch oft genug Umsturz und Verwirrung der menschlichen Verhältnisse drohen, eine unsichtbare, ordnende
Hand waltet immer und führt alles zum geregelten Gange zurück, dieselbe Hand, die die Natur in ihren ewigen
Bahnen geordneter Entwicklung hält.
Dieses große Bild der idealen Loge vor Augen, mögen wir nie vergessen, auch in unser Inneres zu blicken und zu
bedenken, daß auch jeder von uns für sich ein Tempel des Höchsten sein und das Urbild der Loge in sich aufgerichtet
haben soll. Vergessen wir nie, daß der ewige Meister selbst sich uns zur Wohnung ausersehen hat, und sorgen wir,
daß Vernunft und Gewissen als seine getreuen Aufseher über unserm inneren Heiligtum Wacht halten. Dann wird
auch das lautere Wort der Wahrheit in uns lebendig sein und als Redner von unseren Lippen das Lob des Herrn
verkündigen, und unser Sekretär wird in die Tafeln unseres Gedächtnisses eintragen alles Gute, was wir seit unserer
Kindheit Tagen bis heute von Eltern, Lehrern, Freunden, Brüdern und von Weib und Kind erfahren haben.
Dankbarkeit sei die schöne Frucht, die sein verborgenes Wirken zeitigt, Dankbarkeit und freudiges Gedenken des
Guten; das Üble aber sei ausgelöscht aus unserer Erinnerung, Zufriedenheit aber und Wohltätigkeit sei unser
Schatzmeister und taktvoller Sinn für Ordnung und Recht unser Zeremonienmeister, der die äußere Form durchdringt
mit dem Geiste der Liebe,
Wenn jeder so seine innere Loge in Ordnung hält, dann wird es auch gut mit unserer äußeren Loge stehen, und
freudig werden wir singen können:
„Fest steht unser Bau,
Der Menschheit zur Wonne,
Wenn jeder für ihn
Sich rüstet und wacht!“ (1891.) >110<
Das Eröffnungs- und Schlußritual der Loge
und die freimaurerische Zeitrechnung.
Das Alltäglichste, was uns bei jeder Logenarbeit entgegentritt, ist das Eröffnungs- und Schlußritual der Loge. Auf
manche wirkt dasselbe durch seine stete Wiederholung ermüdend, und man vernimmt, wohl hier und da den Wunsch,
daß solche Formen abwechslungsreicher gestaltet werden möchten. Solches Verlangen aber kann nur da laut werden,
wo es an genügendem Verständnis fehlt. Wer den Sinn unseres Rituals auch nur annähernd kennen und würdigen
gelernt hat, der wird nie daran denken, es abgeändert oder gar beseitigt zu wünschen, noch weniger wird er sich durch
seine Wiederkehr ermüdet fühlen, vielmehr wird er stets aufs neue eine innere Erhebung erfahren, wie sie ihm auch
die geistvollste, mit dem schönsten rhetorischen Schmuck ausgestattete Logenrede niemals gewähren kann.
Die Loge als Ganzes genommen ist ein Symbol, ebenso wie jedes einzelne Bild und jede Handlung, die sie uns
vorführt. Jedes Symbol aber ist mehrdeutig, und es ist für unsere Lehrart charakteristisch, daß sie diese
Mehrdeutigkeit unter drei große Gesichtspunkte ordnet, wonach sich für alles eine moralische, eine historische und
eine freimaurerisch - wissenschaftliche (mystische) Bedeutung ergibt. Mit diesen drei Bedeutungen ist alles erschöpft.
Die Freimaurerei fängt beim Individuum an, beim einzelnen Menschen und seiner Erziehung; sie führt uns weiter zur
Gesamtheit der Individuen, zur Menschheit und ihrer geschichtlichen Entwicklung, und sie erweitert endlich unseren
Gesichtskreis, indem sie unsern Blick von dem Menschen und seinem kleinen Wohnsitze, der Erde, auf den
Makrokosmos, auf das Weltganze richtet. Alle drei Bedeutungen müssen berücksichtigt werden, obgleich in der
Johannisloge das moralische, auf den einzelnen Menschen bezügliche Element in den Vordergrund treten muß.
Nichts kann einfacher sein als die Einrichtung unserer Lehrlingsloge. Ein Zimmer, an dessen östlichem Ende auf
einer Erhöhung von drei Stufen der Altar sich befindet, auf dem Altar drei brennende Lichter, ferner Bibel,
Winkelmaß, Zirkel und Hammer, mitten im Zimmer abermals drei Lichter und die zusammengerollte Arbeitstafel, die
Sitze der Brüder: das ist alles, das ist der Ort, wo das geheimnisvolle Werk der Freimaurerei sich vollziehen soll.
Welche Bedeutung der Raum der Loge für uns hat, davon reden unsere Akten im Fragebuche ausführlich. (Fragebuch
II. Abt., 2. Art.) Sie sprechen von ihrer Länge und Breite, von ihrer Höhe und Tiefe, sowie von ihrer Lage und von
den Dingen, die zu ihrer Ausrüstung gehören, und von den Kräften, die sie regieren. Sowie aber die Tätigkeit dieser
Kräfte beginnt, haben wir es nicht nur mit dem Raum, sondern auch mit der Zeit zu tun. Daher beschäftigt sich unser
Ritual, welches gerade den Beginn und den Schluß dieser inneren Logentätigkeit darstellt, vorwiegend mit der Zeit,
und ein ganzer Artikel (Ebenda 3. Art.) unseres Fragebuches handelt von der Zeitrechnung des Freimaurers und steht
mit dem Ritual im engsten Zusammenhange.
Die Eröffnung der Loge stellt uns nun den Akt der Schöpfung dar, sowohl des Menschen, der Welt im kleinen, des
Mikrokosmos, der Gründung aller irdischen Verhältnisse, als auch des Weltganzen, des Makrokosmos; der Schluß
der Loge dagegen weist hin auf das Ende unseres Lebens, das Ende aller irdischen Tage, das Ende aller erschaffenen
Dinge. Zwischen diesen Anfangs- und Endpunkten liegt die Entwicklung des Lebens, die die eigentliche Logenarbeit
versinnbildlicht.
Sobald die Loge geöffnet werden soll, nimmt der Meister seinen Platz am Altar ein, tut mit dem Hammer einen harten
Schlag und ruft die Brüder „in Ordnung“, worauf dieselben ihre Plätze einnehmen und sich in das Logenzeichen
stellen. Dieser erste einfache Hammerschlag ist die Marke, mit welcher das eigentliche Leben der Loge beginnt. Des
Meisters Wille wird wach und verkündet sich, laut hallend, durch den ganzen Raum. Das Werkzeug der zwingenden
Kraft, der Hammer, der doppelte rechte Winkel, das in Tätigkeit tretende göttliche Gesetz ist es, das da ordnet und
richtet. Ordnung unser selbst, Richtung unseres Geistes und Herzens auf das Ewige um uns und in uns, das ist es, was
uns nötigt, das Zeichen des rechten Winkels an >112< uns anzulegen und uns aufrecht zu stellen vor dem, der uns
durch sein Schöpferwort ins Leben gerufen hat. Der Hammer ist das Werkzeug der Erzeugung, durch welches das
durch den göttlichen Willen zum Leben Gerufene in die Erscheinung tritt. Mit seinem Schlage dringt der
Schöpfungsruf: „es werde“ durch das Chaos. Durch ihn bildet sich die Welt, sich ausdehnend von Osten nach
Westen, von Norden nach Süden, empor zur höchsten Höhe, hinab zur tiefsten Tiefe. Mit dem ersten
Hammerschlage, der die Brüder auf die Plätze und in das Zeichen ruft, fängt sich erst an die Loge zu bilden, indem
die Aufseher dem Meister im Westen gegenübertreten, und die Reihen der Brüder sich hinziehen im Norden und
Süden. So wird erst das Viereck der Loge durch lebendige Kräfte hergestellt, durch eine Kette von Wesen, in denen
und durch die das Werk der k. Kunst sich verkörpern soll. Es ist wohl darauf zu achten, daß die Aufseher diesen
Schlag nicht beantworten, — so steht es ausdrücklich im Ritual; sie werden erst durch ihn an ihre Stellen gerufen, sie
treten erst durch ihn ins Leben.
Nun beginnen die Wechselreden zwischen dem Meister und den Aufsehern, also zwischen den drei Beamten, denen
die Öffnung der Loge obliegt. Drei Brüder werden erfordert, um der Loge die Gestalt zu geben, sagt unser Fragebuch
(II. Abt., 2. Art., Fr. 26 u. 27), der Meister und die beiden Aufseher. Die Plätze dieser drei obersten Beamten bilden
ein großes Dreieck, welches das ganze Logenquadrat durchzieht. Was haben diese drei Beamten nun zu bedeuten?
Die ganze Freimaurerei gründet sich auf die Annahme der Existenz eines göttlichen Wesens; ohne diese Grundlage
ist keine Freimaurerei möglich. Wir sind aber weit entfernt davon, unsere Vorstellung von dem Wesen der Gottheit in
eine dogmatische Formel zu fassen und solche den sich uns Nahenden aufzudrängen. Die Freimaurerei sucht
vielmehr, indem sie die allgemeinsten und allen gemeinsamen Vorstellungen von Gott zusammenfaßt, dem
forschenden Geist eine Richtung und Anleitung zu eigenem Finden zu geben. Alle, die Gott suchen, kommen darin
überein, daß sein Wesen unendlich und ewig, mithin ein unergründliches Geheimnis für uns sein muß. Wir können
Gott nicht schauen, wir können ihn nur ahnen, an ihn glauben und versuchen, anbetend uns ihm zu nähern. Solange
mit unserm irdischen Leibe uns die Fessel der Materie anhaftet, solange wir in Raum und Zeit mit unserm Dasein
gebannt sind, können wir zu keiner absolut reinen Vorstellung des höchsten Wesens gelangen. Nur aus seinen
Werken erkennen wir Gott, aus seinem Schaffen und Schalten, aus seinem Wirken und Weben, aus den Gesetzen, die
uns als das ewig Bestehende aus dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen entgegentreten. Es gelingt
uns aber nur immer von der einen oder anderen Seite her, uns dem Unbegreiflichen zu nähern, und doch lebt
wiederum in uns die feste Vorstellung, daß er die große Einheit sein müsse, die alles in sich schließt, in welcher alles
lebt und webt und ist. Hier tritt uns nun die Geometrie helfend zur Seite, jene Wissenschaft, in welcher absolute
Wahrheit herrscht. Sie zeigt uns in der Zahl, wie die Einheit sich teilt in die Mehrheit, und sie zeigt uns in den
Flächenfiguren, wie sich die Mehrheit wieder in die Einheit zusammenfassen läßt. Wenn wir ein gleichseitiges
Dreieck, die denkbar einfachste Figur, betrachten, so erhalten wir den ästhetischen Eindruck einer Einheit, und doch
sehen wir drei Endpunkte, drei Linien, drei Winkel. Wie das zugeht, ist ein Geheimnis, es ist einmal so, es liegt in
unserer Natur. Das Rätsel können wir nicht lösen; aber wir haben ein Symbol erhalten, welches uns darauf führt, die
Vielheit wieder als Einheit zu erfassen, und welches uns, deren ganze Natur gleichsam auf das Symbol angelegt
erscheint, dahin bringt, das Getrennte zu vereinigen. Das Dreieck ist das einfachste (aber nicht das einzige) Symbol
für das Wesen und die Wirksamkeit des göttlichen Geistes. Wir erkennen die Wirksamkeit Gottes in dreifacher
Weise:
1.
als Schöpfer und Vater aller Wesen, dessen Weisheit der Plan der Schöpfung und das Weltgesetz, wonach sich
alles vollzieht, entsprang; wir erkennen ihn
2.
im Geschaffenen, im Sohne, in dem sich das Göttliche in irdischer Hülle, im Fleische, offenbart in der
Schönheit, die der Abglanz des Schöpfers im Geschaffenen ist; endlich erkennen wir Gott
3.
in dem heiligenden Geiste, der das Mittelglied, die Vereinigung zwischen Vater und Sohn, Schöpfer und
Geschaffenem, bildet, die Stärke, die die irdische Fessel überwindet und das Geschaffene geläutert und geheiligt zum
Urquell zurückführt. So verehren wir den Unerforschlichen als den dreifach großen Baumeister der Welt, wie das
Christentum ihn verehrt als den Dreieinigen, als Vater, Sohn und Geist, und so pflanzt die Maurerei die Erkenntnis
seiner höchsten Eigenschaften, Weisheit, Schönheit, Stärke, als die unerschütterlichen drei Säulen auf, worauf das
ganze Gebäude der k. Kunst, der Tempel des Universums sowohl, als auch der Tempel >114< unserer Arbeitsstätte,
als auch der Bau des Heiligtums unseres Herzens ruht. Wir erhalten somit das gestaltgebende Dreieck der Loge, das
gebildet wird durch den Meister und die Aufseher. Mehrfach finden wir außerdem dieses grundlegende Dreieck in
der Loge wieder: wir sehen es an der vorderen Fläche des Altars, wir sehen es in den drei Punkten des Winkelmaßes,
das der Meister auf der Brust trägt, wir finden es in den Endpunkten des doppelten rechten Winkels, der durch
Winkelmaß und Zirkel auf dem Altar gebildet wird, wir finden es in den drei Endpunkten des Hammers, in den drei
Lichtern auf dem Altar und um die Arbeitstafel, und endlich trägt es jeder von uns auf seinem Herzen als des Maurers
höchsten Schmuck, als Kelle, überall darstellend die Vereinigung göttlicher Kräfte. In der Natur, im großen Bauwerk
der Welten, fühlen wir das Wesen des Ewigen, des Meisters, der seine Aufseher sich gegenübergestellt hat als
Wirkung und Gegenwirkung, als die Offenbarungen und Betätigungen seines Geistes, des Unsichtbaren im
Sichtbaren, in die Erscheinung Getretenen; und auch in der Loge unseres Herzens lebt der Meister; denn wir sind
nach seinem Bilde geschaffen, die beiden Aufseher aber sind die Stimme des Gewissens, die zuerst mit leisem
Mahnen uns die Ahnung des Göttlichen erweckt und uns, wie der zweite Aufseher bei der Aufnahme, die ersten
dunkeln Wege leitet, — und die Kraft unserer Vernunft, welche die Ahnung des Lichtes in uns zur glaubensvollen
Zuversicht erstarken läßt, die uns dem Meister entgegenführt, wie es der erste Aufseher gemeinsam mit dem zweiten
bei unserer Aufnahme tat. — Und auch in der Geschichte der Menschheit spüren wir den Meister und die Aufseher.
Der Meister lenkt unsichtbar aus dem ewigen Osten die Geschicke der Völker; nach seinem ewigen Gesetz vollzieht
sich die Entwicklung der Menschheit wie des einzelnen. Seine Aufseher aber sind die Geisteshelden, die er sich
erweckt, wenn die Verwirrung menschlichen Treibens am größten erscheint. Er stellt sie sich gegenüber im Westen,
d.h. er läßt sie in irdischer Gestalt unter den Menschen wandeln und rüstet sie aus mit der Kraft seines Hammers, mit
dem Schwerte der Wahrheit seines heiligen Wortes, auf daß sie die Irrenden leiten auf den rechten Weg, der in die
Heimat zum Vater führt. Denken wir an jene beiden Erscheinungen, die in einer Zeit der größten Zerfahrenheit
auftraten, als die Welt aus den Fugen zu geraten schien, an Johannes den Täufer, der die Ahnung des Göttlichen in
den schlafenden Gewissen der Abgefallenen wachrief und das Schwert der Selbsterkenntnis auf die trägen Herzen
setzte; und denken wir an den großen Meister, der nach ihm kam, um die Feuertaufe zu spenden, der die Binde fallen
machte und den Menschen das volle Licht gab, in dessen strahlendem Scheine sie den Meister und sich selbst als
Brüder erkannten.
So ergibt sich uns die moralische, freimaurerisch-wissenschaftliche und historische Bedeutung des gestaltgebenden
Logendreiecks. Nachdem wir uns darüber klar geworden sind, wird die fernere Deutung unseres Rituals keine
besonderen Schwierigkeiten haben. Doch bleibt noch manches Merkwürdige und der Erklärung Bedürftige übrig, vor
allem die verschiedenen Fragen nach der Zeit.
Wir haben gesehen, wie durch den Hammerschlag des Meisters, der die Brüder an ihre Plätze rief, der Raum der
Loge durch die Begrenzung im Osten, Westen, Süden und Norden geschaffen wurde. Die erste Frage des Meisters
zur Eröffnung der Loge bezieht sich auf die Zeit. Raum und Zeit sind die beiden großen Schemata, in welche sich alle
menschlichen Vorstellungen einfügen, und in denen sie verlaufen; sie sind, wie Kant nachgewiesen hat, die Formen
unserer Anschauung. Der ganze menschliche Organismus ist auf Raum und Zeit angelegt, und alles, was wir denken
und schaffen, ordnet sich im Nacheinander der Zeit und im Nebeneinander des Baumes. Aber obschon wir beide als
eine irdische Schranke unseres Geistes empfinden, geben sie uns dennoch die Unterlage für die Annäherung an die
höchsten Begriffe. Beide sind unbegrenzt. Der unbegrenzte Raum führt uns zum Begriff der Unendlichkeit, und die
unbegrenzte Zeit zum Begriff der Ewigkeit. Unendlichkeit und Ewigkeit aber sind vereinigt in Gott, im Zentrum des
wahren Seins, welches weder an Raum noch an Zeit gebunden ist. Dahin nun will die Freimaurerei uns führen. Sie
will uns die ewige Loge von ferne zeigen, in der alle Zeitrechnung aufhört, die nicht geöffnet und nicht geschlossen
wird, die keinen Osten und Westen, keinen Süden und Norden mehr hat, sondern nur ein Licht, das nie erlischt, die
Gottheit selbst.
Den ersten Schritt dazu führt uns nun das Eröffnungsritual, indem es uns sowohl die Raumbezeichnungen durch die
Himmelsgegenden zum Symbol für eine höhere Idee werden läßt, als auch dadurch, daß es, uns aus der profanen
Zeitrechnung hinausführend, uns die maurerischen Stunden der Arbeit und Ruhe einprägt. >116<
„Welche Stunde ist es?“, fragt der Meister.
„Es ist die zwölfte Stunde“,
antwortet der erste Aufseher, gleichviel, welche Stunde die profane Zeitrechnung zeigt. Das Fragebuch sagt, daß die
Glocke zwölf geschlagen hat, bevor die Loge geöffnet wird; d.h. ein neuer Zeitabschnitt, ja, eine neue Zeitrechnung
soll jetzt beginnen. Zwölf ist ein Nullpunkt der Zeitrechnung, ein alter Zeitraum ist abgelaufen, ein neuer beginnt, und
hier bezeichnet uns die Zwölf die Grenzscheide zwischen profaner und maurerischer Zeit. An erstere erinnert die von
dem gewöhnlichen Zifferblatt der Uhr hergenommene Zwölf, an letztere der Umstand, daß diese Zahl genannt wird,
gleichviel, welche Stunde die profane Uhr zeigen mag. Die Zeit des Träumens ist abgelaufen, die Zeit des Schaffens,
der Entwicklung beginnt; es ist der Grenzpunkt, an dem ein neues Leben erwachen soll, vergleichbar dem
Augenblick, da der Geist Gottes sein: „es werde“ sprach; es ist die Scheidung zwischen Licht und Finsternis, Chaos
und Ordnung. Draußen tobt das Gewühl der Welt. „Zeit ist Geld“, so hört man draußen rufen; die törichten Menschen
schauen ängstlich auf die Uhr und wollen keine Minute versäumen, um irdische Güter, Ehre, Macht und Ansehen zu
erringen, und denken nicht daran, das höchste Gut zu erwerben; — hier aber ist Friede, Ordnung und Sammlung,
wenn die zwölfte Stunde schlägt. Draußen „stoßen sich hart im Raume die Sachen; wo eines Platz nimmt, muß das
andere rücken“; — hier „rührt sich Meister und Geselle in der Freiheit heil'gem Schutz“. Und so ist es auch in der
inneren Loge, im Heiligtum des Menschenherzens. Wenn die zwölfte Stunde schlägt, dann erwacht der Mensch vom
Pflanzendasein zum geistigen Leben und Streben. Er erschrickt vor den in Unordnung übereinander gehäuften
chaotischen Massen, die den Raum seines inneren Tempels ausfüllen; er fühlt den Zeitpunkt gekommen, da es anders
werden muß, er fühlt, daß auch in ihm das Abbild des ewigen Meisters wohnt, der seine Aufseher, Vernunft und
Gewissen, an ihre Stellen ruft, auf daß es Licht werde. — Und so ist es auch im Leben der Völker. Die zwölfte
Stunde hat geschlagen, wenn die Zeit erfüllet ist und der Geist der ewigen Liebe sich seine Boten erweckt, die der
verwirrten Welt ein neues Licht anzünden sollen.
„Was ist die erste Pflicht eines guten Freimaurers, bevor die Loge geöffnet wird, insbesondere des zweiten
Aufsehers ?“, so fragt der Meister den letzteren, und die Antwort lautet:
„Nachzusehen, ob die Loge recht und gehörig gedeckt ist.“
Das Wort „decken“ hat einen doppelten Sinn, es bedeutet erstens verbergen, zweitens schützen. Beides findet hier
seine Anwendung. Die Loge wird am besten geschützt vor feindlichen Gewalten, die ihre Arbeit stören, dadurch, daß
durch Verschwiegenheit und Unzugänglichkeit ihr Wesen und Tun vor der Außenwelt verhüllt wird. Der zweite
Aufseher, der mit der Außenwelt in unmittelbarstem Verkehr steht, denn er ist es ja, an den sich alles von außen
Kommende, den Eintritt Begehrende zuerst zu wenden hat, erfüllt diese Pflicht, indem er das Schwert zieht und
hinausgeht, um zu sehen, ob die Wächter an ihren Stellen sind. Der tiefere Sinn dieser Handlung ergibt sich leicht
nach der dreifachen Symbolbedeutung. Die große Weltenloge ist wohlgedeckt, dafür hat der große Baumeister, der
sie erstehen ließ, gesorgt. Die Gesetze, nach welchen die Entwicklung des Weltganzen vor sich geht, sind
unwandelbar, denn sie sind ein Ausdruck des heiligen Willens des Weltgeistes, in welchen nichts störend eingreifen
kann. Aber auf Erden, wo im Menschengeschlecht das Irdische mit dem Geistigen, die Lüge mit der Wahrheit
ringt, da gilt es für die, welche sich zusammenscharen, um vereinigt die Heiligtümer der Menschheit gegen die
Übermacht der Gewalt, Arglist und Bosheit zu schützen, wachsam zu sein, den Feind abzuhalten. Mag die Finsternis
noch so dicht uns umhüllen, mag uns die Verwirrung auch oft unlösbar erscheinen: es lebt doch ein Großes im
Menschengeschlecht, das nicht erstickt werden kann, wenn auch das schwache Flämmchen manchmal vom Sturme
verlöscht zu werden droht. So wie in jedem einzelnen Menschen das Gute nie ganz untergehen kann, so wirkt auch in
der Menschheit der Geist Gottes fort, trotz aller Wirren und Parteiungen. Diejenigen aber, die das Heilige in sich und
in der Menschheit erkennend, das Weltgesetz des Obermeisters zu Ehren bringen wollen, bilden zusammen die
große, unsichtbare Loge, die da wohlbedeckt bleibt durch die treue Wacht ihrer Aufseher. Wir alle sind zu dieser
Logenwacht berufen. Aber wir können nur geschickt werden zu diesem Dienst für das Allgemeine, wenn jeder
einzige dafür sorgt, daß der zweite Aufseher seiner inneren Loge, die Stimme des Gewissens, zu jeder Zeit
nachsieht, ob das innere Heiligtum wohl gedeckt sei gegen jede unlautere Regung; denn wenn unser Herz nicht rein,
unser Geist nicht klar und unser Wille nicht auf das Höchste gerichtet >118< ist, sind wir weder würdig noch
geschickt, einzugreifen in die große Arbeit des Ganzen.
Nun ist alles vorbereitet, das Leben der Loge kann beginnen. Der erste Schritt dazu ist, daß der Meister die Aufseher
zum Altar ruft, um ihnen das Licht zu erteilen, damit sie es in den noch dunkeln Raum der Loge hinaustragen. Warum
es drei Lichter sind, die sowohl den Altar als auch die Loge erleuchten, darauf brauchen wir nach dem oben Erläuterten nicht mehr zurückzukommen. Wir müssen uns jedoch darüber verständigen, was die drei Lichter der Loge
gegenüber denen des Altars zu bedeuten haben. Die drei Lichter des Altars brennen schon vor Eröffnung der Loge;
sie sollten eigentlich unaufhörlich brennen wie das Feuer im Tempel der Vesta und die ewige Lampe in den
katholischen Kirchen. Sie sind das Urlicht des Meisters selbst, das nie verlöschen kann, das ewig ist, wie er selbst.
Die drei großen Lichter der Loge aber, die vom Meister an dem nordöstlichen Altarlichte angezündet werden, stellen
die Offenbarung des göttlichen Lichtes in der sichtbaren Welt dar. In der Welt wechselt hell und dunkel. Im All
flammen Sonnen auf und verlöschen wieder. Auf Erden folgt dem Tage die Nacht. Sonne und Mond gehen auf und
unter, sowie die Lichter der Loge sich entzünden und am Schluß verlöschen. Auf Erden, im Leben der Völker,
wechselt Erhebung und Erniedrigung, Blüte und Verfall, so, wie im Leben des einzelnen Menschen der Aufschwung
des Geistes, die mutige Begeisterung für das Große und Edle gefolgt wird von Ernüchterung und Ermattung, da uns
das Licht verloschen erscheint, als könnte es sich nie wieder entzünden. Auf Freude folgt Leid, auf Leben Tod. So ist
es im Plane des Meisters bestimmt. Der Freimaurer weiß das. Ruhig sieht er dem Wechsel des Irdischen zu. Er freut
sich der strahlenden Helle, aber er wird auch nicht durch die Dunkelheit erschreckt; denn es ist ihm wohl bewußt, daß
es ein Licht gibt, das keinem Wechsel unterworfen ist, und eine Kraft, die stets bereit ist, das Erloschene wieder neu
zu entzünden. Diesen Glauben verliert er nie, auch wenn die Schatten des Todes ihn schon bedecken. Er geht zur
Ruhe und weiß, daß der ewige Meister ihn erwecken wird zu neuem Leben.
Im Lichte der göttlichen Offenbarung erscheint nun die Arbeitstafel, um beim Schlusse der Loge wieder zu
verschwinden. Sie wird von zwei Lehrlingen entrollt, zur Erinnerung an jenen alten Brauch der Bauhütte, nach
welchem bei Eröffnung der Loge die Symbole der Kunst durch die Lehrlinge mit Kreide auf den Fußboden
gezeichnet und am Schlusse mittels eines Kehrwisches und Wasser wieder ausgelöscht wurden. Von Lehrlingshänden
wird die Tafel entrollt, zum Zeichen, daß in jedem Menschen, auch in dem am wenigsten unterrichteten, die
Wahrheiten der k. Kunst verborgen liegen, und daß die Symbole, die sie ausdrücken, durch die Organisation des
Menschen und der ganzen Natur gegeben worden sind. Die Tafel ist zwar, wie es heißt, „von den Meistern zum
Unterrichte mitgeteilt worden“ (II. LB., Beil. S. 42), aber die Lehrlinge enthüllen sie, denn die Geheimnisse des
Lebens erschließen sich nur dem reinen Herzen, dem unbefangenen Gemüte, in dem ihre Lösung ruht.
Nun ist es hell, und die Urkunde von den göttlichen Gesetzen der Entwicklung alles Lebens ist aufgeschlagen. So
wie das Licht der Sonne das Leben der Erde erweckt, so beginnt es jetzt auch in der Loge sich zu regen. Dieses
Pulsieren des Lebens stellt sich dar in dem maurerischen Klopfen der drei Schläge, welches vom Meister ausgeht
und von den Aufsehern her widerhallt. Was die drei rhythmischen Schläge bedeuten, wird nicht ohne Grund uns bei
jeder Aufnahme eingeschärft: sie deuten auf die „drei Grundursachen, welche den Verstand erleuchten und ihn die
Einrichtung des Ordens zu ergründen, zu umfassen und zu verteidigen geschickt machen. Diese Grundursachen sind:
Natur, Religion und Stärke“, letztere durch den dritten und stärksten Schlag angedeutet. In diesen drei Schlägen
liegt das ganze Geheimnis, das ganze Mysterium unserer Kunst, das uns vom Dunkel zum Lichte führt. Durch die
Erkenntnis der Natur der Dinge und unserer eigenen Natur gelangen wir zur religiösen Idee, von der irdischen
Erscheinung zum wahren Sein und zur Erkenntnis des Göttlichen. Wir können aber auf diesem Wege nur
fortschreiten, wenn wir aus uns heraus eine Kraft entwickeln, die uns zum Verbindungsglied wird zwischen Materie
und Geist, zwischen Geschöpf und Schöpfer. Dieses geheimnisvolle Agens nennt die Freimaurerei „Stärke“. Die
Erkenntnis und das Inswerksetzen dieses Vorganges ist — ich darf es wohl sagen — das Wichtigste des ganzen
Ordens. Es zieht sich hindurch vom Anfang bis zum Schluß, und auf dem Siegel unserer höchsten Ordensabteilung
finden wir es wieder in den drei Buchstaben: N. R. F., d.h. Natura, Religio, Fortitudo. Niemals dürfen wir, wenn wir
weiterkommen wollen, diese Trias aus den >120< Augen verlieren. Darum prägt sie uns der Orden so nachdrücklich
durch das maurerische Klopfen ein, das niemals überhört werden, dessen Rhythmus von dem, der ihn einmal gehört
hat, nie wieder vergessen werden kann. Ergründen, ergreifen und verteidigen sollen wir jene drei Grundursachen, d.h.
wir sollen als Lehrlinge die darin ruhende Wahrheit auffinden; wir sollen als Gesellen sie aus allen Lagen des Lebens,
selbst in den verwickeltsten Verhältnissen wiederzufinden wissen; nur dann erst können wir sie umfassen und uns
ganz zu eigen machen; und verteidigen sollen wir sie als Meister, d.h. sie bewähren durch unsere Tat, sie ausbreiten
dadurch, daß das Geheimnis an uns selbst zur Wahrheit wird, so daß wir für diese Wahrheit allein zu leben und zu
sterben wissen. Dreimal durchpulst die Kunde von diesem innersten Geheimnis bei der Eröffnung und beim Schluß in
den von den Aufsehern wiederholten Schlägen den Kaum der Loge:
1.
wenn es Mittag ist, dann beginnt die Arbeit; sie ist im Lehrlingsstadium; dann gilt es die Ergründung;
2.
wenn Hochmittag verkündigt ist; das ist die Höhe der Arbeit, das Gesellenstadium; dann gilt es das Umfassen;
und endlich
3.
wenn um Hochmitternacht die Loge geschlossen wird, das ist das Meisterstadium; dann soll die Arbeit
vollendet und damit die Kraft gewonnen sein, die uns nicht verläßt, wenn auch die Kerzen verlöschen, und die
Arbeitstafel unseren Blicken entschwunden ist; dann gilt es, das Heiligtum zu verteidigen und die Wahrheit durch
Hingabe unser selbst zu besiegeln.
So gelangen wir nun endlich zu den eigentlichen maurerischen Arbeitsstunden, zu den vier Wachen, wie das
Fragebuch sie nennt: Mittag, Hochmittag, Mitternacht und Hochmitternacht. Mittag — so heißt es dort — ist es,
wenn der Meister im Begriff steht, die Loge zu eröffnen; Hochmittag, wenn die Loge eröffnet ist; Mitternacht, wenn
der Meister im Begriffe steht, die Loge zu schließen; Hochmitternacht, wenn die Loge geschlossen ist. Diese vier
Zeiten umfassen den Freimaurertag, der um sechs Uhr morgens nach profaner Zeitrechnung beginnt, und zwar so, daß
auf jede Wache sechs Stunden kommen.
Es muß auffallen, daß in der freimaurerischen Zeitrechnung nur die Bezeichnungen Mittag und Mitternacht
vorkommen; von Morgen und Abend ist gar keine Rede. Wie ist das zu erklären? — Unser ganzes Leben ist, ebenso
wie sein Abbild, die maurerische Arbeit, eine Wanderschaft.
„Wie wandern die Johannis-Lehrlinge ?“, so fragt das Fragebuch; und die Antwort lautet:
„Von Westen nach Osten, um das Licht aufzusuchen.“ (Fragebuch III. Abt., 2. Art., Fr. 1.)
Westen ist somit unser Ausgangspunkt; Westen, wo die Gestirne niedergehen, ist der Ort, wo das Geschaffene aus
dem Zustande des Unbewußten heraus zum Bewußtsein eines höheren Lebens erwacht und sich aufmacht, um zum
Lichte zu gelangen. Darum tritt der Neuaufzunehmende durch die westliche Pforte ein und kommt zwischen die
Aufseher zu stehen, welche im Westen sein müssen; denn sie sind ja, wie wir gesehen haben, die Kräfte, die sich im
Irdischen, Geschaffenen, also im Westen, regen, und an deren Hand wir die Wanderung nach Osten vollenden. Im
Osten aber, wo das Licht der Gestirne uns aufgeht, hat der Meister seinen Sitz; nicht der sterbliche ist gemeint, der
mit „hochwürdig“ angeredet wird, weil er gewürdigt ist, als Symbol des ewigen Meisters das Abbild der Weltenloge
zu erleuchten, sondern der unsichtbare göttliche Meister, der selbst das Licht ist, dessen Kleid wir nur schauen in
Gold und Himmelblau, wenn wir das Auge erheben zum Himmelszelt mit seinen goldenen Sternen, bei deren Anblick
die Ahnung des Unendlichen uns durchschauert. Zu ihm wollen wir gelangen, er ist das Ziel unserer Wanderung. Er,
der die Weltenloge selbst erleuchtet und regiert, hat seinen festen unabänderlichen Sitz, denn er bildet den
Mittelpunkt alles Seins und Lebens; die Aufseher aber, die ihm gehorchen, haben nur Stellen, sie stehen vor dem,
dem sie gehorchen. Ebenso unabänderlich wie der Sitz des Meisters, ebenso wandelbar, wenn auch immer dem
Meister gegenüber im Westen befindlich, sind die Stellen der Aufseher. Sie sind es ja, die die Befehle dessen, dem
sie gehorchen sollen, hinaustragen, oft nahe, oft fern vom Meister; sie sind es, die den Suchenden auf seiner
Wanderschaft begleiten, um ihn endlich zum Meister hinzuführen. Diese Wanderung aber, die unsern ganzen
Freimaurertag erfüllt, können wir nur vollenden, wenn wir den Weg durch Süden und durch Norden zurücklegen,
denn diese beiden Regionen erstrecken sich von Westen nach Osten hin. Süden und Norden entsprechen also in der
Zeit unserer Wanderung Mittag und Mitternacht. Wir sehen hier, wie der Orden den Raum und die Zeit gleichsam
miteinander zu einem Begriff zu verschmelzen trachtet. Auch im profanen Leben wird manchmal Mittag für Süden
und Mitternacht für Norden gebraucht. >122<
Von der Sonne ist auch unsere maurerische Zeitrechnung hergenommen. Die Sonne ist ein Abglanz des ewigen
Lichtes, an welchem ihr Feuer, das auf unserm Erdball das Leben erweckt, entzündet ist. Wenn sie rechts von unserm
nach Osten führenden Wege steht, dann ist sie im Süden, sie ist über dem Horizont und gibt uns den Tag. In der Loge
strahlt uns diese Tageshelle, sobald die Lichter angezündet sind; dann wird Mittag verkündigt. Hochmittag aber
bezeichnet den Kulminationspunkt der Sonne und die Strecke, die sie durchläuft bis zu ihrem Untergange.
Hochmittag wird verkündigt, wenn der Meister das größte Licht der Freimaurerei, die Bibel, geöffnet und sein
Schwert darüber ausgestreckt hat, und wenn die Brüder durch das dreimalige Lehrlingszeichen dem Meister die Loge
haben eröffnen helfen. Ohne die Brüder kann das Werk der Loge nicht ins Leben treten. Meister und Aufseher geben
ihnen das Licht, die Brüder aber empfangen und verarbeiten es in sich; darin besteht eben das wahre Leben der Loge.
Was die Bibel für die Freimaurerei bedeutet und weshalb sie unser größtes Licht genannt wird, muß in einem
besonderen Vortrag erörtert werden; hier genüge es, daran zu erinnern, daß unsere drei Kerzen nur Dämmerschein
verbreiten, wenn das Buch der Bücher noch geschlossen ist. Erst wenn es an jener Stelle sich öffnet, wo in einfachen
und doch so unergründlich tiefen Worten die Kunde ausgesprochen ist von dem Wort, das im Anfang war, durch das
alle Dinge gemacht sind, und das der Menschen Licht und Leben ist, jene Stelle, die da redet von der Fleischwerdung
des göttlichen Wortes, das unter uns wohnte voll Gnade und Wahrheit, und von dessen Fülle wir und alle Menschen
Gnade um Gnade genommen haben: dann erst ist es Hochmittag, dann kann das Geisteslicht, das die Loge uns
anzündet, nicht höher steigen, denn wir haben das Licht, das wir ahnungsvoll in den drei Kerzen schauten, jetzt
verbrieft vor uns liegen in jener heiligen Urkunde, welche Zeugnis davon ablegt, wie das Licht in der Menschheit
aufgegangen und wirksam geworden ist. Vor dieser strahlenden Offenbarung göttlichen Lebens genügt es nicht, bloß
in Ordnung zu stehen: der Meister fordert das volle Lehrlingszeichen, welches er selbst mit allen Brüdern macht, und
zwar nach Maßgabe unserer drei Schläge, zweimal vor und einmal nach der Öffnung der Bibel. Das Wort soll Tat
werden, seine Kunde soll uns ganz durchglühen, ganz vergeistigen, ganz nach dem Ebenbilde des ewigen Wortes
gestalten. Das Schwert des Meisters aber liegt schützend über dem Heiligtum, bereit, zu verteidigen und
durchzuführen, was groß und göttlich ist, bereit zur Strafe und zum Kampfe gegen das, was das Licht trüben und
herabziehen will. So wird endlich die Loge mit Gebet um Segen und Kraft von oben geöffnet.
Aber wenn auch der volle Strom des Lichtes uns umflutet, — wir sind und bleiben staubgeborene Menschen,
Untertan dem Wechsel dieser Zeitlichkeit. Es ist unser Schicksal, daß wir nicht vermögen, das heilige Feuer in
gleichmäßiger Helle uns zu erhalten. Die Arbeit naht ihrem Ende; die Mitternacht bricht an. Den Süden des Lebens
haben wir ausgekostet, wir haben das Licht geschaut und sind ihm entgegengegangen. Wir haben das Leben auf
unserer Wanderung kennen gelernt in seinem Glanze und seiner Schönheit: jetzt gilt es, durch Norden zu gehen. Die
Sonne, welche uns zur Rechten war, ist jetzt links von unserem Wege, aber sie leuchtet uns nicht mehr, nur
Abenddämmerung verbreiten unsere Lichter, und bald steht das Tagesgestirn tief unter dem Horizont, im Norden,
unsichtbar für uns. Das ist Mitternacht, die letzte Arbeitsstunde. Zum Ziele können wir nur gelangen, wenn wir, vom
Lichte gestärkt, auch durch die Finsternis zu dringen wissen. Nach Osten können wir nur durch Süden und Norden,
durch Mittag und Mitternacht, durch Freude und Schmerz, durch Erhebung und Erniedrigung, durch Leben und Tod.
So naht die Hochmitternacht heran, die Wache, in welcher der Freimaurer nicht mehr arbeitet, da die Sonne, die uns
in die dritte Wache noch ihren dämmernden Scheidegruß schickte, ihrem Kulminationspunkte gegenüber im Norden
tief unter dem Horizont steht. Das Heiligtum auf dem Altar schließt sich, die Tafel verschwindet, die Lichter
erlöschen, die Stunde ist da, in der der Maurer nicht mehr arbeitet. Wir gehen ein zur Ruhe und entschlafen. Ehe wir
aber Abschied nehmen, werden wir von der Arbeit entlassen und erhalten unseren Lohn. Der Meister, der seinen Sitz
im Osten ewig behält, hat den Aufsehern, die ihm im Westen gehorchen, befohlen, die Arbeiter zu bezahlen und sie
nach Hause zu entlassen. Dieser Lohn ist das Bewußtsein, das uns die Stimme unseres Gewissens und unserer
Vernunft, die Aufseher unserer inneren Loge, geben, wenn wir unsere Pflicht getan haben.
Durch das dreimalige Lehrlingszeichen, das die Brüder jetzt wiederum beim Hereinbrechen der Hochmitternacht
machen, legitimieren sie sich als solche, die nach bestem Willen gestrebt haben, recht und unsträflich zu wandeln und
den Geist des Göttlichen in sich einziehen >124< zu lassen. Darum machen sie das Zeichen, wie es ausdrücklich
vorgeschrieben ist, beim Schluß der Loge ohne den Meister. Bei der Eröffnung ging es vom Meister aus; er zeigte
den Brüdern das heilige Gesetz. In der Mitternachtsstunde aber schweigt diese Offenbarung aus Osten; nur des
Meisters Auge wacht und sieht, was sein Zeichen in seinen Kindern gewirkt hat.
So gehen wir ein zur Ruhe, wenn unser Auge bricht und unsere Werkzeuge unsern Händen entsinken. Unsere Reise
ist noch nicht vollendet, wir sind noch im Norden und vom Osten noch fern, aber wir schlummern ein in der
Hoffnung, daß die erbarmende Liebe und Gnade „die noch rückständige Reise“ für uns vollenden, und daß die
allmächtige Hand der Erlösung sich uns entgegenstrecken und uns emporheben werde, auf daß wir erwachen am
Herzen des Vaters zu neuem, seligen Leben, des Vaters, dessen heiliger Name gepriesen sei vom Osten zum Westen,
vom Süden zum Norden, und der allezeit mit seinen Kindern sein wird, die seine ewige Liebe in das Leben rief.
„Welche Zeit ist es, wenn die Brüder auseinandergehen ?“,
so lautet die letzte Frage, und der zweite Aufseher nennt die gewöhnliche Stunde. Die profane Zeitrechnung ist
wieder in ihre Rechte getreten. Eine, vielleicht zwei Stunden sind seit dem ersten Hammerschlage verflossen; aber wo
waren wir während der kurzen Zeit! — Den ganzen Sonnenzirkel haben wir durchmessen, den Raum der Unendlichkeit haben wir durchschritten, in Höhen und Tiefen haben wir gewohnt, gelernt und gearbeitet. Die k. Kunst
war es, die uns über Raum und Zeit erhob. Jetzt gehen wir auseinander; das Treiben der profanen Welt nimmt uns
wieder auf. Aber wenn wir uns auch trennen: als Brüder bleiben wir verbunden; das unverlöschliche, uns ein für allemal erteilte Licht begleitet uns hinaus und bildet das Band, das uns umschlingt und uns immer wieder einer den
andern finden läßt. Seine Weisheit gibt uns Frieden da draußen; seine Schönheit lächelt uns an als Freude, auch wenn
der Schmerz uns durchzuckt; und seine Stärke schafft die Eintracht unter denen, die, durch dasselbe Band verbunden,
das Höchste suchen.
Ja, Friede, Freude und Einigkeit begleite uns alle auch dorthin, wo wir uns im ewigen Reiche am Vaterherzen
wiederzufinden hoffen!
Es geschehe also! (1881.)
Die allgemeinen Zeichen des Freimaurerordens.
In tiefstes Dunkel sind die Anfänge unseres Ordens gehüllt. Keine Urkunde erzählt uns davon. Je weiter wir in die
Vergangenheit forschend zurückschauen, desto spärlicher fließen die geschichtlichen Quellen, ja selbst wenn wir auf
die Geschichte des heutigen Logenwesens blicken, so finden wir, daß seine Anfänge kaum 200 Jahre zurückreichen.
Das heutige Logenwesen aber ist nicht die Freimaurerei, ist nicht der Orden selbst; es ist nur die jeweilige, der
Veränderung unterworfene Erscheinung, in welcher sich der Orden zur Zeit darstellt. Wenn wir aber von dem Orden
in seiner Allgemeinheit reden, so ist damit die Idee gemeint, wie sie als das eigentliche belebende Element in der
Freimaurerei zutage tritt; es ist der freimaurerische Gedanke, der sich im Laufe der Zeiten in sehr verschiedener
Weise offenbart hat, und der sich in der Entwicklung der Menschheit bewährt hat als ein Mittel der Vereinigung
derjenigen, die sich seinem Dienste widmeten. Diesen Gesichtspunkt hat Lessing mit wahrhafter Genialität, noch ehe
er dem Orden angehörte, festgestellt durch den Ausspruch: „Die Freimaurerei war immer!“, d.h. sie entstand, als der
Mensch, aus dem rohen Naturzustande heraustretend und zu sanfteren Sitten gewöhnt, sich seines göttlichen
Ursprunges bewußt ward und aus diesem Bewußtsein heraus es unternahm, sein Inneres aufzuerbauen nach Gesetzen,
die ihm die Gottheit selbst offenbart hatte.
In unseren Akten wird als das eigentliche Geheimnis des Ordens seine Entstehung und Stiftung bezeichnet. Und in
der Tat ist es so. Nicht nur der Zeitpunkt, wann das Licht im Herzen des Menschen sich zu regen anfing, und wann
die also Erleuchteten und Strebenden sich >126< vereinigten, ist in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt, sondern
auch der Vorgang der inneren Lichtwerdung selbst, das Erwachen zu einem neuen Leben, das Wiedergeborenwerden
im Geist, ist ein tiefes Geheimnis, das jeder einzige, der sich dem Orden weiht, in seinem Innern erfahren und erleben
muß, ein Geheimnis, nur für ihn selbst spürbar und an keinen andern verratbar. Aber auch selbst dem, der am tiefsten
davon ergriffen ist, bleibt es noch ein Geheimnis. „Der Wind blaset, wo er will“, sprach der Obermeister zu
Nikodemus, „und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also
ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ Wer will sagen, wie es zuging, als er zum Licht erwachte? So wie
unsere leibliche Erzeugung und Geburt uns ein Rätsel ist und bleiben wird, so ist es auch mit der geistigen Geburt. Es
sei mir gestattet, dies an einer Stelle unserer Akten deutlicher zu zeigen.
In der III. Abteilung unseres Fragebuches, im ersten Artikel, findet sich folgende merkwürdige und schwer
verständliche Stelle:
„Sind Sie ein Freimaurer, mein Bruder?“
„Alle Freimaurer-Brüder und Ritter erkennen mich dafür.“
„Wie soll ich Sie erkennen?“
„Durch die allgemeinen Zeichen des Freimaurerordens, die mir sorgfältig mitgeteilt worden sind.“
„Wieviel sind der allgemeinen Zeichen des Ordens ?“
„Sie sind unzählig.“
„Wie machen Sie dieselben?“
„Durch Darstellung von Winkeln, wassergleichen und senkrechten Linien.“
Zunächst muß hier auffallen, daß von unzähligen Zeichen die Rede ist, und daß mir diese unzähligen Zeichen
sorgfältig mitgeteilt sein sollen, was an und für sich zu den unmöglichen Dingen zu gehören scheint. Bei meiner
Aufnahme habe ich ein einziges Zeichen erhalten, das Lehrlingszeichen, welches, wie das Fragebuch sagt, aus einem
Winkel, einer wagerechten und einer senkrechten Linie bestand, und jeder folgende Grad brachte mir ein neues
Zeichen, alle aber bestanden aus denselben Elementen. Das wären also im ganzen neun Zeichen. Ich soll aber
unzählige Zeichen durch sorgfältige Mitteilung erhalten haben. Wie geht das zu?
Nun, wie werden uns denn die Zeichen mitgeteilt? Der Meister gibt Auftrag, den Unterricht vorzulesen, und die
beiden Aufseher unterrichten darin, indem sie den Aufgenommenen praktisch sorgfältig unterweisen und ihn anleiten,
das Zeichen selbst zu machen. Wie also? Ist bei meinem Unterrichte denn etwas versäumt worden, da ich statt der
unzähligen Zeichen nur eins bzw. neun erhalten habe?
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß es zu den Unmöglichkeiten gehört, von einem Menschen, einem endlichen Wesen,
einen Unterricht über unzählige Dinge zu erhalten. Um Unzähliges mitzuteilen, dazu gehört ein unendliches Wesen,
und der den Unterricht empfängt, muß die Fähigkeit haben, sich zu dem Begriff der Unendlichkeit und Ewigkeit zu
erheben. Wenn also unser Fragebuch die Wahrheit sagt, so muß die unendliche und ewige Gottheit selbst unser
sorgfältiger Lehrmeister gewesen sein, und zwar eben gerade dadurch, daß sie uns die Fähigkeit verlieh, ihr ewiges,
heiliges Wesen, wenn nicht voll zu begreifen, so doch wenigstens zu ahnen und im Glauben sich ihm zu nähern. Zwei
Kräfte sind es, die als göttliche Geschenke in uns hineingelegt wurden: Vernunft und Gewissen. Das sind die beiden
Aufseher, welche über unsern geistigen Tempelbau gesetzt sind, und an welche die beiden Aufseher der Loge uns
stets erinnern sollen. Durch Vernunft und Gewissen werden wir unterwiesen in den unzähligen allgemeinen Zeichen
des Ordens. Das Lehrlingszeichen sowie die Zeichen der anderen Grade, in denen die Aufseher uns unterweisen, sind
die speziellen Zeichen, es sind die Schemata für das große Allgemeine, durch sie wird unser Inneres erst erschlossen,
Vernunft und Gewissen erst in die rechte Richtung gebracht und in die rechte Tätigkeit gesetzt, die uns befähigt, vor
allen anderen Geschöpfen das Göttliche zu finden, zu erkennen und zu verstehen. Unser Lehrmeister also war der
ewige Weltenmeister selbst, der uns mit dem Lichte der Vernunft begabt, das Gewissen uns ins Herz gelegt und uns
sorgfältig unterrichtet hat. Dadurch hat er vor allen seinen anderen Geschöpfen uns ausgezeichnet als die
Erstgeborenen seines Geschlechtes. Und nicht bloß unterrichtet sind wir von ihm in den allgemeinen Zeichen,
sondern wir sind auch von ihm befähigt, sie darzustellen durch die Tat, und zwar, wie das Fragebuch sagt, durch
Winkel, wassergleiche und senkrechte Linien. >128<
Jedes einzige der Zeichen unserer Ordensgrade besteht aus einem rechten Winkel; verschieden ist nur, wo und wie
dieser rechte Winkel von uns beschrieben werden soll. Der rechte Winkel aber ist das Sinnbild der göttlichen
Gerechtigkeit und des göttlichen Gesetzes. Er ist das Prinzip alles Bauens. Der rechte Winkel herrscht in jedem
Gebäude und bestimmt seine Konstruktion und Festigkeit, er ist der Maßstab für das Ganze, durch den dieses seinen
Zusammenhang und sein Gleichgewicht erhält. So wie der rechte Winkel das Grundprinzip der Geometrie ist, deren
kompliziertere Figuren und Sätze sich aus ihm herleiten lassen, so ist er auch das Grundgesetz der Baukunst, nicht
nur, der Baukunst des Menschen, sondern auch der Kunst, durch welche der allmächtige Baumeister der Welt den
großen Tempel des Universums errichtet hat, in welchem das staunende Auge des Menschen, im größten wie im
kleinsten, das Walten eines ewig unabänderlichen Gesetzes entdecken kann. Das Winkelmaß ruht in der Hand des
ewigen Weltenmeisters, der mit ihm nicht nur alles abgemessen hat, sondern auch alles prüft und richtet. Und darum
trägt auch der irdische Meister, der die Loge, wo das göttliche Gesetz zum Verständnis gebracht werden soll,
erleuchtet und regiert, ein Winkelmaß auf der Brust. Dem im Osten sitzenden Meister gegenüber aber haben im
Westen die Aufseher ihre Stellen. Im Osten steht der Lehrer und Unterweiser, der Spender des Lichtes; ihm
gegenüber im Westen stehen die Unterwiesenen und Empfangenden. Im Osten, im Abgrunde des Lichtes, da niemand
zukommen kann, ist Gott; im Westen steht der Mensch mit seiner empfänglichen und empfangenden Seele; im
Westen stehen die Aufseher, die Kräfte, die Gott selbst im Innern des Menschen erweckt hat, und welche tätig sind,
um in dem Vergänglichen, Irdischen, Geschaffenen das Gesetz des Ewigen und Unendlichen zur Darstellung zu
bringen: und das sind Vernunft und Gewissen. Der erste Aufseher, die Vernunft, trägt die Wasserwaage, der zweite
Aufseher, das Gewissen, trägt das Senkblei. Wasserwaage und Senkblei sind aber weiter nichts als waagerechte und
senkrechte Linie, welche, wenn sie sich zusammenfügen, den rechten Winkel bilden müssen. Das Gewissen ist die
Kraft, welche unser Inneres erforscht und sein Senkblei tief in uns hineinsenkt, um den Grund zu finden, wo der in
uns gelegte göttliche Keim verborgen liegt. Es erweckt die innere Stimme in uns, die uns warnt und leitet, die uns
antreibt oder zurückhält. Wie die Schnur des Senkbleis weist uns jene Stimme sowohl in die Höhe als auch in die
Tiefe, über dir wohnt die Gottheit, ruft sie uns zu, in unendlichen Fernen; suche sie dort, aber suche sie dort nicht
allein: auch in deinem Innern wohnt sie, in der Tiefe deines Herzens. Sei aufgerichtet im Streben nach ihr, du Kind
Gottes! — Und die Vernunft ebnet uns mit der Wasserwaage den Boden, auf dem wir stehen und uns bewegen sollen,
das ist die Welt, in die wir gesetzt sind mit ihren unzähligen verschiedenen Verhältnissen und Erscheinungen, mit
ihren Wirren und Kämpfen, mit ihrem Licht und ihrem Schatten, ihren Freuden und ihren Schmerzen. Die
Wasserwaage der Vernunft wird uns sicher durch die oft verschlungenen und dunkeln Pfade geleiten. Das Lot, das in
der Mitte ihres Richtscheites hängt — dasselbe, das auch im Senkblei tätig war —, zeigt uns durch sein Abweichen
stets genau an, ob der Grund, auf dem wir uns befinden, recht gerichtet ist. Die Wasserwaage, das Werkzeug, in
welchem sich senkrecht und wagerecht zum rechten Winkel vereinigen, lehrt uns die schwere Kunst, überall den
rechten Winkel zu bilden, überall in allen Lagen des Lebens, sie mögen noch so verwickelt sein, das Gesetz des
Göttlichen zu erkennen und es in unserm Handeln zum Ausdruck zu bringen, ihm Geltung zu verschaffen überall da,
wo es gehemmt erscheint.
Jetzt wissen wir, warum die allgemeinen Zeichen des Freimaurers unzählig sind, und warum sie durch Winkel,
wassergleiche und senkrechte Linien gebildet werden. Der Meister selbst, der das Licht der Vernunft in uns entzündet
und des Gewissens Stimme in uns gelegt, hat sie uns sorgfältig mitgeteilt, damit wir sie anwenden zu seiner Ehre auf
der Wanderung durch dieses Erdenleben. Aber die Zeichen des göttlichen Lichtes und Lebens sind uns nicht nur
offenbart und mitgeteilt, sondern uns ist auch in unserm freien Willen die Fähigkeit gegeben, diese Zeichen an uns
selbst zur Darstellung zu bringen. Wenn unser inneres Auge, geschärft und geübt durch die Richtung auf das ewig
Wahre, aus allen Dingen, auch den verwickeltsten und schwierigsten, die göttlichen Zeichen herauszufinden vermag,
dann wird in uns auch jene geheimnisvolle Kraft frei, die uns selbst in das Zeichen zwingt, jene Kraft, die uns richtet,
d.h. die nicht nur das Böse in uns verwirft und das Gute anerkennt, sondern die uns zurechtstellt, in das rechte
Verhältnis setzt zu allen Dingen, zu unsern Mitmenschen und zu Gott selbst.
So kommen wir hinter das Geheimnis der Entstehung und Stiftung des Ordens. Der Orden entsteht in uns, wenn sich
das innere Leben in uns zu regen beginnt, das, sich von der Finsternis abwendend, dem >130< Lichte zustrebt,
welches ihm in tausend und aber tausend Zeichen erscheint, und gestiftet ist der Orden, wenn alle die Regungen in
den Herzen der einzelnen sich zusammenfinden wie die Fasern der Wurzel, die zum Stamme empor führen, er ist
gestiftet, wenn die einzelnen Glieder, in denen er lebendig ward, sich vereinigen, um durch ihn zur stärksten und
innigsten Freundschaft verbunden, zur Brüderschaft geeinigt, seine hohe Idee zur Darstellung zu bringen dadurch,
daß sie, achtend auf die unendlichen Offenbarungen der Zeichen des göttlichen Gesetzes, dieses an sich und in sich
selbst betätigen. (1901.)
Das freimaurerische Klopfen.
Über die eigentümliche Art des freimaurerischen Klopfens sprechen sich unsere Akten in der III. Abteilung des
Fragebuches, Artikel l, Frage 5 bis 8, folgendermaßen aus:
„Wieviel Schläge klopft ein Freimaurer überhaupt ?“
„Zwei Schläge etwas schnell und einen dritten mit Nachdruck.“
„Was bedeuten die drei Schläge, die ein Freimaurer überhaupt klopft?“
„Die drei Grundursachen, die den Verstand erleuchten, befestigen und unterstützen und selbigen dahin
bringen, die Stiftung des Ordens zu ergründen, zu ergreifen und zu verteidigen.“
„Welche sind diese drei Grundursachen?“
„Die Natur, die Religion und die Stärke.“
„Warum klopfen Sie den dritten Schlag härter und etwas später als die zwei vorhergehenden?“
„Um dadurch die dritte Grundursache zu bezeichnen, welche die Stärke ist, und welche man, wenn es
erfordert wird, mit Gleichmut und Nachdruck anwenden muß.“
Diese drei Schläge, welche wir so oft bei unsern Arbeiten vernehmen, sind die allgemeinen Freimaurerschläge und
werden an anderen >132< Stellen unserer Akten „die drei merkwürdigen Schläge“ genannt. Sie ziehen sich nicht nur
durch das ganze Ritual des Lehrlingsgrades hin, sondern durch den ganzen Orden. Alle seine Grade beherrschen sie,
sie melden sich immer wieder, und wenn sich auch auf späteren Stufen ihre Zahl vermehrt, so erscheint doch ihr
eigenartiger Rhythmus überall wieder. Sie sind das eigentliche belebende Element unserer Arbeiten. Das Herz in
unserer Brust klopft ebenfalls in einem bestimmten Rhythmus; wird er beschleunigt, verlangsamt oder verwirrt, so ist
Krankheit vorhanden, und früher oder später wird der ganze Organismus gefährdet. So ist es auch im Leben der Loge.
Der Dreischlag des Hammers ist ihr Pulsschlag; geht er regelmäßig, dann kann man wohl auf ihre Gesundheit einen
Schluß machen. Regelmäßig heißt aber hier nicht bloß etwas Äußerliches. Nicht bloß darauf kommt es an, daß der
Meister, die Aufseher und die Brüder die Schläge vorschriftsmäßig zu klopfen verstehen, sondern darauf, daß jeder
ihren Sinn kennt und weiß, was er mit ihnen zu wirken hat.
Das Werkzeug, mit welchem ein rauher Stein bearbeitet wird, ist ein Hammer, mag er den Stein direkt treffen oder
den Kopf eines Meißels, dessen Schneide ihn berührt. Die Schläge des Hammers sind das Fördernde der Arbeit. Daß
sie kunstgerecht geschehen, das heißt im rechten Sinne und aus tiefstem Verständnis, darauf kommt alles an.
Wie erklärt sich nun der eigentümliche Rhythmus? Ich glaube nicht, daß er von unseren Vätern willkürlich
angenommen ist, sondern, daß er sich aus der Sache selbst ergibt. Beobachten wir einmal die Handwerker, welche
sich des Hammers bedienen. Ist die Arbeit eine rohe, bei welcher nichts anderes als große Kraft erfordert wird, um
etwas zu zersprengen, einzutreiben oder auseinanderzutreiben, so werden kräftige Schläge aus ansehnlicher Höhe in
regelmäßigen Intervallen geführt. Anders aber ist es, wenn eine feine Arbeit geleistet werden soll, bei der nicht rohe
Kraft, sondern Geschick erfordert wird. Wer z.B. einen Nagel senkrecht in ein Brett hineintreiben oder eine Niete
befestigen will, der kann nicht gleich wuchtig drauflos schlagen, sondern er muß erst kleine Schläge, gleichsam
tastend, führen, bis der Nagel die rechte Richtung erhalten hat, dann erst können kräftigere Schläge folgen, die den
Nagel vollends hineintreiben. — So ist es auch mit unseren Schlägen. Auch unser Maurerhammer schlägt hart auf,
wenn es sich darum handelt, die schlafenden Geister zu wecken und in Ordnung zu rufen, oder wenn er dem
Suchenden die Tür des Tempels öffnen will. Sobald aber die feine Kunstarbeit beginnt, dann treten die drei
rhythmischen Maurerschläge in ihre Rechte. Ebenso muß der Steinmetz, wenn er den rohen Marmorblock aus den
Steinbrüchen sprengen will, derb zuschlagen; wenn er aber eine feine Kontur herauszumeißeln hat, dann kommt es
darauf an, fein bedächtig und vorsichtig, erst leise, zu klopfen, bis dann ein stärkerer Schlag richtig sitzt und zur
Förderung des Werkes beiträgt.
Unsere Väter haben nun an die drei Schläge die Bedeutung der drei maurerischen Grundursachen geknüpft, welche
das maurerische Werk entstehen lassen, und mit vollem Recht; denn wenn wir diese Grundursachen näher betrachten,
so finden wir, daß aus ihnen die drei Pfeiler, auf welchen unsere Arbeit ruht, die Pfeiler der Weisheit, Stärke und
Schönheit (vgl. Fragebuch, III. Abt., 3 Art., Fr. 7 bis 9), gleichsam emporwachsen. Dies soll im folgenden zu zeigen
versucht werden.
Wenn der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst kommt, ein Vorgang, wie wir ihn bei jedem heranwachsenden Kinde
beobachten können, — so fängt er an, die Dinge um sich her zu betrachten und einer Prüfung zu unterwerfen. Aus
den Eindrücken, welche er durch seine Sinnesorgane empfängt, setzt sich ihm ein Weltbild zusammen, dem er nicht
gleichgültig gegenüber stehen bleibt, sondern das sein Interesse erregt, und dessen einzelne Erscheinungen er sich zu
erklären und zueinander in Beziehung zu setzen sucht. Von den ersten Erscheinungen um ihn her, die ihm entweder
Erstaunen und Wohlgefallen oder Schrecken und Furcht erregen, wird er durch seine erwachenden Verstandeskräfte
weitergeführt zu einer tieferen Erkenntnis. Er lernt die Erscheinungen der ihn umgebenden Welt — bis zu einer
gewissen Grenze — verstehen und in ihren Ursachen begreifen; er lernt die Wechselwirkungen der Dinge aufeinander
auffassen und vermag mit der zunehmenden Entwicklung seiner Geisteskräfte immer tiefer und tiefer in den Bau und
Zusammenhang des Ganzen einzudringen. Er lernt endlich, indem er sichtend von dem Einzelnen und Besonderen
zum Ganzen und Allgemeinen vordringt, in der Erscheinungen Flucht den ruhenden Pol finden und das Gesetzmäßige
aus der großen Mannigfaltigkeit herauslesen. So erscheint ihm die Welt als ein großes, wohlgeordnetes Ganzes, in
dem jedes einzelne Glied am rechten Orte ist, seinem Zweck entspricht und seine Stelle ziert. Wohl vermag sein Geist
nicht bis ans Ende aller Forschung zu dringen; nur zum kleinsten Teile vermag er wegen seiner eng begrenzten
Fähigkeiten sich das alles zu erklären, was ihn zur Ergründung >134< anreizt, ja, unendlich viel bleibt seiner
Wahrnehmung ganz verborgen, auf der Sternwarte wie am Mikroskopiertisch blickt er in Unendlichkeiten, die er mit
seinen Sinnen und ihren Hilfsmitteln nicht zu durchspähen vermag, und selbst bei den scheinbar offenbarsten Dingen
ergeben sich eine Menge von Fragen und Rätseln, deren Beantwortung und Lösung er vergebens sucht, und von
denen er sich zu einem großen Teil sagen muß, daß er sie nie wird finden können. Aber trotzdem, trotz der großen,
nie zu tilgenden Reste, die seiner Forschung bleiben, erscheint ihm dennoch das Weltganze als ein großer,
einheitlicher Bau, der, nach einem weisen Plane gefügt, in weisen Maßen aufgeführt und von einem weisen Willen
regiert und zusammengehalten wird. Von Licht ist das Ganze durchflutet, und auch dort vermag er das Licht ewiger
Gesetzmäßigkeit zu ahnen, wohin sein Blick nicht reicht. Natur war es, aus der ihm das erste Licht, das Licht der
Weisheit, aufgegangen ist, gleichsam als aus ihrer Grundursache.
Aber gerade das für den Menschen zum größten Teile Unergründliche der Natur, nicht minder als die zwingende
Gewalt ihrer Erscheinungen, die mit ihren mächtigen Eindrücken sein Wesen ergreifen, ist es, was seinen Geist auf
neue Bahnen führt. Nicht nur das Staunen und die Bewunderung des weisen Weltenplanes ist es, was ihn erfüllt, —
von Schauern der Unendlichkeit wird er ergriffen, und ein unnennbares Sehnen zieht in sein Herz. Unwillkürlich
beugt sich anbetend sein Knie vor einer höheren Macht, die er sich über dem Weltall schwebend denkt, und, von
deren Hauch umwittert, er voll Andacht den Blick nach oben richtet. Mag sein Auge sich zur Sternenpracht erheben,
mag sein Blick voll Trunkenheit in dem Goldpurpur des Sonnenaufgangs schwelgen, mag der Kelch einer Blume mit
seiner Farbenpracht ihn entzücken, den der Tautropfen wie mit einem schimmernden Demant geschmückt hat, —
oder mag das schäumende Meer seine Wogen gegen ihn heran wälzen und der Blitzstrahl aus schwarzer Wolke sein
Auge blenden, — alles dies ist für ihn eine Erweckung, um diejenige Macht zu ahnen und verstehen zu lernen, welche
die ganze ihn umgebende Natur und ihn selbst in ihrer starken Hand hält. Ewig, unerforschlich, heilig und allmächtig
nennt er sie, aber auch allgütig und alliebend erscheint ihm jenes unsichtbare und dennoch sich in so unendlich vielen
Offenbarungen zeigende Wesen, vor dem der Erdensohn in den Staub sinkt. „Unser Vater“, so ruft er es an, und er
bekennt sich damit als Kind des ewigen Geistes, der ihn und die ganze Natur erschaffen hat. Bei dem Menschen, der
nicht nur das Licht der Vernunft empfing, mittels dessen er die Natur erkennt und auffaßt, sondern der auch ein
fühlendes Herz, eine leise mahnende Stimme in der Brust trägt, folgt aus dem Anschauen, der Betrachtung der Natur
die Religion. Und damit ist das heilige Band geknüpft, das den Schöpfer mit dem Geschöpf verbindet. Der Einblick
in die Weisheit des wohlgeordneten Weltenplanes, den uns die Natur gewährt, war allein nicht hinreichend, um das
religiöse Empfinden im Menschenherzen zu erschließen, — die Schönheit, die da ist der Reflex des Göttlichen im
Irdischen, mußte erst an dieser Quelle des Menschenherzens rühren, um sie zum Fließen zu bringen. Nicht mit dem
Verstande allein, nicht mit Wissen und Wissenschaft ergreifen wir das Göttliche, sondern mit dem Herzen, mit der
Kraft des Gemüts, die uns das Unerforschliche im Glauben zum Ereignis werden läßt. Und so blüht aus der Religion,
aus dem Zuge zum Göttlichen und Ewigen, die zweite Säule unseres Werkes, die Säule der Schönheit, empor, die
sich zur Säule der Weisheit so ergänzend und vollendend verhält wie das Weibliche zum Männlichen. Ja, so
vollendet sich das wahrhaft Menschliche, wenn die aus der Natur geschöpfte Erkenntnis der Weisheit sich verklärt
durch die Schönheit, durch den Himmelsglanz, der sich offenbart als ein Strahl von jenem ewigen Licht, das kein
irdisches Auge schauen kann. Wo dieser Abglanz des Göttlichen im Irdischen in Menschenwerken sich findet, wo wir
sein Wehen fühlen und vor ihm erschauern, da allein ist wahre Kunst, Kunst, die im innigsten Bunde und in engster
Beziehung zur Religion steht, denn sie allein vermag das Göttliche zu ergreifen und uns vor die Seele zu führen, sei
es im Wort der Dichtung, in den Tönen der Musik, oder sei es in Formen, Farben und Verhältnissen der bildenden
Kunst.
Wenn wir nun so aus den Ursachen der Natur und Religion die Säulen der Weisheit und Schönheit emporwachsen
sehen, wenn es uns auch auf den ersten Blick so scheinen will, als ob mit diesen beiden das Menschliche vollendet
wäre, so steht doch das Höchste und Größte noch aus. Es fehlt noch die dritte Säule, auf der unser drittes Licht steht,
durch welches unser Werk erst zu einem rechten Bauwerk der k. Kunst wird; es fehlt uns noch die dritte
Grundursache, aus welcher jene Säule emporwächst, jenes Etwas, das wir eben darum, weil es vollendend wirkt, mit
dem dritten und stärksten Schlage bezeichnen. Es ist die Stärke, das eigentliche werkstellende, ausführende Element,
das die Idee erst zur Tat werden und ins Leben treten läßt. Wenn wir an der Säule der >136< Weisheit erkannt
haben, daß wir bis zu einem gewissen Grade mit einem Erkenntnisvermögen ausgerüstet sind, das uns fähig macht,
einen Einblick in den Weltenplan zu gewinnen, wenn wir an der Säule der Schönheit das Wesen der Gottheit ahnen
und ihren Abglanz in der Natur und im Menschen zu bewundern vermögen, so weisen uns diese beiden Säulen
zugleich darauf hin, daß in unser Inneres von jener höheren Hand des Schöpfers eine Kraft gelegt ist, welche
zuvörderst als Keim, das ist eben als Grundursache, vorhanden ist, dann aber entwickelt und zur Reife gebracht
werden kann. Jene, die Grundursache, ist die Stärke, welche latent, gebunden in den menschlichen Geist gelegt ist,
diese, die aus der Ursache herausgewachsene Säule, die das Ganze hält und vollendet, ist die freigewordene, zur
Wirksamkeit gebrachte Kraft, die wir mit demselben Namen bezeichnen müssen. In jener kleinen, in uns ruhenden,
noch nicht entwickelten Kraft haben wir aber gerade das göttliche Erbteil zu erkennen, das uns erst zu Menschen, d.h.
zu Erstgeborenen des göttlichen Lichtes, macht, weil es uns nicht nur befähigt, zu erkennen, was weise, und zu
empfinden, was schön und göttlich ist, sondern uns auch jene wunderbare Schwungkraft verleiht, durch die wir allein
vermögen, uns vom Erdenstaube zu erheben und durch Reinigung und Veredlung ein ewiges, unvergängliches Leben
in uns großzuziehen und uns so zu Bürgern einer über Zeit und Raum erhabenen Geisteswelt zu gestalten. Worin
diese Kraft besteht, wie sie wächst und sich entwickelt, wie sie unüberwindliche Macht erhält, um zu verteidigen, was
wir ergründet und ergriffen haben, wie sie uns zum schützenden Palladium wird in den härtesten Kämpfen, in denen
das Licht in uns mit der Finsternis ringt, wie sie endlich uns zum höchsten Siege, das ist zur ewigen Vereinigung mit
dem Vater, verhilft — das alles sind Geheimnisse, so tief und verborgen, daß sie nur von dem erfahren werden
können, der es sich eben zur Lebensaufgabe gestellt hat, diese Kraft in sich zu entwickeln und der Vollendung
entgegenzuführen. Und das ist eben das eigentliche Werk der k. Kunst, das und nur das allein! Alles andere sind
Nebensachen, die aus dieser einen großen Hauptsache sich ganz von selbst ergeben, die aber ohne diese eine
Hauptsache tot und wertlos bleiben. Ein Geheimnis ist diese Kraft, und doch offenbar dem, der sie empfindet. So wie
die Kräfte der Natur, Licht, Wärme, Elektrizität, Schwerkraft usw., zwar für uns vorhanden und in ihren Wirkungen
spürbar sind, jedoch in ihrem eigentlichen innersten Wesen sich unserer Erkenntnis entziehen und wohl stets
entziehen werden, so ist es auch mit jener Stärke, die uns empor zieht und vollendet. Wir fühlen den Strom, aber
seine Quelle und sein letztes Endziel bleiben im Dunkeln. Genug aber, daß wir von ihm vorwärts getragen werden,
und daß wir die Richtung wissen, die er uns führt: nicht abwärts, sondern aufwärts, nicht zur Finsternis, sondern zum
Licht. Denn wir sind nicht berufen, in Finsternis zu versinken und dem Tode anheimzufallen, sondern wir sind
bestimmt, zum Leben zu gelangen und zu einer Herrlichkeit, wo alle Geheimnisse offenbar und alle Rätsel gelöst
werden. Möge es uns allen gelingen, dieses Ziel zu erreichen! — (1899.) >138<
Vom Wandern und vom Wetter,
vom Alter und vom Lohne.
Der zweite Artikel der dritten Abteilung unseres Fragebuches spricht vom Wandern und vom Wetter. Dazwischen
wird gefragt nach dem Alter des Lehrlings und nach seiner Bezahlung. Es ist schwer zu verstehen, welchen
Zusammenhang die Fragen nach dem Alter und dem Lohne mit den Fragen nach dem Wandern und dem Wetter
haben. Wandern und Wetter aber sind eng miteinander verbunden.
Unsere Akten sprechen hier vom Wandern und an anderen Orten von Reisen. Bei den verschiedenen Aufnahmen in
die Arbeitsgrade muß der Suchende Reisen machen, ehe er an das Ziel gelangt, und diese Reisen nehmen einen
breiten Raum in unseren Gebräuchen ein; sie erscheinen als ihr Mittelpunkt und als die eigentlichen Träger der
Mysterienfeiern der verschiedenen Grade. Ist nun zwischen Wandern und Reisen ein Unterschied? Das scheint kaum
der Fall zu sein, und das um so weniger, als unsere Akten, wenn sie von den Reisen in den verschiedenen Graden
reden, sich oft des Ausdrucks „Wanderung“ bedienen. Und dennoch ist beides nicht dasselbe. Reisen ist der engere
Begriff, Wandern der weitere. Im freimaurerischen Sinne ist Wandern ein Vorwärtsschreiten nach dem einen großen
Ziel, das uns bei jedem Schritt, den wir auf unserer Bahn machen, deutlicher und klarer entgegentreten soll. Unser
ganzes Leben ist ein Wandern, eine Bewegung vorwärts; jede Minute, die unserm Erdendasein zugelegt wird, ist ein
Schritt, dem Endziel entgegen. Keiner dieser Schritte darf die entgegengesetzte Richtung nehmen, keiner darf
ungenützt vorübergehen. Und wie wir wandern sollen, das sagt uns unser Fragebuch:
„Wie wandern die Johannis-Lehrlinge?“
„Von Westen nach Osten, um das Licht aufzusuchen.“
Es ist nur eine Richtung, die wir einhalten, ein Ziel, das wir fest im Auge behalten müssen: nach Osten geht unser
Weg, und unser Ziel ist das Licht. Dies bleibt unveränderlich, so wahr wir allezeit Lehrlinge bleiben. Wenn auch dem
Johannis-Meister gesagt wird, daß er in umgekehrter Richtung zu wandern hat, nämlich von Osten nach Westen, so
hat diese Umkehr einen bestimmten Zweck. Indem er aber diesen Zweck erfüllt, tut er dennoch seine
Lehrlingsschritte vorwärts dem Lichte entgegen, das ihm gerade dadurch, daß er nach Westen gehend ihm dient, um
so heller aufgehen soll. Anders dagegen ist das Reisen. Unsere Reisen in den verschiedenen Graden bewegen sich
nach verschiedenen Richtungen hin, sie führen uns durch alle vier Weltgegenden, deren Einflüsse wir gleichsam in
uns aufnehmen und auf uns wirken lassen. Wir gehen vorwärts und auch wohl zurück, wir müssen umkehren, weil wir
auf unrechte Wege geraten sind, auf denen wir das Ziel verfehlen müßten, und die nur dann zu rechten Wegen für uns
werden können, wenn wir sie als unrechte erkennen. Nur so werden uns auch die irrenden Schritte zu Förderungen
auf der Bahn, die uns dem Lichte entgegenführt. Darum ist jedes Reisen auch ein Wandern im maurerischen Sinne;
denn jeder Schritt der Reisen, ob diese nun durch Norden oder Süden oder zurück nach Westen führen, soll uns in
seiner letzten Folge nach Osten, dem Lichte entgegenbringen. Auf den Reisen schweifen unsere Blicke nach allen
Richtungen, nach links und rechts, nach vorwärts und rückwärts, nach oben und nach unten; beim Wandern ist es
allein der Osten, der uns mit seinem erstrebten Lichte vorschwebt; auf den Reisen werden wir leicht zerstreut durch
die Mannigfaltigkeit der Eindrücke, welche auf uns einstürmen; beim Wandern sammeln wir uns und suchen alles
das, was wir reisend erlebt und erfahren haben, unter einen Gesichtspunkt zu bringen, den uns das Licht im Osten
allein geben soll, auf dieses haben wir alles zu beziehen und an ihm seinen Wert abzumessen.
Dein Leben, o Lehrling, sei ein stetes Wandern nach Osten, dem Lichte entgegen! Der ganze große Weg durch den
Orden ist ein großes Lehrlingstum, denn wir haben „noch immer zu lernen übrig", und wenn wir auch die höchsten
Stufen des Ordens erstiegen hätten. Mensch sein, heißt nicht bloß, wie der Dichter sagt, ein Kämpfer sein, sondern es
heißt vor allem ein Lehrling sein. Im Lehrlingstum liegt das edelste Menschentum. Nur derjenige, der sein
Erdendasein als Lehrlingstum für ein höheres Leben auffaßt, hat die wahre Menschenwürde. >140< Darum, o
Lehrling, laß dir das „Carpe diem“ des Horaz gesagt sein! Nütze den Tag, kaufe deine Zeit aus! Du sollst reisen, du
sollst alles sehen, alles hören und erfahren, was das Leben dir bietet; nichts Menschliches sei dir fremd; aber du sollst
alles, was dir begegnet, so wenden, daß es dich fördert; denn du sollst nicht bloß reisen, sondern du sollst vor allem
wandern, und zwar keinen Sehritt zurück, sondern vorwärts, dem Lichte im Osten entgegen. In der Geometrie gibt es
Linien, welche Asymptoten genannt werden. Eine solche Asymptote ist eine Kurve, welche sich nach einem
bestimmten, durch eine Formel ausdrückbaren Gesetz auf eine gerade Linie zu bewegt, sich derselben immer mehr
und mehr nähert, aber ohne sie jemals zu erreichen. Die Kurve, welche anfangs eine bedeutende Krümmung zeigt,
streckt sich immer mehr und mehr, sie scheint die Richtung der geraden Linie anzunehmen, und die Entfernung
beider ist sinnlich nicht mehr wahrnehmbar; dennoch aber ist sie mathematisch vorhanden und schwindet nie ganz.
Wir mögen beide Linien fortsetzen, so weit wir wollen, niemals fallen sie zusammen und berühren sich nicht.
Einer solchen Linie gleicht die Wanderbahn und das Schicksal des Lehrlings. Sein Weg nähert sich dem Lichte mehr
und mehr, aber er erreicht es nicht. Er kann ihm so nahe kommen, daß er vollkommen von ihm erleuchtet, ganz mit
ihm vereint zu sein scheint; aber es bleibt immer noch ein Rest übrig, der von den Augen der Welt vielleicht nicht
wahrgenommen wird, vor dem richtenden Auge des höchsten Meisters aber bestehen bleibt. Darum fragt das
Fragebuch weiter:
„Wie alt sind Sie als Freimaurerlehrling?“
„Allezeit minderjährig.“
„Warum ?“
„Weil wir noch immer etwas zu lernen übrig haben.“
Unter dem maurerischen Alter haben wir die größere oder geringere Annäherung an das zu erstrebende Licht zu
verstehen. Vollbürtig ist derjenige, der das Ziel erreicht hat. Wenn wir nun den Lehrlingsstandpunkt durch alle Grade
festhalten, so bleiben wir zwar „allezeit minderjährig, weil wir noch immer etwas zu lernen übrig haben“; wir werden
aber trotzdem von einem bestimmten Grade ab „vollbürtig“ genannt, nämlich vom Standpunkte dieses Grades, den
wir zwar ganz nie einnehmen können, der uns aber dem wahren Lichte so nahe bringt, daß der Lehrlingsrest darüber
vergessen werden kann, weil er durch die Gnade dessen, der uns leitet, getilgt wird.
Wir sehen hier, wie die Fragen nach der Wanderung und nach dem Alter sehr wohl zueinander passen; denn die
Abschnitte unseres Lebensalters sind Wanderschritte, die wir vorwärts tun, und Wanderstrecken, die wir
zurückzulegen haben. Und auch die Frage nach dem Lohne gehört dahin, die sich an die Frage nach dem Alter
anschließt. Es heißt an unserer Stelle des Fragebuches:
„Wo sind Sie bezahlt worden?“
„Beim linken Pfeiler vor Salomos Tempel.“
Noch deutlicher wird dies durch die Parallelfragen der vierten Abteilung, welche, während die drei ersten
Abteilungen allgemeine maurerische Kenntnisse behandeln, die erste von denjenigen Abteilungen ist, welche sich mit
den speziellen Kenntnissen des Lehrlings beschäftigen. Es heißt daselbst Frage 24 bis 28:
„Wie wandern die Ritter-Lehrlinge?“
„Von Westen nach Osten.“
„Warum ?“
„Das Licht aufzusuchen.“
„Wie alt sind die Ritter - Lehrlinge ?“
„Drei Jahre und darüber, jedoch noch immer minderjährig.“
„Warum antworten Sie also?“
„Weil ich in des Tempels Vorhöfen und in dessen Vorhalle gearbeitet, aber noch immer zu lernen übrig
habe.“
„Haben Sie auch Ihren Lohn empfangen?“
„Ich bin zufrieden.“
Es wird hier weiter ausführend zunächst zu der Minderjährigkeit des Lehrlings hinzugefügt, daß er „drei Jahre und
darüber“ alt sei. Was die Dreizahl in unserer Symbolik bedeutet, darüber ist schon oft gesprochen worden, so daß ich
das hier nur kurz berühren darf. Sie weist uns auf die schaffende Kraft der Gottheit hin, auf das ewige Wort, in
welchem Denken, Wollen und Handeln eins ist. Der Lehrling soll dieser Kraft innewerden und soll sie finden und
verstehen lernen als die Grundlage für seine Arbeit. Darum heißt es, er sei „drei Jahre und darüber“ alt, wenn auch
noch minderjährig. Drei Jahre ist er, weil er in der Erkenntnis >142< des dreifach großen Meisters, des Schöpfers
und Vaters, seines Schöpfers und Vaters, den Kernpunkt seines Lehrlingstums findet, und darüber hinaus ist er, weil
diese Erkenntnis in ihm das Verlangen entzündet, vollkommen zu werden, gleichwie sein Vater im Himmel. Er steht
in den Vorhöfen des Tempels, aber er dringt weiter in die Vorhalle des Tempels hinein, wo jene Säule aufgerichtet
steht, an welche er gewiesen ist, um dort seinen Lohn zu empfangen. Dieser Lohn aber ist eben jene Erkenntnis,
welche ihm aufgeht als eine Frucht seiner Arbeit und Wanderung. Welchen höheren Lohn kann es für ihn geben als
das selige Bewußtsein, daß ein ewiger Vater über ihm waltet, und daß er eingeschlossen ist in seine Liebe. Und damit
ist er zufrieden; er weiß, daß der ewige Vater, der ihn erschaffen hat, ihn nicht verloren lassen sein wird; er vertraut,
er glaubt, und Himmelsfriede zieht ein in seine Brust, und in diesem Frieden wandert er vorwärts. Da ist nichts
titanenhaft Himmelstürmendes, nichts Faustisches, keine Unseligkeit über nicht gestillten Wissensdurst und
Forschungsdrang, sondern nur ein ruhiges, stetiges Fortschreiten. Zufrieden ist der Lehrling nie mit sich selbst; denn
dann würde er aufhören zu wandern, und in träger Ruhe stille stehen, aber er ist zufrieden mit dem Lohne, den er in
seiner Minderjährigkeit erreichen kann. Die Unzufriedenheit mit sich selbst treibt ihn vorwärts, die Zufriedenheit mit
seinem Lohne gibt ihm Kraft, sichere Schritte dem Ziel entgegen zu tun. — Wir sehen also, daß auch die Frage nach
dem Lohne sich ebenso wie die nach dem Alter sinngemäß an die Frage nach dem Wandern anschließt.
Nun aber haben wir noch die bedeutsamen Fragen vom Wetter zu betrachten.
Sie lauten folgendermaßen:
„Was für Wetter ist es?“
„Es ist schön Wetter.“
„Die Loge ist also wohlbedeckt?“
„Ich habe keinen Unkundigen gesehen.“
„Wenn Sie aber einen solchen sehen, wie sagen Sie dann ?“
„Ich sage: es regnet.“
„Was soll ein Freimaurer tun, wenn außer seiner Loge irgend ein Fremder sich ihm nahet?“
„Ihm mit gutem Beispiele vorangehen und auch den Geringsten nicht verachten.“
Mit dem Wetter ist es ein eigenes Ding. Wenn zwei Bekannte einander begegnen, so geschieht es vielfach, daß sie
zuerst vom Wetter zu reden anfangen. Das wird vielfach für trivial und langweilig gehalten und ist doch so
selbstverständlich und natürlich, denn das ganze Menschendasein ist in allen seinen Bedingungen so vielfach vom
Wetter abhängig. Durch Gunst und Ungunst der Witterung werden unsere Lebenstätigkeiten mehr, als wir glauben,
gefördert oder gehemmt. Wenn der Landmami frühmorgens aufsteht, ist sein erster Blick nach dem Himmel. Vom
Wetter hängt es ab, was für Verrichtungen er in seiner Wirtschaft vornehmen kann; und alle diejenigen, deren Beruf
es mit sich bringt, daß sie sich viel unter freiem Himmel bewegen, können nicht gleichgültig dagegen sein, ob ihr
Kleid vom strömenden Regen durchnäßt wird, oder ob heller Sonnenschein ihnen entgegen lacht. Aber auch die
anderen, welche wenig oder gar nicht sich der Witterung aussetzen dürfen, werden vom Wetter beeinflußt. Ein
nebliger, trüber Tag lastet auf uns wie ein Gewicht; er drückt auf unsere Stimmung und läßt oft keine rechte Lust zur
Arbeit aufkommen; wenn dagegen die helle Sonne vom blauen Himmel lacht und milde Lüfte wehen, dann sind wir
ganz andere Menschen, und auch die Arbeit am Schreibtisch geht besser vonstatten, wenn das helle Licht durch die
klaren Fensterscheiben zu uns herein flutet. Sind wir nun gar körperlich leidend, oder haben wir ein von Natur
reizbares Nervensystem, so empfinden wir jede Ungunst der Witterung und namentlich jeden jähen Wechsel
derselben doppelt schwer. Und vollends, wenn wir uns auf Reisen begeben, um die Schönheit der Natur zu genießen,
dann läßt die Frage nach dem Wetter alles andere in den Hintergrund treten.
Förderungen und Hemmungen sind es also, welche das Wetter unserem Leben bereitet; und wenn wir in maurerischer
Beziehung vom Wetter reden, so kann das für unser inneres Leben, für unser Wandern und Streben ebenfalls nichts
anderes bedeuten als Förderungen und Hemmungen. Am Schluß jeder Tafelloge gedenken wir der Reisenden und
wünschen ihnen gutes Wetter. Die Reisenden sind aber nicht bloß jene Brüder, welche gerade zu der Stunde von uns
in die Ferne gegangen sind: Reisende sind wir alle. Wir sind alle als Wanderer unterwegs und suchen die ewige
Heimat, und wir alle werden auf unserer Wanderung aufgehalten durch die Ungunst der Witterung; denn auch der
ideale Himmel, den die k. Kunst über uns wölbt, kann nicht immer heiter sein und wird oft genug durch Wolken
getrübt. >144<
„Was für Wetter ist es ?“ „Es ist schön Wetter.“ — „Die Loge ist also wohlbedeckt?“ „Ich habe keinen Unkundigen
gesehen.“ So heißt es in unserem Fragebuch. — Jawohl, wenn die Loge wohlbedeckt ist, wenn der Wachthabende
seinen Posten mit bloßem Schwerte an der Tür eingenommen hat, „um die fremden Unkundigen abzuhalten,“ wenn
die Brüder an ihren Stellen sind und sich auf des Hammers Ruf in das Zeichen gestellt haben, wenn alle Geisteskräfte
auf das Licht der Wahrheit gerichtet sind, dann kann die Arbeit beginnen, dann dürfen wir nicht fürchten, gestört zu
werden, dann liegt der Weg für unsere Wanderung nach Osten frei, eben und sonnenbeglänzt da, und es ist eine Lust
vorwärts zu schreiten im Verein mit Gleichgesinnten, dem erhabenen Ziele entgegen. Die Loge ist aber nicht immer
wohlbedeckt, wenn sie es auch äußerlich, der Form nach, zu sein scheint. Daß keiner, der nicht die Maurerweihe
erhalten hat, unsere Schwelle überschreite, dafür läßt sich leicht sorgen, aber schwer ist es, die Wolken zu
verscheuchen, welche oft genug uns das Licht trüben und verdunkeln. Wenn wir aufrichtig sind, dann müssen wir uns
sagen, daß selbst in der der Arbeit geweihten Stunde unser Geist nicht immer auf das Höchste gerichtet ist, sondern,
menschlicher Schwäche unterliegend, abweicht; wir müssen uns gestehen, daß unser Herz nicht immer so rein ist, wie
es sein soll, daß oft genug die bösen Nebel der Selbstsucht und des Hochmutes daraus emporsteigen, um zwischen
den Brüdern Scheidewände aufzurichten, wie sie zwischen Genossen der k. Kunst, zwischen den zum Lichte
Strebenden, nimmermehr sich erheben dürften. Bilden wir uns doch nicht ein, daß es schönes Wetter, und die Loge
wohlbedeckt sei, wenn die Pforte bewacht und kein Nichtmaurer in unseren Reihen sich befindet. Nein, wir sind nie
sicher vor den finsteren Dämonen des Argwohns, der Eitelkeit, der Überhebung, der Zwietracht, welche den Furien
des Hasses und der Verachtung Einlaß verschaffen. Alle solche bösen Geister personifizieren sich als die „fremden
Unkundigen“, die in die Loge eindringen, und wenn das geschehen ist, dann hängt unser maurerischer Himmel voll
schwarzer Wolken, die da bersten und, ihre Güsse über uns ausschüttend, keine Maurerarbeit unter uns aufkommen
lassen; dann ist die Loge nicht mehr wohlbedeckt; ihr Dach ist schadhaft geworden, und wir dürfen sagen: „es
regnet“; ja noch mehr: „es stürmt und hagelt“, wie es wohl in den Katechismen anderer Lehrarten in der Tat gesagt
wird. Der Ausdruck „es regnet“ soll von den Werkmaurern herstammen, bei denen es Vorschrift war, einen
Eindringling unter die Dachtraufe zu stellen, bis das Wasser ihm aus den Schuhen herauslief. Solche Bestimmungen
brauchen wir nicht mehr, denn bei uns handelt es sich nicht um äußere, sondern um innere Feinde. „Fremd und unkundig“ ist alles, was dem rechten Maurergeiste widerspricht; damit muß aufgeräumt werden, und zunächst muß jeder
einzelne bei sich selbst nachsehen, wie es bei ihm mit dem Wetter steht, und ob seine innere Loge wohlbedeckt sei.
Über die Wolken des Himmels sind wir nicht Herren, aber in unserem Innern können wir uns das Wetter selbst
machen. Leidenschaften und Begierden können wir niederkämpfen, und was sonst von außen störend und hemmend
an uns herantritt, können wir mit dem Wächterschwerte von dem Heiligtum unseres Innern fernhalten. Wohl gehört
dazu eine sehr bedeutende geistige Kraft, aber die Aufgabe ist nicht unlösbar, und es ist des Maurers würdig, daran
seine Kraft zu üben und zu erproben. Welch ein Erfolg, wenn trotz aller Durchkreuzungen, die uns treffen, trotz
Krankheit, Kummer, Schicksalsschlägen, trotz Anfeindungen, Beleidigungen und Verfolgungen unser Himmel hell
bleibt und das Licht, das unserer inneren Arbeit leuchtet, durch nichts verdunkelt wird!
Dann erst, wenn Frieden und Gleichgewicht in uns herrscht, und wenn mit dem Frieden die Liebe, von der uns nichts
mehr scheiden kann, in unsere Herzen eingezogen, dann können wir uns hinaus wagen, um Regen, Sturm und
Schloßen zu ertragen. Nicht bloß innerhalb der Loge ist unser Arbeitsfeld, sondern auch außerhalb, wo wir das
anwenden sollen, was wir in unserer Werkstätte gelernt haben; wir dürfen uns nicht in einsiedlerischer
Abgeschlossenheit auf unser Innenleben beschränken, sondern wir müssen in die Welt hinaus, um an den
Widerständen, die sie uns entgegenstellt, unsere Kräfte zu bewähren. Und dazu gibt der Orden uns eine weise, nicht
genug zu beherzigende Vorschrift in der letzten Frage:
„Was soll ein Freimaurer tun, wenn außer seiner Loge irgend ein Fremder sich ihm nahet?“
„Ihm mit gutem Beispiele vorangehen und auch den Geringsten nicht verachten.“
Hier handelt es sich um unsere eigene Bewährung in der Welt und unser Verhältnis zu den Menschen. Wenn wir mit
gutem Beispiele vorangehen sollen, dann müssen wir imstande sein, ein solches zu geben, und dazu müssen wir erst
selbst besser geworden sein. In die maurerischen Mysterien können wir die Profanen nicht einweihen, und unsere
>146< Weisheit dürfen wir nicht von den Dächern predigen. Aber durch unsere Persönlichkeit sollen wir in der Welt
zu wirken suchen. Dies ist der einzige Weg, auf welchem wir Maurer Zeugnis ablegen sollen von dem Segen der k.
Kunst. Wenn das fremde Unkundige, d. i. das Niedrige und Gemeine, an uns draußen herantritt, dann dürfen wir wohl
sagen: „es regnet“. Aber: „Regen bringt Segen“, sagt das Sprichwort, und Sturm und Unwetter haben ihr Gutes. Nicht
jeder Baum, den der Sturm bis ins innerste Mark erschüttert, wird entwurzelt, vielmehr schlägt er seine Wurzeln um
so fester in das Erdreich. Auch uns soll und muß das, was uns Übles draußen begegnet, zum Segen gereichen und uns
stärken zum Festhalten an dem Heiligtum in unserem. Innern und zur Überwindung dessen, was uns hemmen will.
Der Maurer, der die Liebe, die alles überwindet, in sich trägt, wird auch „den Geringsten nicht verachten“. Unter den
Geringen sind aber hier nicht bloß verstanden die Niedrigstehenden, denen wir an Rang, bürgerlicher Stellung,
Glücksgütern und Geistesgaben voran stehen, sondern auch die geistig Minderwertigen, die Schlechten und
Verworfenen. In allen, selbst in dem tiefgesunkensten Verbrecher, ist der göttliche Funke vorhanden, den der
Schöpfer in sein Inneres gelegt hat, und wenn dieses Licht auch bei vielen ganz erloschen zu sein scheint, wir können
nicht wissen, ob es nicht doch durch die göttliche Gnade erwachen kann, und ob wir nicht vielleicht selbst zu
Werkzeugen ausersehen sind, um es zu wecken.
Höchste Menschenliebe, die entsprungen ist der Gottesliebe, soll uns darum auf unserer Wanderung begleiten. Und
ob unser Alter gleich minderjährig bleibt und unser Lehrlingstum nie aufhört, wir wissen, wo unser Lohn zu finden
ist; und das Licht aus fernem Osten erhellt unsere Bahn. Wir wandern ihm zu. — (1904.)
Die Moral des Ordens.
Zum Gedächtnis des hundertjährigen Todestages Immanuel Kants.
Noch ehe die Binde von den Augen des Suchenden genommen wird, macht der Meister ihn aufmerksam auf die
Pflichten und Eigenschaften eines Freimaurers und fordert ihn auf, sich zu prüfen, ob er hinlängliche Stärke des
Körpers und der Seele besitze, um die maurerischen Pflichten zu erfüllen und die Eigenschaften eines Jüngers der k.
Kunst sich zu erwerben. Es werden ihm eine ganze Reihe von Tugenden genannt, welche von einem Freimaurer
unzertrennlich sein müssen: reine Ehrfurcht gegen das höchste Wesen, Gehorsam gegen Obrigkeit und Gesetze, Liebe
gegen unsere Nebenmenschen, Treue und Fleiß in unserem Beruf, Mäßigkeit und Wohltätigkeit, Geduld und
Standhaftigkeit im Leiden, Demut im Glück. Alle diese schönen und tüchtigen Eigenschaften sind aber durchaus
nichts einem Freimaurer Eigentümliches; wir finden sie bei einem jeden rechtschaffenen Menschen und guten
Staatsbürger, und wir sind selbst schon vor der Aufnahme in den Orden verpflichtet, ihnen gemäß zu leben, ja, wir
hätten sicherlich die Aufnahme in die Loge nicht erreicht, wenn man Grund gehabt hätte, anzunehmen, daß wir eine
von jenen guten Eigenschaften an uns vermissen lassen, denn nur Männer von sittlichem Ernst und moralischem
Wandel dürfen bei uns den Eintritt erlangen.
Damit aber ist die Sache noch lange nicht abgeschlossen. Schon dadurch, daß der Suchende darauf hingewiesen wird,
daß er sich jene Eigenschaften, die er doch eigentlich schon mitbringen muß, erst erwerben soll, muß er erkennen,
daß der Orden ihm Anregungen für ein höheres sittliches Streben geben will, welches sich über das Durchschnittsmaß
der Alltäglichkeit erhebt. Freimaurer zu sein, will „ein Mehreres sagen und in sich fassen“, als nur ein guter Mensch
zu sein. Freimaurer sind Kunstjünger; sie bauen und schaffen. Nicht bloß >148< äußerliche Moral und hergebrachte
Sitte ist es, die ihnen maßgebend sein soll; ihre Arbeit geht auf den inneren Menschen; das innere Leben ist es, das sie
fördern wollen, und ein geistiger Tempelbau ist es, den sie zu errichten haben.
Gleichwohl hat es den Anschein, als wenn die Moralvorschriften, welche der Lehrling nach seiner Aufnahme durch
unsere Akten erhält, sich mehr auf das Äußerliche, Hergebrachte richten. Es wird ihm gesagt : „Der Lehrling soll sich
die Tugenden aneignen, welche der Bund von uns fordert: er soll lernen.“ Und fernerhin wird ihm gesagt, welchen
Tugenden er besonders nachzustreben habe. In unserem Lehrlings-Fragebuche heißt es (Abt. III, Art. 3, Fr. l bis 3) :
„Was ist die Pflicht eines Freimaurers?“
„Die Laster zu fliehen und der Tugend nachzustreben.“
„Welche Laster muß er vornehmlich fliehen?“
„Hochmut, Geiz, Unmäßigkeit, Verleumdung und Haß.“
„Welcher Tugenden muß er sich befleißigen?“
„Der Verschwiegenheit, Mäßigkeit, Vorsichtigkeit und Barmherzigkeit.“
Wiederum tritt uns hier etwas entgegen, was selbstverständlich zu sein scheint und außerhalb der Loge ebensogut
gefunden und geübt werden kann. Aber es ist doch noch etwas anderes. Wenn der Suchende jene guten
Eigenschaften, auf welche ihn die Ansprache des Meisters schon vor der Lichterteilung hinwies, in die Loge als
Anlage mitbringen soll, so wird er hier auf ganz besondere Wege hingewiesen, auf welchen sich seine sittliche
Anlage zu einem höheren Können entfalten soll. Ganz bestimmte Tugenden sind es, denen er nachzustreben, und
ganz bestimmte Laster, die er zu fliehen hat. Schon der Umstand, daß die Tugenden in der Vierzahl, die Laster in der
Fünfzahl uns entgegentreten, ist beachtenswert. Die Vierzahl ist das Sinnbild der Vollkommenheit, oder vielmehr des
zur Vollkommenheit aus einem unvollkommenen Zustande heraus Entwickelten. Das Quadrat, in dem die Vierzahl
sich uns geometrisch darstellt, ist die Grundfläche des kubischen Steines, der aus dem rauhen Steine durch
kunstgerechte Bearbeitung hervorgegangen ist. Die Fünfzahl dagegen weist uns auf das Unvollkommene, der Entwicklung und Vervollkommnung Bedürftige, hin. Das Quadrat macht, vom ästhetischen Standpunkt betrachtet, einen
vollkommenen harmonischen Eindruck, das Fünfeck dagegen wirkt unruhig, wie man zu sagen pflegt, es erinnert uns
an den Querschnitt eines Sarges; es ist nicht in allen Richtungen symmetrisch und läßt den betrachtenden Sinn unbefriedigt. Daher wird uns die Fünfzahl zum Symbol des Menschen in seinem Urzustande, wie er aus der Hand des
Schöpfers hervorging, unvollkommen und fehlerhaft, wohl aber fähig einer Entwicklung zur Vollkommenheit, deren
Keim ihm von seinem Schöpfer in das Innere gelegt ist.
Die Entwicklung dieses Keimes, das ist es, worauf es bei dem freimaurerischen Werke ankommt; darum hat der
Orden hier vier Tugenden ausgewählt, deren Pflege und Übung dem inneren Wachstum ganz besonders förderlich
sind: Verschwiegenheit, Mäßigkeit, Vorsichtigkeit und Barmherzigkeit. Nur nebenbei will ich erwähnen, daß unser
Br. Widmann (Zirk. Korr. 18T3, S. 70 ff.) darauf hingewiesen hat, daß die Aufstellung gerade dieser vier Tugenden
möglicherweise mit den Gelübden der mönchischen und ritterlichen Orden zusammenhängen könnte, welche unserer
modernen Freimaurerei, wenn sie auch vielleicht nicht mit ihr im direkten Zusammenhange stehen, so doch eine
gewisse Färbung gegeben haben mögen. Jene mittelalterlichen Orden verlangten die Gelübde der Armut, der
Keuschheit und des Gehorsams, und manche stellten noch das Gelübde des Stillschweigens auf, das bei dem Orden
von La Trappe bis zu vollständiger Stummheit ging. In diesen Gelübden will Widmann unsere vier sog.
Meistertugenden wiedererkennen, gemildert und angepaßt den weltlichen Kreisen, in denen die Brüder unseres
Bundes sich bewegen. So wurde aus der Armut die Barmherzigkeit, d.h. die sich des Besitzes entäußernde
Menschenliebe; aus der Keuschheit die Mäßigkeit, aus dem absoluten Gehorsam die Vorsicht, die sich hütet, die
Grenzen des Erlaubten zu überschreiten, und endlich aus dem Schweigen die Verschwiegenheit. In den fünf Lastern
finden dann die vier Tugenden ihre natürlichen Gegensätze: Der Verschwiegenheit steht die Verleumdung mit ihrer
bösen, geschwätzigen Zunge gegenüber, der Mäßigkeit die Unmäßigkeit, der Vorsichtigkeit der Hochmut, der in
Vermessenheit sich selbst überschätzt, und der Barmherzigkeit der sich den Regungen der Menschenliebe
verschließende Geiz und Haß.
Daß nun der Orden die Übung gerade dieser vier Tugenden uns zur Pflicht macht, hängt eben, wie ich schon sagte,
mit der Entwicklung >150< unseres göttlichen Keimes zusammen. Wenn wir uns ihrer befleißigen, dann wird unsere
Seele in einen Zustand versetzt, in welchem sie die günstigsten Bedingungen für die Entfaltung ihres inneren Lebens
findet. Die Verschwiegenheit oder das innere Schweigen, wovon ich in einem früheren Vortrage besonders gehandelt
habe, schafft die Ruhe für die innere Arbeit, die Mäßigkeit hält Störungen und Ausschreitungen fern, die Vorsicht
lehrt uns, Hindernisse voraussehen und vermeiden, die Barmherzigkeit endlich führt dem Lebenskeim in uns das
unentbehrliche Licht und die belebende Wärme zu, ohne welche ein Gedeihen nicht denkbar ist. Nicht sog.
Lebensklugheit ist es, welche den Freimaurer zur Tugend antreiben soll. Wohl ist es unzweifelhaft, daß wir unserm
Erdenleben durch Tugendübung nützen; wenn wir verschwiegen sind, werden uns manche Verlegenheiten erspart
bleiben; Mäßigkeit erhält unsere Gesundheit und erhöht uns in der Achtung unserer Mitmenschen; Vorsichtigkeit hilft
uns über manches Hindernis auf unserer Bahn hinweg, und wenn wir Barmherzigkeit und Liebe üben, so erwecken
wir Dankbarkeit bei denen, welchen wir wohlgetan haben. Solche Tugendübung aber, die nur auf äußere Vorteile
bedacht ist, will der Orden nicht; denn nur auf das innere Leben kommt es ihm an. Es ist wie bei einem jungen Baum.
Solange er klein und schmächtig ist, muß der Gärtner die schlanke Gerte hegen und pflegen; er muß die üppig
wuchernden Triebe beschneiden, er muß den schwachen Stamm mit weichem Bast an einen kräftigen Stab befestigen,
um ihm die rechte Richtung nach oben zu geben, er muß sein Erdreich wässern und düngen und ihn von Raupenfraß
und Mehltau freihalten. Wenn aber der Stamm erstarkt ist, dann braucht er die pflegende Hand nicht mehr; in sich
gefestigt, bedarf er keines Stabes, denn er kennt seine Richtung und wird sie nicht mehr verfehlen, die abgestorbenen
Äste stößt er durch die eigene Lebenskraft ab, und der Himmel mit seinem Sonnenschein und seinem Tau und Regen
gibt ihm Gedeihen. Das macht: die geheimnisvolle Kraft seines Innern ist so mächtig geworden, daß nichts von außen
mehr an ihn heranzutreten braucht, um ihn seiner Bestimmung, zu blühen und Früchte zu tragen, entgegenzuführen.
So ist es auch mit der durch die k. Kunst zu formenden Menschenseele. Sie bedarf der Tugendübung durch äußerlich
an sie herantretende Pflichtgebote, der Tugendbegriff zerfällt ihr in einzelne Gesetzesparagraphen, bis sie endlich
diesen Begriff als etwas Einheitliches aufzufassen und seinem nach oben weisenden Triebe zu folgen gelernt hat. Der
Orden nennt das: die Erhebung durch Tugend zum Licht und erblickt hierin sein tiefstes und herrlichstes Geheimnis.
Hier ist nicht mehr von verschiedenen Tugenden die Rede, sondern nur von einer Tugend; und so handelt auch die
erste Frage, die uns heute beschäftigt, von der Pflicht, die Laster zu fliehen und der Tugend nachzustreben. Die
Laster sind in die Mehrheit zersplittert und können der Tugend, wenn sie ihnen zu einer Einheit gefestigt
gegenübertritt, nicht mehr gefährlich werden. Die Tugendübung hört auf, wenn das Gesetz des inneren Lebens in uns
lebendig geworden und zur Geltung gekommen ist, jenes Gesetz, das uns so durchdringt und uns so ganz beherrscht,
daß wir notwendigerweise tugendhaft empfinden, tugendhaft denken und tugendhaft handeln müssen und darum
einzelne Tugenden nicht mehr zu üben brauchen, weil sie sich von selbst verstehen.
Hier ist nun der Punkt gefunden, in welchem sich der Geist unserer k. Kunst mit dem Genius eines der größten
Denker aller Zeiten auf das innigste berührt. Es hat zu allen Zeiten Weise gegeben, die auch ohne Maurerweihe den
innersten Kern unserer Sache durch ihre geniale Intuition erfaßt haben; zu ihnen gehörten Pythagoras, Sokrates,
Plato, Amos Comenius, Lessing und endlich der große Philosoph, der heute gleichsam im Bewußtsein nicht nur
seines Volkes, sondern der ganzen Welt eine Auferstehung feiert, dessen Name in diesen Tagen, da hundert Jahre
verflossen sind, seit er von der Erde schied, in aller Munde lebt, der größte Mann, den unsere Stadt jemals
hervorgebracht hat, — Im-manuel Kant.
An einem der belebtesten Punkte unserer Stadt, wo der Verkehr des täglichen Lebens auf und ab flutet, wurde vor
wenigen Tagen eine eherne Tafel enthüllt, welche allem Volke jene monumentalen Worte in das Bewußtsein
zurückrufen soll, die sich am Schlusse seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ aufgezeichnet finden:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und
anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz
in mir.“
Es kann unmöglich die Aufgabe der Loge sein, sich näher mit der Philosophie Kants zu beschäftigen, nur das Eine
soll hier hervorgehoben werden, das sie mit unserer Freimaurerei gemeinsam hat. >152<
Während die Philosophen des Altertums und der Neuzeit vor ihm unmittelbar an ihre Aufgabe, die Natur der Dinge
zu ergründen, herantraten und sich in Spekulationen darüber ergingen, untersuchte Kant zunächst das menschliche
Erkenntnisvermögen und suchte seine Grenzen zu bestimmen. Dies geschah in seiner „Kritik der reinen Vernunft“. Er
kam dabei zu dem Ergebnis, daß die reine theoretische menschliche Vernunft über die höchsten Fragen und letzten
Dinge keine Auskunft zu geben vermag. Die verschiedenen Beweise für das Dasein Gottes, welche bis dahin für
gültig angenommen waren, widerlegte er und stellte sie vom Standpunkte des reinen aprioristischen Denkens als unhaltbar hin. Auch den Begriff der Freiheit könne es für ein solches Denken nicht geben, da alles Geschehen von
einem unverbrüchlichen Gesetz der Kausalität, von Ursache und Wirkung abhängig sei. Nun aber wies er darauf hin,
daß der Mensch nicht bloß ein denkendes Wesen ist, sondern daß auch in unserer Vernunft der Trieb zu einem
sittlichen Wollen und Handeln vorhanden sei. Eine Philosophie, die sich nur auf das Gebiet einer aprioristischen
Erkenntnis beschränken würde, ist unvollständig und unmenschlich. Es gibt daher nicht bloß eine theoretische,
sondern auch eine praktische Philosophie. Dies begründete er in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“. In diesem
Werke zeigte er, daß das sittliche Bewußtsein in uns gleichsam als Gesetzgeber tätig ist. In unserem Gewissen ist das
moralische Gesetz begründet, und die Formel, welche uns sagt, nicht welche Handlungen geschehen, sondern wie die
Bedingungen des Handelns sein müssen, nennt er den kategorischen Imperativ: „Handele so, daß die Maxime deines
Handelns als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Kategorisch ist dieser Imperativ, nicht
hypothetisch, weil das Pflichtgebot rein sein muß und durch keine Bedingungen eingeschränkt, durch keine
Lebensklugheit diktiert sein darf. Aus diesem moralischen Gesetz leitet er nun seine drei Forderungen (Postulate) der
praktischen Vernunft ab, zunächst das Postulat der Freiheit. Indem nach dem Satze: „Du kannst, denn du sollst!“ die
Handlungen unseres Sinnenwesens von unserem Vernunftwesen bestimmt werden, wird das Gesetz der Kausalität
durchbrochen und Freiheit des Willens für unser sittliches Handeln angenommen. Die zweite Forderung ist die der
Unsterblichkeit; sie ist notwendig, weil das Ziel der Vollkommenheit, welches uns das moralische Gesetz vorhält, nur
in der Unendlichkeit erreichbar ist. Die dritte Forderung endlich ist das Dasein Gottes, der da ist ein Herrscher im
Reiche der Vernunft und Natur, der zwischen sittlicher Würdigkeit und Glückseligkeit die vom moralischen
Bewußtsein geforderte Harmonie herstellt, ein höchstes Wesen, von dem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt, und
in dem alles ruht und vollendet ist.
Diese Seite der Philosophie, wie sie Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ dargestellt hat, ist von seinen
Nachfolgern, z.B. von Hegel und Schopenhauer, vielfach angegriffen worden. Man hat gemeint, die darin
entwickelten Ansichten seien keine Philosophie mehr, sondern Glaubenslehren. Nun, sei es darum! Uns kann es nicht
kümmern, ob es den Schulregeln gerecht wird. Auf die Seite des Dichters Otto Liebmann aus Jena wollen wir uns
schlagen, der in diesen Festtagen den Genius Kants also besungen hat:
„Geheimnisvolle Werkstatt der Vernunft!
Ein inn'res Weben, Schaffen und Erkennen
Erzeugt in ewig neuer Wiederkunft
Das große Phänomen, das »Welt« wir nennen;
Er hat's erlauscht, hoch über aller Zunft,
Wie sich Gedanken einigen und trennen,
Und wie das Ich beharren muß und dauern,
Um sich ein Universum aufzumauern.
Und aus dem Innern stammt das Heil'ge auch,
Dem wir uns beugen, das wir tief verehren.
Wodurch wird dir Gesetz der Sitte Brauch?
Wer kann unbändiges Handeln dir verwehren?
Ist's nicht der innern Rätselstimme Hauch,
Herz und Gewissen, was dich muß belehren?
Du selbst mußt denkend fühlen, prüfend richten,
Dir aufzubau'n dein Heiligtum der Pflichten.
Unsterblichkeit ? — Was hält dem Wechsel stand ?
Nationen stürzen, Throne, Dynastien,
Flut folgt der Ebbe, und aus Meer wird Land,
Dogmen zergeh'n, Systeme, Theorien;
Selbst was ein großer Geist entdeckend fand,
Verfällt dem Schulgezänk der Koterien.
Doch Gold bleibt Gold, wie's auch sich umgestaltet,
Wahrheit bleibt wahr, wenn auch die Form veraltet.“ >154<
Ja! Wahrheit bleibt wahr. Auch das, was unser greiser Kant uns gegeben hat, wird wahr bleiben, mag es nun
Philosophie oder Glaubenslehre oder Morallehre oder sonst wie genannt werden; Wahrheit kann vergessen werden,
aber sie ganz zu vertilgen, ist unmöglich; sie bricht immer wieder siegreich hervor. Wahrheit bewährt sich an sich
selbst und trägt Früchte; sie dringt unmerklich in die breiteren Schichten des Volkes — diesem selbst unbewußt —
ein und zeitigt große Taten. Es ist oft darauf hingewiesen, daß es der Geist der Pflichtenlehre Kants war, welcher die
Schlachten der Befreiungskriege gewinnen half. Wahrheit bleibt bestehen, und die Lehren unseres Kant werden die
Welt erleuchten, wenn die Afterphilosophie des Materialismus und des Pessimismus längst abgewirtschaftet hat und
die diabolische Herrenmoral mit ihrer „Umwertung der Werte“, welche unserer Jugend jetzt die Köpfe verdreht,
zerscheitert sein wird.
Ich sagte, daß die Philosophie Kants in unserer Zeit, hundert Jahre nach dem Tode des Denkers, gleichsam ihre
Auferstehung feiert, nicht als ob sie bis dahin im Grabe geschlummert hätte, nein! Ihre Wirksamkeit ist wohl zu
spüren gewesen, wenn schon sie vor den Strömungen des modernen Denkens vielfach zurücktreten mußte. Aber diese
Strömungen fangen an zu ebben, und „zurück zu Kant“ heißt jetzt die Losung.
Wir Freimaurer brauchen in diesen Ruf nicht einzustimmen; denn der Geist unseres Ordens fällt zusammen mit der
praktischen Philosophie Kants, dem Teile seines Systems, der dem großen Denker besondere Herzenssache war.
Wir Freimaurer schauen nach dem bestirnten Himmel über uns und erblicken dort den Meister; zwar nicht ihn
selbst, sondern sein Kleid, die himmelblaue Decke, besäet mit den goldenen Gestirnen, das Gewand, hinter welchem
er sich vor sterblichen Augen verbirgt. Anfangs sind wir wohl Kinder, die die Unendlichkeit des Weltgebäudes nicht
ahnen und den Mond als Spielzeug haben möchten. Wenn wir aber sehen und erkennen gelernt haben, dann
taucht unser Geist unter in das grenzenlose All und lernt den Meister finden, der es baute, und der der Vater aller
Wesen ist. Und von dem Flug ins Grenzenlose kehren wir zurück und schauen uns selbst an, und siehe da! je mehr
wir uns selbst erkennen, desto mehr werden wir inne, daß wir in unserem Innern eine zweite Unendlichkeit tragen, die
uns nicht im räumlichen Bilde erscheint, sondern als göttliches Leben, als das moralische Gesetz. „Wenn“, wie Kant
sagt, „der Anblick der zahllosen Weltenmenge über mir meine Wichtigkeit als tierisches Geschöpf gleichsam
vernichtet, so erhebt dagegen das moralische Gesetz in mir meinen Wert als einer Intelligenz, in welcher es mir ein
von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart.“ Uns Freimaurern aber
erwächst aus diesem Moralbewußtsein der Trieb unseres maurerischen Wachstums, der gute, reine Wille, das heilige
Pflichtgebot, dem wir mit um so zwingenderer Notwendigkeit folgen müssen, je klarer wir die Unendlichkeit unseres
Innern erkannt haben und je tiefer wir in sie hinab getaucht sind. Jene vier Meistertugenden, zu denen wir am
Anfange unserer Maurerbahn verpflichtet wurden, gehen endlich unter in dem großen Zuge, der uns emporhebt und
dem Göttlichen entgegenführt; ihr Gebot gibt es für uns nicht mehr, wenn die Quelle, aus welcher alle Tugend fließt,
uns erschlossen ist, und wenn wir aus ihr unseren Durst gestillt haben. Durch Tugend, die wir erkannt haben aus der
Unendlichkeit des Göttlichen um uns und in uns, durch solche Tugend zum Lichte ! Möge dieser große Zug der
Freimaurerei, welcher Lehrart sie auch immer sei, niemals verloren gehen!
Es geschehe also! (1904.) >156<
Kreide, Kohlen und Feuer.
Wie sehr unterscheidet sich doch die Werkstätte der k. Kunst, die Loge, von anderen Werkstätten! An allen solchen
Orten, selbst in den Ateliers von Künstlern, pflegt es manchmal unsauber und unordentlich auszusehen. Nicht so bei
uns. Ein Abbild dessen, was sie schaffen soll, stellt die Loge dar. Das Idealbild eines Tempels ist es, unter dem sie
erscheint; Ordnung und Ebenmaß herrscht in ihr. Aber ganz ohne Unordnung geht es auch hier nicht ab, wenn auch
äußerlich nichts davon zu merken ist. Die lebendigen Bausteine des geistigen Tempelbaues sind die Brüder; sie sind
noch nicht vollendet und fertig, um in den Bau eingereiht werden zu können, darum kann in ihrem Innern auch noch
nicht die Ordnung herrschen, welche für einen Idealbau nötig ist. Sie sind die Baumaterialien, welche erst geformt
werden sollen. Wie das geschieht, das ist das eigentliche Kunstgeheimnis der Freimaurerei. Um diesen Zweck nun zu
erreichen, haben wir Werkzeuge, mit denen wir die Arbeit angreifen, wir haben Gesetze, durch welche unser Tun und
Treiben geregelt ist, und unsere Arbeit ist in eine ganz bestimmte Form gebracht, welche von dem, der sie ausübt,
gekannt und geübt sein muß.
Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet erklärt sich ein großer Teil von dem, was die Loge darbietet, von selbst,
manches aber bleibt unverständlich und bedarf der Auslegung. Eine solche dunkle Stelle unserer Lehrlingsakten
möchte ich hervorheben und eine Erklärung derselben versuchen.
In unserem Fragebuch, III. Abteilung, 3. Artikel, Frage 4 bis 6, heißt es folgendermaßen:
„Mit wie vielen Materialien arbeiten die Freimaurer ?“
Mit dreierlei Materialien.“
„Welches sind diese?“
„Kreide, Kohlen und Feuer.“
„Was bedeuten diese Materialien?“
„Aufrichtigkeit, Verschwiegenheit und Eifer.!“
Es ist hier wieder von Materialien der Arbeit die Rede. Wir müssen aber einen Unterschied machen zwischen den
Materialien, die wir formen, und denjenigen, vermittels welcher wir jene zu bearbeiten haben. Schon in unserm ersten
Fragestück wird gesagt, daß es die Aufgabe der Johannisloge sei: „Baumaterialien herbeizuschaffen und
zuzubereiten.“ (Fragebuch, II. Abt., 1. Art., Fr. 45.) Es ist zweifellos, daß hier nur die rauhen Steine, die Individuen,
gemeint sein können, welche die Loge bilden und in ihr bearbeitet werden sollen. Anders verhält es sich mit den
Materialien, von welchen in der zitierten Stelle des Fragebuches die Rede ist. Freilich erscheint mir hier der
Ausdruck „Materialien“ nicht recht zutreffend; Hilfsmittel, Ingredienzien oder Requisite wäre bezeichnender. Die
drei sind eben das, was bei unserer Arbeit uns stets zur Hand sein muß; ohne sie stockt der Puls des Lebens der Loge.
Kreide, Kohlen und Feuer! Welche eigentümliche Bezeichnung! Wo finden wir die drei in der Loge? Anfangs suchen
wir sie wohl vergebens, aber bald finden wir sie, und zwar offen daliegend in der Mitte unseres Tempels. Wir
erblicken sie in der Arbeitstafel, welche schwarz wie Kohle ist, und in den weißen Figuren, welche wie mit Kreide
darauf gezeichnet sind. Auch wissen wir, daß in den Bauhütten des Mittelalters bei Eröffnung der Arbeit von den
Lehrlingen die zur Kunst gehörigen Zeichnungen auf einer mit Kohle geschwärzten Tafel gezeichnet und beim
Schluß der Arbeit mittels eines Kehrwisches und Wassers wieder ausgelöscht wurden. Später erst kamen dann die
Arbeitstafeln auf, welche man zu Anfang der Loge entrollte und beim Schluß wieder zusammenlegte. — Wo aber
finden wir das Feuer? Wir haben es nirgend wo anders als in den drei großen Kerzen zu suchen, welche um die
Arbeitstafel brennen. Wie nach der antiken Sage einst Prometheus >158< das Feuer vom Himmel raubte, um es den
Menschen zu bringen und sie seiner Segnungen teilhaftig werden zu lassen, so holen unsere Brüder Aufseher das
Licht vom Altar, um damit die Loge zu erleuchten und es unter den Brüdern zu verbreiten. Wenn das Feuer der
Lichter am Schlusse der Arbeit erlischt, dann verschwindet damit auch die Arbeitstafel, und da ohne die Tafel und
ohne ihre Erleuchtung keine Logenarbeit vollbracht werden kann, so ist es ersichtlich, daß Kreide, Kohlen und Feuer
die notwendigen Erfordernisse oder, wie unsere Akten sagen, Materialien sind, mittels deren unser Werk ausgeführt
wird.
Dies ist die historische Erklärung, welche wir von unsern drei Materialien geben können. Nun aber geben unsere
Akten noch eine Vergeistigung derselben, indem sie ihnen die Bedeutung von Aufrichtigkeit, Verschwiegenheit und
Eifer unterlegen. Das sind drei Eigenschaften oder Tugenden, die uns stets gegenwärtig sein müssen und auf unsere
Arbeit einen stetigen Einnuß auszuüben haben. Es ist nun wohl klar, daß die Aufrichtigkeit der weißen Kreide und die
Verschwiegenheit der dunklen Kohle entsprechen; Aufrichtigkeit und Verschwiegenheit scheinen einander
auszuschließen, so wie Kreide und Kohle durch ihre Farbe die schärfsten Gegensätze bilden; der Eifer aber entspricht
dem leuchtenden und wärmenden Feuer. Wie ist das auf unsere Maurerarbeit anzuwenden?
Das maurerische Licht, dessen Symbol die Kerzen sind, welche den Altar und die Loge erleuchten, wird uns erteilt,
um unseren Sinn hell zu machen und uns zu erleuchten zum rechten Verständnis der Dinge um uns her. In diesem
Lichte haben wir zu betrachten die uns umgebende Natur, das Weltgebäude, mit allem, was es umschließt, und unter
diesem ist für uns das Nächste das eigene Ich und die mit uns erschaffenen Menschen, unsere Brüder. Das Bild des
Weltgebäudes zeigt uns die Loge; die Sternendecke überwölbt, der Meister regiert sie, die Aufseher, die er als seine,
in der Welt wirkenden Kräfte sich gegenüber gestellt hat, gehorchen ihm, und die Brüder erfüllen den Raum der
Loge, wie die Menschheit durch alle vier Weltgegenden verbreitet ist. Auf dem Fußboden unseres Logentempels liegt
die Arbeitstafel mit ihren weißen Figuren auf schwarzem Grunde, erleuchtet von dem dem heiligen Altar
entstammenden dreifachen Licht. Aus ihr erkennen wir nicht nur den Plan unserer Arbeit, sondern auch unsere
Werkzeuge, mit denen wir diese zu verrichten haben, sind auf ihr zu finden.
Wie ist es nun in der Weltenloge? Finden wir auch dort eine Tafel? Finden wir Werkzeuge und alles das, was zur
Arbeit nötig ist? — Gewiß! Wer Augen hat zu sehen, der erkennt den großen Bauplan, und wer Ohren hat zu hören,
der vernimmt das Wort des ewigen Meisters, das dem Menschen durch seine im Innern wirksamen Aufseher,
Vernunft und Gewissen, verkündigt wird. Und was wir zu erkennen haben, und wobei unsere Arbeit einzusetzen hat,
das erscheint uns auch hier unter dem Bilde jener drei Materialien. Die Natur, wie wir sie durch unsere Sinne
erkennen und durch unsere Vernunft auffassen, ist die Arbeitstafel im großen Maurertempel; ist doch unsere
gezeichnete Arbeitstafel auch ein Bild der Welt, wie die vier, auf dem Rahmen bemerkten Himmelsgegenden
andeuten. Die Natur liegt vor uns wie ein offenes Buch, das in leuchtenden Zeichen uns die Wunder des Universums
zeigt und unserer staunenden Betrachtung übergibt. „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste
verkündigen seiner Hände Werk.“ (Ps. 19, l u. 2.) Wie die hellen Bilder unserer Arbeitstafel, so geben uns auch die
Wunder der Natur die Anregung zum Arbeiten, zum Denken, zum Forschen. Sie gestattet uns in ihrem großen Buche
zu blättern. Wir könnten das Aufrichtigkeit nennen; besser aber paßt das Wort „Wahrheit“. Aus der Wahrheit
Feuerspiegel strahlt, wie der Dichter sagt, das Lächeln der Freude dem Forscher entgegen. Die Natur ist wahr und
offen; sie läßt uns nicht nur ihre Wunder schauen in der herzbewegenden Pracht ihrer Erscheinungen, sondern sie
offenbart dem Menschengeist auch ihre Gesetze und gestattet ihm, Blicke in ihre geheime Werkstätte zu tun.
Anderseits aber, wenn die Offenbarungen der Natur uns auch entgegen leuchten, wie die weißen Figuren der Tafel, ist
sie doch verschwiegen und einem geschlossenen Buche zu vergleichen, dessen Siegel niemand lösen kann. Ihr Schoß
ist dunkel wie der schwarze Grund der Tafel. Schweigend und geheimnisvoll ist ihr Walten und Weben; still und
verborgen wirken und schaffen ihre Gesetze, und geräuschlos greift das große Räderwerk ineinander. Ein
verschleiertes Saisbild ist die Natur dem Forscher, der bald an die Grenzen seiner Erkenntnis gelangt ist. Freilich gibt
es Naturforscher, die in unglaublicher Verblendung und Vermessenheit glauben, daß sie die meisten Welträtsel schon
gelöst hätten, und daß die Lösung der noch rückständigen Fragen nur eine Frage der Zeit sei. Wie klein erscheinen sie
in ihrer Afterweisheit gegen den großen Newton , der da sagte, er komme sich gegenüber der Unergründlichkeit der
Natur vor wie ein Kind am Ufer des Weltmeeres, >160< das mit einigen im Sande aufgelesenen bunten Steinen
spielt.
Nein!
„Ins Inn're der Natur
Dringt kein erschaffner Geist;
Glückselig, wem sie nur
Die äußere Schale weist.“
Wenn aber auch die tiefsten Tiefen des Naturerkennens der menschlichen Vernunft verschlossen sind, und wenn wir
auch nie die Hoffnung haben können, den dunkeln Urgrund der Dinge sich aufhellen zu sehen, so spüren wir doch
den Trieb der Entwicklung vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, der wie ein lebendiger Strom der Erfüllung
des Weltzwecks entgegen drängt. Das ist das belebende Feuer, der eigentliche Lebensnerv der Schöpfung. Diesen
Strom spüren wir, wenn unser sinnliches Erkennen nicht weiter vordringen kann und unsere Vernunft mit ihren
Urteilen und Schlüssen ans Ende gelangt ist. Wir wissen wohl, daß, weil wir endliche, irdische Wesen sind, uns der
volle Einblick in das ewige Reich des wahren Seins versagt bleiben muß, aber wir ahnen den Zusammenhang des
Ganzen, und die Töne, die uns zur Weltenharmonie noch fehlen, hören wir in unserem Herzen erklingen. Der Glaube
geht uns auf an die eine große Kraft und Intelligenz, die der Urgrund aller Dinge ist und das Band der Liebe um alles
Erschaffene schlingt, — der Glaube an Gott. Das ist Feuer, das uns durchglüht und der kalten Tätigkeit des
Verstandes erst Leben und Wärme verleiht; das ist Licht, vor dem auch die dunkelsten Tiefen nicht mehr
undurchdringlich erscheinen.
Und wenn wir nun von der großen Weltenloge in Selbsterkenntnis den Blick in unser Inneres lenken, so finden wir
auch dort ihr Abbild. Der große Meister hat uns die Arbeitstafel in unser Inneres hineingezeichnet; freilich müssen
wir sie zu finden wissen und sie zu lesen verstehen. Und dazu sind wieder jene Materialien der Arbeit notwendig.
Aufrichtig und wahr gegen sich selbst muß der Maurer sein, dann werden ihm aus seinem dunkeln Innern die hellen
Zeichen des Lebens entgegen leuchten. Aus Licht und Finsternis ist die menschliche Natur gemischt. In dem
maurerisch Ungeschulten, der noch nicht den Ordnungsruf des Meisters vernommen hat, geht alles chaotisch
durcheinander, Licht und Dunkel ist noch nicht voneinander geschieden; da wogt eine graue und trübe Masse, wie
wenn Kreide und Kohle durcheinander gemischt wären. Da können die edlen Materialien nicht zur Geltung kommen.
Dem maurerisch Geschulten aber geht das Licht auf in der Finsternis. Der Gemeine und niedrig Geartete weiß davon
nichts. Er ist weder aufrichtig noch verschwiegen im maurerischen Sinne; denn nicht jedes sich Öffnen ist
Aufrichtigkeit, und nicht jedes Schweigen ist Verschwiegenheit. Eifer entwickelt sich in solchen Naturen nur, wo es
gilt, der Sinneslust zu fröhnen, die Habsucht zu befriedigen und dem Ehrgeiz die Zügel schießen zu lassen. Anders
der geschulte Freimaurer! Er blickt in sein Inneres wie in die Tiefen des Weltalls. Aus seinem Innern erschallt ihm
das göttliche Wort und redet zu ihm, und er schaut lichte Zeichen. Und wenn ein Freund und Bruder ihm zur Seite
tritt, um in gleichem Streben mit ihm zu gehen, dann erschließen sich in wahrer Aufrichtigkeit die Maurerherzen,
dann schaut einer im andern die leuchtenden Figuren im hellen Licht, das feste Fundament mit den Säulen des
Aufwärtsstrebens zu Gott, den Stern der Liebe und des Lebens im mittelsten Raume, dessen Licht sie leitet bis zur
Grenze, wo Irdisches und Göttliches sich berühren, und das Diesseits mit dem Jenseits durch das goldene
Vereinigungsband verknüpft ist, jenes Band, das uns emporhebt und uns Kraft verleiht, im Aufblick zum Ewigen
unsere Arbeit im irdischen Lichte von Sonne und Mond zu fördern: den rauhen Stein zum Kubus zu formen nach dem
Plan des Reißbretts, gemäß Winkelmaß, Wasserwaage und Senkblei, durch Hammer, Zirkel und Kelle.
Dennoch aber muß der Maurer verschwiegen sein, auch gegen den ihm vertrauten Kunstgenossen, so wie gegen sich
selbst. So wie sein Inneres zu ihm redet, so schweigt es ihm auch. Er blickt in sich hinab wie in eine unergründliche
Tiefe; denn der Mensch ist und bleibt sich selbst das größte Rätsel. Schweigend und mit heiligem Schauer soll er sich
darin versenken. So wenig er sich selbst bis auf den Grund seiner Seele schauen kann, so kann er noch viel weniger
das Innere seines Bruders ergründen. Mag das Herz des Maurers sich auch noch so rückhaltlos dem Bruder und
Freunde erschließen: das Schönste, das er in sich trägt, kann er ihm doch nicht zeigen, das Höchste, das ihn bewegt,
ihm doch nicht aussprechen, in die Tiefe seines Innern, wo der Quell der Begeisterung entspringt, kann er niemand
blicken lassen.
Eins aber vermag er: er kann das Feuer des Eifers schüren, das sein Inneres erglühen und seine Begeisterung für das
Licht der Wahrheit zur Flamme emporlodern läßt. Im eigenen Herzen kann er dieses heilige Feuer nähren und
auch in dem Innern des Bruders den belebenden >162< Funken entzünden helfen. Ist dieses Feuer auch im
Menschenherzen schwankend, und droht es auch manchmal zu erlöschen, so muß es sich doch immer wieder von
neuem entzünden, wie die Lichter um unsere Tafel, und es wird uns endlich dorthin geleiten, wo alle Geheimnisse
offenbar, alle Fragen beantwortet und alle Widersprüche, wie sie uns in Kreide und Kohle, in Aufrichtigkeit und
Verschwiegenheit, in Licht und Finsternis sich zeigen, aufgehoben sind durch das Feuer der ewigen göttlichen Liebe,
in deren Schoß wir uns wiederzufinden hoffen, um ohne Schleier und Hülle, ohne vergängliches Gleichnis das volle
Licht zu schauen. (1899.)
Die drei Pfeiler.
„Worauf ruht die Arbeit?“
„Auf drei Pfeilern. „
„Wie heißen diese Pfeiler?“
„Weisheit, Stärke und Schönheit.“
„Was verstehen Sie darunter?“
„Weisheit zum Unternehmen, Stärke zum Ausführen, Schönheit zum Schmücken.
(Fragebuch Abt. III, Art. 3, Fr. 7 bis 9.)
„Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch!“ So singt der griechische Dichter, (Sophokles,
Antigone) und er hat recht. Freilich können wir nicht wissen, ob nicht auf den unendlich vielen Weltenkörpern, die
wir in der Sternennacht über unserem Haupte schimmern sehen, noch andere Wesen wohnen, welche bevorzugter
sind als wir Erdenbürger. Aber auf unserer Erde lebt nichts, was sich mit dem Menschen vergleichen ließe. Wohl ist
sein Leib dem Körper der höheren Tiergattungen sehr ähnlich, ja, in der Beschaffenheit mancher Organe ihm gleich;
dennoch aber trennt den Menschen eine ungeheure Kluft selbst von den höchstentwickelten Geschöpfen, die mit ihm
unseren Planeten bewohnen. Sein Geist ist es, der ihn so hoch über alle Geschöpfe erhebt, seine gottentsprossene
Vernunft, die ihm das Reich der Ideen öffnet, welche der Tierwelt verschlossen bleiben muß. Das große Gebiet der
Wissenschaft gehört ihm allein; im Reiche der Kunst ist er allein der unumschränkte Herrscher. Das Höchste aber,
was ihm den Stempel edelster, göttlicher Abkunft verleiht, ist die Religion, die nur ihm allein sich erschließt. Der
Mensch allein beschränkt sich in seinen >164< Vorstellungen nicht bloß auf sein irdisches Leben, er denkt nicht
bloß an das, was ihm nützt oder schadet, was er zu suchen und was er abzuwehren hat; seine geistige Gestaltungskraft
erhebt ihn über das Räumliche und Zeitliche hinaus, in das Unendliche und Ewige, zur Gottheit. Sie neigt sich zu ihm
herab, und er strebt zu ihr empor.
So erscheint der Mensch als das am reichsten begabte Geschöpf, als der Herrscher der Erde nicht nur, sondern auch
als Berufener für das ewige Reich des Himmels. Glücklich ist er zu preisen, weil ihm die höchsten Güter beschieden
sind.
Und dennoch sind gerade die hohen Gaben, die die Gottheit dem Menschen in die Wiege gelegt hat, vielfach für ihn
eine Quelle der Unseligkeit. Das Wort, das der griechische Dichter in dem oben angeführten Zitat gebraucht, hat der
Übersetzer durch „gewaltig“ wiedergegeben, aber ebenso heißt es „furchtbar“, „schrecklich“, „entsetzlich“. Das sind
alles Epitheta, die dem Menschen mit Recht beigelegt werden können. Kein Geschöpf der Erde kann wilder,
blutgieriger, rachsüchtiger, hinterlistiger und falscher sein als der Mensch. Die Kämpfe, die in der Tierwelt
ausgefochten werden, reichen nicht heran an die Grausamkeit und Furchtbarkeit der Kriege, in denen ganze Nationen
einander zerfleischen, an die Martern und Qualen, die der Mensch ersonnen hat, um seinesgleichen zu peinigen und
zu töten. Der Mensch erniedrigt sich unter das Tier, nicht nur hierin, sondern noch auf andere Weise. Wenn wir
ausschweifende Wollust und Völlerei viehisch nennen, so ist das ein sehr mildes Beiwort, das eigentlich gar nicht
zutrifft. Das Vieh kennt keine Leidenschaften, es befriedigt seine Naturtriebe, stillt seinen Hunger und wehrt sich
gegen seine Feinde; damit begnügt es sich. Der Mensch allein reizt seine Triebe durch künstliche Mittel, er sinnt
darauf, sie in raffinierter Weise zu befriedigen und sinkt dadurch tief unter das Tier hinab, das von solchen
Ausschreitungen nichts weiß, und er wird dadurch um so befleckter und schuldbeladener, als er oft genug seine
Geistesgaben in den Dienst niederer Lüste stellt. Doch genug davon! Wer könnte ein Ende finden, wenn er alle
Nachtseiten der Menschennatur aufdecken wollte?
Woher kommt es nun, daß die menschliche Vernunft auf solche Abwege geraten kann ? Das macht, weil der Mensch
ein Doppelwesen ist mit zwei Naturen, einer materiellen und einer geistigen, und weil die irdische Natur von
vornherein einen viel breiteren Raum in seinem Wesen einnimmt als die geistige, welche anfangs nur als ein
kleiner Keim, als Anlage in ihm schlummert und der Erweckung und Entwicklung harrt. Der Kampf, der
notwendigerweise zwischen beiden Anlagen entbrennt, bleibt keinem Menschen erspart. In jedem entsteht die Idee
des Sittlichen, welche ihren letzten Grund in dem Willen Gottes hat. Aber mit ihr zugleich erhebt auch der eigene
freie Wille sein Haupt, und der Mensch wird versucht, seinen Willen dem göttlichen Willen entgegenzusetzen. Der
Anreiz zu dieser Versuchung liegt in seiner materiellen Natur, und sie gewinnt den Sieg, weil sie stärker ist als die
Vernunft. Das Alte Testament stellt uns das in der Genesis dar unter dem Symbol der Schlange und der beiden
Bäume des Paradieses. Die Schlange verführt den Menschen, vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu
essen, und flüstert ihm ein, er werde dann sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Das heißt mit anderen
Worten: Der Mensch vermißt sich, aus eigenem Erkennen zu entscheiden, was recht und unrecht, und aus eigenem
Willen zu tun, was er für das Richtige hält. So will er laufen und fliegen bis zu den Sternen und hat noch nicht gehen
gelernt. Anstatt die göttliche Stimme zu fragen, die, leise mahnend, in seinem Innern sich regt, läßt er sie übertönen
von anderen Einflüsterungen, die aus dem Willen seines Fleisches stammen. So ißt er vom Baume der Erkenntnis;
der Baum des Lebens hätte ihn die rechten Wege gewiesen, seine Frucht hätte das göttliche Leben in ihm zur Reife
gebracht und ihn genährt mit Himmelsspeise. Aber er ließ ihn unbeachtet beiseite stehen und kostete von der
verbotenen Frucht. Damit war das Paradies verloren; er ward unselig, und der Fluch verfolgte ihn; „er ward“, wie
unsere Akten sagen, „sich selbst ein Schrecken und der Erde eine Last“. Der Wahn umnebelt das Licht seiner
Vernunft, und mit Recht sagt der Dichter:
„— Das Schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.“
Was uns durch die symbolische Erzählung des alten Bundes gesagt wird, das sagt uns das Neue Testament mit den
schlichten Worten: „Ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird.“ (Jak. l,
14.)
Das ist das verhängnisvolle Schicksal jedes Menschen. Durch die Erkenntnis, die er auf falschen Wegen sucht, wird
er auf die Pfade des >166< Irrtums gedrängt. Selbst jene hohen Güter, Wissenschaft, Kunst, Religion, werden ihm
in ihrem Wert in Frage gestellt, weil ihm der rechte Standpunkt fehlt, aus welchem er sie anschauen und würdigen
soll.
Wissenschaft! Was kann sie ihm sein, dem Wahnbefangenen, der sich unterfängt, sie als die einzige Quelle der
Erkenntnis zu betrachten ? — Wehe ihm, wenn er Wissen mit Weisheit verwechselt! Die Einsicht, daß menschliches
Wissen nur Stückwerk sein kann, daß wissenschaftliches Streben dem Irrtum unterworfen ist, wird ihn auf die Dauer
nicht befriedigen können und sein Herz veröden; denn je weiter die Wissenschaft den Menschen führt, je mehr sie
seinen Horizont erweitert, desto mehr sieht er ein, wie wenig wir wissen können. Befriedigung kann darin nur die
verknöcherte Seele des Pedanten finden, der
„— mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet,“
oder der aufgeblasene Hochmut, der sich vermißt, durch seines Geistes Kraft die Welträtsel zu ergründen.
Kunst! Was kann sie dem Menschen werden, der des göttlichen Lichtes entbehrt? Und der Künstler selber, der nicht
das Ideal göttlicher Schönheit in sich trägt, was kann er schaffen? Und selbst eine wahre und echte Kunst kann nicht
veredelnd wirken auf Menschen, welche nur auf ihren äußeren Glanz sehen und es nicht verstehen, hinter dem
schönen Schein das Göttliche zu finden. Die Geschichte lehrt uns, daß Völker, in denen sich die Künste zu einer
außerordentlichen Höhe entwickelt hatten, innerlich verfallen waren und ihrem baldigen Untergange entgegengingen.
Und endlich die Religion! Was ist sie für den überwiegend größten Teil der Menschheit? Woran liegt es, daß sie
nicht jedem die rechte Stärke gibt und ihm den inneren Halt und Trost gewährt, den sie jedem zu gewähren berufen
ist. Das liegt einmal an dem Wahn der Menschen und anderseits an dem Wahn derjenigen, die berufen sind, ihre
Heiligtümer zu verwalten. Ich will schweigen davon, wie viele Gräuel unter dem Deckmantel der Religion begangen
worden sind; mit Schaudern lesen wir davon in den Büchern der Weltgeschichte. Ich will nur darauf hinweisen, was
aus der Religion geworden ist unter den Händen eines herrschsüchtigen Priestertums. Denken wir an die uns zunächst
liegende Gestaltung der Religion, an das Christentum. Was hat die Orthodoxie daraus gemacht im Laufe der
Jahrhunderte! Das Christentum sollte nach dem Willen seines erhabenen Stifters die Religion der Menschheit sein;
aber seine Priester haben eine Religion daraus gemacht, welche nicht einmal alle diejenigen befriedigen kann, die
sich zu ihr bekennen möchten; sie haben Dinge in ihre Satzungen hineingebracht, welche dem göttlichen Meister
ganz fern gelegen haben. Stiege er wieder zur Erde herab, was würde er dazu sagen! Statt ihren Gläubigen einen
festen Stab zur Stütze zu geben, knebeln sie den Geist und binden ihn an einen Pfahl; statt ihn zu befreien, knechten
sie ihn mit ihrem Dogmatismus, unterdrücken ihn und hemmen die freie Entfaltung seiner Triebkraft. In unzählige
Konfessionen und Sekten sehen wir die Kirchen gespalten; alle bekämpfen sich gegenseitig; jede glaubt, allein das
Richtige zu besitzen, und doch hat es keine von allen; sie sind alle dem Irrtum unterworfen. Wie wenige gibt es, die
durch ihre Konfession wirklich mit innerem Frieden erfüllt sind, wie wenige, denen die von einem herrschsüchtigen
Priestertum diktierte Glaubensformel genügt, und wie viele gibt es, die von Zweifeln erschüttert, von Dogmenzwang
abgeschreckt, hinausgepredigt aus den Kirchen von pfäffischem Zelotismus, dem religiösen Leben ganz entfremdet
sind und sich deshalb nur dem Irdischen zuwenden!
Ja wahrlich! Trotz des Lichtes, das ihr gegeben ist, wandelt die Menschheit in einem Labyrinth, das die Schatten des
Irrtums und des Wahns bedecken, und aus dem ein Ausgang unmöglich scheint.
Aber mitten in dieser Bedrängnis erscheint dem Menschen als milde Führerin und Trösterin die k. Kunst der
Freimaurerei und bietet dem von den Früchten des Erkenntnisbaumes Übersättigten die Früchte des Lebensbaumes,
die sie für ihn in dem verlorenen Paradies gepflückt hat, in der goldenen Schale ihrer Symbole dar. Sie tritt ihm zur
Seite und spricht zu ihm: „Höre auf, o Mensch, das Licht da zu suchen, wo du es nimmermehr finden wirst! Wohl
liegt es in dir, aber nicht in deinem Eigendünkel und in deinem Eigenwillen, sondern in dem göttlichen Keim, der in
dich hineingelegt ist, und den du finden und durch eigene freie Tat zur Reife bringen sollst. Du hast ein Licht in
deinem Innern erhalten, das dich zur wahren Weisheit führen und in alle Wahrheit leiten kann; du hast den Abglanz
des Göttlichen in dir erhalten, lerne ihn verstehen und lieben; du hast eine Kraft in dir, welche verborgen schlummert,
klein und unscheinbar; lerne sie befreien und vermehren. Siehe da! Ich helfe dir drei Pfeiler errichten, auf denen dein
>168< Werk sicher und ohne Wanken ruhen soll. Sie heißen : Weisheit, Stärke und Schönheit. Sie ruhen wieder auf
dem Fundament jener drei Grundursachen, welche du in dir trägst. Sie sollen der Ausdruck des Göttlichen werden,
daran man dich erkennen wird als Sohn deines ewigen Vaters. Darum wende dich zu dem göttlichen Licht wie die
Blume zur Sonne; dann wird weise sein, was du unternimmst, es wird festen Bestand haben und mit dem Stempel
ewiger Schönheit geziert sein. Der Erdensohn wird nicht zur wahren Größe, zur höchsten Menschenwürde dadurch
geführt, daß er Wissensschätze aufspeichert und Kunstwerke schafft, er gelangt auch nicht dadurch zum Frieden, daß
er Glaubensformeln nachbetet. Nein ! Sein Wissen sei Weisheit, sein Schaffen sei Schönheit, sein Glauben sei Stärke.
Die Weisheit liegt in dir: befreie sie ! Die Stärke schlummert in deinem Innern : erwecke sie ! Das Ideal der
Schönheit trägst du in deiner Brust : erhebe es und behüte es ! Gott selbst wohnt in dir mit der ganzen Fülle seiner
Weisheit, mit der ganzen Stärke seiner Allmacht, mit der ganzen Harmonie seiner Schönheit. Befreie den Gott in dir,
der da gefesselt liegt von den Banden der Materie, der Finsternis und des Egoismus ! Erschrick nicht vor der Aufgabe
als einer dir zu schweren, und glaube an den Gott in dir ! Wage es, weise, wage es, stark, wage es, schön zu sein, ja,
wage es, göttlich zu sein; dann wird der Strom des Lichtes, der dir aus den Tiefen deines Innern entgegen quillt, dir
der wahren Tugend Erkenntnis und Ausübung bringen, der Tugend, durch die du zum ewigen Lichte emporgehoben
wirst.“
Und der Genius der k. Kunst geleitet den Suchenden zu dem Altar im Heiligtum, von dem die drei Lichter flammen;
und wie einst Moses aus dem feurigen Busch die Stimme des Herrn vernahm, so hört der rechte Maurer von der
geweihten Stätte die Stimme seines ewigen Meisters : „O Mensch, tritt herzu und fürchte dich nicht ! denn ich bin
dein Gott. Ich habe dich geschaffen, ein Bild, das mir gleich sei. Auch du sollst teilhaben an meiner Weisheit, an
meiner Stärke, an meiner Schönheit, den Kennzeichen meiner Vollkommenheit. Auf diesen festen Säulen sollst du
mir den Tempel erbauen, in dem ich wohnen will. Dein Denken sei mir geweiht, dein Wille sei auf mich gerichtet,
dein Tun durch mich verklärt. Du sollst vollkommen sein, wie ich vollkommen bin; und wie ich die Liebe selbst bin,
so sollst auch du in der Liebe leben, weben und sein und sie ausbreiten zu meines Reiches Herrlichkeit.
Und wie ich ewig bin, so sollst auch du zur Unsterblichkeit berufen sein und Anteil haben an meinem heiligen
Wesen.“
Der wahre Maurer aber, der solche Stimme zu vernehmen gelernt hat, sinkt in den Staub vor seinem Gott und betet zu
ihm: „Ewiger Vater! Das wahre Wissen ist allein bei Dir. Laß uns das Wenige, was Du uns aus Deiner Fülle enthüllt
hast, dankbar empfangen; aber lehre uns die rechte Weisheit, die Dich erkennt und in Demut der Grenzen des
menschlichen Wissens eingedenk bleibt! — Ewiger Meister! Der Quell der ewigen Schönheit entströmt allein aus
Dir. Was wir Menschen schaffen, kann nur durch den Abglanz Deines heiligen Wesens den Stempel der Schönheit
erhalten; darum schmücke und veredle Du meinen Geist, mein Denken und Tun! — Ewiger Gott! Wer darf Dich
nennen, und wer bekennen Deinen Namen! Wer vermag die Formel zu finden, die das ganz wiedergibt, was Du bist!
Je weiter Du aber uns entrückt bist, uns, die wir in Demut unsere Schwäche erkennen, desto eifriger suchen wir Dich,
desto brünstiger entbrennt in uns das Feuer des Glaubens an Dich und Deine ewige Liebe. Gib uns die wahre Stärke,
die aus unserem Innern frei wird, aus jener kleinen Kraft, die Du als salomonisches Siegel in uns gelegt hast! — Zu
Dir hin hast Du uns geschaffen, o Herr! und unser Herz ist unruhig in uns, bis es ruhet in Dir!“ (In te creavisti nos,
Domine, et cor nostrum inquietum est, donec requiescit in te.
Augustmus.)
Jener anfangs zitierte griechische Dichter preist den Menschen als das Gewaltigste, was lebt, und singt von seinen
Kenntnissen und Wundertaten. Nur eins — so sagt er in demselben Chorgesang seiner Tragödie — eins hat er nicht
gefunden: ein Mittel gegen den Tod, wenngleich er wohl für schwere Krankheit Heilung weiß. — Und dennoch gibt
es ein Mittel gegen den Tod; nicht gegen den Tod, der das Ende unseres Erdenlebens ist, sondern gegen den Tod, der
das Verderben und Verkommen des in uns gelegten geistigen Samenkorns bedeutet. Die k. Kunst lehrt uns dies Mittel
und gibt es dem, der ihr Licht schaut und ihre Säulen aufzurichten weiß. Unsterbliches Leben ist sein Teil.
Darum möchten wir unsern Dichter singen lassen:
„Vieles Herrliche lebt, aber nichts ist herrlicher als der Mensch.“ (1904.)
Das Kleid des Meisters.
„Haben Sie den Meister gesehen?“
„Ja! ich habe ihn gesehen.“
„Wie war er gekleidet?“
„In Gold und Himmelblau.“
„Weshalb ?“
„Unsere hocherleuchteten Brüder wissen es.“
Man könnte meinen, mit der Erklärung dieser Fragen, welche sich in der III. Abteilung, Artikel 3, Frage 14 bis 16,
finden, schnell fertig zu sein. Unter dem Meister ist doch jedenfalls der Logenmeister zu verstehen, welcher den
Vorsitz führt und mit seinem Hammer die Loge regiert. Dies liegt nahe, weil unmittelbar vor den Fragen nach dem
Meister von seinem Werkzeuge, dem Hammer, die Rede ist; Frage 13 lautet:
„Wozu dient der Hammer?
„Ordnung und Stille unter den Arbeitern zu fördern.“
Unter dem Kleide des Meisters ist doch sicherlich der Teil seiner maurerischen Bekleidung zu verstehen, welcher das
Zeichen seiner Würde als Vorsitzender, der die Arbeiten der Loge erleuchtet und regiert, ausmacht; das ist das
goldene Winkelmaß am himmelblauen Bande, das er auf der Brust trägt. Hier haben wir also die Farben des
Meisterkleides, Gold und Himmelblau.
(In alten englischen Katechismen findet sich eine ebenso burleske als geschmacklose Erklärung der Meisterfarben. Es wird daselbst gesagt, der
Meister sei gekleidet „in eine gelbe Jacke und blaue Hosen“. Damit ist der Zirkel gemeint, der in der Tat dort das Abzeichen des Meisters ist,
während das Winkelmaß dem abgeordneten Meister zukommt. Ist es schon sehr auffallend, daß ein Werkzeug, der Zirkel, mit dem Meister selbst
identifiziert wird, so erscheint es geradezu absurd, den Zirkel mit einer menschlichen Figur, den oberen, aus Messing angefertigten Teil mit einer
gelben Jacke und die stählernen Spitzen mit blauen Hosen zu vergleichen!)
Aber schon der Zusatz, daß die hocherleuchteten Brüder wissen, warum der Meister so gekleidet ist, führt uns darauf,
daß dahinter noch ein anderer Sinn verborgen liegen müsse, und es liegt nahe, daß mit dem Meister Gott selbst, der
allmächtige, dreifach große Baumeister der Welt, gemeint sei. Wer aber hat den höchsten Meister jemals erschaut? —
Der Evangelist Johannes sagt in seinem ersten Briefe (4,12) mit Recht: „Niemand hat Gott jemals gesehen.“ Gewiß
verbirgt der Ewige, Unfaßbare und Unendliche sich vor uns, und niemand sieht sein Antlitz. Aber er offenbart sich
dem verlangenden Herzen, das sich nach ihm sehnt und ihn mit Inbrunst sucht, in unendlicher Weise. Er will uns
nicht verborgen bleiben; da aber sein heiliges Wesen für die Fassungskraft des Sterblichen zu groß ist, zeigt er uns
sein Kleid, hinter welchem sich seine wahre Gestalt vor uns verbirgt, und von diesem Kleide reden unsere Akten,
wenn sie sagen, daß es in Gold und Himmelblau uns entgegenleuchtet. Unsere Loge ist bedeckt mit einer blauen
Decke, bestreut mit goldenen Sternen, eine Nachbildung des Daches, mit welchem die Weltenloge bedeckt ist (vgl.
Fragebuch, II. Abt., 2. Art., Fr. 8); das ist für uns ein Bild der uns zunächst liegenden Offenbarung des großen
Meisters, die am unmittelbarsten auf uns wirkt. Mehr als alle anderen Wunder der Natur erweckt der Anblick des
gestirnten Himmels in uns die Empfindungen der Andacht und die Schauer der Ehrfurcht vor dem höchsten Wesen,
und nur der im rohen Materialismus ganz Versunkene kann sich der gewaltigen Wirkung des Anblicks entziehen.
Wahrlich, ein Gewand ist es, des höchsten Meisters und Königs würdig, das sich vor uns aufrollt, sein Grund ist die
Unendlichkeit, der Abgrund des Weltenraumes; und auf diesem Grunde erscheinen flimmernde Edelsteine
eingewirkt, von denen jeder für sich eine ganze Welt ausmacht.
Die Goldfarbe, die uns die Sonne und die anderen Gestirne zeigen, und das Blau des Himmels sind also die beiden
Hauptfarben, unter denen uns das Gewand des Meisters erscheint. Wenn wir nun die Natur dieser beiden Farben,
Gelb und Blau, als die Farben der Johannismaurerei, welche für uns die grundlegende ist, an sich betrachten, so ergeben sich Gesichtspunkte, welche von Interesse sind.
Goethe schreibt in seiner Farbenlehre den Farben an sich, „ohne Bezug auf die Beschaffenheit oder Form eines
Materials, an dessen Oberfläche wir sie gewahr werden,“ eine — wie er sich ausdrückt — „sinnlich-sittliche
Wirkung“ zu, welche immer „eine entschiedene und bedeutende“ ist und „sich unmittelbar an das Sittliche >172<
anschließt.“ (Vgl. Goethe, Farbenlehre, 6. Abteilung, § 758 ff.) Von der gelben Farbe sagt nun Goethe: „Es ist die nächste
Farbe am Licht. Sie entsteht durch die gelindeste Mäßigung desselben, es sei durch trübe Mittel oder durch schwache
Zurückwerfung von weißen Flächen. ... Sie führt in ihrer höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich. . . .
Das Gold in seinem ganz ungemischten Zustande gibt uns, besonders wenn Glanz hinzukommt, einen neuen und
hohen Begriff von dieser Farbe, so wie ein starkes Gelb, wenn es auf glänzender Seide, z.B. auf Atlas erscheint, eine
prächtige und edle Wirkung tut.“ Daß dies richtig ist, lehrt uns ein Blick zum Himmel. Das Licht der Sonne ist
eigentlich ein ziemlich rein weißes Licht; das wissen die Luftschiffer, denen die Sonne, je höher sie steigen, desto
heller und blendender erscheint. Dem auf der Erde Befindlichen aber erscheint die Sonne im gelben, goldfarbenen
Licht, weil sie uns ihre Strahlen durch unsere Atmosphäre zusendet, in welcher das Licht eine gewisse Trübung
erfährt. Neigt sich die Sonne zum Horizont, so daß ihre Strahlen schräg durch die Atmosphäre zu uns gelangen und
somit dickere Schichten derselben durchlaufen müssen, so wird das Gelb immer gesättigter in dem Maße, je stärker
die Trübung ist, und steigert sich bis ins Orangefarbene und Rote, ja manchmal, je nach der Beschaffenheit der
Luftschichten, bis zum tiefsten Purpur, wie er bei Sonnenuntergängen unser Auge entzückt. Die psychische Wirkung,
welche die gelbe Farbe auf uns hervorbringt, ist die des Prächtigen, Herrschenden, Belebenden und Siegreichen. Eine
Landschaft, durch ein gelbes Glas gesehen, nimmt den Charakter des Warmen, Heiteren, Erfreulichen an.
Bei der Entstehung der blauen Farbe ist es nach Goethes Anschauung umgekehrt. Während er das Gelb als eine
Trübung des rein Weißen auffaßt, erscheint ihm das Blau als eine Aufhellung des Dunkeln. Er sagt: „So wie Gelb
immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe. Diese Farbe macht
für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf
der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes
von Reiz und Ruhe in ihrem Anblick. Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint die blaue
Fläche vor uns zurückzuweichen. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen
wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.“
Wieder finden wir am Himmel die Bestätigung der Richtigkeit dieser feinen Bemerkungen Goethes. Die Farbe des
Himmels ist eigentlich schwarz, d.h. das Firmament selbst hat gar keine Farbe. Es ist der Abgrund des Weltenraumes,
in welchen wir überall da hineinblicken, wo nicht die glänzenden Gestirne unser Auge auf sich lenken. Auch das kann
wiederum der Luftschiffer beobachten. Je höher er steigt, desto dunkler erscheint ihm der Himmel; das macht, weil
die Atmosphäre in ihren höheren Schichten sich immer mehr und mehr verdünnt. Sie ist es allein, welche dem auf der
Erde Wandelnden den Himmel blau erscheinen läßt. Auf dem Monde, welcher keine Atmosphäre hat, würden wir den
Himmel auch beim höchsten Stand der Sonne gänzlich schwarz sehen; eine Dämmerung gibt es dort nicht, und dem
Sonnenuntergänge folgt unmittelbar die tiefste Nacht, welche nur von dem Licht der Sterne oder von dem
Sonnenlicht, das unsere Erde, wenn sie über dem Horizont steht, dem Mondbewohner als Reflex zusendet, erhellt
wird. Unser Himmelblau hat seine Ursache in der Atmosphäre der Erde, in welcher die Kondensationsprodukte des
Wasserdampfes und andere Beimengungen kleinster Teilchen das Sonnenlicht reflektieren und so zur Erhöhung der
Tageshelle beitragen. Das dunkle Schwarz des Himmels wird also durch das von den feinsten Teilchen reflektierte
Licht aufgehellt und erscheint blau. Dasselbe zeigt uns ein einfaches Experiment. Wenn wir über eine schwarze Tafel
einige Tropfen Milch ausgießen und in einer dünnen Schicht darüber verbreiten, so erscheint durch die farblosen
Teilchen der Milch die Tafel in blauer Farbe. Blau entsteht also durch eine Aufhellung der Finsternis und, umgekehrt,
Gelb durch eine Trübung des Lichtes.
Machen wir nun davon die maurerische Anwendung in der Erklärung der obigen Stelle unseres Fragebuches. — Die
k. Kunst trachtet danach, ihre Jünger das Licht schauen zu lassen, das ihnen die Geheimnisse des Unendlichen und
Ewigen enthüllt. Sie rüttelt an der dunklen Pforte, welche die Welt des Geistes von der Sinnenwelt trennt. Kann sie
nun jemals einem sterblichen Menschen diese Pforte ganz öffnen? — Nein! Das ist unmöglich; denn göttliche
Geheimnisse sind dem Erdensohne nicht bestimmt zu erforschen. Seine Sinne geben ihm wohl Bilder, und seine
Vernunft lehrt ihn, diese Bilder zusammenzustellen und die Anschauung eines Weltganzen daraus zu gewinnen; sie
lehrt ihn ferner, >174< sich über die Sinnenwelt hinaus durch sein Denken in die Regionen eines höheren Seins zu
erheben; aber zum Schluß gelangt er nicht. Dem Adlerflug seines Denkens ist eine Grenze gesetzt, wo das Wissen
aufhört und das Glauben beginnt, und wo er innewird, daß selbst das, was er mit dem stolzen Namen Wissen
bezeichnet, seinen tiefsten Grund nur im Glauben haben kann, und wo es ihm klar wird, wie klein und eng begrenzt
der Gesichtskreis ist, den er von seinem Erdenstandpunkt aus überblickt. Wohl dem, dem es gelingt, die Grenzen
seiner Menschlichkeit zu erkennen und von seinem Erdendasein nicht mehr zu verlangen, als es ihm gewähren kann.
Unselig aber sind diejenigen, die entweder, in dumpfer Sinneslust dahinlebend, ohne Trieb nach einem höheren
Geistesleben, dem Tiere gleich, im Staube dahin kriechen, oder die im himmelstürmenden Trotz die Grenzen
verkennen, die ihrem Streben gezogen sind. Goethe zeichnet in seinem Faust einen solchen Menschen, der alle Tiefen
des Wissens ergründen möchte, der erkennen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, der die Geisterwelt, ja
die Macht der Hölle anruft, um seinem Wissensdurst Genüge zu tun. So wird er zum „Übermenschen“, aber er wird
unselig, er fühlt sich „dem Wurme gleich, der den Staub durchwühlt“. Zu spät erkennt er seine irdischen Schranken,
und schon will er verzweifelnd seinem Leben ein Ende machen, — da ertönen die Osterglocken, sie rühren sein Herz
mit holder Jugenderinnerung, sie wecken das wahrhaft Menschliche in seinem Busen, und wenn er auch in die
bitteren Worte ausbricht: „Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!“, so ist es dennoch diese in ihm
ruhende Kraft, die, ihm selbst kaum bewußt, den Giftbecher ihm vom Munde zieht und ihn der Welt wiedergibt.
Einen ganz anderen Faust zeichnet uns der Dichter am Anfange des zweiten Teiles der Tragödie. Neu gestärkt, „das
Innere gereinigt vom erlebten Graus“, erwacht er am Busen der Natur. Aus Morgendämmerschein sieht er die Welt
mit ihren Formen und Farben sich erheben, ein anregendes Bild, „zum höchsten Dasein immerfort zu streben“. Er
sieht die Sonne über den Horizont emporsteigen, aber geblendet muß er sich abkehren von dem „Flammenübermaß“.
Da erblickt er im Schaum des Wasserfalls den Farbenbogen,
„Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben,
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben.“
Nicht das volle Licht sind wir imstande, mit menschlichem Auge zu schauen, nur seine gebrochenen, in Farben
zerlegten Strahlen können wir wahrnehmen, den farbigen Abglanz, den wir sehen, müssen wir für das Leben selbst
nehmen. Aber das wahre Leben und Sein verbirgt sich hinter ihm. Das im Glauben festzuhalten und auf ein reineres
Schauen zu hoffen, wenn die irdische Hülle einst abgestreift sein wird, ist wahrhaft menschenwürdig, das erfüllt das
Herz mit Glück, mit Frieden und mit neuem Mut zum Vorwärtsstreben.
In solchem Sinne zeigt uns der Orden das Kleid des Meisters. Den Meister selbst, der das Licht und das Leben ist,
können wir nicht sehen, sondern nur sein Kleid; und dennoch wiederum sehen wir den Meister, wie wir eine Gestalt
durch den Faltenwurf des Gewandes hindurchschimmernd erkennen. Und wer sehen gelernt hat und seine äußeren
und inneren Sinne zu gebrauchen weiß, der kann sagen, daß er ihn sieht; und je höher erleuchtet er vom Geiste der k.
Kunst ist, desto reiner und deutlicher tritt ihm das Bild des Meisters entgegen, nicht von Angesicht zu Angesicht,
sondern stückweise; nicht mit Blicken, die in das Innerste dringen, und denen nichts verborgen bleiben kann, erkennt
er ihn, sondern im farbigen Abglanz offenbart sich ihm das Leben, in dem schönen, edlen Maße, das seiner
Menschlichkeit sich anpaßt.
Diesen Farbenschleier läßt uns nun der Orden in seiner symbolischen Lehrweise in Gold und Himmelblau, den
beiden Grundfarben unserer Johannismaurerei, erblicken. Licht und Finsternis sind die beiden Pole, um welche sich
bei unserer Maurerarbeit alles dreht. Das Licht suchen, erstreben wir, und des errungenen Lichtes freuen wir uns; die
Finsternis fliehen wir, und wenn sie uns anfällt, bekämpfen wir sie, wir hassen sie, so wie wir das Licht lieben. Auf
unserer Arbeitstafel sind Licht und Finsternis vertreten durch die weißen Figuren und durch den schwarzen Grund der
Tafel. Das Dunkel, welches unsere Arbeiten umgibt, wird endlich, wie unsere Akten sagen, wenn die Zeit erfüllet ist,
dem Lichte der Wahrheit weichen. Wenn die Zeit erfüllet ist! — Wann ist das ? — Das steht dem Strebenden bevor,
wenn die letzte irdische Hülle fällt, wenn unser befreites Geistesauge Gott schauen wird, wie er ist. Was einst im
Jenseits eines höheren Lebens zur Tatsache werden soll, das zeigt uns der Orden gezeichnet auf der Lehrlingstafel als
Idee. Wenn wir aber von dieser Tafel mit ihrer idealen Welt unsern Blick richten auf die irdische Wirklichkeit, die
uns umgibt, dann weist uns der Orden das Kleid des Meisters, das da strahlt in Gold und Himmelblau. Beide Farben
vertreten hier das Licht und die Finsternis, >176< die gelbe Farbe des Goldes das Helle, und die blaue Farbe des
unendlichen Firmaments das Dunkle. Die blendende Helligkeit des reinen weißen Lichtes kann unser Auge nicht
ertragen, es würde geblendet werden, wenn es von diesen Strahlen getroffen würde. Die Finsternis aber in ihrer vollen
Tiefe ist uns ebenso unfaßbar; sie erregt uns Grauen und wirkt zerstörend, vernichtend auf uns ein, wie uns der Blick
in die unermeßliche, schwarze Leere des Weltenraumes mit Schauern erfüllt, wenn wir unser Auge zum nächtlichen
Himmel erheben. Beides, Licht und Finsternis, sind Geheimnisse, die für uns in ihren tiefsten Tiefen unfaßbar sind.
Aber im Kleide des Meisters werden sie uns menschlich näher gebracht. „Am farb'gen Abglanz haben wir das
Leben.“ Die ewige Liebe, die sich in das Kleid des Meisters gehüllt hat, sorgte dafür, daß ihre Geheimnisse dem
Menschen, soweit er sie ertragen kann, offenbar würden, wenn auch eine vollkommene Enthüllung für ihn nicht
möglich ist. Nun wird es deutlich, was jene „sinnlich-sittliche Wirkung“, welche Goethe den Farben Gelb und Blau
zuerkennt, für unsere Symbolik bedeutet. Das Gelb, die Goldfarbe, ist eine Mäßigung des rein weißen Lichtes, wie
oben gezeigt worden ist. So erscheinen uns die göttlichen Offenbarungen in einem Lichte, das unserer irdischen Natur
angepaßt ist; und wie die gelbe Farbe uns den Eindruck des Prächtigen, Herrschenden, Belebenden und
Herzerfreuenden macht, so wirken auch die Manifestationen des Göttlichen auf uns, wo und wie sie auch uns
entgegentreten mögen. Das nächstliegende Feld, wo uns die Fülle göttlichen Lichtes am überwältigendsten
entgegentritt, bleibt immer das Himmelsgewölbe mit Sonne, Mond und Sternen, die mit ihrem Goldglanze zeugen
von der Allmacht und Größe des höchsten Meisters. Aber auch alle anderen Offenbarungen des ewigen Lichts, alles,
was unser Herz mit Erhebung und Entzücken erfüllt, was unseren Mut anfeuert, unsere Bewunderung und
Begeisterung erregt, alles erscheint uns in belebendem Lichte wie goldene Sterne auf dem dunklen Hintergrunde des
Erdendaseins. Und dieser dunkle Hintergrund, dessen tiefste Tiefen uns mit Grauen erfüllen würden, er wird durch
dasselbe heilige Licht aufgehellt und verklärt, wie das Licht der Sonne das dunkle Gewölbe des Firmaments in das
sanfte Himmelblau verwandelt. So wie der Blick nach oben hinan zieht zu den wunderbaren Geheimnissen, die
unsichtbar für unser Auge und unergründlich für unseren Geist in den Abgründen des Weltenraumes sich verbergen,
und wie wir trotzdem darauf im Glauben hingeführt werden, daß auch in den unnahbarsten Fernen der alliebende
Vater mit seinen heiligen Gesetzen waltet, so werden wir auch, wenn wir auf die Nachtseiten des irdischen Daseins
blicken, beruhigt durch das Licht, das in die Finsternis scheint, und das die Finsternis begreift, wenn es auch von ihr
nicht begriffen wird. Die Offenbarungen des Lichtes im Irdischen helfen uns über alle Unzulänglichkeiten hinweg
und lösen wie das Blau des Himmels alle Widersprüche in sanften Frieden auf.
Wer das zu schauen vermag, der sieht den Meister, gekleidet in Gold und Himmelblau, der erblickt sein wunderbares
Gewand und ahnt hinter ihm seine wahre Gestalt und sein wahres Wesen. Aber nur derjenige kann das, der sein Auge
hell gemacht hat durch treue, unablässige Maurerarbeit; denn nur das reine Herz kann den Meister schauen und in
diesem Schauen Frieden und Seligkeit erlangen. Darum sagt unser Fragebuch: „Unsere hocherleuchteten Brüder
wissen es, warum der Meister in Gold und Himmelblau gekleidet ist.“ Die Höhe der Erleuchtung wird aber nicht nach
der Zahl der erhaltenen Grade abgemessen, sondern nach der durch Übung in unserer Kunst erlangten Fähigkeit der
geistigen Erkenntnis und des darauf gegründeten sittlichen Wollens und Könnens. Wer das erlangt hat, der mag
hinschauen, wohin er will, sei es in das unendliche Reich der Natur oder in die Heiligtümer der Kunst, in die
verwickelten Verhältnisse des sozialen Lebens, in das Herz des Bruders oder in die unergründlichen Geheimnisse des
eigenen Herzens: überall wird er den Meister schauen.
Ja, ihr, die ihr in unablässiger Maurerarbeit gestrebt und eure Herzen gereinigt habt von irdischen Schlacken, ihr
werdet zur Erkenntnis des Höchsten gelangen; für euch gelten die Worte, die von Engelstimmen dem Faust ertönen,
als er am Ostermorgen sich selbst wiederfand: Euch
„Tätig ihn preisenden,
Liebe beweisenden,
Euch ist der Meister nah',
Euch ist er da!“ (1904.) >178<
Die Fragen an die besuchenden Brüder.
Ansprache zum Johannisfest.
Das allgemeine Bundesfest, das wir heute begehen, richtet unseren Blick weit über die engen Grenzen unserer
Werkstätte und unserer Brüderschaft hinaus auf das große Ganze unserer Verbindung. Nicht nur wir unter uns
wünschen uns ein frohes und gesegnetes Fest — nein, allen wahren und echten Maurern auf dem Erdenrunde gilt
unser Festgruß. Flügel wünschen wir uns, daß wir überall da, wo die heiligen Lichter flammen, als Besuchende
eintreten könnten, und schneller als der Funke im elektrischen Draht wandern unsere Gedanken zu den entferntesten
Stätten der Erde, um in Liebe und Treue die versammelten Brüder zu grüßen und zu beglückwünschen.
Freilich müssen wir uns sagen, daß nicht überall die wünschenswerte Übereinstimmung herrscht in der Auffassung
unserer Sache, daß es Länder gibt, wo die Freimaurerei entartet und durch fremdartige Beimischungen in ihrer
Reinheit getrübt zu sein scheint. Ja selbst in unserem deutschen Vaterlande ist nicht alles, wie es sein soll.
Verschiedene Auffassungen stehen einander entgegen, gefährden den Frieden und scheinen ein gemeinsames Wirken
nicht recht aufkommen zu lassen. Wenn wir aber der Sache auf den Grund gehen, so finden wir in allen anerkannten
Logen der Welt, ja selbst in solchen, denen eine allgemeine Anerkennung noch fehlt, einen Kern, aus welchem das
gesunde Leben echter Freimaurerei sich jederzeit entwickeln kann.
Dieses innersten Kerns uns voll bewußt zu werden, das ist eine rechte und würdige Aufgabe der Johannis-Festarbeit.
Und unsere Akten kommen uns dabei zu Hilfe. Sie enthalten im Lehrlingsfragebuch einen kleinen Abschnitt (Abt. III,
Art. 5), der nur vier Fragen aufweist, welche an die „besuchenden Brüder“, also an diejenigen, die von anderen
Logen zu uns gekommen sind, gerichtet werden sollen, und die alles darbieten, was die verschiedenen Werkstätten
der k. Kunst Gemeinsames haben.
Diese vier Fragen lauten folgendermaßen:
„Woher kommen Sie, mein Bruder?“
„Von der Loge des heiligen Johannes.“
„Was für Neues bringen Sie uns?“
„Freundlichen Gruß an alle Brüder dieser Loge.“
„Bringen Sie uns sonst nichts?“
„Der Meister läßt Sie grüßen durch drei mal drei.“
„Was suchen Sie hier auszurichten?“
„Meine Begierden zu überwinden, meinen Willen zu unterwerfen und neue Fortschritte in der
Freimaurerwissenschaft zu machen.“
An die besuchenden Brüder sind diese Fragen gerichtet. Nun, auch wir haben heute besuchende Brüder in unserer
Mitte, die zur Festfeier bei uns eingekehrt sind, zunächst die verehrten Abgesandten, welche uns die Festgrüße
unserer geliebten Nachbarlogen übermitteln, dann aber auch andere liebe Brüder, zum Teil aus weiter Ferne. An sie
richten wir diese Fragen, und wir betrachten sie heute als die Vertreter der Logen der ganzen Welt. Von ihnen hoffen
wir, die Fragen auch so beantwortet zu sehen, wie es nach der Vorschrift unserer Akten geschehen soll; denn es ist
nichts darin enthalten, wozu nicht ein jeder Maurer, was für eines Systems er auch immer sei, seine Zustimmung
geben könnte. Ja, wir selbst alle, wir Brüder unserer Loge, sind heute Besuchende, wenn wir im Geiste einkehren in
alle Logen der Welt, um Rede zu stehen auf jene Fragen und die schlichten Antworten zu geben, die trotz ihrer
Einfachheit dennoch so bedeutungsvoll und inhaltsschwer sind.
„Woher kommen Sie, mein Bruder?“, so lautet die erste Frage. Antwort:
„Aus der Loge des heiligen Johannes.“
Gleich diese erste Antwort weist uns hin auf das gemeinsame Band, welches alle Logen >180< der Welt umschlingt
und vereinigt. Johannes der Täufer, dessen Namen der heutige Tag trägt, er ist es, den wir in allen Logen der Welt
wiederfinden, mögen sie einem System angehören, welchem sie wollen, und mögen sie sich auch noch so sehr durch
die Auffassung der Freimaurerei und durch die Art ihrer Darstellung und Behandlung unterscheiden. Alle Logen der
Welt sind Johannislogen. Andere Logen höherer Grade sind nicht denkbar, es sei denn, daß sie sich stützen und
aufbauen auf der Loge des heiligen Johannes wie auf ihrem felsenfesten Fundament, ohne welches sie nicht existieren
können. Johannes der Täufer ist der Schutzpatron aller Freimaurer, nicht etwa darum, weil die alten Bauhütten des
Mittelalters, von denen ja viele die alleinige Abstammung der heutigen Logen herleiten wollen, ihn als ihren
Schutzheiligen verehrten, sondern weil das Wesen und die Lehre dieses bedeutungsvollen Mannes auf das allerengste
mit dem Wesen der k. Kunst verknüpft ist. Johannes der Täufer ist es, der das gemeinsame Band um alle Logen der
Erde schlingt, und sein Geist ist es, der jede Maurerarbeit, welcher Form sie sich auch bedienen mag, durchdringen
und beleben soll. Dieser Geist aber weist uns hin auf die innere Umwandlung, auf jene Erneuerung und
Wiedergeburt, ohne welche das Reich Gottes weder in uns gegründet noch auf Erden hergestellt werden kann. Durch
ihn allein wird eine Loge zu dem, was sie sein soll: eben zu einer Loge des heiligen Johannes. Fehlt dieser Geist,
dann kann die Loge wohl eine gute und nützliche Vereinigung darstellen, sie kann edle Geselligkeit pflegen, sie kann
allerlei gute Werke ausführen und allerlei humanitäre Stiftungen ins Leben rufen, aber von der rechten Freimaurerei
wird sie sich mehr und mehr entfernen, wenn sie jenen Geist des Johannes nicht festzuhalten und wirksam zu machen
versteht. In diesem Geist liegt unsere Einheit und in nichts anderem. Du, mein Bruder, der du bei uns als Besuchender
eingetreten bist, du kommst von der Loge des heiligen Johannes. Auch wir kommen von da und reichen dir die
Bruderhand, um dich einzuführen in unser Heiligtum, wo der johanneische Geist weht, jener Geist, der durch sein
Walten uns erst zeigt, woher wir wirklich gekommen sind, der uns an die Säule zur Linken führt, wo uns erst die
Wahrheit wie ein neues Licht aufgeht, daß Gott uns erschaffen hat, daß wir von ihm stammen, daß er unser Vater ist
und wir seine Kinder. Nur dem kann diese Wahrheit als ein lebendiger Besitz, als ein Licht, das seine Wege
erleuchtet, zuteil werden, der durch Johannes zur inneren Umwandlung und zum Abtun aller irdischen Schlacken
geführt ist. Ja, wir kommen von der Loge des heiligen Johannes und kehren dort ein, um daselbst zu bleiben und zu
lernen, wo unsere wahre Heimat ist, von der wir gekommen sind. Haben wir sie erkannt, dann ist auch das feste Band
der Einigung um uns geschlungen, das nichts zerreißen kann.
Und nun zur zweiten Frage:
„Was für Neues bringen Sie uns?“
„Freundlichen Gruß an alle Brüder dieser Loge.“
Mit einer Freundschaftsbezeugung tritt unser besuchender Bruder bei uns ein. Ein Gruß der Liebe und Freundschaft
von den Seinen, die ja auch die Unseren sind, denn sie sind unsere Brüder, gleichen Stammes und durch gleiche
Arbeit und gleiches Streben mit uns innig verbunden. Und wir erwidern den Gruß von Herzen, im Geiste als
Besuchende eintretend in alle mit uns innig verbundenen Werkstätten. — Was für Neues bringen Sie uns? Ist es denn
etwas Neues, was da zu uns kommt und was wir wieder zurückgeben? — O nein! Alt ist es, uralt, so alt wie die
Menschheit. Solange Menschen anbetend zum Allvater aufgeschaut haben, solange haben sie sich auch als Brüder
erkannt und geliebt. Und dennoch ist es etwas Neues, was durch den brüderlichen Freundschaftsgruß in die Loge
hineinkommt, oder vielmehr etwas, das bei jedem Male, da es uns geboten wird, sich erneuern soll. Freundschaft
und Liebe sind Himmelsboten, die auf die arme dunkle Erde herabsteigen, um sie zu erquicken und zu beleben.
Aber so wie der Tag dem Dunkel der Nacht weichen muß, so werden auch jene guten Genien oft genug verscheucht
von dieser Welt, die nun einmal dem Wechsel von Licht und Finsternis unterworfen ist. Wer kann sie alle nennen, die
bösen Geister, die zwischen Menschenherzen aufsteigen, um sie zu trennen: Zwietracht, Mißtrauen, Argwohn, Haß,
Rachsucht! Aber getrost! Die Nacht muß dem Tage weichen, und wie die Sonne die Nebel auflöst und die dunklen
Wolken verscheucht, so bricht auch das Licht der Liebe immer wieder siegreich hervor, und als etwas Neues freudig
begrüßt, fällt der Gruß der Freundschaft wie erquickender Morgentau in die Herzen, die sich wiederfinden. Und wo
können sich die getrennten Herzen der Menschen leichter finden als auf dem Gebiete der k. Kunst, die getreu dem
Johanneischen Mahnruf die trennenden Schranken wegzuräumen und dem Lichte Eingang zu verschaffen >182<
trachtet! Auf diesem Felde finden wir uns und grüßen uns als Bruder mit dem Gruß der Freundschaft, mit dem Gruß,
der, weit entfernt, eine leere Formel zu sein, unsere Herzen gegenseitig aufschließt, mit dem Gruß, der so alt ist wie
die Welt, der sich aber alle Tage erneuert zwischen denjenigen, die das Licht suchen. Haben wir das erkannt, dann ist
auch das feste Band der Einigung um uns geschlungen, das nichts zerreißen kann.
Aber noch ein Höheres, Köstlicheres ist es, was der besuchende Bruder uns mitbringt. Die folgende Frage weist
darauf hin.
„Bringen Sie uns sonst nichts?“
„Der Meister läßt Sie grüßen durch drei mal drei.“
Zu dem Freundschaftsgruß des Bruders kommt noch ein anderer Gruß. Er geht aus vom Altar, von Osten, wo der
Meister seinen Sitz hat, und er kleidet sich in die uns heilige Zahl und berührt so das innerste Geheimnis der k. Kunst.
Was ist das nun für ein Meister, der uns grüßen läßt? Ist es der hochwürdige Logenmeister oder, wie es in anderen
Lehrarten heißt, der sehr ehrwürdige Meister vom Stuhl, der durch die Wahl der Brüder im Osten seinen Sitz hat, um
die Loge zu erleuchten und zu regieren? — Davon steht in unseren Akten nichts; es heißt nur: „Der Meister läßt Sie
grüßen.“ Das muß uns darauf hinweisen, daß hier wohl noch ein anderer Meister gemeint sein kann, ja, gemeint sein
muß als der irdische Meister, der die irdische Loge zu leiten berufen ist. — Ja, noch ein anderer Meister hat seinen
Sitz im ewigen Osten, im unzugänglichen Heiligtum der Weltenloge, er erleuchtet und regiert sie nach ewigen
Gesetzen, und er hat uns seinen Gruß gesendet durch drei mal drei, d.h. er hat uns die Offenbarung seines heiligen
Wesens in das Herz gelegt und uns sein ewiges Wort, durch welches die Welt gemacht ist, und in dem das Leben und
das Licht der Menschen ist, erkennen gelehrt in seinen höchsten Eigenschaften, Weisheit, Stärke, Schönheit, er hat
uns die Wirksamkeit dieser seiner Kraft in uns selbst gezeigt in Gedanke, Wille und Tat, die bei ihm eins sind, und
uns die Werkzeuge zum Unternehmen,(Roher Stein, Reißbrett, Kubus. ) Richten (Winkelmaß, Wasserwaage, Senkblei.) und
Ausführen (Hammer, Zirkel, Kelle.) gegeben, wonach wir, seinem Plane gemäß, nach seinem Gesetz und durch sein Wort
in freier Arbeit unser Selbst zu einem Tempel gestalten sollen, in welchem er selbst seine Wohnung aufschlagen will.
Das ist die heilige Zahl, die drei mal drei, durch die der Meister uns grüßt durch den Mund eines jeden Bruders, der
gleich uns zu demselben heiligen und großen Werke berufen ist. Heil uns, wenn dieser Gruß nicht ungehört an uns
vorübergeht, Heil uns, wenn er in unsere Seele fällt als ein erweckender Lichtstrahl, der mit ernster Mahnung auf das
hinweist, was die Loge wirken will, und was wir in ihr wirken sollen. Tausendfach empfangen und entsenden wir den
Meistergruß in der uns heiligen Zahl, durch drei mal drei, in jedem Briefe, den wir von einem Bruder erhalten oder an
einen Bruder schreiben, bei jedem Becher, den wir beim Freudenmahle nach Maurerweise leeren. Aber wann denken
wir daran, was er bedeutet und uns sein soll? Haben wir ihn aber und seine Bedeutung recht erkannt, dann ist auch
das feste Band der Einigkeit um uns geschlungen, das nichts zerreißen kann.
Und nun die letzte Frage:
„Was suchen Sie hier auszurichten?“
„Meine Begierden zu überwinden, meinen Willen zu unterwerfen und neue Fortschritte in der
Freimaurerwissenschaft zu machen.“
Hier wird offen ausgesprochen, was in der Loge zu geschehen hat, wenn sie gedeihen soll. Was der besuchende
Bruder bei uns ausrichten will, das ist auch unser Vornehmen, bei dem er uns helfen will; und was wir ausrichten
wollen, wenn wir in eine andere Loge eingehen wollen, das finden wir auch dort als den Gegenstand rechter Maurerarbeit wieder. Wie erinnert uns die Antwort auf die letzte Frage an die allererste unseres Fragebuches:
„Was ist ein Freimaurer?“
„Ein freier Mann, der seine Neigungen zu überwinden, seine Begierden zu mäßigen und seinen Willen
den Gesetzen der Vernunft zu unterwerfen weiß.“
Ohne Mäßigung dessen, was sich in uns gegen das Licht auflehnt, und ohne Unterwerfung unter das ewige
ungeschriebene göttliche Gesetz ist ein Fortschritt in der k. Kunst nicht möglich. Wir wollen aber diesen Fortschritt;
der besuchende Bruder will ihn und wir auch, ob wir in unsere Loge als heimatliche Glieder oder in eine andere als
Besuchende >184< eingehen. Und nur diesen Fortschritt wollen wir. Was die Welt unter Fortschritt versteht, und
was auch eine gewisse Richtung in der Maurerei sich darunter denkt, Beschäftigung mit allerlei modernen Ideen,
Einrichtung von allerlei neuen Organisationen, die der Sache durchaus nützen sollen, aber ihr niemals nützen können,
Abschaffung von Dingen, die dem Unverstand nicht mehr zeitgemäß erscheinen, weil er sie eben nicht versteht und
nicht zu würdigen weiß, — alles das ist kein wahrer Fortschritt in der k. Kunst. Den wahren Fortschritt muß jeder, der
zu uns kommt, für sich selbst machen und an sich selbst erleben; dann erst, wenn jeder für sich fortgeschritten ist,
kann er als einzelnes Glied dem Fortschritt des Ganzen dienen und letzeres kann nur dadurch gedeihen, daß jedes
einzelne Glied für sich seine Schuldigkeit tut. Und diese Schuldigkeit besteht wiederum in der Überwindung der
Neigungen und in der Unterwerfung des Willens unter ein höheres Gesetz. Das ist eine Wahrheit, die wohl in allen
Logen anerkannt, aber nicht von allen Bundesgliedern zur Richtschnur genommen wird. Wir sind in die Loge
eingetreten, um andere Menschen zu werden, um uns von Grund aus umzugestalten, darum heißt sie die Loge des
heiligen Johannes, der die innere Umwandlung predigte. Wer das nicht will, der hat in der Loge nichts zu suchen und
hätte besser getan, draußen zu bleiben, denn er kann nur das Werk stören, das uns hier beschäftigt, und wird nie
selbsttätig in die Arbeit der Loge eingreifen.
Und so wollen wir denn heute am Feste in der Loge des heiligen Johannes, durch Liebe und Freundschaft uns nicht
nur grüßend, sondern auch fest und treu durch sie verbunden, und unter dem Segens-gruß des Meisters von oben, von
neuem diese Arbeit als unsere heilige Norm uns vor Augen stellen und geloben, mit unverbrüchlicher Hingabe an ihre
Ausführung zu gehen. Haben wir so ihre Bedeutung recht erkannt, dann wird sie auch zum festen Bande der
Einigkeit, das uns umschlingt und das niemand zerreißen kann.
Gewiß! Es ist nicht anders! Was unserem Bunde in allen auf der Erde zerstreuten Logen Einigkeit gibt, das ist in sie
hineingelegt als ihr unveräußerliches Eigentum. Wenn die Brüder über den Erdkreis auch zerstreut sind, und wenn
auch die einzelnen Logen und Logenverbände durch Auffassungen, Formen und Organisationen scheinbar getrennt
sind: — durch die königliche Kunst sind sie alle wieder vereinigt, und nur einzig und allein durch sie. Wer das
nicht sieht oder nicht sehen will, wer in Nebendingen den Kitt der Eintracht erblickt, der ist kein Meister der k.
Kunst, der hat sie in ihren Tiefen nicht erfaßt. In allen maurerischen Zeitschriften hört man jetzt in Prosa und in
Versen den Ruf: „Seid einig! einig! einig!“ Jawohl! Wer wollte in den Ruf nicht einstimmen? Aber möchten doch
alle, die ihn ertönen lassen, sich bewußt werden, daß diese Einigkeit sich nicht durch äußere Mittel herbeiführen läßt,
sondern nur durch Hingabe aller an die große Idee, die uns zusammenhält!
Diese Hingabe aber ist es, die wir Brüder unserer Loge mit den geliebten Besuchenden, die heute in unseren Toren
sind, aufs Neue betätigen. Dazu wolle der allm. dreif. gr. B. d. W. seinen Segen verleihen!
Es geschehe also! (1900.) >186<
Das Geheimnis der Freimaurerei.
Erster Vortrag.
Das Geheimnis der Freimaurerei! — Welch ein viel besprochenes, viel umstrittenes, viel verkanntes und viel
verlästertes Ding ist das! Welchen Anstoß hat gerade dieser innerste, zarteste Kern unserer Sache schon erregt. Jene
draußen stehenden Profanen, die sich, wie es ja im Leben so oft vorkommt, ein Urteil anmaßen über ein Ding, das sie
gar nicht kennen, vermögen es nicht zu begreifen, daß unsere so sehr fortgeschrittene und aufgeklärte Zeit noch
geheime Gesellschaften dulden soll. Wenn diese etwas Gutes in ihrem Schoße bergen, so meinen sie, dann müßte es
offen verkündigt werden; Geheimbünde seien nicht mehr zeitgemäß und erschienen leicht in zweifelhaftem Lichte.
Andere sagen: „Ihr habt ja gar kein Geheimnis; das, was ihr dafür ausgeben wollt, ist es nicht, denn in unzähligen
Büchern steht es gedruckt zu lesen. Darum auf mit euren Pforten und macht endlich der mittelalterlichen Mummerei
ein Ende!“
Wenn die Profanen so sprechen, so ist das schon befremdlich und zeigt von wenig Nachdenken. Wenn aber Brüder,
Geweihte des Bundes, sich derartig äußern, so ist das ein höchst beklagenswertes Zeichen von Unwissenheit. Schon
der Nichtmaurer müßte sich bei einigem Nachdenken sagen, daß das Geheimnis überall seine Berechtigung hat. Jeder
Mensch hat seine Geheimnisse. Es gibt interne Angelegenheiten der Familie, Herzenssachen, Pläne und Entwürfe, die
wir anderen nicht mitteilen können. Im höchsten Glück und im tiefsten Schmerz suchen wir die Einsamkeit oder
lassen nur wenige Auserwählte teilnehmen an dem, was unser Innerstes bewegt. Auch die Wahrheit darf nicht immer
von den Dächern gepredigt werden, und eine weise Regel ist: „Sprich nie die Unwahrheit, aber nicht immer die
Wahrheit !“, und unser Br. Goethe sagt:
„Die wenigen, die was davon erkannt,
Die töricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.“
Wenn nun solche Einsicht schon dem profanen Sinn nicht fernliegen kann, um wieviel mehr müßten wir
Maurerbrüder von der Existenz und der Notwendigkeit unseres Geheimnisses überzeugt sein! Die Freimaurerei ist
das Herz der Menschheit, oder sie sollte es sein; ihre geheimsten Regungen sollen in ihr Gestalt gewinnen, ihr
innerstes Sehnen und Hoffen soll sich in den Werken unserer Kunst offenbaren. Wenn dem so ist, dann hat jeder
Neuaufgenommene, da er in den engen Familienkreis der Loge eingetreten ist, das Recht, nach dem Geheimnis des
Ordens zu fragen und seine Meister darum anzugehen, ihm das zu enthüllen, was den profanen Blicken hier
verborgen gehalten wird. Denn bald wird es ihm klar, daß die Sinnbilder, die er in der Loge erblickt, die
symbolischen Handlungen, die sich vor seinen Augen vollziehen, Zeichen, Griff und Wort, kurz, alles das, was wir
vor den Profanen verbergen, nicht das eigentliche Geheimnis des Ordens ausmachen können. — Nun, welches ist es
denn?, so fragt der angehende Lehrling, und die Antwort, die ihm darauf wird, kann fürs erste ihm nur wenig
Befriedigung gewähren. Es muß ihm eröffnet werden, daß das Verborgene, nach dem er fragt, sich nicht ohne
weiteres mitteilen läßt; es läßt sich nicht aufschreiben, so daß man es schwarz auf weiß getrost nach Hause tragen
könnte. Das Geheimnis selbst ist nicht mitteilbar, wohl aber der Weg, der zu seinem Besitz führt; das Geheimnis ist
überall; wir sind von ihm rings umgeben; es liegt gleichsam auf der Straße; aber unsere Augen sind gehalten, unser
Gefühl ist zu stumpf und unsere Ohren sind zu dick, um es vernehmen zu können. Darum, o Lehrling, öffne deine
Augen durch das Zeichen, verfeinere dein Gefühl durch den Griff und öffne dein Ohr für das Wort, dann wirst du
innewerden dessen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und auch in keines Menschen Herz gekommen ist.
Darum auf! Bereite dich! Nicht allein in der Welt ist es zu finden — dein eigenes Innere ist der tiefe Schacht, in den
du steigen mußt, um es zu gewinnen.
„Such' es nicht draußen,
Da sucht es der Tor;
Es ist in dir,
Du bringst es hervor.“ >188<
Solche Erwägungen, auf die uns unser Nachdenken führt, werden uns auch das Verständnis eröffnen über die
Andeutungen, welche unsere Akten über das Wesen des maurerischen Geheimnisses enthalten. Eine Stelle unseres
Lehrlings-Fragebuches (Abt. IV, Fr. 4 bis 6) redet deutlich davon; sie sei hier angeführt und einer näheren
Betrachtung unterworfen. Es heißt daselbst:
„Womit beschäftigt sich die Johannisloge?“
„Sie sucht der Tugend Tempel zu errichten, das Laster zu bekämpfen und die Maurerwissenschaft zu
verbreiten.“
„Was wird unter Maurer Wissenschaft verstanden ?
„Die Lehre von der Erhebung des Menschen durch Tugend zum Licht und die Kenntnis von dem
Verborgenen oder dem Geheimnis des Ordens.“
„Welches ist das Verborgene oder das Geheimnis des Ordens?“
„Seine Entstehung und Stiftung.“
Ebenso klar und leicht verständlich, wie die erste Frage ist, ebenso dunkel und rätselhaft sind die beiden anderen.
Die erste Frage führt uns drei Zweige der maurerischen Wirksamkeit vor, von welchen zwei der Loge nicht
eigentümlich allein zugehören, nicht ihre spezifische Wirksamkeit ausmachen, d.i. die Errichtung von Tempeln der
Tugend und die Bekämpfung des Lasters. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese beiden Aufgaben, welche man in
den Begriff des sittlichen Strebens zusammenfassen kann, sowohl von einzelnen als auch von Vereinen außerhalb
der Loge zu lösen versucht werden. Überall, wo wir einen guten Menschen sehen, der an sich arbeitet im sittlichen
Streben, können wir wohl von einem Tempel der Tugend, zu dem er sich auszugestalten sucht, und von einem Kampf
gegen das Laster, dessen Angriffen jeder ausgesetzt ist, reden; und welche große Zahl von Vereinigungen gibt es, die
das, was jedem einzelnen für sich zu tun Pflicht ist, im großen und in weiteren Kreisen mit größerem oder geringerem
Erfolge unternehmen. Darum aber sind jene sittlich Strebenden noch keine Freimaurer, und jene Vereine, welche
sittliche Ideen zu pflegen suchen, sind darum noch keine Logen. Es fehlt eben noch ein Drittes, welches als ein
besonderes freimaurerisches Merkmal hinzukommen muß: die Freimaurerwissenschaft und — wie ich hinzusetzen
möchte — -kunst, welche denjenigen, der sie zu erlernen und zu üben strebt, erst zum Freimaurer, und die
Vereinigung, in welcher sie gelehrt und verkörpert werden, erst zur Loge machen. Sittliches Streben ist also für sich
allein nicht das für die k. Kunst Charakteristische, sondern nur die notwendige Vorbedingung, unter welcher sich die
zarte Blüte des inneren, wahren Maurertums allein zu entfalten vermag.
Was man nun unter Freimaurerwissenschaft und -kunst, mit einem Worte unter Freimaurerei versteht, das sagt uns
unsere zweite Frage:
„Sie ist die Lehre von der Erhebung des Menschen durch Tugend zum Licht und die Kenntnis von dem
Verborgenen oder dem Geheimnis des Ordens.“
Diese Definition ist wiederum eine doppelte; sie zerfällt in einen praktischen und in einen theoretischen Teil. Die
Erhebung des Menschen zum Licht ist der praktische Weg, der uns gezeigt und in den Vordergrund gestellt wird.
Was ist das Licht, zu welchem der Mensch sich auf freimaurerischem Wege erheben soll? — Es ist die höhere
Region geistigen Anschauens und Begreifens, die klare Sphäre eines reinen Seins und Lebens, das in unserem Herzen
pulsiert. In uns wacht eine Stimme, die uns unaufhörlich zuruft, daß wir noch nicht das sind, was wir sein sollen, daß
wir noch in Finsternis wandeln, daß unsere Augen von einer Binde umhüllt sind, und daß wir abzutun haben, was uns
am Schauen der Wahrheit hindert. Der Mensch ist ebenso ein Sohn des Staubes wie ein Kind Gottes. Aus Staub
gewoben ist sein irdischer Leib, welcher mit gebrechlicher Hülle den gottentsprossenen Teil, seinen unsterblichen
Geist, einhüllt. Dieser unsterbliche Teil in uns fühlt seinen unvollkommenen, unfreien Zustand, er ringt danach, sich
dem zu entreißen und sich frei zu entfalten; er will dem Geiste geben, was des Geistes ist, er will empor aus der Hülle
des Staubes zu seinem ewigen Urquell, mit dem er vereinigt zu werden trachtet; denn das Licht ist ihm gegeben, ein
Strahl davon ist in seinen Kerker gefallen und hat ihn mit heißer Sehnsucht erfüllt, den vollen Glanz zu schauen. Aber
die Materie fesselt ihn; sie möchte dem Staube geben, was des Staubes ist; Neigungen, Begierden, Leidenschaften
entstehen und suchen seinen auf das Ewige gerichteten Trieb abzulenken auf das Niedrige und Gemeine. Die
Erhebung aber kann nur vor sich >190< gehen durch Überwindung der Neigungen, Mäßigung der Begierden und
Unterwerfung des Willens unter die Gesetze der Vernunft. Das ist das große praktische Werk der Freimaurerei, das
sich stufenweise, wie die Ordensgrade es uns zeigen, an uns entwickeln und vollenden soll. Durch Tugend soll diese
Erhebung vor sich gehen. Gewiß! Denn ein Mensch, der nicht das Sittengesetz anerkennt und sich nicht gewöhnt,
danach zu handeln, hat nicht die Vorbedingungen erfüllt, unter welchen eine solche Erhebung zum Lichte überhaupt
möglich ist. Wenn nun also der Orden davon redet, daß die Erhebung zum Lichte durch Tugend geschieht, so sagt er
damit noch keineswegs, daß tugendhafte Gesinnungen und tugendhafter Wandel allein das freimaurerische Werk am
Menschen vollenden. Dies wird noch deutlicher durch eine andere Stelle unseres Fragebuches, wo von den
Werkzeugen des Freimaurers, der Vernunft, dem Verstande und dem Willen, die Rede ist, und wo gesagt wird: unter
Schleifen dieser Werkzeuge werde verstanden: die Vernunft zu gewöhnen, zu verstehen und zu wollen, was gut ist.
Wenn, ein Künstler seine Werkzeuge erst schleift, so ist er noch lange nicht daran, damit zu arbeiten und ein
Kunstwerk zu schaffen. Also auch hier. Durch tugendhafte Gesinnungen und sittliches Handeln allein werden wir
noch nicht zu Freimaurern.
Nun, wodurch denn sonst? — Darüber gibt uns der Orden Aufschluß durch den zweiten theoretischen Teil seiner
Antwort auf unsere zweite Frage; und diese Antwort lautet:
„Durch Kenntnis von dem Verborgenen oder dem Geheimnis des Ordens.“
Hier liegt der eigentliche Lebensnerv des freimaurerischen Werkes. Die Theorie, die der Orden uns hier bietet, ist
nicht grau und unfruchtbar, denn sie steht, wie wir sehen werden, mit der Praxis im richtigen Zusammenhange und
Verhältnis; und so wie — um bei dem soeben gebrauchten Bilde zu bleiben — ein Muskel, wenn er durch den in ihn
hineintretenden Nervenstamm mit dem Zentralorgan, dem Gehirn, in normaler Verbindung ist, von diesem aus in die
richtige, ihm angemessene Tätigkeit als Werkzeug eines höheren Willens gesetzt wird, aber gelähmt bleibt, wenn der
Nerv durchschnitten wird, und nur durch von außen auf ihn angebrachte Heize zu vorübergehenden
Zusammenziehungen gebracht werden kann, so bildet auch hier die Erkenntnis von dem Verborgenen oder dem
Geheimnis des Ordens die eigentliche Kraft, von welcher der stets frisch und neu einwirkende Impuls von innen
heraus für alles wahrhaft freimaurerische Gestalten ausgeht.
Und was ist nun endlich das Verborgene oder das Geheimnis des Ordens? —
„Seine Entstehung und Stiftung“,
lautet die Antwort, die auch hier wieder eine doppelte ist. Dunkel ist der Rede Sinn, und doch enthalten diese Worte
den vollen Inhalt des maurerischen Geheimnisses. Man hat früher gemeint, daß der Sinn dieser Worte auf das
historische Faktum der Entstehung unseres Ordens ziele, und hat lange Zeit keine andere Erklärung dafür gelten
lassen. Ganz unrecht hatte man damit nicht; denn auch der geschichtliche Ursprung unseres Ordens ist in
undurchdringliches Dunkel gehüllt, das die Forschung wohl niemals ganz aufhellen wird, obwohl unsere Väter der
Meinung waren, daß sie an der Hand unserer Überlieferungen untrügliche Auskunft darüber geben könnten. Jetzt aber
ist man dahinter gekommen, einen noch tieferen Sinn hinter den beiden Worten „Entstehung und Stiftung“ zu suchen.
Richten wir unseren Blick auf irgend eine Erscheinung der organischen Natur, eine Pflanze, einen Baum, ein
lebendes Geschöpf, Tier oder Mensch, und fragen wir nach seiner Entstehung. In das undurchdringlichste Dunkel des
Geheimnisses ist die Zeugung der organischen Wesen gehüllt. Wir kennen zwar die Vorgänge und Bedingungen,
unter welchen das Samenkorn, das Ei befruchtet wird und zur Entwicklung gelangt, — wer aber sagt uns, was das ist,
das diesen unscheinbaren Keim antreibt, sich nach ganz bestimmten Gesetzen zu entfalten und in seiner Entwicklung
eine ganz bestimmte Gestalt anzunehmen. Wir stehen vor dem tiefsten Geheimnis, dessen Decke noch kein Forscher
aufgehoben hat. „Ignoramus et ignorabimus!“ Wir wissen es nicht und werden es auch nicht wissen. Nur das Eine
wissen wir, daß in der winzigen Zelle des Eis oder Samenkorns eine mächtige Kraft wohnt, die, wenn auch in uns
unbegreiflicher Weise, so doch an ihren Wirkungen für uns wahrnehmbar, das neue Wesen schafft und zur Reife
bringt. Denn nicht bloß bei der Zeugung ist jene Kraft tätig, sondern auch fernerhin bei der Entwicklung bis zum
letzten Augenblicke, da das Individuum als solches aufhört und wieder in die Atome zerfällt, aus denen es sich
aufbaute. — Ebenso ist es mit der Zeugung auf geistigem Gebiete. In jeden Menschen ist ein Keim gelegt, aus
welchem sich durch den Prozeß der Wiedergeburt ein neues, göttliches, ewiges Leben entfalten kann. Wie er zum
Leben und zur >192< Entwicklung gelangt, — wir wissen es nicht; welcher Art die Kraft ist, die in uns webt und
schafft, — wir wissen es nicht. Wir stehen vor dem tiefsten Geheimnis, das auch das Geheimnis des Ordens ist; denn
die Kraft, die in unserem Orden waltet und ihm Leben, Stärke und Schönheit gibt, das ist dieselbe Kraft, die in der
Natur und im Menschenherzen frei wird, und durch die das Erschaffene emporgehoben wird aus dem Dunkel zum
Licht, dieselbe Kraft, die der Lehrling kennen lernt an der Säule zur Linken und an ihrem Wort J...., G. h. m. e. Ja, es
ist ein Geheimnis! Wir selbst, in denen es sich vollzieht, wissen wohl, daß es vorhanden ist, aber was es ist, können
wir nicht sagen. „Der Wind blaset, wohin er will; du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er
kommt, und wohin er fährt.“ Wir wissen es nicht. Aber das wissen wir, daß eine höhere Macht, ein allgütiger, heiliger
Wille, daß die ewige Liebe selbst diese Kraft in uns gelegt hat, und daß wir in freier Erkenntnis dieses inneren
Lebens die Aufgabe finden, mit unserm ganzen Sinnen, Denken und Wollen der Entfaltung dieses Lebens
entgegenzukommen und es zu fördern. Und die Entwicklung dieses göttlichen Keimes soll vor sich gehen nach eben
den Regeln und auf den Wegen, die der Orden uns vorschreibt. Wer diesen Keim in sich gefunden, seine
Lebensregung in sich gespürt und die Aufgabe, an seiner Entfaltung zu arbeiten, sich zum dauernden Bewußtsein
gebracht hat, in dem ist der Orden entstanden, und er hat Kenntnis von dem Geheimnis dieser Entstehung, er umfaßt
es und hat zugleich die Quelle erkannt, aus der alle Tugend, alles Wohltun und alle Liebe fließt, den Quell der Kraft,
der ihn zum Lichte erhebt. Nun aber heißt es in der Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis des Ordens: „Seine
Entstehung und Stiftung“. Was ist für ein Unterschied zwischen beiden? — Das Wort „Entstehung“ erinnert uns an
den ersten Ursprung; das Wort „Stiftung“ dagegen weist uns hin auf das, was aus diesem Keim geboren wird, auf die
Gestaltgewinnung des Lebens. Ebenso wie die Entstehung, so ist auch die Stiftung ein Geheimnis. Wir wissen nicht,
wie die unzähligen Wesen, die aus dem unerschöpflichen Mutterschoße der Natur hervorgehen, entstehen, aber wir
wissen auch nicht, wie sie sich gestalten und wodurch sie sich gerade so gestalten, wie wir sie vor uns sehen. Die
Stiftung ihres Lebens und Gedeihens ruht in einer höheren Hand, die uns nicht in ihre verborgene Werkstatt blicken
läßt. — Und wenn wir auf die Geschichte der Menschheit blicken und fragen nach der Macht, die da vorwärts treibt,
die das Geschlecht immer vollkommener und besser werden läßt, die da zu Gericht sitzt über das Wahre und Falsche,
das Echte und das Unechte, dann erkennen wir Gottes Finger, der unsichtbar und geheimnisvoll die Geschicke der
Völker lenkt. Die Menschen glauben zu stiften; sie geben Gesetze und Verordnungen, gründen Vereinigungen aller
Art, Könige und Fürsten glauben, mit mächtiger Hand zu regieren, und doch schwebt die unsichtbare Macht
geheimnisvoll über ihnen, und sie sind nur Werkzeuge in ihrer Hand. Gott in der Geschichte ! auch darin erkennen
wir das große Geheimnis der Stiftung des Ordens; denn überall, wo im Leben der Menschheit das Große und Edle
sich gestaltet, da hat unser Orden seinen Anteil daran, da freut er sich des Errungenen und fördert es, denn sein Weg
fällt zusammen mit jedem anderen Wege, der nach oben, zum Lichte und zu Gott führt, und er arbeitet daran, in
jedem einzelnen das zu stiften, was sein — des Ordens — innerstes Wesen ausmacht. So soll der Orden in jedem einzelnen seiner Glieder zuerst für sich allein gestiftet werden. Jeder für sich muß erst die ganze Macht des wunderbaren
Geheimnisses in sich empfinden; dann erst kann der Orden als solcher sich bilden; er wird gestiftet, wenn diejenigen,
die das Geheimnis in sich erfahren haben, sich finden und zusammentreten zu einem unauflöslichen Bunde. Dann
erscheint die Loge in ihrem herrlichsten Glanze. — Auch das ist ein Geheimnis. Aufnehmen in die Loge kann sich
mancher lassen, aber mitreden von dem Geheimnis der Stiftung des Ordens kann nur der, welcher die Seligkeit der
Vereinigung gekostet hat, die gegründet ist auf die gleiche Erkenntnis des göttlichen Lebens im Innern und auf das
gleiche Streben, dieses innere Leben zur Reife zu bringen und dadurch beizutragen zur Vollendung des Tempelbaues
des Höchsten. Wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, da ist der Ordensherr mitten unter ihnen und
gibt sein Ja und Amen zur Stiftung des Ordens, der zu seiner Ehre errichtet wird. Und die Stiftenden bilden die feste
Kette der Geweihten, welche unauflöslich über diese Zeitlichkeit hinausreicht und mit ihrem starken Bande uns
hinauf zieht in die Sphäre des reinsten Lichtes, wo es kein Geheimnis mehr gibt, sondern wo alles klar und offenbar
wird, was hier in dunkle Worte und Zeichen verhüllt war, wo wir nichts mehr fragen, sondern von Angesicht zu
Angesicht schauen werden. (1890. 1903.) >194<
Das Geheimnis der Freimaurerei.
Zweiter Vortrag.
Die Frage nach dem Geheimnis der Freimaurerei wird von unseren Akten dahin beantwortet, daß dasselbe in des
Ordens Entstehung und Stiftung liege. Was diese nicht ganz leicht zu verstehenden Worte bedeuten, habe ich in dem
ersten Vortrage zu erläutern versucht. Wir können uns der Lösung dieser Frage aber noch von einer anderen Seite
nähern, nämlich wenn wir uns daran erinnern, daß die Freimaurerei nicht bloß die königliche Kunst genannt wird,
sondern daß sie auch in der Tat eine Kunst ist.
Jede Kunst, wir mögen nehmen, welche wir wollen, hat ein Geheimnis, muß ein solches haben. Wenn wir an die
Staffelei eines Malers treten und ihm zusehen, wie er auf der Palette die Farben mischt und auf die Leinwand
überträgt, so erscheint uns das so einfach und natürlich, daß wir versucht sein könnten nachzumachen, was er offen
und zwanglos vor unseren Augen vollbringt. Bald aber merkt der Stümper, daß ein Etwas von innen heraus die Hand
regieren muß, um ein Kunstwerk herzustellen. Die durch lange und mühevolle Übung erworbene Sicherheit des
Könnens muß sich in dienstbarer Ergebenheit der im Innern wirkenden Macht der Idee des Schönen unterstellen. In
dem Zusammenwirken des inneren, nach Gestaltung ringenden Dranges und der durch Arbeit und Übung erlangten
Fertigkeit liegt das Geheimnis einer jeden Kunst, ein Geheimnis, das nicht ohne weiteres überliefert werden kann,
sondern erst durch jahrelanges Studium erworben werden muß. Man kann keine Kunst aus Büchern lernen, sondern
nur dadurch, daß man sich ihren praktischen Übungen unterzieht.
Genau so ist es nun auch mit der k. Kunst der Freimaurerei. Das höchste Kunstwerk ist ihr Ziel und Zweck; Stoff
und Vorwurf sind ihr derselbe, so wie Kunstwerk und Künstler ihr identisch sind. Den Menschen will sie formen und
bereiten, den zum Ebenbilde Gottes Geschaffenen will sie dieser hohen Bestimmung entgegen führen; groß, rein und
frei will sie ihn hinstellen und ihn erheben aus dem Erdenstaube zu göttergleicher Weisheit, Stärke und Schönheit.
Alles, was die Loge uns bietet, das Mysterium unseres Ritus, die Symbolik, die Einrichtung unseres Tempels, die
Maurertracht, in die wir uns kleiden, Zeichen, Griff und Wort, sind nur die Mittel, die wir anzuwenden lernen sollen,
um in uns das geistige Licht anzuzünden, zu dem wir berufen sind. In diesen Mitteln aber liegt nicht das
Kunstgeheimnis, sondern in ihrer Anwendung auf unser Inneres. Das ist das zarte, keusche, unnennbare Geheimnis
unserer inneren Geisteswerkstätte, das nicht ausgeschwatzt werden kann, das sich scheu zurückzieht von dem Markt
der Öffentlichkeit, von dem wirren und wüsten Treiben, wo jeder nur das Seine sucht im Wettlauf des Egoismus. Der
Finsternis, die das Licht nicht begriffen hat, bleibt die Kunde davon verborgen und verschlossen. Wo aber das Herz
in Sehnsucht sich dem Lichte und der Wahrheit öffnet, da zieht der Genius der k. Kunst ein und führt den Strebenden
den Weg zum innersten Heiligtum; ihm geht das wahre Geheimnis der Kunst auf, das unaussprechlich ist wie das
Wesen der Liebe selbst. Es kann nicht ausgesprochen werden, was das Kind zur Mutter, den Freund zum Freunde,
den Mann zum Weibe hinzieht. Dichter aller Zeiten haben versucht zu singen und zu sagen von dem Geheimnis der
Liebe, aber selbst die mächtigsten Akkorde ihrer Leier können nur ahnen lassen, was tief im Herzen, das von Liebe
durchglüht ist, lebt und webt; nicht Menschen- und nicht Engelszungen reichen hin, es auszusprechen. Ebenso ist es
mit dem Geheimnis unserer Kunst.
Wenn ich sagte, daß nur dem nach dem Lichte Strebenden das Geheimnis der k. Kunst aufgeht, so ist das nicht so
gemeint, als ob dies ein einmaliger Vorgang wäre, ein Ereignis, das eintritt und damit abgetan ist. Nein! Die ganze
Laufbahn des Maurers ist vielmehr ein stetes Entschleiern des Verborgenen. Eine Hülle des Lichtes nach der andern,
die ihm das Geheimnis verbargen, muß niedersinken vor seinem forschenden Eifer und seinem Fleiß. Er schreitet
fort, er lernt und gewinnt immer reichere und bedeutendere Fähigkeiten seiner Kunst, und gerade durch dieses
maurerische Wachstum dringt er immer tiefer in das Geheimnis. >196<
„Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren: Was sie willenlos ist, sei du es
wollend — das ist's !“
Mit diesem Wort hat Schiller in treffendster Weise, obgleich er unserm Orden nicht angehörte, das bezeichnet, was
das Wesen der k. Kunst ausmacht.
Auf die Pflanze weist uns der Dichter.
Was tut sie? — Sie wächst. Der Keim regt sich in der kleinen
verschwiegenen Hülle des Samenkorns, das im Mutterschoß der dunklen Erde gebettet ist; endlich durchbricht er die
Keimhüllen und dringt nach oben. Und so wie er die lastenden Erdschollen nach und nach verläßt, so gehen von ihm
die Wurzelfasern nach unten in die Tiefe. Die Pflanze ist fertig; sie wächst, sie strebt dem Lichte entgegen. Ein
schlanker Schaft schießt empor; aus ihm entfalten sich Zweige und Blätter, und endlich entwickelt sich, die
Knospenhüllen sprengend, die Blüte, die Krone des Pflanzenlebens, strahlend in Farbenschmelz, lieblichen Duft
spendend und ihren zarten Kelch der Sonne zuwendend, deren Abbild er zu sein scheint. Und wenn die Schönheit
der Blüte verblichen und dahingewelkt, dann entwickelt sich die Frucht mit ihrem labenden Saft und ihren
Samenkörnern, deren jedes den Keim einer neuen Pflanze birgt. Alle diese Erscheinungen des Pflanzenlebens werden
hervorgerufen von jener wunderbaren Macht, die sich als Wachstum offenbart. Was ist das für eine Kraft? Wir
wissen es nicht und werden es nie ergründen. Sie ist ein Geheimnis, aber sie ist vorhanden und manifestiert sich
täglich vor unseren bewundernden Blicken. Es ist dieselbe Kraft, die auch in den höher organisierten Wesen und im
Menschen tätig ist. Auch der Mensch hat mit der Pflanze das Wachstum gemeinsam. Im dunklen Mutterschoße
beginnt es im winzigen Keime. Und so wie die Pflanze aus der Erde an das Licht tritt, so wird auch der Mensch zum
Lichte geboren, und dann folgt sein Wachsen und seine Entwicklung bis zum Blühen und Fruchttragen, lauter
Vorgänge, die sich von den Lebensäußerungen der Pflanze kaum unterscheiden; auch sind diese Vorgänge nicht
seinem Willen unterworfen, sondern vollziehen sich wie bei der Pflanze ohne sein Zutun.
Nun gibt es aber für den Menschen noch ein anderes Wachstum, ein Wachstum, worüber er Herr ist, eine
Entwicklung, die er durch sein Wollen und Streben fördern kann. Das ist es, worauf der Dichter hinweist; es ist das
innere geistige Wachstum, das uns nach oben zum göttlichen Lichte treibt.
Wie viele Menschen gibt es nun, die sich dieses geistigen Wachstums voll bewußt sind und es durch die Kraft ihres
Willens zu fördern suchen? Ihre Zahl ist verhältnismäßig klein. Freilich wird man mir das bestreiten wollen. Man
wird mir einwenden, daß in unserer fortgeschrittenen Zeit soviel durch Schulen und Unterrichtsanstalten aller Art
geschieht, um geistiges Wachstum zu fördern. Gewiß! Aber es fragt sich nur, ob das das rechte Wachstum ist. Wohl
bietet das Erdendasein dem Menschengeist einen sehr mannigfaltigen Nahrungsstoff für seine Entwicklung. Mit den
Kräften seines Verstandes zieht der Mensch alles, was ihm irgend erreichbar ist, heran, um es für seine Bildung zu
verwerten. Er beobachtet, rubriziert und klassifiziert, er baut Systeme des Wissens auf und häuft einen ungeheuren
Schatz von Kenntnissen an, er macht Erfindungen, schafft Kunstwerke, ersinnt Staatsverfassungen und schreibt
Gesetze; er kommt sich groß vor in seinem Wissen und Können und ist doch, wenn ihm das Eine, das not ist, fehlt,
weit entfernt vom wahren Wachstum seines inneren Lebens. Sein Streben bleibt tot, so edel und nützlich es auch sein
mag, wenn sich ihm sein Wissen nicht in Weisheit und sein Können nicht in Kunst verwandelt. Sein Wachstum kann
wohl üppig ins Kraut schießen, aber den erhabenen Trieb, der aus dem innersten Kern zum Lichte emporstrebt, wird
man nicht gewahr werden.
Und wie unendlich viele gibt es, die auch des gewöhnlichen geistigen Wachstums, dessen, was man für gewöhnlich
Bildung im höheren Sinne nennt, entbehren. Die meisten Menschen werden geboren und erzogen, indem sie allerlei
lernen und sich allerlei Fertigkeiten aneignen, die sie für einen Lebensberuf geschickt machen. Sie werden tüchtige
Leute, wie man sagt, ehrenhafte Männer und gute Bürger, nehmen ein Weib und zeugen Söhne und Töchter, sind
geachtet von ihren Mitbürgern, weil sie sich nie etwas haben zuschulden kommen lassen, was gegen die Staatsgesetze
verstößt oder ihren guten Ruf hätte beflecken können. So glauben sie wunder was geworden zu sein und sind doch oft
des wahren inneren Lebens und Wachstums bar. Ihr Leben ist kaum etwas anderes als das Leben der Pflanze. Der
Wille und der Fleiß, den sie auf ihre Entwicklung verwendet haben, war halb und halb unwillkürlich. Sie wurden auf
die Bahn eines bestimmten Lebensberufes gedrängt, weil sie doch etwas werden, eine bürgerliche >198< Stellung
erringen, es zu etwas bringen mußten. Wo blieb dabei das innere Wachstum? — Es verkrüppelte und verdorrte. Das
Samenkorn war, wie es in dem Gleichnis unseres Obermeisters heißt, auf den Fels, auf den Weg oder unter die
Dornen gefallen; das Kunstgeheimnis des Lebens ist ihnen verschlossen geblieben.
Vor solch einem öden und trotz aller glänzenden äußerlichen Erfolge unfruchtbaren Leben will uns die k. Kunst der
Freimaurerei bewahren; sie will, gerade im Gegensatz zu jener pessimistischen Weltanschauung, welche die
Verneinung des Willens zum Leben als das Höchste hinstellt, diesen Willen in uns erwecken, stärken und zur
höchsten Macht entwickeln.
Was die Pflanze willenlos ist, — sei du es wollend, — das ist's! Es ist jene Entwicklung zum inneren Leben, jene
Wiedergeburt, auf welche der Obermeister den Schriftgelehrten Nikodemus als auf das Eine, was not tut, hinwies.
Unser Erdenleib ist die Scholle, in welche der mit einer verborgenen göttlichen Kraft ausgerüstete Keim gebettet
liegt, aus dem das wahre Leben sprießen soll. Die Pflanze, willenlos wie sie ist, kann zu ihrem Wachstum nichts
dazu- und nichts davontun; sie kann nichts dafür, wenn sie in ein dürres Erdreich versetzt wird; sie kann den Mehltau
und den Raupenfraß, der an ihrem Leben zehrt, nicht abwehren; sie kann es nicht hindern, daß Sturm und Schlossen
sie ihrer Blätter und Blüten berauben. Der Mensch aber kann sein Köstlichstes, sein inneres Leben, vor Schaden
bewahren, denn er hat den Willen zu einem Leben im Licht, und mit ihm hat er die Macht, das Geheimnis der
Lebenskunst zu enthüllen und sich seiner zu bemächtigen. Er kann sich aus einem Erdreich, aus dem er keine
Nahrung zu ziehen vermag, in ein anderes versetzen, wo er sie findet; er kann die Gesellschaft ekelhafter Schmarotzer, die sein inneres Leben schädigen, fliehen und die Gesellschaft derer suchen, die gleich ihm zum Lichte
wollen; er kann den Stürmen der Leidenschaften und dem Hagelschlag der Anfechtung widerstehen, denn er hat den
Willen, der ihn adelt, der seine göttliche Abkunft kundtut und sein inneres Schaffen in das ideale Gebiet der Kunst
erhebt, die dem Strebenden ihre Geheimnisse mit jedem Schritte mehr entschleiert. — Das ist's!
Aber nicht nur in solchem negativen Abweisen des Schädlichen besteht das Wesen des maurerischen
Kunstgeheimnisses; nein, es ist positiv, ja das Positivste von allem. Die Freimaurerei ist geistiges Wachstum, nichts
anderes; und geistiges Wachstum ist ein inneres sich Auferbauen. So wie in der wachsenden Pflanze sich Zelle an
Zelle reiht, um Stengel, Blätter und Blüten zu bilden, so fügt die Freimaurerei Stein an Stein zu dem geistigen
Tempel, den sie in unserem Innern errichten will. Alles, was die Loge uns bietet, weist uns hin auf dieses positive
Ergreifen des Geheimnisses der wahren Lebenskunst. Die Gebräuche unserer Aufnahme, die Sinnbilder der Tafel, die
Erkennungszeichen, was können sie dem Unkundigen anderes sein als leere Spielereien, von denen er sich, wenn er
eine Weile sich an ihnen ergötzt hat, voll Überdruß abwendet. Dem Strebenden aber werden sie Mittel, in das
Verborgene zu dringen, sie werden ihm mächtige Erweckungen, die ihn fördern auf der Bahn zum Licht; in ihnen
erkennt er Plan, Weg und Werkzeug einer Kunst, die über alle Künste hinausgeht, und das ist eben die erhabene,
göttliche Baukunst, die wir pflegen.
Und wenn wir diesen Weg beschreiten, dann tritt uns ein Geheimnis über das andere entgegen.
Wer bauen will, muß einen sicheren Grund gelegt haben, er muß nach einem weise entworfenen Plane verfahren, und
er muß die Baustücke wohl bereiten und aneinander fügen. Also auch hier. Den Grund für unseren Bau zu legen
brauchen wir nicht; diese Arbeit hat uns eine höhere Hand abgenommen. Einen felsenfesten Grundstein finden wir
vor, den der ewige Meister selbst gelegt hat, überall in der Natur, wo Leben sich entwickelt, und vor allem im
Menschenherzen. Aber diesen Grundstein umwallen die Schleier des Geheimnisses, und die Schwierigkeit besteht für
uns darin, wie wir diesen Grund finden, erkennen und freilegen. Aber ganz offenbar kann uns dieser Grundstein nie
werden, und glücklich ist der schon zu preisen, der überall in frommem Ahnen die gründende Hand des höchsten
Meisters spürt, und der vor allem das Bewußtsein in sich erweckt hat, daß er selbst in Gott gegründet ist.
Und nun der Plan, nach dem wir bauen sollen! — Um einen Plan zu entwerfen, dazu gehört Weisheit. Wo aber sollen
wir arme Erdenkinder in unserer Einfalt die Weisheit hernehmen, um den Entwurf für unser Werk zu schaffen? Wo
blieben wir mit unserer Kurzsichtigkeit, wenn nicht auch hier der ewige Meister uns helfend zur Seite stünde! Er, der
da gegründet hat, hat uns auch den Plan vorgezeichnet; an uns aber ist es, diesen Plan zu finden, zu erkennen und zu
verstehen. Können wir nun aber auch seinen großen Bauplan durchschauen und erfassen? >200< In seiner
unendlichen, allumfassenden Größe nicht; dazu sind wir zu klein in unserer Endlichkeit. Ein Schleier des
Geheimnisses liegt für uns Sterbliche über dem, was Gottes Allweisheit hingestellt hat, ausgebreitet. Aber es ist dem
Menschen vergönnt, Blicke zu tun in den Haushalt des ewigen Erhalters und Regierers. Das vor uns aufgeschlagene
Buch der Natur zeigt uns das große Bauwerk der Welten; wir ahnen wohl die Weisheit, die es schuf und erhält, aber
ergründen können wir sie nicht. Und wenn wir in unser Inneres blicken, so schauen wir in eine gleiche Unendlichkeit,
wie sie der gestirnte Himmel uns zeigt. Der Mensch ist sich selbst das größte Rätsel, das undurchdringlichste
Geheimnis. Unser eigenes Erkennen führt uns nicht weit; mit dem Lichte, das der Naturforscher und der Philosoph
uns bietet, kommen wir nicht aus, und wir würden nie ans Ziel gelangen können, wenn nicht der Schein eines
besonderen Lichtes uns erleuchten möchte. Wenn unser Verstand erlahmt im Erforschen des Zusammenhanges der
Dinge, wenn unsere Sinne nicht weiter zu dringen vermögen, wenn die Vernunft, zu schwach, den Urgrund aller
Dinge zu ergründen, an ihrer Grenze angelangt ist und mit dem Zweifel ringt, dann beginnt für den wahrhaft
Strebenden das hohe Wunder: ein besonderes Licht erleuchtet ihn; es ist das Licht des Glaubens, jenes
geheimnisvolle Licht, das die Freimaurerei uns versinnbildlicht durch das Bild des flammenden Sterns. Es kommt
über uns mit Himmelsgewalt, aber wir wissen nicht wie; es ist ein Geheimnis. Bei seinem Scheine erkennen wir
nicht mit irdischen Sinnesorganen, nicht mit trügerischem Menschenwitz, nicht mit Schlüssen der Vernunft, daß das,
was wir nur stückweise schauen, dennoch ein großes Ganzes ist, durchweht von dem Hauche göttlicher Liebe,
zusammengehalten durch das Band der göttlichen Allmacht; aber wie diese Erkenntnis über uns kam, das bleibt
Geheimnis, wovon keine Menschenzunge erzählt.
Und wenn uns der Flammenstern also geleuchtet hat, wenn sein Licht uns den Bauplan gewiesen, dann fangen wir an
zu bauen, und auch dabei leuchtet uns das Licht des flammenden Sterns, jenes Licht, das von denen, die in der
Finsternis wandeln, nicht begriffen wird. Uns aber, die wir es verstanden haben und zu benutzen wissen, erhebt es in
das ideale Reich der Kunst, der königlichen Kunst, deren Geheimnis es uns erschließt. Wir fangen an, unseren
Baustein zu formen, und dieser Baustein sind wir selbst. Fest auf sicheren Grund gestellt, umflutet von den Strahlen
göttlichen Lichtes, erkennen wir mit tiefer Scham den rauhen Stein unserer Unvollkommenheit, und damit zugleich
erwacht der Trieb, ihn kubisch zur Vollendung zu gestalten. Freudig greifen wir zu unseren Werkzeugen. Das
Senkblei des Gewissens, die Wasserwaage der Vernunft, das Winkelmaß des göttlichen Gesetzes, alles das greift
ineinander und frommt uns bei unserer Arbeit. Die Kraft des Hammers treibt uns an; des Zirkels Schlag lehrt uns
umfassen, was dem unerleuchteten Sinn nicht faßbar ist, und die Kelle wirkt in unserem Innern das Unaussprechliche.
So bauen und schaffen wir als beglückte Inhaber des Kunstgeheimnisses. Unser Baustein formt sich zum Tempel im
kleinen; und indem wir ihn mit den anderen Steinen zusammenfügen, arbeiten wir am Aufbau der Menschheit. Und
die zum Bruderbunde, d.i. zum Reiche Gottes gestaltete Menschheit ist wiederum weiter nichts als ein einzelner
Baustein im unermeßlichen Bauwerk des großen Weltenmeisters. — Das ist geistige Baukunst, Maurerei; und warum
wir diese Kunst Freimaurerei nennen, das ist leicht zu finden: — weil die Loge, die Werkstätte der Freimaurerei,
gegründet ist in Gott, weil das göttliche Gesetz in ihr herrscht, weil göttlicher Geist in ihr weht und ihr
Kunstgeheimnis ausmacht; — wo aber der Geist des Herrn weht, da ist Freiheit, da fallen die Sklavenfesseln ab, und
der Künstler, der in solcher Werkstätte schafft, wird emporgehoben zum ewigen Licht.
Heil dem, der in diesem Lichte wandelt, dem es sein höchstes Gut, sein Ein und Alles ist. — Wie wenig aber wird
dieser hohe Künstlerberuf des Freimaurers innerlich erfaßt; wie fern sind die Logen von dem Ideal, solche
Werkstätten der Kunst zu sein!
„Ach, daß dem Menschen nichts Vollkomm'nes wird,
Erkenn' ich nun! —“
so möchten wir mit Faust ausrufen. Nirgend empfinden wir menschliche Schwachheit und Unvollkommenheit tiefer
und schmerzlicher als in der Loge. Unser großer Br. Goethe spricht in Wilhelm Meisters Lehrbrief eine große
Wahrheit aus, die gerade unser Freimaurerwerk berührt und seine Schwächen rücksichtslos aufdeckt, wenn er sagt:
„Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen;
den Gipfel im Auge, wandeln wir gern in der Ebene.“
Darin liegt ein schwerer Vorwurf, der das Menschengeschlecht und namentlich eine große Zahl von Freimaurern
trifft. Er sagt uns >202< mit anderen Worten: „Ihr wißt nicht, was k. Kunst ist, und seid noch fern von ihrem
Geheimnis.“ — Wer wendete sein Auge nicht gern dem Lichte zu, wer wäre nicht begeistert von seinen Strahlen!
Wer es nicht wäre, verdiente wohl kaum den Namen Mensch; er gliche dem Tiere, das nur seinen dumpfen
Sinnentrieben nachlebt. Aber leider lieben wir es mehr, uns in dem Scheine des Lichtes zu sonnen, als auf
schwierigen Pfaden zu ihm hinzustreben. Man wandelt in der Ebene; man fließt über von schönen Reden über das
Licht, ohne den ernstlichen Anlauf zur Höhe zu nehmen, und man vergißt, daß derjenige, der nicht sein ganzes
Leben durch solches Hinaufstreben erfüllt, niemals hinter das wahre Kunstgeheimnis kommen kann. Wie viele gibt
es, die den Freimaurernamen tragen, ohne in den Logen etwas anderes zu suchen als Gemütlichkeit und
Wohlbehagen; andere wieder möchten allerlei Bestrebungen in die Loge hineinbringen, die nicht hinein gehören.
Das sind diejenigen, die in der Ebene wandeln, die von den Stufen nicht gereizt werden. Das ist Dilettanten-, aber
nicht Künstlerart. — Den wahren Maurer aber reizen die Stufen ebenso wie das Licht selbst; denn er macht an sich
selbst die wunderbare Erfahrung, daß, je schwieriger das Emporklimmen, je härter die Kämpfe, die sich im eigenen
Innern abspielen, desto reicher der Lohn, desto glänzender der Sieg ist, den er im Scheine des errungenen Lichtes
feiert. Jene, die in der Ebene wandeln, haben zwar nie die Schwierigkeiten, aber auch nie die Seligkeiten gekostet,
die der empfindet, welcher überwunden hat. Jenen gehört das Licht nicht, in dessen Glanze sie sich zwar sonnen,
dessen wahre Wirkung sie aber nicht kennen, weil ihnen das wahre Kunstgeheimnis verschlossen bleibt; diese aber
sind das auserwählte Geschlecht, das Volk des Eigentums, welches teil hat am göttlichen Leben, als die Bewahrer
des Geheimnisses der k. Kunst, das sie in freudigem Schaffen verwalten. Ihnen gehört es allein.
Und weiter sagt Goethe in Wilhelm Meisters Lehrbrief:
„Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden; der Künstler braucht sie ganz.“
Wie wunderbar trifft das zu auf unsere k. Kunst! Was können den angehenden Freimaurer seine Meister lehren? Es
ist nicht sehr viel. Sie können ihn mit dem Wesen der Sache vertraut machen, sie können ihm die Werkzeuge weisen
und ihre Anwendung erklären; sie können ihm Anleitung zur Arbeit geben und seinen Eifer anfeuern; sie können vor
allem durch ihr Beispiel auf ihn wirken: aber arbeiten, die Werkzeuge anwenden, die Wege zum Ziel beschreiten, das
muß der Lehrling selbst tun, dazu kann ihm kein Meister helfen. Nur wer so vorwärts kommt, kennt die Kunst ganz.
Nicht etwa, als ob er schon an das Ziel der Vollendung gelangt wäre, — nein; aber er weiß den Weg und kann ruhig
und sicher vorwärts schreiten. Darum fährt Br. Goethe fort:
„Wer die Kunst halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten
oder spät. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft; ihre Lehre ist wie gebackenes Brot, schmackhaft
und sättigend für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.“
Wie wahr ist das, wenn wir es auf die k. Kunst anwenden! Jene, die die Kunst halb kennen und darum in der Ebene
wandeln, können auch keine Geheimnisse haben, und da ihnen das wahre Wesen unserer Kunst verborgen ist, können
sie nicht einmal wissen, daß es solche Kunstgeheimnisse gibt; denn die Geheimnisse bestehen nicht in Worten, die
nacherzählt und aufgeschrieben werden können, sondern in den inneren Erfahrungen eines geistigen Wachsens und
Zunehmens. Ist die Lehre der Halbwisser aber nicht wie Brot, das am anderen Tage altbacken und schal ist? Sie
haben die keimfähigen Körner zu Mehl zerrieben und einen Phrasenteig daraus geknetet, der weder auf die Dauer uns
befriedigen, noch uns die rechte Geistesnahrung gewähren kann. Mögen daher diejenigen, die zum Lehramt in den
Logen berufen sind, darauf achten, daß sie den Lernenden stets etwas bieten, was keimfähig ist. Es wird so oft
darüber geklagt, daß in den Logen die Phrase herrsche und unsere Arbeiten mit dem Fluche der Unfruchtbarkeit belaste. Gewiß ist diese Klage vielfach berechtigt. Alles, was den Brüdern in der Loge von Reden und
Unterrichtsvorträgen geboten wird, ist und bleibt Phrase, wenn es der Unterrichtende nicht in seinem Innern
verarbeitet hat und es gleichsam künstlerisch neuschaffend aus seinem Herzen herausströmen läßt. Ist dies der Fall,
dann kann er seiner Wirkung gewiß sein. Aber entlehnte Gedanken, abgelesene Reden anderer können nie wirken.
Sie verpuffen wie Feuerwerk, das nicht zünden kann. Lebendige Saatkörner sollen in der Loge geboten werden; wenn
wir sie in unser Inneres aufnehmen, dann entwickelt sich >204< in uns neues Leben; das Geheimnis der Kunst geht
uns auf, und wir kommen vorwärts.
Aber auch das Saatkorn muß absterben, wenn es Frucht bringen soll, und unser Obermeister sagt: „Es sei denn, daß
das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibet es allein; wo es aber abstirbt, so bringet es viele Früchte .“
(Joh. 12,24.) Auch hier findet diese Wahrheit ihre Anwendung, und es ist derselbe Gedanke, wenn Goethe im
Lehrbrief fortfährt:
„Die Worte sind gut, aber sie sind nicht das Beste.“
So wie das Weizenkorn erstirbt, so verhallt auch das gesprochene Menschenwort, das wir als geistiges Werkzeug
nicht entbehren können. Gut aber war es nur dann, wenn es ein Widerhall war des ewigen Wortes der Wahrheit; dann
wird das Wort zur Tat. Gut ist es nur dann, wenn es jenem keimfähigen Saatkorn gleicht und dadurch geeignet wird,
jenes wahre Geheimnis der k. Kunst in unserem Innern auszulösen und zur Wirkung zu bringen. An solchen Früchten
wird man die wahren Jünger der k. Kunst erkennen. Diese inneren Errungenschaften der Kunst sind das Beste, das
über den guten Worten steht. Gute Worte und gute Taten haben ihren Wert nicht in sich selbst allein, sondern in dem
Tüchtigen und Unvergänglichen, das durch sie hervorgebracht ist. Darum heißt es im Lehrbrief weiter:
„Das Beste wird nicht deutlich durch Worte.
Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.“
Damit ist ausgedrückt, daß der Geist des Göttlichen sich dem Worte versagt; er ist unaussprechlich. Der Künstler, der
durch diesen Geist getrieben schafft, ringt mit der Unzulänglichkeit der Mittel, die ihm zu Gebote stehen. Also ist es
auch bei uns. Wir müssen uns genügen lassen, wenn dieser Geist des Höchsten in unserem Kunstwerk nur geahnt
wird, und nur in seltenen Augenblicken der Weihe und Begeisterung redet dieser Geist von einem Bruderherzen zum
andern. Um diesen Geist haben wir den ewigen Meister zu bitten, und wir haben dafür zu sorgen, daß er nicht
gedämpft werde. (1. Thess. 5,19.) (1899. 1904.)
Zeichen, Griff und Wort.
Die vierte Abteilung unseres Fragebuches, mit welcher die besonderen Fragen für den Johannis-Lehrling beginnen,
während die vorhergehenden Abteilungen allgemein maurerische Kenntnisse behandeln, beginnt folgendermaßen:
„Sind Sie ein freier und angenommener Johannis-Lehrling ?“
„Meine Brüder Meister und Gesellen erkennen mich dafür.“
„Wie soll ich Sie erkennen?“
„An meinem Zeichen, meinem Handgriffe, meinem Worte und den Umständen meiner Aufnahme zum
Lehrling.“
Es folgen nun unmittelbar darauf die Fragen, die von dem eigentlichen Werk der Loge handeln, von der Errichtung
der Tempel für die Tugend, von der Bekämpfung der Laster und von der Maurerwissenschaft, der Erhebung des
Menschen durch Tugend zum Lichte und dem Geheimnis des Ordens. Über alles dies ist in früheren Vorträgen bereits gesprochen worden.
Gleich darauf geht nun das Fragebuch wieder auf die Erkennungsart des Lehrlings ein. Es wird nach dem Zeichen
gefragt und die Art, wie der Griff und das Wort zu geben ist, auseinandergesetzt.
Ob es wohl ein Zufall sein mag, daß hier die internsten Dinge der k. Kunst mit solchen äußerlichen Dingen, wie die
Erkennungszeichen es zu sein scheinen, unmittelbar zusammengestellt worden sind? — Ich glaube nicht. Vielleicht
soll gerade diese Nebeneinanderstellung darauf >206< hinweisen, daß Äußerliches und Innerliches in unserem
Orden mehr Beziehungen zueinander haben, als es unter anderen Verhältnissen der Fall zu sein pflegt. Und so ist es
in der Tat, wenigstens bei uns. In unserer Lehrart werden die Erkennungszeichen in einer Weise gewürdigt, wie es in
anderen Systemen kaum der Fall sein dürfte. Die Erkennungszeichen sind etwas für alle anerkannten Logen
Gemeinsames; sie sind ein Band, welches alle Brüder auf dem Erdenrunde vereinigt, und man findet nur ganz
geringfügige Abweichungen in der Art, wie sie gemacht werden. (Die wichtigste Abweichung ist die, daß in manchen Lehrarten
unser Lehrlingswort als Gesellenwort und unser Gesellenwort als Lehrlingswort angenommen worden ist.) Und dennoch, wie verschieden
ist ihre Auffassung und der Wert, der ihnen beigemessen wird! Wie viele Logen gibt es, die diese Dinge mit der
größten Geringschätzung behandeln, wie viele Brüder gibt es (leider auch bei uns!), die sich nicht einmal die Mühe
geben, die Erkennungszeichen ihrem Gedächtnis einzuprägen, da sie doch, wie sie meinen, durch indiskrete
Veröffentlichung ihren ursprünglichen Wert längst verloren hätten. Sie halten dies alles, was der Orden uns so
sorgfältig mitteilt, für Nebensachen und Formalien und gefallen sich darin, solche nichtige Dinge geflissentlich zu
vernachlässigen. Gewiß, es wäre schlimm, wenn wir an der Form festkleben und in ihr erstarren wollten. Aber ebenso
schlimm ist es, wenn wir die Form vernachlässigen möchten; Verflachung und Verflüchtigung wäre die notwendige
Folge davon. Unser Bemühen muß stets sein, die Form zu betrachten als Träger des Geistes, als kostbares Gefäß,
welches den noch kostbareren Inhalt bewahrt. Dies gilt von unserer ganzen Symbolik, von allen Sinnbildern und von
allen Gebräuchen, aus denen sich unsere Riten zusammensetzen, und in erster Reihe gilt es von unseren
Erkennungszeichen, ja, ich stehe nicht an, zu behaupten,
daß Zeichen, Griff und Wort das Wichtigste und Bedeutungsvollste sind, was der Orden uns darzubieten hat.
Woher kommt das ? — Weil, wie wir sehen werden, in diesen dreien die Mittel und Methoden, die wir auf uns
anzuwenden haben, und die Wege, die wir gehen sollen, verborgen liegen, und weil durch sie am lebendigsten und
unmittelbarsten das Werk der k. Kunst in uns in Angriff genommen wird. Sie sind also Werkzeuge, und zwar die
wichtigsten von allen. Darum wird auch jeder Neuaufgenommene unmittelbar, nachdem die Weihe und Einkleidung
vollendet ist, zu allererst in der Erkennungsart genau unterrichtet. Die Erkennungszeichen werden ihm eingeprägt, sie
haften an ihm. Schurz und Kelle legt er ab, aber jene Merkmale nimmt er mit nach Hause; er trägt sie mit sich herum,
und sie sollen ihm stets zur Hand sein, nicht bloß als Mittel zur Legitimation, wenn er eine andere Loge besuchen
oder sich jemandem als Bruder vorstellen will, sondern als die allgemeinen charakteristischen Merkmale, die ihn als
Freimaurer ausweisen. Es wird gefragt: „Sind Sie ein freier und angenommener Johannis-Lehrling ?“, und die
Antwort lautet: „Meine Brüder Meister und Gesellen erkennen mich dafür.“ Und weiter: „Woran soll ich Sie
erkennen?“ — „An meinem Zeichen, meinem Handgriffe, meinem Worte und den Umständen meiner Aufnahme zum
Lehrling.“ Das soll nicht bloß heißen: Ich verstehe das Zeichen zu machen, den Griff zu geben, ich weiß das Wort
und erinnere mich, wie es bei meiner Aufnahme zugegangen ist; sondern das bedeutet: Ich hin bestrebt, durch mein
ganzes Wesen das Zeichen zu verwirklichen, und wer mit mir in Berührung kommt, soll empfinden, daß ich Maurer
bin, zumal der Bruder, der es selbst ist, denn das Licht, das vom Worte ausgeht, durchleuchtet mich und lehrt mich,
das, was der Orden mir bietet, nicht bloß in meinem Gedächtnis festzuhalten, sondern als unschätzbares Mittel zu
gebrauchen, um das Licht in meinem Innern zu vermehren.
Die Symbolstürmer freilich werden kommen und sagen: Du hast Unrecht! Diese Zeichen sind und bleiben doch nichts
als äußerliche Dinge, kaum gut genug, sich beim Besuch einer Loge zu legitimieren. Das, was du da sagst, soll doch
weiter nichts heißen als: der wahre Maurer wird allein aus seinen Gesinnungen und Taten erkannt. — Ganz gewiß,
kann ich darauf erwidern; aber ihr habt dennoch nicht recht. Treue und aufrichtige Gesinnungen und edle Taten
werden auch außerhalb der Loge vielfach an Leuten wahrgenommen und von ihnen vollbracht, die von der
Freimaurerei keine Ahnung haben, und in deren Innern es trotz des schönen Scheines dunkel und ungeordnet genug
aussehen kann. Denn die Freimaurerei besteht nicht bloß in guten Gesinnungen und Taten, die sich bei dieser oder
jener Gelegenheit bemerklich machen, sondern sie ist eine Kunst, durch welche der ganze Mensch harmonisch nach
allen Richtungen ausgestaltet und nach göttlichem Urbild zu einem vollendeten Kunstwerk gebildet werden soll.
Denken wir uns einen solchen zum freimaurerischen Ideal geformten >208< Menschen, so wird man sicherlich an
ihm jene guten Gesinnungen und Taten wahrnehmen. Das Schönste aber, seine innere Ausgestaltung nach göttlichem
Ebenmaß, kann die Welt nicht sehen; nur der Bruder und Freund, der gleich ihm vom Dunkel zum Lichte
vorgedrungen ist, kann in sein Inneres schauen und erkennt ihn als Freimaurer an seinen Erkennungszeichen.
Tausende gibt es, die Freimaurer heißen, ohne es zu sein; Tausende gibt es, die die Erkennungszeichen genau
auswendig wissen, denen sie aber nichts anderes geworden sind als eitle Gebärde und leerer Schall, weil sie niemals
auch nur den Versuch gemacht haben, diese Dinge auf ihr Inneres anzuwenden. Der wahre Freimaurer aber, der sich
unablässig bemüht hat, sein Inneres zu einem göttlichen Kunstwerk zu formen, zeigt die Erkennungszeichen nicht
bloß als äußere Gebärden und Worte, sondern als lebendige Offenbarungen seines inneren Menschen, die nur seine
Kunstgenossen an ihm wahrnehmen, weil sie allein ihn verstehen können.
Wie dies geschieht, werden wir nunmehr zu untersuchen haben. Die freimaurerische Erkennungsart besteht im
Klopfen, im Zeichen, im Griff, im Wort und in der Losung. Unsere Akten sagen, daß der Freimaurer sich durch das
Klopfen ankündigt, daß er sich durch das Zeichen als Maurer bezeichnet, durch den Griff dies bekräftigt, durch das
Wort seine Kenntnisse besiegelt und daß er durch die Losung den Eintritt in die Loge erlangt. (Vgl. II. Logenbuch,
Beilagen, Buchstabe |.) Über das Klopfen und die Losung soll besonders gehandelt werden; uns interessieren zunächst Zeichen, Griff und Wort, welche zusammen betrachtet werden müssen, weil sie ein untrennbares Ganzes
bilden und die wichtigsten von allen Erkennungszeichen sind. Deshalb wird beim Unterricht dem Lehrling
eingeprägt, daß das Zeichen den Griff und der Griff das Wort fordert. Alle drei stehen in der innigsten Verbindung;
eins folgt nicht nur auf das andere, sondern aus dem andern, weil sie sich auseinander entwickeln. Schon die
Ausdrücke „bezeichnen“, „bekräftigen“ und „besiegeln“ zeigen eine Steigerung und weisen darauf hin, daß Zeichen,
Griff und Wort eine Reihe bilden, und zwar eine psychologische Reihe im Fortschreiten der Erkenntnis.
Um dies einzusehen, brauchen wir uns nicht auf das freimaurerische Gebiet zu beschränken, vielmehr finden wir, daß
unsere Erkennungsart ein Schema für jede Erkenntnis darstellt. Der Mensch hat fünf Sinne, drei höhere, Gesichtssinn,
Tastsinn und Gehörsinn, und zwei niedere, Geruch und Geschmack. Das Erkennen wird hauptsächlich durch die
ersten drei vermittelt; sie erregen auf eine uns unbegreifliche Weise die Zentralorgane des Nervensystems und führen
dadurch Vorstellungen und Bilder unserer Seele zu, und diese setzt urteilend und schließend aus jenen Vorstellungen
sich ein Gesamtbild der Welt zusammen. Auch eine höhere, über die sinnliche Erfahrung hinausgehende Erkenntnis
abstrakter Begriffe ist unmöglich, wenn nicht jene sinnlichen Erfahrungen vorausgegangen sind. Denken wir uns
einen Menschen, der blind, taub und gefühllos geboren wäre; er könnte vielleicht durch künstliche Ernährung eine
Weile am Leben erhalten werden und ein Pflanzendasein führen. Von jeder geistigen Erkenntnis wäre er aber absolut
ausgeschlossen, da seiner Seele nicht der Stoff zugeführt werden kann, dessen sie sich, um zu einem höheren Leben
zu gelangen, bemächtigen muß, und ohne welchen die vorhandenen geistigen Anlagen unzweifelhaft verkümmern
würden. Gesicht, Gefühl und Gehör sind also die notwendigen Vermittler jeder Erkenntnis, nicht bloß der sinnlichen,
empirischen, sondern auch der höheren, übersinnlichen. Auf sie weisen Zeichen, Griff und Wort hin; denn das
Zeichen erkennen wir durch das Gesicht, den Griff durch das Gefühl, das Wort durch das Gehör.
Es ist interessant, zu beobachten, wie diese drei bei dem einfachsten und primitivsten, so wie bei dem höheren
wissenschaftlichen Erkennen eine Rolle spielen. Beobachten wir zunächst ein Kind, das anfängt, sich zu entwickeln,
und seine Sinnesorgane gebrauchen lernt. Durch den Gesichtssinn wird zunächst seine Aufmerksamkeit auf die Dinge
gelenkt, welche es umgeben und sein Interesse erregen. Mit Staunen nimmt es die Dinge wahr, es sieht ihre äußeren
Zeichen, und zugleich erwacht der unbezwingliche Trieb, die Dinge näher kennen zu lernen und mit sich selbst in
Verbindung zu bringen. Das Kind greift nach dem lockenden Gegenstand, es betastet ihn, ja, es führt ihn
unwillkürlich zum Munde, weil in den Lippen und in der Zungenspitze sich die feinsten Tastorgane befinden. So
vervollständigt es die Eindrücke, die der Gesichtssinn ihm gegeben hat, durch das Gefühl. Das Zeichen forderte den
Griff. Und endlich entringt sich dem Kindermund >210< ein lallender Laut, ein Versuch, dem Dinge einen Namen
zu geben, der erste Ansatz zum Wort, durch den sich das Göttergeschenk der Sprache kundgibt, das der Mensch mit
der Vernunft empfing. Was das Zeichen gründete, was der Griff verbesserte, das vollendete das Wort, welches der
ersten Erkenntnis einen gewissen vollendenden Abschluß gibt. Das Kind auf dem Arme der Wärterin sieht die Gestalt
der Mutter nahen; sogleich streckt es seine Ärmchen aus, um die Teure zu umfassen, und in kindischem Jauchzen
entringen sich seinem Munde jene ersten Naturlaute, mit denen in allen Sprachen das Kind die Mutter benennt. Das
sind die Uranfänge von Zeichen, Griff und Wort.
Nehmen wir nun als Gegenbild einen Menschen von größter Reife und höchstentwickelter Intelligenz, etwa einen
Naturforscher, und untersuchen wir, wie sich sein Erkennen vollzieht, so werden wir auch hier das Schema von
Zeichen, Griff und Wort wiederfinden. Ein Forscher findet ein neues Wesen, ein Tier oder eine Pflanze, die die
Wissenschaft bis dahin noch nicht gekannt hat. Zunächst fällt ihm das neue Wesen durch seine äußere Erscheinung
ins Auge, er sieht seine äußeren Merkmale und Zeichen. Dabei aber bleibt er nicht stehen. Er bemächtigt sich seiner,
er ergreift es und trägt es davon, um seine Natur genau zu untersuchen, ja, er zerlegt es, um sein Inneres zu
erforschen. Wenn er so mit Fleiß und Eifer alles angewendet hat, um das neue Wesen ganz zu erkennen, dann gibt er
ihm einen Namen, er erfindet ein Wort, das ein Ausdruck für das Wesen selbst sein soll. Einen Namen geben kann
nur der Mensch, der, weil er mit Vernunft begabt ist, Anteil hat am göttlichen Wort. Darum heißt es 1. Mos. 2, 19 u.
20: „Als Gott der Herr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel,
da brachte er sie zu dem Menschen, daß er sehe, wie er sie nennete; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere
nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und
Tier auf dem Felde seinen Namen.“
Noch ein Beispiel. Die wunderbarste Verbindung auf Erden ist die von Mann und Weib. Zu ihrer Schließung gibt den
ersten Anreiz die äußere Gestalt. Aus diesem Reiz entspringt die Sehnsucht zur Vereinigung. Aber diese Vereinigung
entbehrt der Vollendung, wenn sie sich nicht vollzieht im Wort und durch das Wort, d.h. durch die Geisteskraft,
durch welche die getrennten Geschlechter zu einem, zu dem wahren Menschen vereinigt werden. Eine Ehe, die nicht
durch diese Stadien gegangen ist, ist keine in höherem Sinne gesetzmäßige, verbesserte und vollkommene.
Nach dem Gesagten ist es leicht zu erkennen, welche tiefgreifende Bedeutung Zeichen, Griff und Wort für die k.
Kunst haben. Diese Bedeutung gibt sich uns nach zwei Richtungen hin kund: Zeichen, Griff und Wort sind uns
1.)
2.)
Mittel zur freimaurerischen Erkenntnis des Lichtes und der Wahrheit;
sie sind uns Mittel zur Erweckung unseres inneren Lebens durch Übung.
Zunächst also: Wie gelangt der Freimaurer zum Licht und zur Wahrheit? — Wenn der Orden uns in seiner Kunst
unterweist, so stellt er dieselbe stets als ein Bauen dar. Der Name „Freimaurerei“ weist allein schon darauf hin, und
zahlreiche, der Bauhütte entnommene Sinnbilder bestätigen das. Ein geistiges Bauen ist es, das wir in der Loge lernen
sollen, und es ist unzweifelhaft, daß die Architektur uns auch für ein geistiges Bauen die Wege weist. Verweilen wir
also zunächst einen Augenblick bei ihr. — Jeder Lehrer einer Kunst macht es dem Schüler zur Pflicht, die
Meisterwerke derselben kennen zu lernen und zu studieren. Setzen wir uns nun an die Stelle eines solchen
Kunstjüngers. Sein Meister schickt ihn an einen Ort, wo ein herrliches Bauwerk aufgerichtet steht, ein vollendetes
Meisterwerk der Architektur, sei es ein Tempel, eine Kirche, ein Palast, ein Schloß, oder was sonst immer. Der erste
Eindruck, den der Schüler erhält, ist ein äußerlicher, durch den Gesichtssinn gewonnener. Er sieht das Gebäude auf
wagerechtem Grunde aufgerichtet, zum Himmel anstrebend. Überall, wo er hinsieht, bemerkt er den rechten Winkel.
Er schwelgt in der Harmonie der Linien und Verhältnisse, die die Fassade ihm darbietet, aber überall spürt er das
Gesetz, das den Meister trotz aller Freiheit des Schaffens gebunden hielt. Der rechte Winkel ist es, der alles
beherrscht, und auf den sich alle Schönheit und alles Ebenmaß, selbst da, wo sich Bogen und geschwungene Linien
zeigen, zurückführen läßt. — Aber bei diesen äußeren Zeichen der Schönheit bleibt der Schüler nicht stehen. Sie
haben sein Interesse erregt, tiefer einzudringen und den Spuren des Meisters weiter nachzugehen. So geht er hinein in
das Innere, und Staunen ergreift ihn über den wohlgefügten Zusammenhang des Ganzen. Er bewundert die
Konstruktion, das festgelegte Fundament, die wohlgefügten Verbände der >212< Mauern, den leicht und doch
sicher gefügten Dachstuhl. Alles greift ineinander; überall findet er Festigkeit, Sicherheit, Dauerhaftigkeit, mit einem
Wort: er findet Stärke, und diese Erkenntnis steigert in ihm die Ehrfurcht vor dem Meister, der das Werk schuf. —
Was aber wäre alle Schönheit und alle Festigkeit des Baues wert, wenn das Werk nicht dem Zwecke voll entsprechen
möchte, dem es dienen soll. All seine Vorzüge wären dann hinfällig und eitel Täuschung und Lüge. Der erfindende
Künstler mußte die Idee, der sein Kunstwerk dienen sollte, in vollkommener Wahrheit erfassen; sie mußte in ihm
lebendig werden als Wort, als Sinn, der sich als Kraft bewähren und als Tat in die Erscheinung treten mußte, und aus
diesem Wort heraus mußte er schaffen, in Stärke und Schönheit. Der Kunstjünger aber, der in wonnigem Erschauern
die Weisheit des Erfinders erkennt, taucht hinab in den Geist des Meisters und seinen Spuren folgend wird er eins mit
ihm. Die Wahrheit, die den Schöpfer durchdrang, wird auch ihm offenbar, und das Licht, das den Meister erleuchtete,
strahlt auch in seinem Inneren. So wird der Lehrling — auch der der profanen Architektur — inne, daß Weisheit,
Stärke und Schönheit die unerschütterlichen Grundpfeiler jedes vollkommenen Baues sind: Weisheit zum
Unternehmen, Stärke zum Ausführen, Schönheit zum Schmücken (Fragebuch III. Abt., 3. Art., Frage 7 bis 9); und in
diesen drei Kennzeichen der Vollkommenheit finden wir Freimaurer auch unsere drei Erkennungsmerkmale — in
umgekehrter Reihenfolge — wieder: Zeichen, Griff und Wort.
Auch die Freimaurerei als geistige Baukunst führt ihren Lehrling vor ein Meisterwerk, das er studieren soll; das ist
die Natur, das ewige Bauwerk der Welten, das der große Meister aufgerichtet hat, der die Quelle von aller Weisheit,
aller Stärke und aller Schönheit ist. Die königliche Kunst öffnet ihrem Lehrling zunächst die Augen für das göttliche
Gesetz, das im Weltenbau überall waltet, im größten wie im kleinsten. Sie zeigt ihm den rechten Winkel und lehrt ihn
die „unzähligen Zeichen“ erkennen, welche, wie unser Fragebuch sagt, gemacht werden „durch Darstellung von
Winkeln, wassergleichen und senkrechten Linien. Sie übt des Lehrlings Blick, das Walten dieses Gesetzes zu
erkennen und zu verstehen. Und dieses Verständnis des Gesetzes führt den Lehrling weiter. Das Zeichen fordert den
Griff. Griff bedeutet nichts anderes als „Vereinigung“, „Zusammenhang“. Es ist eine notwendige Folge des Waltens
des Weltgesetzes, daß die einzelnen Teile der Schöpfung nicht getrennt für sich bestehen können, sondern sich
vereinigen müssen zum Ganzen. Nur, wo ein solches Gesetz nicht waltet, würde Trennung, Widerspruch und Kampf
stattfinden. Wenn dies trotzdem der Fall ist, so weiß doch der, welcher das Gesetz gefunden hat, daß aller Widerstreit
in der Natur nur scheinbar und darum vorübergehend ist, und daß jede Trennung endlich zur Vereinigung führt, daß
jeder Kampf mit dem Siege der Wahrheit enden muß, und daß jeder Widerspruch sich endlich auflöst in der ewigen
Weltenharmonie. — Der Griff endlich fordert das Wort. Zwar bleibt dem Staubgeborenen die letzte Lösung des
Welträtsels verschlossen; den Sinn und das Endziel der Schöpfung wird er nie ganz ergründen. Aber die Ahnung von
dem Wort, das im Anfang war, das bei Gott, und das selbst mit Gott eins war, und durch das alle Dinge gemacht sind,
geht ihm auf. Er empfindet, daß im ewigen Worte das Leben und das Licht der Menschen ist. (Joh. l, l bis 4.) In
diesem Lichte lernt er sich erst als Mensch fühlen, als das auserwählte Wesen der Schöpfung, das durch seine
Vernunft Anteil hat an dem Wort, und so wie der Schüler des irdischen Baumeisters sich in den Geist seines
Vorbildes versenkt, so taucht der Maurer unter in den Geist des großen Architekten der Welt als Teilhaber und
Miterbe seines Lichtes und seiner Wahrheit, deren Verständnis ihm aufgeht durch Zeichen, Griff und Wort. — — —
Wenn der Maurer nun zu solcher Erkenntnis gelangt ist, dann beginnt für ihn erst der schwierigste Teil seiner
Aufgabe: die Anwendung von Zeichen, Griff und Wort auf sich selbst zur Erweckung seines inneren Lebens durch
Übung. Dem Lehrling wird der rechte Winkel gewiesen als das göttliche, überall waltende Gesetz. Er mußte, als noch
die Binde sein Auge umhüllte, seine Füße in einen rechten Winkel stellen, er mußte rechtwinklige Schritte tun, sein
Knie ruhte auf dem rechten Winkel, als er sich dem Orden angelobte, den rechtwinklig geöffneten Zirkel setzte er
sich selbst auf das Herz, und mit dem Hammer, dem doppelten rechten Winkel, erhielt er die Weiheschläge. Und
endlich erhielt er Unterricht, wie man das Zeichen macht und wie man sich in das Zeichen stellt. Alles >214< dieses
— und das letztere zumeist — soll ihn darauf hinweisen, daß es fortan seine Maurerpflicht ist, das Gesetz des
göttlichen Lebens an sich und in sich zu erwecken und zum Ausdruck zu bringen. Die Unendlichkeit liegt vor ihm
ausgebreitet, wo er in unzähligen Zeichen die Wirksamkeit des Gesetzes wahrnehmen kann. Ebenso unendlich aber
wie die Tiefen des Weltalls ist die Tiefe seines Inneren, die er in freier Tätigkeit des Geistes, ein Schöpfer seiner
eigensten Welt, mit den Manifestationen des Zeichens zu erfüllen hat.
Das Lehrlingszeichen wird gemacht, indem man die rechtwinklig geöffnete Hand an den Hals legt (Winkelmaß), dann
die Hand wagerecht gegen die rechte Schulter zieht (Wasserwaage) und sie alsdann senkrecht gegen die rechte Hüfte
niederfallen läßt (Senkblei). Das Zeichen bedeutet, wie das Fragebuch (IV, 8) mit Beziehung auf den alten Eid sagt,
„daß man sich eher den Hals durchhauen lassen wolle, als das geringste von den Geheimnissen des Ordens zu
offenbaren“. Das Zeichen trennt gleichsam mit einem scharfen Schnitt das Haupt vom Körper, den Sitz des Geistes
von unserm irdischen Teil, wo Leidenschaften und Begierden ihren Sitz haben. Es ist wie eine Scheidung des Lichts
von der Finsternis, das erste Tagewerk der Neuschöpfung, die der angehende Maurer in seinem Inneren aufzurichten
beginnt. Sein Leben setzt der Lehrling ein für die Bewahrung seines hohen Freimaurerberufs, und die erste Erfüllung
dieses Berufes ist eben die Betätigung des Zeichens, des rechten Winkels, an sich selbst. Der Logenbrauch schreibt
vor, daß niemand sich dem Meister nahen soll, ohne die Hand rechtwinklig an den Hals zu legen. Was wäre diese
Vorschrift wert, wenn wir sie nicht auf unser ganzes Leben anwenden wollten! Jeder Schritt, den wir auf unserer
Lebensbahn vorwärts tun, soll uns dem Meister näher bringen, und wenn wir dem ewigen Meister nahen und zu ihm
kommen wollen, müssen wir „in Ordnung“ sein. Der Logenmeister ruft uns durch den Schlag seines Hammers in
Ordnung, und wir stellen uns in das Logenzeichen. Der Hammerschlag des ewigen Meisters, der uns in Ordnung
zwingt, soll uns in jedem Pulsschlag unseres Herzens erschallen; denn des Ordens strenges Gebot erheischt, „daß wir
die uns aufgegebene Arbeit fortsetzen ohne sie zu schließen“, und daß wir sie erst dann schließen, „wenn es dem
gefällt, der die Arbeit regiert“ (Fragebuch IV, 22, 23). Und ferner heißt es (Fragebuch II, 3., Frage 19 und 20): „Der
Freimaurertag reicht von dem Anfange des Jahres bis zu des Jahres letztem Tage; dadurch geben wir zu erkennen,
daß die Freimaurer Tag für Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und von einem Jahre bis zu dem andern
arbeiten“. Arbeiten aber heißt zunächst: im Zeichen stehen und das Zeichen machen. Wenn wir uns ins Zeichen
stellen, so erscheinen wir in Ordnung vor dem ewigen Meister; das will sagen: unsere Geisteskräfte sind auf sein
heiliges Wesen gerichtet, und alles, was den Dienst, zu dem wir vor seinem allsehenden Auge berufen sind, stören
könnte, ist weit von uns entfernt. Wenn wir aber das Lehrlingszeichen durch Beschreibung eines großen rechten
Winkels machen, wie der Logenmeister bei der Arbeit und der ewige Meister in jeder Minute unseres Daseins es
fordert, so heißt das: wir schneiden uns rechtwinklig zu und formen uns durch Winkelmaß, Wasserwaage und
Senkblei zum Kubus, aus dem Rohmaterial des Bruchsteins zu einem vollkommenen Baustück, das würdig sein soll,
in den großen Tempelbau eingefügt zu werden. Nicht mit äußerer Gebärde tun wir das, sondern durch die äußere
Gebärde, die wir entweder wirklich machen oder im Geiste an uns vollziehen, soll ein Vorgang in unserem Inneren
ausgelöst werden, der alle unsere geistigen Kräfte nach einer Richtung hin zwingt und auf das eine große Ziel
hinleitet.
Wie unendlich schwer es ist, in dieser Weise das Zeichen zu üben, das wird jeder erfahren, der mit ganzem Ernst an
diese Arbeit geht. Es erscheint dem Anfänger fast eine Unmöglichkeit, das Zeichen immer festzuhalten. Wie vieles
durchkreuzt uns und will uns niederwerfen, wenn wir aufrecht bleiben und uns rechtwinklig stellen wollen! Wie viele
Störungen treten von außen an uns heran, erregend, verwirrend und von unserer Maurerarbeit, die doch keine
Unterbrechung erleiden darf, uns ablenkend! Und wie viele Hemmnisse steigen erst aus unserm Inneren herauf,
Leidenschaften, Begierden, unreine Gedanken aller Art, die dem Lichte den Eingang verwehren und Finsternis in uns
heraufbeschwören! Wie viele andere Dinge nehmen uns in Anspruch, wieviel haben wir zu tun mit Berufsgeschäften
und anderen profanen Sachen! Wie viele Sorgen drücken uns und wie viele sog. Lebensgenüsse zerstreuen uns! Und
doch muß das alles überwunden werden. Der Kaufmann bei seinen Rechnungsbüchern, der Beamte in seinem Bureau,
der Arzt am Krankenbett, der Offizier im Kugelregen darf das >216< Zeichen nicht verlieren; im tiefsten Leid,
ebenso wie in überschäumender Freude muß uns unsere Maurerpflicht und unsere Aufgabe gegenwärtig bleiben.
Wem das unausführbar scheint, der möge nicht von sich behaupten, daß er die k. Kunst treibe. Jede Kunst erfordert
Übung, unausgesetzte, energische, gewissenhafte Übung. Wer sich der Übung nicht unterziehen will, für den wird die
Kunst eine eitle Spielerei, und er hätte besser getan, sich gar nicht damit abzugeben. Jede Kunst ist schwer, und die k.
Kunst ist die allerschwerste, und der Weg zum Leben ist steil und dornig. Aber der Orden verlangt von uns nichts
Unmögliches. Darum sage niemand: das ist unausführbar, was du verlangst! — Versuche es nur, geliebter Br.
Lehrling, und du wirst dich überzeugen, daß dir, vorausgesetzt, daß du fleißig bist, das Zeichen immer leichter wird.
Einem Musiker, der auf seinem Instrumente übt, erscheint oft eine Passage unausführbar; mit Eifer und Mühe aber
bekommt er sie endlich doch heraus. So ist es auch hier. Darum Mut und Ausdauer, lieber Lehrling; du wirst zu
deiner Freude erfahren, daß, je mehr du gelernt hast, Schwierigkeiten zu überwinden, dir das, was noch vor dir liegt,
um so leichter werden wird.
Nun aber weiter! Das Zeichen fordert den Griff. Daß der Griff Vereinigung, Zusammenfügung bedeutet, haben wir
schon gesehen. Der Griff des Lehrlings aber zeigt uns die erste Berührung zweier Brüder, die sich vereinigen zum
gemeinsamen maurerischen Werke. Der Lehrlingsgriff ist, wie das Zeichen, das Einfachste von der Welt; er macht
sich gleichsam von selbst; denn wenn zwei Brüder sich die rechte Hand reichen, so fallen die Daumen, ohne lange zu
suchen, auf die Knöchel der Zeigefinger. Und doch erfordert auch der Lehrlingsgriff lange und schwierige Übung.
Das Zeichen kann ich allein machen, da bin ich ganz auf mich selbst gestellt. Zum Griff aber gehören zwei, ein
Ergreifender und ein Ergriffener, und nur dann kann der Griff die rechte Wirksamkeit haben, wenn jeder von beiden
zugleich ein Ergreifender und ein Ergriffener ist. Die Hände, die sich gegeneinander ausstrecken, um sich im Griff zu
vereinigen, müssen erst gelernt haben, das rechte Zeichen zu machen, wenn der Griff gelingen soll.
Warum nun berühren wir im Lehrlingsgriff den Zeigefinger des Bruders? — Wenn wir jemand auf etwas hinweisen,
etwa ihm einen Weg weisen wollen, so gebrauchen wir dazu den Zeigefinger der rechten Hand. Am Eingange unseres
Ordens finden wir einen solchen Wegweiser, der uns nicht nur die Bahn zeigt, die wir zurückzulegen haben, sondern
auch auf das fernste Ziel hindeutet, das uns am Ende dieser Bahn entgegenleuchtet: Johannes den Täufer. Unsere
Johannislogen sind ja nach ihm benannt, nicht in althergebrachter Weise, sondern weil der Geist und die Lehre des
Täufers mit unserer Ordenslehre und namentlich mit der Lehre der drei ersten Grade in innigster Beziehung stehen.
Fast immer, wenn wir Johannes durch die bildende Kunst dargestellt sehen, finden wir ihn mit erhobenem Zeigefinger
entweder gen Himmel oder auf Christus oder auf ein Kreuz hindeutend. (z.B. Raffaels Madonna di Foligno im Vatikan,
desselben Meisters jugendlicher Johannes in den Uffizien zu Florenz, die Johannisstatue Thorwaldsens in der Frauenkirche zu Kopenhagen und
viele andere.)
Sein erhobener Finger will uns sagen, daß seine Lehre nicht in Worten und Formeln besteht, sondern in
dem selbständigen Beschreiten eines bestimmten Weges, des Weges der inneren Umwandlung und geistigen Erneuerung. Wenn ich nun die Hand meines Bruders ergreife und ihm den Zeigefinger drücke, so heißt das: wir beide
haben die gemeinsame Aufgabe, den Weg zu gehen, den Johannes uns gewiesen hat. In der Lösung dieser Aufgabe
und durch sie „vereinigen wir uns“, wie der Orden vom Lehrlingsgriff sagt, „zur stärksten und innigsten Freundschaft,
welche ewig, mithin von Glied zu Glied, dauern soll“(II. L. B., Beil. 8.54). Wir sind vereinigt durch ein Band, das
selbst der Tod nicht auflösen soll; denn unser Ziel liegt in einem höheren Sein. Wir sind Brüder, Kinder desselben
ewigen Vaters, als welche wir uns erkennen; wir sind Ergreifende und Ergriffene; ich ziehe dich hinan, wenn du
wanken willst, und du ziehst mich, wenn mir die Kraft versagt; so sind wir nicht bloß vereinigt, sondern wir werden
endlich eins durch den Griff.
Wenn wir den Griff so auffassen, kann es da noch zweifelhaft sein, daß seine Bildung und Anwendung ebenso
schwierig ist als das Zeichen? Zwei Menschen, die sich im Griff vereinigen, sollen eins werden, zwei Seelen sollen
ineinander verschmelzen wie zwei Wassertropfen, die sich berühren. Wie viele Hindernisse aber stehen zwischen
beiden! Naturanlagen, Erziehung, Ausbildung, das Leben in der Welt prägen verschiedene Persönlichkeiten, schroff
sich gegenüberstehende Charaktere, die einander so unähnlich sind wie die rauhen Bruchsteine auf dem Bauplatz.
Alle diese Verschiedenheiten aber müssen überwunden werden durch unablässige Maurerarbeit, sonst können sich
die Steine nicht fest >218< zusammenfügen, und wo es nicht gelingt, vollkommen glatte Flächen herzustellen, da
muß, wo sich auf der einen Seite eine schroffe Hervorragung zeigt, auf der andern Seite eine Einsenkung sein, welche
jene in sich aufnimmt, wo Härte ist, muß Sanftmut ihr gegenüberstehen, wo Schroffheit waltet, muß Liebe, die
Allüberwinderin, sie auszugleichen suchen. Alles das ist ungemein schwer; es erfordert eine große Kraft, Hingebung
und Ausdauer.
Diese Arbeit aber, die Übung des Griffs, ist schwer, aber unerläßlich für den, der zur Vollendung gelangen will, und
diese Vollendung liegt — im Wort. Im Wort spricht sich das Göttliche, das Ewige aus, und in dem Wort, das der
Orden uns mitteilt, haben wir den Anteil zu erkennen, den der staubgeborene Mensch an dem göttlichen Wesen
besitzt, jenen Funken des Lichtes, den ihm der Schöpfer als sein Heiligstes und Köstlichstes in das Erdenleben
mitgegeben hat. Die Entwicklung dieses Kleinods zur Vollendung, bis das göttliche Licht uns ganz durchdringt und
wir in ihm mit unserm göttlichen Ursprunge wieder vereinigt sind, ist das höchste Ziel unserer k. Kunst. Aber dieses
Ziel liegt in weiter Ferne, und der Weg dahin ist lang und schwer. Das Kleinod des Wortes liegt anfangs in uns
verschlossen wie in einem Schrein, zu dem wir erst den Schlüssel suchen müssen, und diesen Schlüssel finden wir im
Zeichen und im Griff; denn so wie das Zeichen den Griff forderte, so fordert der Griff das Wort. Durch diese beiden
wird unser Inneres vor uns selbst aufgeschlossen, aber nicht etwa so, daß wir gleich die Vollendung zu umfassen
vermögen, vielmehr zeigen sich uns zunächst nur die ersten Strahlen dieses Lichtes, wie sie das Lehrlingswort uns
darbeut. Auch das Wort muß geübt werden wie das Zeichen und der Griff; Salomos Siegel hat uns zwar die Zunge
gelöst, aber wir müssen erst sprechen lernen. Wir wissen wohl, wie das Wort heißt, aber wir besitzen es noch nicht.
Wir müssen es ergründen, ergreifen und endlich verteidigen, d.h. ganz mit ihm eins werden, so daß wir nur mit
unserm Leben es aufgeben können. Dies lernen wir in der Art und Weise, wie wir im Verein mit dem Bruder, mit
welchem wir im Griff vereinigt stehen, das Wort zu geben haben. In dieser Art erkennen wir Zeichen und Griff
wieder, die uns endlich zum Wort führen. Wie bekannt, müssen die beiden, die sich durch das Zeichen erkannt und
durch den Griff miteinander verbunden haben, das Wort buchstabenweise zusammensetzen, indem sie sich die
einzelnen Zeichen abwechselnd nennen, dann erst kommt die Zusammenfügung (Griff) durch Aussprechen der
Silben, dann endlich sind sie erst zum vollen Wort gelangt und sprechen es beide zusammen aus. Was ist das anderes,
wenn der Apostel Paulus sagt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht
zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise; dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1. Kor.
13, 12.)
Zum Worte gelangt sein, heißt: das Göttliche um sich und in sich selbst begriffen haben. Zu der vollen Vollendung
des Wortes war nur Einer gelangt, der da selbst das im Fleische erschienene Wort genannt werden durfte, das große
Wort der Wahrheit und des Lebens, in dem das Licht der Menschen ist, und von dem das Lehrlingswort das erste
Lallen des Kindes gleichsam darstellt.
Und dieses Lehrlingswort, was bedeutet es? — Das hebräische Zeitwort, von welchem es herkommt, bedeutet
„aufrichten“, und das Wort selbst bedeutet, „er hat aufgerichtet“. Wer das ist, kann nicht zweifelhaft sein; aufrichten
heißt soviel wie hinstellen, in die Erscheinung treten lassen, schaffen, und zu schaffen vermag nur Einer — Gott. Das
Lehrlingswort, wenn ich es außer mir suche, zeigt mir also den Schöpfer aller Dinge, und wenn ich es in mir selbst
finde, zeigt es mir meinen Schöpfer, der mich aufgerichtet, mich aufrecht hingestellt hat, das Haupt erhoben zu seinen
Sternen; es zeigt mir den ewigen Vater, meinen Vater, dessen Kind ich bin, von dessen ewigem und heiligem Wesen
ein Funke in mein Inneres gelegt ist, durch den ich vor allen übrigen Geschöpfen den Vorzug erlangt habe, den
ewigen Vater zu ahnen und mich anbetend ihm zu nahen. Das ist das Merkmal meiner göttlichen Abkunft, meine
Legitimation und mein Freibrief, durch den ich mich ausweise als Mensch, als letztes Glied der Schöpfung, als Herrn
der Erde. Und wenn zwei Maurer miteinander buchstabenweise das Wort suchen, silbenweise zusammensetzen und
endlich es ganz aussprechen, so bedeutet das, daß einer im anderen die göttliche Abkunft gefunden und mithin
erkannt habe, daß sie Kinder eines Vaters, also Brüder sind. Die Kirche lehrt uns dieselbe Wahrheit, wenn sie im
ersten Glaubensartikel sagt: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde“;
aber es ist doch ein anderes, wenn der Orden uns an die lange und schwierige Arbeit der Übung unserer Kunst stellt,
die durch die Erkenntnis des Wortes gekrönt wird. Dem Bekenner des Katechismus kann jene Formel sein Leben
lang eine tote Satzung bleiben; dem Freimaurer, der die Wege >220< der k. Kunst wandelt, muß sie zur lebendigen
Wahrheit werden, die ihn ganz durchdringt und mit heiligem Licht durchflutet, eine Wahrheit, die sein unverlierbarer
Besitz geworden ist, den keine Macht der Welt ihm zu rauben vermag. Goethe spricht dasselbe aus, wenn er sagt:
„Ich glaube einen Gott! Das ist ein schönes, löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das
ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.“
Das ist die Lehre von Zeichen, Griff und Wort, eine Lehre, die so einfach und schlicht ist, wie nur etwas sein kann,
und die doch so groß, so gewaltig, so allumfassend ist, eine Lehre, die so wenig erkannt und noch viel weniger geübt
wird. Trotzdem hält die ganze Maurerwelt instinktiv an ihren Erkennungszeichen fest, obschon so unendlich viele
Brüder, ja ganze maurerische Verbände keine Ahnung davon haben, welchen Schatz sie in diesen unscheinbaren
Dingen besitzen. Die Erkennungszeichen bilden noch heute das Element, das allen maurerischen Verbänden
gemeinsam ist. Wäre es möglich, ihre richtige Würdigung und Anwendung auf den inneren Menschen durch alle jene
Kreise zu verbreiten, so könnten sie zum festesten Band der Eintracht werden, vor welchem alle Streitigkeiten, die
sich nur um Nebensachen und nichtige Dinge drehen, dahinschwinden möchten. Nicht in schönen Reden von
Bruderliebe und Menschheitsbund, nicht in Wohltätigkeitsanstalten und Aufbringung von Mitteln für solche liegt das
Heil der Zukunft unseres Bundes, sondern einzig und allein in der rechten Maurerarbeit. Jenes alles können die
Profanen auch, aber unsere Maurerarbeit, d.h. die Anwendung der Mittel und Werkzeuge unserer Kunst, haben wir
für uns allein.
Darum halte fest, was du hast, o Lehrling, daß niemand dir deine Krone raube! Du ahnst noch nicht, was dir weiter
bevorsteht; denn von allen den Graden, die du noch zu beschreiten hast, hat jeder ein anderes Zeichen, einen anderen
Griff und ein anderes Wort. Die Zeichen werden, je weiter wir steigen, immer deutlicher und eindrucksvoller, sie
erstrecken sich über unser ganzes Wesen; die Griffe werden immer inniger, fester und unverbrüchlicher, sie
verbinden uns mit unseren Brüdern und miterschaffenen Wesen zur untrennbaren Vereinigung, und das Wort wird
immer lauter, deutlicher, eindringlicher, das Licht, das uns daraus durchleuchtet, immer heller und mächtiger, und so
wie die Zeichen und Griffe aufsteigende Reihen bilden, so bilden die Worte aller Grade einen Spruch, der in seiner
Einfalt und Schlichtheit alle Weisheit der Welt in sich schließt.
Darum, o Lehrling, auf zur Arbeit! Die Mühe ist groß, aber der Lohn ist wunderbar und herrlich; denn „was kein
Auge gesehen, was kein Ohr gehört und auch in keines Menschen Herz gekommen ist, das Gott bereitet hat denen,
die ihn lieben“. (1. Kor. 2, 9.) Darum arbeite unverdrossen und sei treu! Möge an dir und mir das Wort zur Wahrheit
werden: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ (Offenb. 2, 10.) (1904.) >222<
Die Losung des Lehrlings.
Die königliche Kunst der Freimaurerei ist Erziehung des Menschen im eminentesten Sinne des Wortes. Allen
erziehenden Faktoren, die auf uns eingewirkt haben, der Erziehung des Elternhauses, der Schule, den religiösen
Gemeinschaften, den sozialen Verbänden, in welchen wir uns bewegen, den Wissenschaften und Künsten, denen wir
zur Ausbildung unseres Geistes obliegen, sucht sie das Siegel der Vollendung aufzudrücken und alle
Einzelbestrebungen unter große allgemeine Gesichtspunkte einheitlich zusammenzufassen. Die höchste Höhe des
Menschentums ist ihr Ziel; die Vereinigung des Endlichen mit dem Ewigen, des Menschlichen mit dem Göttlichen ihr
letzter und höchster Zweck.
Groß und bedeutungsvoll ist der Apparat, den die Freimaurerei gebraucht, um ihr Werk an uns zu vollenden, und
eigentümlich und nur ihr allein angehörig ist die Methode, welche sie anwendet. Diese Methode ist die des
Mysteriums, d.h. sie sucht uns auf einen verborgenen Weg hinzudrängen, den jeder sich selbst aus eigenen Kräften
suchen, ja sich erst durch eigene Arbeit selbst schaffen muß, einen Weg, der jedem anderen ein Geheimnis bleibt, es
sei denn, er entschlösse sich, ihn gleichfalls aufzusuchen und zu wandeln. Was der Meister dem Lehrling geben kann,
das sind nur, neben dem unablässig wiederholten Vorwärtsruf, die Mittel, wie sie von Geschlecht zu Geschlecht uns
als förderlich überliefert worden sind. Die Anwendung derselben ist dem Fleiße jedes einzelnen anheimgegeben.
Wenn nun Maurerarbeit gedeihen soll, so wird es vor allem notwendig sein, diese eigentümlichen Mittel ihrer Natur
und ihrem Wert nach kennen zu lernen. In den Gebräuchen der Aufnahme, in den Symbolen und vor allem in
Zeichen, Griff und Wort sind, wie ich im vorhergegangenen Vortrage nachzuweisen versucht habe, jene Mittel
und Wege verborgen.
Zu den Erkennungszeichen wird nun dem angehenden Maurer endlich eine Losung mitgeteilt, welche dienen soll,
„den Eintritt in die Loge zu erlangen“. Alles dies sind Dinge, welche sich dem eifrig Suchenden als Träger der
tiefsten freimaurerischen Geheimnisse und als Wegweiser auf den verborgenen Wegen, die er zu wandeln hat,
darstellen. Jene Gebräuche und Bilder stellen die Wege und den Inhalt der Freimaurerei in der umfassendsten und
detailliertesten Form dar, und zwar, wie aus der Natur der Sache hervorgeht, von zwei verschiedenen Seiten. Doch
dunkel und rätselhaft liegen diese Hieroglyphen noch vor des Neulings Blicken. Er steht ihnen noch passiv
gegenüber, und selbst mit der Kelle, die auf seinem Herzen ruht, weiß er noch nichts Rechtes anzufangen, obwohl er
über ihren Gebrauch unterrichtet worden ist. Erst durch den Unterricht im Klopfen, in Zeichen, Griff und Wort und in
der Losung gelangt er zu der ersten aktiven Tätigkeit in der Loge. Die selbständige Anwendung dieser Dinge ist das
erste, was von ihm als Handlung gefordert wird, wenn die Bbr. Aufseher ihn zum Meister schicken, daß er sich ihm
zu erkennen gebe.
Die umfassende Darstellung des freimaurerischen Weges durch Handlungen und Bilder wird nun in den
Erkennungszeichen in eine äußerst knappe, präzise Form gebracht. Der psychologische Weg, der uns vom Zeichen
zum Griff, vom Griff zum Wort führt, faßt das Wesen unserer Sache von einer ganz neuen Seite, und wir erhalten in
diesen drei unscheinbaren Dingen die Mittel, in jedem Augenblick das Geheimnis der Freimaurerei an uns und in uns
lebendig und wirksam zu machen; ja, es gibt noch eins, das mit der Blitzesschnelligkeit des Gedankens uns das ganze
vor die Seele führt, das ist das Klopfen. (Vgl. den betreffenden Vortrag.)
Wieder eine andere eigentümliche Seite des freimaurerischen Werkes liegt in der Losung oder vielmehr in den
Losungen, denn jeder unserer Grade hat eine besondere Losung. Es geschieht häufig, daß Wort und Losung
miteinander verwechselt werden. Davor ist zu warnen. Die Worte unserer Grade stehen mit den Losungen,
wenigstens in den sog. Arbeitsgraden, in keinem unmittelbaren Zusammenhang; nur auf den beiden höchsten
Wissensstufen des Ordens sind Wort und Losung auf das engste verbunden; sie erscheinen untrennbar >224< als
Frage und Antwort, als Vordersatz und Nachsatz. Auf den übrigen Ordensstufen bedeutet das Wort überall den vollen
Inhalt des betreffenden Grades, gleichsam seine Quintessenz, zu welcher wir durch die Arbeit mit Zeichen und Griff
hingeführt werden. Die Losungen dagegen, welche mehrfach etwas Persönliches bezeichnen, zielen auf das
Individuum, das die Berechtigung erhalten hat, an der Arbeit des betreffenden Grades teilzunehmen, sie drücken
einen Standpunkt aus, auf welchen der in dem betreffenden Grade Arbeitende erhoben ist oder sich zu erheben hat.
Darum heißt die Losung auch das „Paßwort“; sie ist von dem den Eintritt Begehrenden an den Wachthabenden bei
der inneren Tür abzugeben und dient somit als Legitimation, um den Eintritt zu erlangen.
Dieser Charakter der Losung als persönliches Merkmal tritt in anderen Lehrarten noch schärfer hervor. In der Großen
National-Mutterloge zu den drei Weltkugeln wird geradezu gefragt: Wie heißen Sie als Lehrling, als Geselle usw.?,
und die Antworten auf diese Fragen sind dann die Losungen der betreffenden Grade.
Der Meinung unseres Brs. Widmann, daß die Losungen etwas mehr Äußerliches seien und nur einen historischen
Zusammenhang haben, kann ich nicht beitreten. Ich möchte vielmehr behaupten, daß die Losungen ihrer geistigen
Bedeutung nach untereinander verknüpft sind, und daß sich an jeder der innerste Kern eines jeden Grades, sein Wert
für den Suchenden entwickeln läßt. Dies werde ich nun an der Losung des Lehrlingsgrades nachzuweisen haben.
Die Losung des Lehrlings ist T ........
Unsere Akten sagen darüber, daß die Lehrlinge diese Losung erhalten haben
„zum Gedächtnis des T....... ., welcher der erste Künstler in allen Eisen arbeiten war und der Erste,
welcher Werkzeuge zubereitete, Steine damit zu behauen und zu Gebäuden brauchbar zu machen.“
(L. B. II, Beilagen, Seite 55).
In ähnlicher Weise spricht sich das Fragebuch (Abt. IV., Fr. 18) über T ........ aus. Es nennt ihn
„den ersten Arbeiter in Eisen, der uns durch seine Wissenschaft Muster zu den Werkzeugen verschafft hat,
welche nötig waren, die Steine zum Bau des Tempels zuzurichten“. *) Vgl. Zirkelkorr. 1872, S. 248.
Die Quelle dieser Nachrichten unserer Akten ist die Bibel. Im 1. Buche Mosis, Kap. 4, 22, geschieht des T.
Erwähnung als eines Sohnes des Lamech und der Zilla, „des Meisters in allerlei Erz und Eisenwerk“. Soweit gehen
die Überlieferungen, die uns von unserer Lehrlingslosung zu Gebote stehen.
Es ist schon öfters darauf hingewiesen worden, daß alle unsere freimaurerischen Dinge für uns eine dreifache
Bedeutung haben: eine moralische, historische und mystische oder freimaurerisch wissenschaftliche. Die moralische
Bedeutung geht auf die Entwicklung und Ausbildung des einzelnen Menschen, die historische auf die Entwicklung
der Menschheit, die freimaurerisch-wissenschaftliche Bedeutung endlich zielt auf das innerste Wesen unserer Kunst,
auf die tiefste freimaurerische Erkenntnis. Die Johannisloge und speziell der Lehrlingsgrad, in welchem es gilt, das
Individuum für den Dienst des Ganzen zu formen, beschäftigt sich zumeist mit dem moralischen Element. Doch
werden wir auch schon hier durch Andeutungen unserer Akten selbst oft genug auf das Historische und
freimaurerisch Wissenschaftliche hingedrängt. Namentlich bei Untersuchung der Losungen ist es zuvörderst die
historische Bedeutung, die uns aus ihnen selbst entgegenkommt, denn sämtliche Losungen der Arbeitsgrade sind
entweder historische Personennamen, oder sie erinnern an geschichtliche Begebenheiten.
Hierbei ist nun wohl zu merken, daß wir uns vor einer zu engen Fassung des Begriffs des Historischen zu hüten
haben. Unter Geschichte dürfen wir nicht allein die nackten Tatsachen der wirklichen Geschehnisse verstehen, wie sie
uns (durch Urkunden, denen Glaubwürdigkeit unumstößlich feststeht, überliefert sind: es gehört vielmehr in ihr
Bereich auch noch das große Gebiet der Sagen und Mythen, wie sie sich in mündlichen oder schriftlichen Traditionen
der Völker finden. Sagen und Mythen berichten uns allerdings keine pragmatischen, durch Brief und Siegel
verbürgten Tatsachen, aber sie sind überall Träger von Wahrheiten, deren Vorhandensein nicht wegzuleugnen ist,
und von Ideen, deren ewige Dauer in ihrem Werte verbürgt liegt.
Der Übergang vom Sagenhaften zum historisch Verbürgten ist stets ein unmerklicher. So wie das menschliche Auge
zu schwach ist, selbst mit den schärfsten Fernrohren bewaffnet, den unendlichen Raum zu erforschen, sondern zuletzt
statt der Weltkörper nur noch Nebel >226< wahrnehmen kann, so vermag auch das Auge des Geschichtsforschers
selbst die kurze Spanne der Zeit, welche die Dauer des Menschengeschlechts einnimmt, nur zum kleinsten Teil
zu überblicken. Es ist ein unumstößliches Gesetz, daß alle Fakta, je weiter sie in die Vergangenheit rücken, desto
undeutlicher im Gedächtnis der Menschen werden. Auch das, was sich heute vor unsern Augen begibt, wird einst,
und wenn wir uns noch so sehr bemühen, es auf unzerstörbare Tafeln einzutragen, für die Nachwelt vom Schleier der
Sage umhüllt sein. Somit sind wir zu dem Schluß berechtigt, daß gerade die Tatsachen, so wichtig auch ihre genaue
Feststellung ist, dennoch in der Geschichtsforschung einen untergeordneten Wert haben, sondern daß gerade jene
großen weltbewegenden Ideen, die zur Entwicklung geführt haben und führen werden, die wichtigsten Objekte für
die historische Erkenntnis bilden mußten, denn sie sind die unsterbliche Seele der Menschheit und wirken hinaus in
Äonen mit unversiegbarer Kraft.
Das hervorragendste Beispiel, wie die Mythe zum Träger ewiger Ideen werden muß, geben die ersten Kapitel der
Genesis, welche die mosaische Schöpfungssage enthalten. Nur der Buchstabenglaube der starren Orthodoxie kann
behaupten, daß es sich hier um verbürgte Tatsachen und historische Personen handle, aber auch nur der vollständige
Nihilismus kann das dort Erzählte für Ammenmärchen halten und leugnen wollen, daß hier Wahrheiten verborgen
liegen, die jeder Mensch in seiner eigenen Entwicklung wiederfinden muß, Wahrheiten, die für alle Zeiten ein Licht
bilden werden für alles menschliche Schaffen und Streben. Die ersten Seiten der Bibel enthalten in großen Zügen die
Urgeschichte des Menschengeschlechts; auf ihnen finden wir auch die Losung unseres Lehrlingsgrades T ........
wieder.
Nachdem erzählt worden ist von dem ersten Menschenpaar, von seinem Leben im Stande der Unschuld, von seinem
Fall und von dem ersten Brudermord, erfahren wir von der Ausbreitung des Menschengeschlechts, und unter den
Nachkommen Kains im fünften Gliede geschieht des T ........ Erwähnung mit dem bedeutungsvollen Zusatz, daß er
war ein Meister in allerlei Erz und Eisenwerk. Aus dem Namen selbst geht diese Meisterschaft hervor; denn nach
Gesenius ist derselbe aus persischen und arabischen Wortstämmen abzuleiten; Tupal soll Erz-und Steinschlacken,
Kajim aber Schmied bedeuten. (Vgl. Zirkelkorr. 1876, Seite 171.) Schon hieraus ist mit Deutlichkeit zu ersehen, daß
die Gestalt des T........ keine historische Person, sondern nur die mythische Hülle ist für ein wichtiges Moment in der
Geschichte der Entwicklung des Menschengeschlechts; es liegt hierin ein Hinweis auf den ersten Keim der
menschlichen Kunsttätigkeit und Kulturentwicklung. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, daß neben T ........
seines Bruders Jubal Erwähnung geschieht, „von dem“, wie es heißt, „sind hergekommen die Geiger und Pfeifer“.
(Gen. 4, 21.) Jener stellt also den Ausgangspunkt der bildenden, dieser der redenden Künste dar.
Wir sehen also in der mythischen Gestalt des T ......... wie der Mensch den Rohstoffen der Natur gegenübersteht und
sie durch seine Erfindungsgabe zu formen und sich dienstbar zu machen weiß. Wir sehen ihn im Kampfe um das
Dasein durch äußere Bedürfnisse zuerst genötigt, seinen Kunsttrieb zu entfalten, und wir sehen ihn als Sieger
hervorgehen durch die schneidige Waffe seines Geistes. Unsere Akten erweitern den biblischen Bericht und stellen
T........ hin als Erfinder des Werkzeuges; sie weisen damit auf eine Gabe hin, die einzig und allein von allen
bekannten Wesen dem Menschen eigen ist. Auch im Tierreich finden wir Kunstfertigkeiten; der Nesterbau der Vögel,
die Bauten der Ameisen, die Zellen der Bienen erregen unsere Bewunderung, aber die Werke der Tiere sind nur
Produkte eines unbewußten Naturtriebes, der jedem einzelnen Individuum gleichmäßig zukommt, so daß jedes
dasselbe hervorzubringen gezwungen wird. Dem Menschen allein gehört die Gabe der Erfindung, und die erste
ursprüngliche Erfindung war ein Werkzeug, Formung eines Stoffes, um mit Hilfe desselben wieder anderen Stoffen
eine feinere, erhöhte Form zu geben:
„Im Fleiß kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern:
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.“
Ich brauche nicht auszuführen, wie aus dem kleinen Keim sich die herrlichsten Blüten und Früchte der Kultur
entfalteten. Es war ein weiter Weg von dem ersten rohen Meißel bis zu den feinen komplizierten Maschinen der
Neuzeit, von der einfachen Hütte des Nomaden bis zum prunkvollen Tempelbau. So stehst du da, o Mensch,
„Herr der Natur, die deine Fesseln liebet,
Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet,
Und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg.“ >228<
Unaufhaltsam weiter geht der Mensch die Bahnen seiner Entwicklung. Bis in die fernsten Zeiten, solange das
Geschlecht auf Erden wandelt, wird sich der Trieb der Gestaltung in ihm regen als Teilerscheinung des göttlichen
Geistes, welcher als ewiges Erbteil dem Menschen verliehen ward.
Neben anderen mannigfachen Offenbarungen und Erweckungen des Gottesgedankens wird der Mensch durch das
Anschauen seiner selbst, seiner eigenen Größe und Hoheit zum Begriff des Göttlichen geführt. Fern von jeder
dünkelhaften Überhebung erkennt er, daß er das, was er leistet, nicht aus eigener Kraft hervorbringt, sondern daß ein
Höheres in ihm lebendig geworden ist. Befähigt, als das bevorzugteste Wesen, Werke der Schöpfung durch die Kunst
nachzubilden, ja, selbst Werke zu schaffen, deren Ideale in seinem eigenen Inneren leben, erkennt er, daß er Teil
haben muß an jenem unendlichen Schöpfergeiste, der das Universum in die Erscheinung treten ließ, und der auch den
Menschen aus Staub geformt und mit seinem göttlichen Hauche beseelt hat.
Hier sind wir nun bei dem Zusammenhange des heiligen Wortes des Lehrlingsgrades mit der Lehrlingslosung
angelangt. In dem heiligen Wort J.... liegt die Idee der Schöpfung. „Er hat aufgerichtet“, so lautet seine Übersetzung.
Er hat erschaffen Himmel, Erde, alle Kreatur und mich selbst, dem er die Fähigkeit verlieh, das Unbegreifliche seines
ewigen Wirkens zu ahnen und sich ihm anbetend zu nahen, erfüllt von der Sehnsucht, vereinigt zu werden mit ihm,
dessen Vaterschoß ich entsprossen bin. Das ist der Grundgedanke, das ist das Geheimnis des Lehrlingsgrades. T........
aber heißt derjenige, welcher in seinem Inneren den Gedanken des Schöpfers wiedergefunden hat und bereit ist, ihn
in sich zu beleben und zu gestalten, der sich erhebt aus dem Staube des Irdischen zu freiem edlen Schaffen, so wie
jener T ........ sich aus dem in Sünde und Blutschuld versunkenen Geschlecht erhob zur Meisterschaft in der
Beherrschung der Metalle.
Hiermit nun, indem wir unsern Blick von der Entwicklung des Menschengeschlechts auf unsere eigene individuelle
Entwicklung richten, kommen wir von der historischen zur moralischen Bedeutung der Lehrlingslosung. T ........ hat
uns, wie das Fragebuch sagt, durch seine Wissenschaft Muster zu den Werkzeugen verschafft, welche nötig waren,
die Steine zum Bau des Tempels zuzurichten. Hier haben wir den Hinweis auf unsere erste Lehrlingsarbeit: „Der
rauhe Stein ist das Hauptaugenmerk der Johannis-Lehrlinge; ihnen liegt ob, den selben zu bebauen und zu einem
vollkommenen Baugeräte zu gestalten“, so sagen unsere Akten. Dieses Hauptgeschäft des Lehrlings gründet sich auf
die Erkenntnis der Säule J.... Nur derjenige, in dessen Inneren die Erkenntnis eines göttlichen Ursprungs
aufgeleuchtet ist, lernt bei diesem Lichte sich selbst erkennen, und indem er gewahr wird, wieviel ihm noch fehlt, um
dem göttlichen Urbilde, nach dem er geschaffen, nur einigermaßen zu gleichen, findet er sich wieder als rauhen Stein,
der da, weit entfernt von dem kubischen Ideal der Vollkommenheit, seine Unzulänglichkeit und Unbrauchbarkeit für
den großen Tempelbau erkennt. Je heller das Licht des Göttlichen in uns entzündet ist, desto schwärzer erscheint
uns die Finsternis, die uns umgibt, desto drückender die Macht der Materie, die den Geist in uns knechten und
dämpfen will, desto schmerzvoller zerreißt uns das Gefühl der eigenen Schwäche und Unvollkommenheit, und desto
glühender erwacht die Sehnsucht, abzutun, was finster ist. So erwacht aus dem Drange des Herzens nach ewigem
Leben und Licht die Arbeit am rauhen Stein.
Als wir als Suchende diese Arbeitsstätte betraten, hatten wir alle Metalle abgelegt, sobald wir aber, aus der Passivität
heraustretend, als mit dem Namen T ........ Bezeichnete, nunmehr aktiv an die Arbeit gehen sollten, da mußten wir die
Metalle wieder aufnehmen, aber nur, um sie zu bezwingen und sie beherrschend zu Werkzeugen zu formen. Wir
erhielten die Kelle in die eine Hand, in die andere das Schwert. Die Metalle bedeuten für uns die Materie im
eminentesten Sinne des Wortes; sie repräsentieren die eigentliche Schwerkraft derselben, das, was herabzieht und den
Flug hemmen will. Wir stehen ihnen gegenüber als einer Macht, die sich nicht abweisen läßt, sondern gegen die wir
uns im Kampfe zu stellen haben, damit wir sie uns unterwerfen und für höhere Zwecke dienstbar machen. „Machet
euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“, sagt der Obermeister. Bezwungen werden die Metalle nur durch
Feuer und Hammerschläge, das hat unser Ahn T ........ uns gelehrt. Durch das Feuer der Liebe schmelzen wir, was an
uns von außen widerspenstig und spröde herantritt, und auch in unserm Inneren bezwingen wir das Starre und Rauhe,
wenn auf dem Altar unseres Tempels die Flamme des Ewigen lodert, und wenn wir gehorchen dem Hammer des
göttlichen Meisters, der laut und vernehmlich mit jedem Pulsschlage unseres Lebens an unser Herz klopft und mit
jedem Hauche unseres Atems unser inneres Feuer schürt. So arbeitet T ........ in uns fort >230< und schafft uns
Werkzeug. Durch ihn wird der Mordstahl in unserer Hand zum Schwert des Lichtes, der schnöde Mammon des
Goldes und Silbers zu des Maurers höchstem Schmuck, zur Kelle auf unserer Brust. Mit jenem, das nicht zum Anfall
und nicht zur Rache gezückt ist, werfen wir nieder, was trübe und unheilig, mit dieser richten wir auf, was rein und
ewig ist. So werden Steine geformt zum Bau des Tempels. Ausharrend in dieser strengen Arbeit, warten wir des
Tages der Vollendung, da unser Kubus durch die Gnade der ewigen Liebe, die unserm liebenden Verlangen
entgegenkam, vollendet ist und wir unsere Schwerter vor dem Thron des göttlichen Geistes niederlegen können.
Im Hinblicke auf diese endliche Vollendung unseres Werkes öffnet sich uns endlich eine Aussicht auf die innerste
freimaurerisch-wissenschaftliche Bedeutung der Lehrlingslosung. Das Wort T ........ hat noch eine andere Bedeutung;
es läßt sich auch, wie einer unserer Forscher gezeigt hat, aus dem Hebräischen ableiten; danach soll Tubal bedeuten:
das Hervorgebrachte, das Geschaffene, Kain aber der Besitzende, Beherrschende. T ........ heilst also: der Herr der
Schöpfung, der Beherrscher der Erde. — Es hat eine Zeit gegeben, in welcher man durch allerhand mystische und
magische Operationen zu einer besonderen Kraft gelangen wollte, wodurch der Mensch sich zum Herrn über die ihn
umgebende Natur machen kann. Es war dieselbe Zeit, in welcher der Stein der Weisen und das Lebenselixier gesucht
wurden, und in welcher die Alchimisten sich mit Bereitung der Tinktur zur Veredlung der Metalle abgaben. Auch die
Freimaurerei ist von diesen Bestrebungen nicht unberührt geblieben. Was daran sinnlos und abergläubisch war, hat
sie längst abgetan. Was aber an dieser Idee wahr ist, lebt in ihr fort und wird nur mit dem Menschen untergehen.
Der Mensch ist der Herrscher der Erde; durch göttlichen Ratschluß ist er dazu geschaffen und bestimmt. Durch die
Kraft seines Geistes, durch die Erfindungen seines Verstandes, durch die Werkzeuge, die er sich schuf mit
kunstgeübter Hand, hat er sich die Kräfte der Natur untertan gemacht. Aber es gibt eine Grenze, über die er sich nicht
erheben kann. Wie pygmäenhaft klein nehmen sich selbst seine großartigsten Werke den Schöpfungen der Natur
gegenüber aus, und was will seine Kraft ausrichten gegenüber dem Toben der Elemente, die im Nu zerschellen, was
er mit Mühe fertiggestellt hat. Eine andere Herrschaft ist hier gemeint als diejenige, die sich der Mensch durch
seine Erfindungsgabe erringt.
Überall durch die ganze Schöpfung ist der Geist des Göttlichen ergossen. Aber am herrlichsten und größten hat er
sich offenbart im letzten Gliede der Geschaffenen, im Menschen, der allein fähig ist, das in ihm ruhende Göttliche zu
finden und in eigener freier Tätigkeit zur Geltung zu bringen. Diese Tätigkeit ist die Arbeit, das Geheimnis der
Freimaurerei; wer sie nicht übt, für den existiert die k. Kunst nicht. Der Geist ist Herrscher über die Materie; je weiter
die Maurerarbeit gediehen, desto mehr werden wir davon überzeugt aus eigener innerer Erfahrung. Wer die Macht
des ewigen Geistes in sich geschaut hat, der ist nicht nur Herr über sich selbst, sondern auch über das Feindliche, das
von außen auf ihn eindringt. Auch wenn er mitten im Ozean, ein Spielball der Wogen, mit dem Tode ringt, als ein
König wird er untergehen, denn er hat den Tod überwunden und Ewiges, Unsterbliches in sich geschaffen. Wer
waren die Herrscher? Jene blutdürstigen Imperatoren, denen der Weltkreis mit allen seinen Schätzen zu Füßen lag,
oder die Opfer, die vor den Augen jener unter den Zähnen der Bestien verbluteten? Welche Krone glänzte heller? Die
auf dem Haupte jener Sklaven ihrer eigenen Lüste oder die Märtyrerkrone, welche diesen im ewigen Reiche aufbehalten ist? „Wer überwindet, der wird alles ererben“, ruft der Obermeister (Luk. 16, 9), und: „Selig sind die
Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Matth. 5, 5). Ja, es gibt noch eine höhere Herrschaft als die
Macht dieser Welt; wir erringen sie uns durch die Arbeit der Freimaurerei, und T ........ ist unsere Losung! — (1881.)
>232<
Die Lehrlingsaufnahme
Aus dem Dunkel zum Licht.
Wie verschiedenartig sind doch die Beweggründe, welche die Suchenden antreiben, Einlaß begehrend an die Pforten
der Loge zu klopfen! Wer längere Zeit das Amt des einführenden Bruders verwaltet hat, wird das bestätigen müssen.
Zwar sind die Antworten, die man in der dunklen Kammer von den zu Prüfenden erhält, ziemlich übereinstimmend;
gewöhnlich heißt es: „Ich wünsche in einen Orden einzutreten, von welchem ich überzeugt bin, daß er edle Zwecke
verfolgt;“ oder: „Ich wünsche in eine Gesellschaft von Männern aufgenommen zu werden, in der edle Sitte,
Wohltätigkeit und alle Tugenden eines guten Staatsbürgers gepflegt werden usw.“ Trotzdem wird es dem tiefer
blickenden Menschenkenner nicht entgehen, daß sich hinter solchen Antworten, welche als korrekte anerkannt
werden müssen, oft genug noch andere Beweggründe verbergen, und die späteren Erfahrungen, die wir mit denen
machen, die wir zur Aufnahme vorbereitet haben, werden das oft genug bestätigen. Wie oft tritt uns bei diesen
Unterredungen in den Antworten des Suchenden eine gewisse Oberflächlichkeit entgegen! Das merken wir manchmal
an seinem ganzen Wesen, wenn er seine Worte auch noch so gut zu setzen weiß. Wie oft ist Neugier der
Beweggrund, „kindische Vorstellung von seltsamen Dingen“, vor welchen der Meister in seiner ersten Anrede den
Suchenden warnt; wie vielfach bildet den Hauptanziehungspunkt für die Eintretenden die gute Gesellschaft, die sie in
der Loge zu finden >236< hoffen, mit ihren Annehmlichkeiten, ihren bequemen Einrichtungen und ihren
Zerstreuungen; und oft genug — leider muß es gesagt werden — liegen dem Aufnahmegesuche eigennützige
Absichten zugrunde. Da hat man gehört, daß die Brüder Freimaurer sich gegenseitig helfen und unterstützen; es gibt
sogar Blätter, in welchen die Logenbrüder ihre Waren, ihre Gasthöfe und dergl. inserieren und den Angehörigen des
Bundes ermäßigte Preise in Aussicht stellen. Warum sollte man solche Vorteile nicht wahrnehmen? Ist noch sonst
etwas Schönes, Erhabenes bei der Sache, nun, um so besser. Es ist ja leicht erklärlich, wenn ein Kaufmann eine
Vermehrung seiner Kunden, ein Arzt eine Vergrößerung seiner Praxis, ein Rechtsanwalt eine Zunahme seiner
Klienten von seinem Eintritt erhofft; das ist durchaus menschlich und kommt oft genug vor trotz der Frage, welche
der Suchende bei der Vollziehung des Reverses zu beantworten hat: „Hoffen Sie durch die Aufnahme äußere Vorteile
zu gewinnen?“ Diese Frage wird zwar regelmäßig verneint, aber vielfach ist diese Verneinung nicht recht aufrichtig.
Besser wäre es vielleicht, wenn dem Suchenden im Revers sogleich eröffnet würde, daß er niemals auf eine
Erlangung äußerer Vorteile durch den Orden hoffen dürfe, und daß ein Streben danach sich mit dem rechten
Freimaurertum nicht vereinigen läßt.
Wohl nur in den allerseltensten Fällen wird ein Suchender mit solchen Erwartungen an die k. Kunst herantreten, die
den Wünschen des Ordens voll und ganz entsprechen; denn die ganze Erhabenheit und Größe der Sache kann von
dem angehenden Maurer kaum geahnt werden; bleibt sie doch leider vielen trotz alles Unterrichts ein für immer
verschlossenes Geheimnis. Darum erfüllt der Orden gegen jeden Neuaufgenommenen die Pflicht, ihn mit dem allein
richtigen Beweggrund bekannt zu machen, welcher ihn bei seinem Aufnahmegesuch hätte leiten müssen, und den er
von dem Augenblicke seiner Aufnahme an zu dem seinigen zu machen verpflichtet ist.
Die erste Frage der fünften Abteilung unseres Lehrlings-Fragebuches, welche von den Aufnahmegebräuchen handelt,
lautet folgendermaßen:
„Warum haben Sie die Aufnahme in den Orden gesucht ?“
„Ich war im Dunkeln und wünschte, das Licht zu sehen.“
In diesen einfachen, schlichten Worten ist alles gesagt. Die Sehnsucht nach dem Licht allein ist es, welche für jeden
Suchenden der Beweggrund zur Aufnahme gewesen sein sollte, und war dies nicht von Anfang an der Fall, so muß
diese Sehnsucht nach erfolgter Aufnahme erweckt werden; denn des Ordens einziger Zweck ist es, seine Jünger zum
Lichte zu führen, und zwar ist es ein ganz besonderes Licht, das in der Freimaurerei leuchtet, ein Licht, das zwar auch
außerhalb der Loge vorhanden ist, aber ohne sie und ohne die ihr eigentümlichen Mittel und Wege nicht so leicht
gefunden werden kann. Daß dies so ist, und daß der Orden sein Licht so verstanden wissen will, geht aus dem
Aufnahmeritual zweifellos hervor. Der Meister fragt vor der Lichterteilung die Brüder, ob sie genehmigen, daß der
Aufzunehmende das Licht sehe, welches er von der Stunde seiner Geburt an zu benutzen gehindert war; und der erste
Aufseher legt für den Suchenden das Zeugnis ab, daß er des Lichtes für würdig erkannt werde, weil er mit Fleiß und
Mühe (bei Überwindung der Prüfungen) danach gestrebt habe. Von der Stunde seiner Geburt an haben ihm manche
Lichter geschienen, helle und trübe, wahre und falsche, echte und unechte, aber nicht das maurerische Licht, nicht der
eigentümliche Schein, der uns leuchtet, und bei dem wir die Arbeiten der k. Kunst vollbringen. Daher muß der
Meister bei seiner Frage nicht auf das Wort „Licht“ den Ton legen, sondern auf den Artikel „das“; denn dasjenige
Licht ist gemeint, das allein in der Loge zu finden ist, und das die Herzen der rechten Maurer, die es zu benutzen und
zu vermehren verstanden haben, erleuchtet. Ich weiß wohl, daß diese Ansicht nicht von allen geteilt wird; man hat
mir darauf entgegnet, daß es nur ein Licht der Wahrheit geben kann, wie es nur einen Gott gibt. Dieser Einwand muß
anerkannt werden. Aber das eine, ewige Licht bricht sich für das blöde Auge des Sterblichen in verschiedener Weise;
durch die mannigfachsten Medien erblickt er es in wechselnden Erscheinungen. Und solch eine Erscheinungsform
des Lichtes stellt sich auch in den Dingen dar, die der Orden uns bietet. Das ewig unveränderliche Licht wird uns hier
in einem so eigenartigen Glanze, in einer so wunderbaren, Herz und Sinn ergreifenden Weise gezeigt, daß wir wohl
mit Recht von einem besondern maurerischen Lichte reden können, das der Suchende von der Stunde seiner Geburt
bis zu seiner Aufnahme zu benutzen gehindert war. Über das Wesen dieses besonderen Lichtes sich klar zu >238<
werden, das ist eine der vornehmsten Aufgaben des angehenden Freimaurers.
Jeder tiefer angelegte Mensch, dem es Ernst ist um die Erkenntnis der höchsten Dinge, wird sich sagen, daß es noch
ein höheres, reineres Licht geben muß als das, welches wir draußen in der Welt finden, und worauf die große Menge
einen besonderen Wert legt. Jeder, der nur etwas nachdenkt, wird sich darüber klar werden, daß die Strahlen, welche
die Welt erleuchten, zwar aus derselben reinen und heiligen Quelle des ewigen Lichtes stammen, daß sie aber uns
vielfach getrübt und verunreinigt erscheinen. Überall im Leben, wo wir das Streben zum Höchsten sich regen sehen,
in der Wissenschaft, in der Kunst, auf religiösem, auf politischem Gebiet, können wir diese Lebensäußerungen
zurückführen auf die Wirkungen des Lichtes der Wahrheit; aber, wie das Buch der Bücher auf unserem Altar an der
Stelle, an welcher es aufgeschlagen ist, sagt, „das Licht scheinet in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht
begriffen“. Das Gold liegt gleichsam auf der Straße, aber die törichte Menge läßt es liegen, denn sie erkennt es nicht,
weil es mit Staub und Schmutz bedeckt ist. Auf dem Markt des Lebens bieten sie die Wahrheit feil; jeder hat seine
besondere Wahrheit, jeder behauptet, die seinige sei die allein richtige, alles andere sei Lüge, und der Pöbel greift
nach dem, was ihm in die Augen fällt, was ein Ansehen hat, nach eitlem Glanz und Schimmer. Das Echte, das oft
genug unter unscheinbarer Gestalt erscheint, verschmäht er. So entsteht Kampf und Streit an allen Enden. Die
sogenannte Aufklärung ringt mit der Orthodoxie, die Wissenschaft mit dem Glauben an eine übernatürliche
Offenbarung; im öffentlichen Leben befehden sich die politischen Parteien mit unversöhnlichem Haß. Jede, ohne
Ausnahme, hält sich für unfehlbar, und vor lauter Sorge um das allgemeine Wohl droht dem Ganzen Zersetzung und
Auflösung. Die Strömungen, die sich im geistigen Leben der menschlichen Gesellschaft zeigen, sollten sich alle
vereinigen im gleichmäßigen Zuge nach oben, aber sie richten sich gegeneinander und geraten in einen Wirbel, indem
sie sich gegenseitig aufzuheben trachten.
Was ist nun die Folge davon? — Der große Haufe, der nicht selbst denkt, läßt sich für die eine oder die andere Idee
fanatisieren und sich ohne eigenen Willen für den Parteikampf gebrauchen, oder er fällt dem Indifferentismus anheim
und läßt sich nur da aus seiner Lethargie aufrütteln, wo materielle Güter für ihn in Frage kommen. So war es zu allen
Zeiten, die Bücher der Weltgeschichte erzählen davon; es ist eben der Lauf der Welt, die in den Banden der
Finsternis liegt.
Aber anderseits hat es zu allen Zeiten Geister gegeben, die sich solchem wirren Treiben zu entreißen strebten und an
dem Gedanken festhielten, daß es trotz alledem ein einiges, wahres Licht geben müsse, eine reine Quelle, wo der
Born der Wahrheit rein und unverfälscht quillt, eine Höhe des Lebens, die erhaben über allem Parteitreiben uns das
Ganze zeigt als Einheit, durchweht vom Hauche des ewigen Gottesgeistes, gehalten vom starken Vereinigungsbande
des inneren Gleichgewichts und durchflutet von der Schönheit ewiger Harmonie. Mit diesem Glauben an das ewige
Licht ist die Freimaurerei geboren, die k. Kunst, welche so alt ist wie die Menschheit selbst. Mag sich im Laufe der
Zeiten die Sache auch in die verschiedensten Hüllen gekleidet und die mannigfachsten Organisationen angenommen
haben: immer war die Idee lebendig, abgeschlossen von dem wirren Treiben der Welt und unbefleckt von der
Finsternis das zu suchen, was die Gegensätze versöhnt und die Rätsel des Lebens auflöst. „Glaubet an das Licht,
dieweil ihr es habt, auf daß ihr des Lichtes Kinder seid!“ (Joh. 12,36.) Dieses Wort der Schrift ist ein Leitstern für
diejenigen, die sich auf den Weg machen, den die k. Kunst den strebenden Geistern vorgezeichnet hat. Aus dem
Glauben an das Licht aber entspringt die Sehnsucht nach ihm und der kühne Mut, der alles daran setzt, um es zu
ergründen, zu ergreifen und zu verteidigen. Wer diesen Glauben hat, in dem wird das Geheimnis der k. Kunst
lebendig, die Entstehung und Stiftung des Ordens vollzieht sich in ihm in ihren ersten Anfängen, und seine innere
Loge ist bereit zur Eröffnung.
Heil dem, der in diesem Sinne von sich sagen kann: „Ich war im Dunkeln und wünschte, das Licht zu sehen.“ Das
Licht, nach dem sein Herz sich sehnte, das er liebte und von dem er nicht lassen wollte, wird ihn reichlich belohnen.
Es läßt ihn nicht mehr und bleibt sein treuer Begleiter auf der Lebensbahn. Sein erster Schein, der ihm bei der
Lehrlingsaufnahme aufgeht, lehrt ihn, Gott, die Quelle alles Lebens und aller Wahrheit, suchen und finden. Und das
Licht führt ihn weiter und zeigt ihm das Wirken und Walten des ewigen Gottes in der Natur sowohl wie im eigenen
Innern, und es lehrt den Irrenden und Fehlenden, der seinen Gott verliert, ihn kämpfend mit der Finsternis wiedergewinnen; es enthüllt ihm die Macht der ewigen Liebe, die ihn erlöst von den Stricken der Finsternis und des Todes;
es rüstet ihn aus mit >240< den Waffen der Liebe und weiht ihn zum Streiter für das Gottesreich und führt ihn
endlich, fest vereinigt mit seinen, gleich ihm strebenden treu verbundenen Brüdern, zum vollen Schauen im Geiste
und zur Vereinigung mit dem Urquell alles Lebens.
Du heiliges, unvergängliches Licht, senke dich herab in das Herz eines jeden, der an unsere Pforte klopft; entzünde in
den Herzen der Suchenden die Sehnsucht nach dir und führe sie alle, wenn auch durch Wechsel und Wandel, durch
Prüfungen und Heimsuchungen an das Herz des Allvaters zum Frieden und zur Herrlichkeit! (1881. 1904.)
Die dunkle Kammer und die Lichtprobe.
Wie höchst eigentümlich, wie wenig den gehegten Erwartungen entsprechend ist der erste Empfang, welcher einem
fremden Suchenden bei seiner Ankunft im Logenhause bereitet wird! Nach den Vorstellungen, die er über die Loge
nach dem, was er davon durch Hörensagen wußte, hegen konnte, durfte er hoffen, sogleich in eine Gesellschaft
eingeführt zu werden, die ihn mit offenen Armen aufzunehmen bereit ist. Freundliches, liebevolles Entgegenkommen,
herzliches Begrüßen, brüderliches und inniges Umfangen durfte er mit Recht zu finden erwarten.
Nichts von alledem! Ein frostiger Willkommen ist es, den er erfährt. Kaum hat sein Fuß das Logenhaus betreten, so
umhüllt eine Binde seine Augen; er wird geführt, er weiß nicht wohin, und wenn endlich die Binde gelöst wird,
befindet er sich in einem dunklen Raume, der alles Lichtes beraubt ist. Einsam sitzt er da.
(Die Vorschrift unserer Akten, daß der erste Pate dem Suchenden in der dunklen Kammer Gesellschaft leisten soll, halte ich für durchaus
unberechtigt und dem Sinn dieses Gebrauches ganz widersprechend. Was soll der Pate da? Soll er den Suchenden beobachten? Das kommt erst
später. Fürs erste fehlt es dazu an Licht, welches erst später hereingebracht wird. Soll der Pate stumm dasitzen? Wenn er das tut, so wird
jedenfalls der Suchende mit ihm zu reden anfangen und ihn vor allem fragen, was dieser merkwürdige Empfang zu bedeuten habe. Soll er nun
schweigen oder antworten Tut er das erstere, so wird das auf den Suchenden höchst peinlich und befremdlich wirken; antwortet er ihm, so greift
er dem einführenden Bruder und dem späteren Unterricht vor. Auch ist es nicht immer sicher, ob der Pate in der Lage sein wird, die rechte
Antwort zu geben. Möglicherweise fangen die beiden an, sich über ganz gleichgültige Dinge zu unterhalten, was erst recht verkehrt wäre. Daher
scheint mir das einzig Richtige zu sein, daß der Suchende in vollkommenster Einsamkeit seinem Nachdenken überlassen bleibt, und der Pate die
dunkle Kammer verläßt, sobald der Suchende darin Platz genommen hat, und sie nicht eher wieder betritt, als bis die Lichtprobe beginnt.)
Sein Auge erblickt nichts. Totenstille rings umher. >242< Was geht nun in jenen Minuten der Dunkelheit durch des
Suchenden Herz und Sinn? Welche Gedanken erwachen in ihm, und welche Empfindungen bewegen ihn? Das wird
sehr verschieden sein, je nach seinem Naturell und seiner Beanlagung. Bei manchem wird es vielleicht nur eine
eigentümliche Spannung sein, eine Erwartung besonderer Dinge, die aufsteigende Frage, was nun kommen, und wie
sich das entwickeln werde. Wie viele finden wohl kaum die richtige Fährte in der Beantwortung der Frage: „Warum
hat man mich in dieses Dunkel gebracht ?“ — Wir können es nicht wissen, was in dem Suchenden vorgeht, und wir
haben auch nicht danach zu fragen; auch der „in der k. Kunst erfahrene Mann“, der zu dem Suchenden als
Abgesandter der Loge in die dunkle Kammer tritt, um ihn mit „Ernst, Ruhe und Wahrheit“ (vgl. Fragebuch, Abt. V,
Fr. 4 bis 6) auf seine Aufnahme vorzubereiten, läßt diesen Punkt ganz unberührt. Er hat ganz andere Dinge zu fragen.
Er hat den Suchenden zu prüfen und „sich seiner Gesinnungen zu versichern und sich zu überzeugen, daß er alle
Eigenschaften besitzt, welche zur Teilnahme an der Gemeinschaft des Ordens erforderlich sind“ (Fr. 6). Er fragt ihn
nach seinem Namen und seinen sonstigen Verhältnissen, ob er ein freier Mann und Herr seiner Entschließungen sei,
ob es sein freier Wille sei, zum Freimaurer aufgenommen zu werden, ob er sich den Prüfungen unterwerfen wolle, die
der Orden für nötig erachtet, um seine Standhaftigkeit zu erproben, er erforscht die Anschauungen, die der Suchende
vom Orden hat, und sucht dieselben nötigenfalls zu berichtigen; aber er sagt ihm kein Wort darüber, weshalb man ihn
in ein dunkles Gemach geführt habe, sondern überläßt es ihm, sich darüber seine eigenen Gedanken zu machen.
Wenn ein Mensch in einen dunklen Raum versetzt wird, so erwacht mit Notwendigkeit in ihm die Sehnsucht nach
dem Lichte. Das Dunkel wirkt bedrückend und beängstigend bis zum Unerträglichen. So wie die Pflanze für das Licht
geschaffen ist und ohne dasselbe nicht gedeihen kann, so auch der Mensch. Die Pflanze, obschon sie kein Bewußtsein
hat, kehrt ihren Kelch dem Lichte zu; und der Mensch ist im Besitz eines Organs, das er mit Recht für das kostbarste
erachten darf, das ihm der Schöpfer mitgegeben hat auf seinen Lebensweg; es ist das Auge, dieses wunderbar
konstruierte optische Instrument, das dem Lichte den Zutritt in sein Inneres möglich macht, das ihm die
mannigfachsten Eindrücke der Dinge, welche um ihn her ausgebreitet sind, übermittelt, das ihm in wunderbaren
Bildern die Welt entrollt bis zu den fernsten Fernen des gestirnten Himmels. Und dieser vornehmste Sinn, durch
welchen der Mensch auf Schritt und Tritt die mannigfaltigsten Anregungen erhält, wird dem Suchenden verschlossen,
und nicht dieser allein, sondern auch — soweit dies möglich ist — das Ohr; denn ihn umgibt Grabesstille, das Wort
der menschlichen Rede, dieses „geflügelte Werkzeug“ des Geistes, dringt nicht zu ihm in seine Einsamkeit. — Aber
nein, ganz ist er des Wortes nicht beraubt; er kann mit sich selbst reden, sei es im lauten Selbstgespräch, sei es in der
inneren Sprache der Gedanken. Und das letztere ist es gerade, was der Orden haben will. Wenn das dunkle Gefängnis
sich nicht öffnet, wenn alle die Reize, die der Suchende sonst durch die Organe des Gesichts und des Gehörs
empfängt, ihm abgeschnitten sind, dann muß sein Geist von selbst darauf kommen, die ihm notwendige Anregung,
die er sonst von der Außenwelt erhält, bei sich selbst zu suchen; er muß in diesem Zustande darauf kommen, in sein
eigenes Innere zu schauen und die Stimme zu hören, die aus ihm selbst spricht. Er wird anfangen, in dem Buche
seiner Erinnerungen zu blättern; er wird vielleicht sich selbst daran erinnern, wie oft er gefehlt, wie manchen Irrweg
er gegangen ist, aber er wird auch an das denken, was er Gutes und Tüchtiges vollbracht hat. Sein Gewissen wird
erwachen und ihn entweder anklagen oder verteidigen.
Ob wohl alle unsere Suchenden solche Gedanken in der dunklen Kammer haben? — Ein reicher Geist, der gewöhnt
ist, sich mit den großen Fragen zu beschäftigen, wird sich in dieser Lage anders verhalten als ein oberflächlicher
Charakter, dessen Sache ein tieferes Nachdenken nicht ist. Ernst wird gewiß jeder gestimmt werden, und nur ganz
flache Naturen werden in diesem Beginn der Aufnahme ein Possenspiel zu erblicken meinen. In anderen Lehrarten
geschieht mancherlei, um den Suchenden von vornherein ernst zu stimmen und ihm den Ernst seiner Lage deutlich zu
machen. In vielen Logen anderer Lehrarten findet der Aufzunehmende auf dem Tische, an welchem er in der dunklen
Kammer Platz zu nehmen genötigt wird, ein Licht, einen Totenkopf, eine aufgeschlagene Bibel; darüber verbreitet
eine von der Decke herabhängende Lampe ihr spärliches Licht, bei dem er in manchen Logen im Hintergrunde einen
Sarg oder ein Totengerippe erblickt. Auch wird in den meisten anderen Systemen der >244< Suchende genötigt,
einige ihm vorgelegte ernste Fragen schriftlich zu beantworten. Nichts von alledem findet bei uns statt. Die Gedanken
des Suchenden sollen durch nichts auf eine bestimmte Richtung gelenkt werden; aus seinem Innern sollen sie
aufsteigen und nichts von außen her angeregt werden.
Das aber, was das Innere des Suchenden eigentlich bewegen sollte, gibt uns der Orden kund in den erklärenden Akten
des Lehrlingsgrades (I. Logenbuch, Beil., S. 30), wo wir folgende Worte finden:
„Bei Ihrer Ankunft wurden Sie in die dunkle Kammer oder das Bereitungszimmer geführt, welches alles
Lichtes beraubt ist, damit Sie inne würden, daß der Mensch bei seiner Geburt die Beschaffenheit seines
Daseins nicht kennt und weder weiß, woher er kommt, noch warum er in die Reihe der Dinge gekommen ist,
noch wohin er kommen wird. Nicht eher, als bis sein Verstand sich ausbildet und wirksam zu werden anfängt,
begreift er, was er ist, und lernt durch Kenntnis seines Innern ergründen, was er sein und endlich werden soll.“
In diesen Worten liegt der ganze Inhalt der Freimaurerei verborgen, und der Weg vom Dunkel zum Lichte wird dem
Suchenden hier schon angedeutet. Woher? Wozu? Wohin? — Das sind die drei großen Fragen, über welche die
Menschheit nachgedacht hat, solange sie existiert. Wer vermag sie zu lösen? Jahrtausende haben daran gearbeitet, sie
zu beantworten, und man hofft noch immer, eine richtige, allgemein gültige Antwort zu finden. Die Philosophen aller
Zeiten haben sich mit diesen Fragen beschäftigt und sie in der verschiedensten Weise zu lösen gesucht. Sie tasten im
Ungewissen umher, trotz der Schärfe ihrer Logik und der Schlagfertigkeit ihrer Dialektik. Wenn sie auch noch so
sicher zu urteilen und zu schließen vermeinen, in letzter Instanz sind sie doch abhängig von ihrem Naturell und
Temperament. Wie könnte es sich sonst erklären, daß das große Heer der Weltweisen in die verschiedenartigsten,
sich widersprechenden Lager zerfällt. Die Welt malte sich anders im Kopfe des Demokrit als in dem des Heraklit,
anders in Kant und anders in Schopenhauer. Pessimismus und Optimismus, Materialismus und Spiritualismus
beantworten jene Grundfragen des Menschendaseins sehr verschieden. Jede dieser Richtungen will ihren Weg als
einen streng wissenschaftlichen respektiert wissen; und dennoch, wie verschieden sind ihre Resultate, wie
gegensätzlich und einander aufhebend! Nein, die Wissenschaft allein für sich kann uns eine befriedigende Antwort
auf diese Fragen nicht geben, ebensowenig wie die Priesterweisheit; auch sie kann an und für sich nicht frommen,
wenn nicht Herz und Sinn ihr geöffnet sind. Darauf allein kommt es an. Wenn uns auch von Kanzeln und Kathedern
herab noch so viel Weisheit gepredigt wird, — sie bleibt tot, wenn es nicht in unserem Innern zu leben anfängt. Jene
großen Fragen muß jeder einzelne für sich lösen durch Erweckung des inneren Lebens und durch die dadurch gewonnene innere Erfahrung. Der Orden drückt das aus, indem er sagt: „Nicht eher, als bis sein Verstand sich ausbildet
und wirksam zu werden anfängt, begreift er (der Suchende), was er ist, und lernt durch Kenntnis seines Innern
ergründen, was er sein und endlich werden soll.“ Mit dem Worte „Verstand“ ist hier wie auch sonst wohl nicht die
einseitige Seelentätigkeit gemeint, die auch in gewissem Maße dem Tier gegeben ist, die uns befähigt, zu urteilen und
zu schließen, sondern es ist die gesamte Kraft des menschlichen Geistes gemeint, die uns über das Tier erhebt. Die
Ausbildung und das Wirksamwerden, das ist eben das Freiwerden dieser Kraft, welche in uns gebunden schlummert
und deren Erweckung die k. Kunst in uns bewirken will. Ist diese Erweckung erfolgt, dann lösen sich die Fragen nach
dem Woher, Wozu und Wohin von selbst. Der Orden führt uns Wege, auf welchen sie uns in Wahrhaftigkeit und
Treue beantwortet werden, und in den Antworten werden uns Schätze überliefert, die wir nie wieder verlieren
können, wenn wir sie durch eigenes Suchen gefunden haben.
Das ist es, warum uns der Orden bei unserem ersten Eintritt in das Dunkel führt, uns nur auf uns selbst stellt und uns
nötigt, in unser Inneres zu schauen. Diese Art der Selbsterkenntnis hat nicht bloß den Zweck, uns unserer Fehler und
Schwächen bewußt werden, sondern uns unserer hohen göttlichen Natur innewerden zu lassen. Man sagt mit Recht,
daß der Mensch sich selbst das größte Rätsel ist. Das Geheimnis des Ichs ist unergründlich. Wie ist es möglich, daß
in unserem, aus Erdenstaub geformten Leibe ein Etwas ist, das nicht nur zu sehen, zu hören und zu fühlen vermag,
sondern auch durch die aufgenommenen Sinneseindrücke sich das Bild einer Welt bilden kann, welches da, wo die
Sinne nicht ausreichen, ergänzt und vervollständigt wird durch die >246< Tätigkeit der Vernunft und die Schlüsse
des Verstandes? Wie ist es möglich, diesem Weltbilde sich selbst gleichsam als eine zweite Welt im kleinen
gegenüberzustellen, das Weltganze in sich einzuschließen und es wieder wie aus einem Spiegel aus sich
zurückstrahlen zu lassen! Der Mensch, wenn er sein eigenes Ich betrachtet, ahnt noch mehr als aus der Betrachtung
der Natur die höhere Macht, die nicht nur schaffend und erhaltend über ihm schwebt, sondern auch in ihm waltet.
Wenn er auch ihr tiefstes Wesen nie begreifen wird, so ahnt er doch ihr Dasein und erhebt sich anbetend zu ihr. Der
Geist, der ihn belebt, macht ihm das möglich, und dieser Geist kann nirgends anders herstammen als von jener
höheren Macht selbst. Das ist das unbegreifliche Etwas, das sich in uns entwickelt und wirksam zu werden anfängt,
um uns in alle Wahrheit zu leiten und uns auf die Fragen unseres Daseins und unserer Bestimmung die rechten
Antworten zu geben. Die k. Kunst aber ist die mächtige Treiberin, die uns vorwärts bringt auf dem Wege solcher
Entwicklung. Die erste Frage nach dem Woher, nach der Schöpfung und Menschwerdung beantwortet sie schon dem
Lehrling, indem sie ihn lehrt, den Grund des göttlichen Lebens in sich selbst zu finden und zu verstehen. Und auch
auf die Fragen Wozu? und Wohin? bleibt der Orden die Antwort uns nicht schuldig, wenn wir nur recht zu fragen und
zu suchen verstehen, und auch dazu fehlt es an Unterweisungen nicht. Der Weg eines höheren Lebens im Lichte der
göttlichen Macht, die uns in das Leben rief, wird uns vorgezeichnet, und für den, der die Mühe nicht scheut, diesen
steilen Weg zu wandeln, löst sich die letzte Frage nach dem Wohin? von selbst.
Das ist es, was uns der Orden durch die dunkle Kammer sagen will. Sie ist zu vergleichen der dunklen Erdscholle, in
welche das keimfähige Samenkorn versenkt wird. Diesem aber ist der Suchende vergleichbar, der bei seiner
Lehrlingsaufnahme, das Dunkel durchbrechend, dem Lichte zustrebt; und so wie die junge, heranwachsende Pflanze
Sonnenschein, Tau und Regen, aber auch Stürme und Gewitter über sich ergehen lassen muß, so sind auch dem
Suchenden bei seinem Wege durch den Orden mannigfache Prüfungen beschieden, in denen er sein unentwegtes
Streben nach Licht und Wahrheit zu bewähren hat, bis er endlich die volle, reife Ähre dem großen Meister darbringen
kann.
Diese Prüfungen beginnen schon in der dunklen Kammer mit einem, unserer Lehrart allein angehörenden,
bedeutungsvollen Gebrauch, mit der sog. Lichtprobe. Dieselbe besteht darin, daß der einführende Bruder, welcher
sich nunmehr in Begleitung des ersten Paten in die dunkle Kammer zum Suchenden begibt, neben diesen, nachdem
ihm die Augen verbunden sind, ein brennendes Licht auf einem schwarzen Leuchter stellt und dann den Suchenden
folgendermaßen anredet:
„Mein Herr! Man läßt Ihnen das Licht, und Sie bleiben allein. Ich rate Ihnen, wohl auf die Binde zu achten,
welche Sie vor Ihren Augen haben, dann werden Sie weder vorwitzig noch neugierig sein. Die Freundschaft
verpflichtet mich, Ihnen diesen Rat zu erteilen, und ich erwarte, daß Sie ihn befolgen.“
Alsdann verläßt er die dunkle Kammer. Der Pate bleibt aber zurück und beobachtet, ohne seine Anwesenheit durch
irgend ein Geräusch zu verraten, den Suchenden. Wenn dieser keinen Versuch macht, sich der Binde zu entledigen,
so entfernt sich der Pate leise und berichtet in der Loge, daß „der Suchende keine Neugierde gezeigt“ und somit die
Probe bestanden habe. Ist er dagegen so unvorsichtig, die Binde zu lösen, so gibt der Pate seine Anwesenheit zu
erkennen, verbindet ihm die Augen aufs neue, sagt ihm, daß er sein Vertrauen verscherzt habe, und berichtet in der
Loge über den Vorfall. Erst nach strengen Ermahnungen seitens des einführenden Bruders, und nachdem der
Suchende versichert hat, daß er keine Neugierde mehr zeigen wolle, wird er an die Pforte der Loge geführt.
Was hat nun dieser Gebrauch zu bedeuten? Sollte er weiter nichts bezwecken, als den Suchenden auf seine Neugierde
zu prüfen? — Ich glaube, daß noch ein tieferer Sinn dahinter verborgen ist. Worauf sollte sich wohl die Neugier, die
der Kandidat möglicherweise an den Tag legen könnte, beziehen; es ist doch in der dunklen Kammer nichts
vorhanden, was ihn zum Abnehmen der Binde reizen könnte. Das Einzige wäre das Licht, das neben ihn gestellt ist.
Aber auch dieses hatte er schon gesehen, ehe die Binde ihm umgelegt wurde. Es kann also nur die Begierde sein, den
Gebrauch seiner Augen wiederzuerhalten, die schon so lange Zeit in dem finsteren Gemach des Lichtes haben
entbehren müssen. Es liegt also die Versuchung nahe, die Binde zu lösen, um wenigstens bei dem schwachen Scheine
des neben ihm stehenden Lichtes um sich schauen zu können. Und wenn er nun die Binde löst, so schaut er eben
nichts als jenes Licht, das ihm die Finsternis womöglich noch >248< schwärzer erscheinen läßt, als sie ist. Und was
ist nun jenes Licht, das neben ihm brennt? Wo stammt es her? Ist es etwa an den Lichtern der Loge entzündet?
Stammt es aus dem Quell desjenigen Lichtes, das der Suchende zu erstreben hat, und nach welchem die Sehnsucht in
ihm durch die Vorbereitung erweckt wird? — Keineswegs. Es ist ein ganz profanes Licht, draußen an irgend einer,
wer weiß welcher Flamme entzündet. Es stellt das Licht dar, wie es in der Welt zu finden ist, und die Welt gibt uns
manchen Schimmer, der blendet und verführt, der aber, vom maurerischen Standpunkt betrachtet, ein Irrlicht ist.
Darum steht es auf einem schwarzen Leuchter. Von diesem Lichte soll der Suchende sich abwenden und nach ihm
fürderhin kein Begehr mehr haben, sondern allein das Licht suchen, bei welchem kein Wechsel ist, das nicht der
Macht der Finsternis unterliegt, sondern ihre Schatten siegreich zu zerstreuen vermag.
In unseren erklärenden Akten (Logenbuch I, Beil., S. 33) heißt es:
„Des vorbereitenden Bruders Mahnung, nicht durch Abnehmen der Binde Neugier und Vorwitz zu verraten,
des Paten Bleiben und die Belassung des Lichtes sind Umstände, welche dazu dienen, zu prüfen, ob der
Suchende die Standhaftigkeit besitzt, welche von einem freien Maurer gefordert wird.“
Hier ist es deutlich ausgesprochen, daß der Suchende nicht bloß auf seine Neugier und seinen Vorwitz, sondern auf
seine Standhaftigkeit geprüft werden soll, und das will mehr sagen. Standhaftigkeit gehört dazu, die steile
Maurerbahn unentwegt zu wandeln und unbeirrt durch die Lockungen der Welt und durch den unechten Glanz, mit
dem sie ihn blenden will, fortzuschreiten, das große Ziel, wo das wahre Licht uns winkt, fest im Auge behaltend. Das
Licht der dunklen Kammer steht auf einem schwarzen Leuchter; es gehört der Finsternis an und ist nicht echt. Das
Licht der Loge aber soll des Suchenden Verlangen sein — auf goldenen Leuchtern, die das Unvergängliche
bezeichnen, stehen daher auch die Lichter in unserer Loge; wohl ihm, wenn er diesen Schein sein ganzes Leben lang
im Auge behält, ihn in sieh aufnimmt und durch treue Maurerarbeit zu vermehren weiß! (1900.)
Das Ablegen der Metalle.
Die erste Forderung, welche im Namen des Ordens an den Suchenden, während er noch in der dunklen Kammer
verweilt, gerichtet wird, ist die Ablegung der Metalle. Alles, was er von Besitztümern, Geld und Kostbarkeiten, bei
sich trägt, muß er hergeben, so daß er bettelarm erscheint.
Was sagen nun unsere Akten über diesen eigentümlichen Gebrauch ? — In den Erklärungen der Aufnahmegebräuche
(II. Logenbuch, Beil. S. 31) finden wir darüber folgendes:
„Wir forderten von Ihnen die Ablegung aller Metalle, um Sie an den Zustand der Unschuld zu erinnern, in
dem der Mensch ihrer nicht bedurfte. Zugleich haben wir Sie damit warnen wollen, Ihre Hoffnungen und Ihr
Vertrauen nie auf einen so vergänglichen, dem Zufall unterworfenen Schatz zu setzen“.
Und im Fragebuche (Abt. V, Fr. 8 bis 10) heißt es:
„Was bedeutet das Ablegen der Metalle?“
„Das erste glückliche Alter der Welt oder die goldene Zeit, in welcher weder Gold noch Silber
noch andere Metalle das menschliche Herz verleiten konnten.“
„Warum wurden Ihnen alle Metalle abgenommen?
„Weil der Tempel Salomos von ganz fertigen Steinen, so wie sie herzugebracht waren, aufgebaut
wurde, so daß man weder einen Hammer noch eine Axt noch irgend ein anderes Eiseninstrument
hörte.“
„Wie war das möglich?“ >250<
„Hiram, der König von Tyrus, hatte sowohl kostbare und zugehauene Steine als auch vollkommen
zubereitete Zedernbäume vom Libanon zum Bau hinzufahren lassen.“
Der Gebrauch des Ablegens der Metalle erscheint uns in den Erklärungen unserer Akten unter drei Gesichtspunkten.
Wir werden zurückgeführt in die fernste Vergangenheit, in die Urzeiten der Menschheit, aber auch in die Gegenwart,
in unser eigenes Leben mit seinen verschiedenen Verhältnissen und nicht minder in die fernste Zukunft.
In der Mythologie der Griechen finden wir die Sage vom goldenen Zeitalter, in welchem die Menschen in Unschuld
und Unbefangenheit, in vollkommenem Glück, in Frieden und gegenseitiger Liebe nebeneinander wandelten, da noch
keine Begierden nach Besitz erwacht waren, da die Selbstsucht schwieg, weil jeder sein volles Genügen hatte, da die
Natur in verschwenderischer Fülle allen das gab, was ihnen zum Leben und zur Freude genügte. Der Waffen bedurfte
man nicht, weil Friede herrschte, und Geld und Gut kannte man nicht, weil jeder vollauf hatte, was er brauchte. —
Dasselbe Bild einer glückseligen Zeit findet sich auch in der semitischen Mythologie. Die Bibel erzählt davon am
Anfange des ersten Buches Mosis. Wir lesen dort vom Paradies, von dem Garten Eden, in den der Herr das erste
Menschenpaar hinein setzte, damit sie daselbst dauerndes Glück und ungestörten Frieden genießen sollten. Selbst
bedeutenderen Geistern der neueren Zeit ist der Gedanke, der in jenen Sagen liegt, nicht fremd gewesen. Ich erinnere
an die „Nova Atlantis“ Baco von Verulams und an Rousseau, der in seinem „Emile“ die Idee aussprach, daß der
Mensch, wenn er Glück und Frieden erlangen wolle, zur Natur, also in seinen Urzustand, zurückkehren müsse.
Wenn nun aber auch jene Zustände, wie sie die Genesis und die Dichter des Altertums ausmalen, nicht
geschichtlichen Tatsachen entsprechen, so verlieren diese idealen Bilder doch nicht ihre Bedeutung für uns. — Wir
alle haben ein goldenes Zeitalter erlebt, die Kindheit, als wir froh und selig, unbeschwert von Sorgen und Mühen,
unbelastet von Schuld und Fehlern mit unschuldigen Kinderaugen die Welt ansahen, wo wir, am Herzen der
liebenden Mutter ruhend, unverstandene Gebete stammelten. Was fragten wir da nach den Metallen, nach Gold und
Silber, nach Reichtum und Besitz! Wir kannten sie gar nicht und strebten darum auch nicht danach. Erst als wir unser
Kindheitsparadies verloren hatten, als wir, selbst von Schuld und Sünde befleckt, nicht mehr Vertrauen zu den
anderen hatten und darum nicht mehr arglos durch das Leben zu gehen vermochten, als wir die Begriffe Mein und
Dein unterscheiden lernten, und der Kampf um das Dasein für uns begann, als wir die Erfahrung machten, daß
Reichtum und Schätze nicht zu verachtende Waffen in diesem Kampfe seien, da lernten wir die Bedeutung der
Metalle kennen. Wir lernten einsehen, daß Reichtum eine Macht sei, und wir erblickten um uns eine Welt, die sich
vor dieser Macht beugt, eine Welt, die sich im Reigentanz um das goldene Kalb dreht und nur zu geneigt ist, den
Mammon als das einzig Erstrebenswerte, alles andere aber als Chimäre hinzustellen.
Man pflegt wohl Geld und Gut in frivoler Weise den nervus rerum zu nennen. Das Bild ist übel gewählt und kann nur
solchen anstehen, die, durch irdische Schätze verblendet, die ewigen nicht zu sehen vermögen, jene geistigen Güter,
die nicht vom Rost verzehrt werden, und denen die Diebe nicht nachgraben, um sie zu stehlen. Der wahre Nerv der
Dinge liegt ganz wo anders; er liegt in dem Streben des Menschen nach oben, nach Licht und Wahrheit, nach dem
Göttlichen und Ewigen. Irdische Schätze, wenn sie richtig angewendet werden, können wohl dazu dienen, das Leben
in diesem Nerven zu fördern und zu stärken, niemals aber sind sie der Nerv selbst, sie sind einzig und allein Mittel
zum Zweck, oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen: sie sind der Dünger, der dem Acker seine Fruchtbarkeit
verleiht. Jeder Landmann schätzt gewiß den Wert des Düngers, den er auf seinen Acker fährt, außerordentlich hoch;
aber arbeitet er um des Düngers willen oder der goldenen Ähren halber, die durch ihn hervorgerufen werden? Doch
wahrlich der letzteren wegen. Der Habsüchtige, der nur immer auf Erwerben und Zusammenscharren sinnt, ist
vergleichbar einem Mann, der im Dünger wühlt und an ihm seine Lust hat. Wehe dem, der die Schätze der Erde liebt
um ihrer selbst willen oder um der sinnlichen Genüsse, die er sich mit ihnen bereitet! Er wird verzehrt von dem
tödlichen „Gift der Seelen“, wie Shakespeare das Gold nennt. Habsucht, Wollust und Übermaß vernichten den
lebendigen Keim des Göttlichen, der in ihn gelegt worden ist.
Darum fordern wir den Suchenden auf, ehe er unser Heiligtum betritt, alle Metalle abzulegen. Wir wünschen, daß er
mit reiner Kinderseele zu der geweihten Stätte treten möchte, an welcher er für sein >252< ganzes Leben dem
Dienste des Ewigen sich hingeben soll. „Wahrlich, ich sage euch: wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein
Kind, der wird nicht hineinkommen!“, so sprach einst unser Obermeister (Mark. 10,15), Und ferner sprach er: „Wie
schwerlich werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! (Mark. 10,23) und an einer anderen Stelle braucht er
das Gleichnis, daß ein Kamel eher durch ein Nadelöhr gehen möchte, als ein Reicher durch die enge Pforte, die zum
Leben führt. Sicherlich aber hat er nur diejenigen unter den Reichen gemeint, die ihr Herz allein an ihren irdischen
Besitz hängen, denen der Flug der Seele gehemmt ist durch die goldene Last, die sie nicht aufsteigen läßt zum Lichte,
sondern hinab zieht in den Staub und in die Finsternis, nicht aber die Reichen, die da besitzen, als besäßen sie nichts,
die über dem Irdischen das Ewige nicht vergessen, und die, eingedenk der Worte des Obermeisters: „Machet euch
Freunde mit dem ungerechten Mammon“ (Luk. 16,9), es verstehen, die Schätze dieser Erde anzuwenden zur
Erringung ewiger, idealer Güter.
Diesen Gedanken von dem Nutzen und von der rechten Anwendung der Metalle finden wir noch einmal wieder am
Schluß unserer Lehrlingsaufnahme. Unter anderen maurerischen Erkennungszeichen erhält der neuaufgenommene
Lehrling als letztes die Losung T ........ . Gerade dem angehenden Jünger der k. Kunst, dem zuerst die Metalle
abgenommen wurden, wird am Schlusse der Name dessen beigelegt, der, wie unsere Akten sagen, der erste Meister in
allerlei Erz- und Eisenwerk war, und der aus den Metallen die ersten Werkzeuge formte, „um damit Steine zu
bebauen und zu Gebäuden brauchbar zu machen“. Das war die erste rechte Anwendung der Metalle. Von allen
Körpern sind die Metalle die schwersten; sie bilden das eigentliche Wesen, der materiellen Dinge, ihre wahre
Substanz, die durch das zu Boden Herabziehende den schroffsten Gegensatz zum emporhebenden Geiste bildet. Wer
die der Schwerkraft unterliegenden Elemente zu bezwingen und in den Dienst des Geistes zu stellen weiß, der ist
Sieger über das Irdische. Als solch ein Sieger steht die mythische Gestalt des T ........ vor uns. In ihm erscheint uns
der Mensch in seinem Urzustande den Rohstoffen der Natur gegenüber, die er durch seine Geistesgaben zu bezwingen und zu gestalten weiß. Die Metalle zu gestalten aber ist nur möglich durch des Feuers Kraft und durch des
Hammers Streiche. Ohne ihre Gestaltung wäre die menschliche Kultur, wie sie bis heute im Laufe der Zeiten
herangereift ist, undenkbar; und heute mehr denn je ist die lodernde Feueresse, wo sich das Eisen unter des Hammers
Gewalt erweichen und in der Glut schmelzen und eine Gestalt annehmen muß, wie der Mensch es will, das
eigentliche Wahrzeichen unserer Zeit. Und diese gewaltigen Kräfte gebraucht der Mensch zu höheren Zwecken. Er
gewinnt das Werkzeug, dessen scharfer Schneide selbst das spröde Material des Granits und des Marmors nicht
widerstehen kann, und unter dessen scharfen Schlägen es sich formt zum kubischen Baustein des Tempels und zur
Statue des Götterbildes. Und das einfache Werkzeug verfeinert sich zur Maschine, die den höchsten Leistungen
der Industrie dienstbar ist, die dem Menschen manche grobe Arbeit, sie in feinerer und exakterer Weise
ausführend, abnimmt und ihm dadurch Raum schafft zu einer ausgedehnten Tätigkeit des Geistes. Ja selbst die
furchtbaren Werkzeuge, die aus der Esse des T ........ hervorgehen, Schwert und Speer, Geschütz und Geschoß, die
blutlechzenden Waffen des Krieges, sie sind geweiht und dienen den höchsten Zwecken, wenn sie die höchsten Güter
verteidigen und sich in den Dienst des Vaterlandes stellen, um es zu bewahren vor Knechtschaft und Barbarei. —
Wenn aber der Suchende das maurerische Licht erhalten hat und in unsern ehrwürdigen Orden aufgenommen worden
ist, dann erhält er seine Metalle zurück, die ihm abgenommen waren. Sie können ihm nicht mehr schaden — so
hoffen wir! —, denn er hat dadurch, daß er sich ihrer entäußerte, gezeigt, daß er gesonnen ist, reinen Herzens die
Wege des Lichtes zu wandeln, des Lichtes, dessen ersten Schein er geschaut hat, und das ihn in alle Wahrheit leiten
soll. Getrost mag er seinen irdischen Besitz wieder an sich nehmen, er hat für ihn seine hernieder ziehende,
befleckende Kraft verloren; geweiht gleichsam erhält er ihn zurück und kennt seine rechte Anwendung.
Über dieser Anwendung, durch die er für sich und seine Mitmenschen das Edelste und Schönste zu erlangen
und zu schaffen bemüht sein soll, möge er aber auch nicht vergessen, sich die rechten Werkzeuge für die Arbeiten der
k. Kunst, denen er von nun an obzuliegen hat, zu schaffen. Auch hier soll ihm T ........ zum Sinnbild dienen. Zwar
aus Metall werden sie nicht geformt, aber sie werden hervorgeholt aus dem Schacht unseres Geistes, und sie sollen
geschmiedet werden im Feuer der Begeisterung und des Eifers: unsere Werkzeuge, Verstand, Wille und Gedächtnis.
Fest wie gehärteter Stahl sollen sie werden und >254< schneidig geschliffen; dazu helfen dem Lehrling die
Gesellen, deren Aufgabe es ist, ihre und der Lehrlinge Werkzeuge zu schleifen.
Auf diese Werkzeuge weist uns auch der Orden hin durch das, was er dem Geweihten überreichen läßt. Es ist
wunderbar. Unsere Metalle wurden uns zurückgegeben, und dazu erhielten wir noch andere hinzu, eine Kelle von
Silber und ein Schwert mit blitzender Stahlklinge. Was draußen dem Mammon dient, Silber und Gold, wird hier zum
Symbol des Reinsten und Edelsten, das Silber mit seinem weißen Schimmer wird zum Sinnbild der Reinheit und
Einfalt, das Gold, das der Lehrling in der Kelle der Meister erblickt, ist mit seinem strahlenden Glanze das Sinnbild
des Tüchtigen, Unwandelbaren, das sich im Feuer bewährt und von keinem Rost angegriffen wird. Diese goldenen
und silbernen Werkzeuge schaffen in unserm Inneren; das Schwert aber wendet sich nach außen; es will nicht
verletzen, sondern nur verteidigen.
Solche Werkzeuge zur Hand gehen wir umgürtet mit dem Schurz der Arbeit ans Werk. Wenn aber der große Meister
um Hochmitternacht zur Feierstunde ruft, und wir uns zur Ruhe betten, dann legen wir wiederum die Metalle ab.
Unsere irdischen Besitztümer lassen wir hier, und auch die Werkzeuge, die hienieden unserm Schaffen gedient,
lassen wir zurück und treten wieder als Kinder vor das prüfende und richtende Auge des Vaters, dessen Liebe und
Gnade wir uns anvertrauen. Möge es uns dann gelingen, das uns von ihm Anvertraute in reiner Währung
darzubringen, geprägt mit dem Stempel, der da nachweist, daß wir das Höchste gewollt haben.
Auf diese große Zukunft weisen uns die Worte unserer Akten, die uns erzählen, daß der Tempel Salomos aus fertigen
Steinen und Balken errichtet wurde, ohne daß man den Schall eines Hammers oder einer Axt dabei vernahm. Frei und
leicht fügten sich die Baustücke, die dem Salomo von seinem, königlichen Freunde zugesandt waren, aneinander;
alles paßte und stimmte, und der Tempel baute sich gleichsam von selbst. — Ob wohl einmal nach Äonen eine Zeit
kommen wird, wo die lebendigen Bausteine sich so aneinanderschließen werden ? Ob einst wirklich die Menschheit
zu einem Tempel des Höchsten ausgebaut sein wird, zu einem vollendeten Gottesreiche, wo Liebe und Friede
herrscht? — Wir wissen es nicht. Vervollkommnungsfähig ist das Menschengeschlecht wohl, die kurze Spanne seiner
Geschichte, die wir übersehen, beweist es. Wir können aber nicht wissen, ob nicht vielleicht einmal ein Höhepunkt
erreicht wird, von dem ab eine Entartung eintritt, und wir können nicht wissen — vorausgesetzt, daß die Entwicklung
der Menschheit zur Vollendung stetig bis zum höchsten Gipfel fortschreitet — ob unser Erdball, der ja auch seine
Entwicklung hat und vergänglich ist wie alles Geschaffene, so lange vorhalten wird, bis das Gottesreich auf Erden
vollendet ist. Aber unsere Hoffnung und unser Glaube sagt uns, daß die Vollendung und Vereinigung der Geister im
ewigen Reiche des Lichtes jenseits dieser irdischen Schranken von der ewigen Liebe beschlossen ist, dort, wo alle
Zeitrechnung aufhört. Dort wird sich der ewige Tempel errichten, der keines irdischen Werkzeuges bedarf, um fertig
zu werden, und der himmlische Salomo, der der wahre Meister des Tempels ist, wird die Seinen, die ihn gesucht
haben, als die lebendigen Bausteine vereinigen zu einem Leben im Licht und in der Liebe an seinem Vaterherzen. —
(1900.) >256<
Die Entkleidung.
Eine Überraschung nach der andern wird dem Aufzunehmenden bei seinem Eintritt in das Logenhaus bereitet. Zuerst
werden ihm die Augen verbunden, dann wird er in ein ganz dunkles Zimmer eingeschlossen, dann fordert man ihm
seine Barschaft und seine Pretiosen ab und endlich verlangt man gar von ihm, daß er sich entkleiden soll. In diesem
Zustande, in welchem sonst jeder sich scheuen würde, vor Menschen sich sehen zu lassen, soll er in die Gesellschaft
der Brüder treten. Wen sollte das nicht befremden? Aber was soll der Suchende machen? Er hat vorher dem
einführenden Bruder das Versprechen gegeben, sich unbedingt den altehrwürdigen Gebräuchen der Aufnahme zu
unterwerfen, und er fühlt sich dadurch gebunden, so seltsam ihm auch das alles erscheinen mag.
Die Entkleidung, welcher der Suchende sich zu unterwerfen hat, ist aus naheliegenden Gründen keine vollständige.
Im Altertum freilich soll bei der Einweihung in die Mysterien eine Ablegung aller Gewänder verlangt worden sein.
Bei unsern modernen, maurerischen Mysterienfeiern begnügen wir uns damit, daß der Suchende Rock, Weste und
Halsbinde ablegt, die linke Schulter und Brust sowie das rechte Knie entblößt und, nachdem er den linken Schuh oder
Stiefel ausgezogen, mit dem linken Fuß in einen niedergetretenen Schuh tritt. Von der Entblößung der linken Schulter
und Brust wird jetzt meistens abgesehen, weil sie zu umständlich ist; doch müssen wir daran festhalten, daß sie
eigentlich nötig ist. Die Entblößung des rechten Knies aber wird angedeutet durch die Umlegung eines weißen
Tuches, da bei unserer jetzigen Kleidung dieser Gebrauch fast zur Unmöglichkeit wird, während er in früheren
Zeiten, als man Kniehosen und Strümpfe trug, keine Schwierigkeiten machte.
Was sagen nun unsere Akten über diese eigentümlichen Gebräuche? — Zunächst heißt es im Lehrlingsfragebuch
(Abt. V., Fr. 7) :
„Wie ist ein Suchender, der zu seiner Aufnahme geführt wird, gekleidet?“
„Weder bekleidet noch unbekleidet, aber doch anständig und ehrbar.“
Ich glaube, in dieser Antwort den Sinn zu finden, daß wir bei der Entkleidung pars pro toto zu nehmen haben.
Eigentlich sollte der Suchende nackt das Heiligtum der Loge betreten, wie sich aus dem Folgenden deutlicher
ergeben wird. Gleichwohl erscheint mir auch die teilweise Entkleidung ihre wohlberechtigte Bedeutung zu haben.
Der Suchende ist „weder bekleidet noch unbekleidet“; es macht den Eindruck, als wenn er mit dem Ankleiden nicht
fertig geworden wäre; sein Anblick ist der des Nichtvollendeten, Unfertigen, ebenso wie der rauhe Stein nicht fertig
ist, welcher später ihm zum Sinnbild werden, ja, mit dem er sich selbst identifizieren soll. Sein Gang ist dadurch, daß
er am linken Fuß den niedergetretenen Schuh trägt, hinkend und unsicher geworden, und diese Unsicherheit des
Schreitens wird noch vermehrt durch die Binde, welche ihn des Gesichtssinns beraubt. Das alles sind Hindeutungen
auf den Zustand der Hilflosigkeit, in dem der Suchende gegenüber der neuen Welt, in welche er treten soll, sich
befindet. Darum heißt es auch in den Erklärungen der Aufnahme (L. B. II. Beil., S. 33) :
„Das Wegtragen der Kleider des Suchenden erinnert an den Zustand der Hilflosigkeit, in dem wir auf die
Welt kommen.“
Unsere Akten sprechen sich noch an mehreren Stellen über die Entkleidung aus. Das Wichtigste darüber enthält
folgende Stelle (L. B. II. Beil., S. 31) :
„Die Entkleidung zeigt an, daß wir ein leeres Herz in einem geschmückten Körper ebenso gering achten, als
wir eine edle Denkungsart bei dem hochschätzen, welcher mit keinem erborgten Prunke bekleidet ist. Die
Freimaurer haben aber auch diese Sitte angenommen zur Erinnerung an den ersten Maurerbruder, der so
entkleidet seine Arbeit begann.“ >258<
Nur der Mensch, wie er aus Gottes Hand hervorgegangen ist, gilt etwas in der Werkstätte der k. Kunst. Auf seinen
Geist, auf seine Anlagen und Fähigkeiten kommt es an, nicht auf das, was irdische Verhältnisse ihm äußerlich
angeheftet haben. Wie das Kind sich nackt dem Mutterschoße entwindet, so soll auch der Suchende in das neue
Leben treten, das mit seiner Aufnahme beginnt; denn eine neue Geburt ist es, die er erfährt, wenn ihm das
maurerische Licht erteilt wird, wenn er zu einem Lichte geboren wird, das über dem Lichte steht, das ihm bisher
geschienen hat.
Wie wenig Wert der Orden auf Äußerlichkeiten legt, die das Menschenleben mit sich bringt, davon zeugt auch
folgende Parallelstelle unserer Akten (Beil. S. 35) :
„Hirtenstab und Bauernkittel haben bei uns gleichen Wert mit Königsschmuck und Purpurmantel. In unserer
Loge setzen wir alle Titel, Würden und ererbte Namen bei Seite und vertauschen sie mit dem lieblichen
Namen „Bruder“, einem Namen, den der allmächtige Baumeister allen Menschen zuerkannte, weil sie alle
gegenseitiger Liebe, Stärkung und Vertrauens bedürfen.“
Und über der Pforte einer Loge Ostpreußens lesen wir folgende Inschrift:
„Laßt Ahnenglanz und Ehrenstellen
Und jedes schimmervolle Glück,
Bevor ihr diese heil'gen Schwellen
Betretet, vor der Tür zurück,
Und hoffet andern Vorzug nicht,
Als den die Tugend euch verspricht.“
Es ist also die Meinung des Ordens, daß das, was menschliche Verhältnisse uns gegeben haben, eher ein Hindernis
als eine Förderung für die Fortschritte in der k. Kunst sein kann. Darum legen wir das alles vor der Türe der Loge ab
wie ein Gewand; der innere Wert ist es allein, worauf es ankommt. Ein Sprichwort sagt: „Kleider machen Leute.“ Wir
verwerfen es und machen dafür ein anderes zu dem unsrigen: „Das Kleid macht nicht den Mann.“ Und doch hat das
erste Wort gewissermaßen recht. Diejenigen, die auf Äußerlichkeiten Wert legen, das sind „Leute“; wir können sie
nicht brauchen. Männer brauchen wir, und darum sagen wir: „Das Kleid macht nicht den Mann". Wir brauchen
Männer, deren Wert allein abgemessen wird nach der edlen Denkungsart, die sie in ihrem Inneren tragen, wir
brauchen freie Männer, welche Vorurteile und böse Neigungen zu überwinden wissen, Männer, die trotz des
Selbstbewußtseins, das ihnen ihre Manneskraft verleiht, in geistlicher Armut sich nackt und bloß fühlen vor dem
ewigen Gott und sich in Demut ihm ergeben. Was auch immer der Mensch im Laufe seiner Entwicklung durch die
Jahrtausende geleistet haben mag auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Künste, der Technik, der Staatskunst und
wo sonst auch immer: stets steht er vor dem, dessen Hand ihn formte, so nackt und arm da, wie er vom Mutterleibe
kam.
Auf die Demut vor Gott weist auch ferner der Gebrauch, das rechte Knie des Suchenden zu entblößen. Unsere Akten
sagen darüber folgendes (Beil. S. 32):
„Die Entblößung des rechten Knies, auf welches der Suchende fällt, wenn er sein Gelübde ablegt, deutet auf
die unverbrüchliche Ehrfurcht, welche ein freier und angenommener Freimaurerbruder stets gegen den
allerhöchsten Baumeister der Welt hegen soll.“
Im Gelübde, das wir an geweihter Stätte ablegen, erfolgt die freie und rückhaltlose Hingabe an das Werk der k.
Kunst, welche nichts anderes will als die Gotteskindschaft, zu der der Mensch berufen ist, in ihm zum höchsten
Bewußtsein entwickeln und ihn als vollendetes Ebenbild Gottes hinstellen. Nur wer sein Knie vor dem Höchsten zu
beugen versteht, nur wer die Bedeutung des Winkelmaßes, auf dem das gebeugte Knie, selbst rechtwinklig gebogen,
ruht, recht zu erfassen vermocht hat als das heilige, unabänderliche, göttliche Gesetz, nur wer „in Demut sein Inneres
der Erleuchtung öffnet“, in den kehrt der Geist der Wahrheit ein. Nur der Mensch, der sich vor Gott demutsvoll in
den Staub beugt, von dem er genommen ist, wird aufgerichtet werden, und die Verheißung des Lehrlingswortes J.....
welches eigentlich heißt: „Er richtet auf“, wird sich an ihm erfüllen; denn wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet
werden. >260<
Noch ein drittes Moment finden wir bei der Entkleidung, welches auf die Demut hindeutet, das ist der niedergetretene
Schuh am linken Fuß. Unsere Akten sagen darüber (Beil. S. 32) folgendes:
„Der niedergetretene Schuh am linken Fuß soll bezeugen, daß wir, gekleidet oder ungekleidet, stets zum
Dienste unserer Brüder bereit sind, und daß wir dem Dienst der Unglücklichen gern die Stunden opfern, die
wir zur notwendigen Erholung und zur nächtlichen Ruhe bedürfen.“
Demutsvolle Selbstverleugnung ist es zunächst, woran uns der Gebrauch erinnern soll, und zwar zuvörderst
gegenüber unsern Nebenmenschen, die wir als Brüder lieben sollen. Der niedergetretene Schuh führt uns zu Gemüt,
daß wir in unserer Lebensstellung auf Erden nicht zum Herrschen, sondern zum Dienen berufen sind. In der Nacht
aus dem Schlafe geweckt, nimmt der Hilfsbereite sich nicht die Zeit, den Schuh anzuziehen; er tritt ihn nieder und eilt
dorthin, wo Hilfe nötig ist. Aber nicht nur Demut und Hilfsbereitschaft den Menschen gegenüber soll der
niedergetretene Schuh uns lehren, sondern auch Demut vor Gott. — Von alters her ist das Einhergehen in Stiefeln,
die ein festes und sicheres Auftreten gestatten, ein Sinnbild des Stolzes und des Selbstbewußtseins. Im Mittelalter
trug nur der freigeborene Ritter Stiefel, an denen der klirrende Sporn schon von weitem den Herrn ankündigte; die
Knechte und Hörigen trugen Schuhe. Bei den Völkern des Morgenlandes gilt schon der beschuhte Fuß als Zeichen
des Stolzes, das Ablegen der Schuhe als Betätigung der Demut. Der Mohammedaner legt vor dem Betreten der
Moschee die Schuhe ganz ab und betritt mit nackten Füßen das Heiligtum. Auch bei den Juden herrschte dieselbe
Anschauung; denn im zweiten Buche Mosis (Kap. 3, Vers 5) wird erzählt, daß, als der Herr Moses im feurigen Busch
erschien, eine Stimme ihm zurief: „Zeuch deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort, da du stehest, ist heiliges
Land.“ So sollte der angehende Maurer eigentlich auch mit nackten Füßen die heilige Stätte unseres Tempels
betreten, die Stätte, die geweiht ist zur Werkstatt der k. Kunst, wo er dem Höchsten dienen soll durch Heiligung und
Reinigung seines Herzens, durch Entfachung seines inneren Lebens, die ihn seinem Gott zuführen soll.
Einen weiteren Gebrauch bei der Entkleidung haben wir noch zu betrachten, nämlich die Entblößung der linken
Schulter und Brust. Die Akten sagen darüber (Beil. S. 32) ;
„Die Entblößung der linken Schulter und Brust geschieht, damit man von dem Geschlechte des Suchenden
versichert sei; denn wenngleich wir das schöne Geschlecht hochschätzen, so gestatten wir doch demselben den
Eintritt bei uns nicht, damit seine Gegenwart unsere Brüder an der Beachtung der Ordnung und an der Arbeit
nicht hindere.“
Diese Probe auf das Geschlecht des Suchenden kann wohl kaum so gemeint sein, wie es der Wortlaut der Erklärung
ergibt. Der Suchende wird doch von dem ersten Paten, der ihn genau kennen muß, zur Loge geleitet und von ihm
eingeführt; weshalb sollte da noch eine Prüfung seines Geschlechtes stattfinden? Es wäre gut, wenn diese Erklärung
aus unsern Akten beseitigt und eine andere dafür an die Stelle gesetzt würde, welche eine würdigere Auslegung dieses
Gebrauches bringt. Wir haben es hier mit einem Überbleibsel vergangener Zeiten zu tun, das in unsere Zeit nicht
hineinpaßt. In einem späteren Grade heißt es, daß die Brust entblößt wird, um anzudeuten, „daß das Herz des
Suchenden der Bruderliebe und Freundschaft geöffnet sein soll“. Das trifft schon besser zu. Außerdem aber ist zu
beachten, daß diejenigen Stellen des Körpers, welche bei der Aufnahme mit maurerischen Werkzeugen in Berührung
kommen, nämlich das rechte Knie, welches auf dem das Winkelmaß tragenden Kissen ruht, die linke Schulter, auf
welche der zweite Aufseher nach jeder der drei Reisen mit seinem Hammer die drei Freimaurerschläge tut, und die
Herzgegend, auf welche der Suchende bei Ablegung des Gelübdes und bei der Weihe die Spitze des rechtwinklig
geöffneten Zirkels setzt, entblößt sein sollen. Darin liegt ein Hinweis, daß der Orden auf diese Akte ein ganz
besonderes Gewicht legt, und daß dasjenige, was das Winkelmaß, der Hammer und der Zirkel ausdrücken, freien,
durch nichts gehinderten Eingang in das Innere des Suchenden finden soll. Gleichwohl ist die Beziehung der obigen
Erklärung auf das weibliche Geschlecht wohl zu beachten; sie ist außer den Erklärungen bei der Überreichung der
Frauenhandschuhe die einzige Stelle unserer Johannisakten, wo vom andern Geschlecht die Rede ist. Dort wäre der
Ort, wo sich unsere Erklärungen über das Verhältnis der Frau zur Loge und zur Freimaurerei etwas mehr verbreiten
könnten, und namentlich über die >262< Gründe, weshalb wir die Frauen zu unsern Arbeiten nicht zulassen dürfen.
Das Wichtigste, was unsere Akten neben den moralischen Bedeutungen in der Erklärung der Entkleidung geben, ist
ein Gesichtspunkt, der sowohl ihre historische als auch ihre freimaurerisch-wissenschaftliche Bedeutung berührt. Ich
meine die oben schon angeführten Worte:
„Die Freimaurer haben diese Sitte angenommen zur Erinnerung an den ersten Maurerbruder, der so
entkleidet seine Arbeit begann.“
In die fernsten Zeiten der Geschichte der Menschheit führen uns diese Worte zurück. Der erste Maurerbruder! Wer
war das? Erzählen uns unsere Urkunden und Überlieferungen von ihm? Nein! In tiefes Dunkel sind die Anfänge
unserer Kunst gehüllt.
„Vergraben ist in ewiger Nacht
Der Erfinder großer Name zu oft!“ —
Der Name dessen, in dessen Seele der maurerische Gedanke wach wurde, wird uns von unsern Geschichtsbüchern
nicht genannt, und dennoch weist uns der Orden auf ihn hin durch — die Entkleidung.
Wir nennen unsern Orden einen uralten und ehrwürdigen; aber noch niemand hat über seine Entstehung uns sichere
historische Daten anführen können. Was ehrwürdig ist, kann nicht von gestern oder heute sein, sondern es muß
hinaufreichen in eine ferne Vergangenheit. Eine Sache aber, die uralt ist, wird für die Geschichtsschreibung
schwierig, und zwar um so schwieriger, je weiter ihre Anfänge zurückliegen. Der Blick des Historikers, wenn er
einzig und allein auf dokumentarisch verbürgte Tatsachen gerichtet ist, ist kurzsichtig und reicht nur eine geringe
Strecke in die Vergangenheit zurück. So ist es auch in der Freimaurerei. Unsere eigentliche Ordensgeschichte umfaßt
kaum zwei Jahrhunderte. Wohl haben wir Überlieferungen, die uns viel weiter in die Vergangenheit zurückführen,
aber diese Traditionen sind unsicher, und ihr historischer Wert ist zweifelhaft.
Ein anderes ist es, wenn wir die Geschichte der freimaurerischen Idee ins Auge fassen. Die Idee, welche unserm
Orden Leben und Stärke gibt, ist immer vorhanden gewesen. Eine Geschichte des Logenlebens kann der
freimaurerische Historiker wohl schreiben, viel mehr aber nicht. Die Geschichte der maurerischen Idee aber enthüllt
sich uns, wenn wir mit maurerisch erleuchtetem Sinn die Weltgeschichte betrachten. Zwischen ihren Zeilen kann sie
allein gelesen werden, und der erschlossene Sinn wird das Wort Lessings: „Die Freimaurerei war immer!“
bewahrheitet finden. Ihre Idee liegt in der menschlichen Natur begründet, darum ist sie so alt als das
Menschengeschlecht, und erst mit diesem wird sie untergehen. Der erste Mensch, der seinen Blick aufwärts richtete
zum Licht, der, ein vollkommenes göttliches Wesen ahnend, seine eigene Unvollkommenheit erkannte und die
Sehnsucht nach Frieden und Vollendung in sich wach werden fühlte, war der erste Freimaurer.
Unter dem Bilde des hilflos entblößten, unsicher schreitenden und strauchelnden, des Lichtes beraubten und nach
dem Lichte sich sehnenden Suchenden weist uns der Orden das Abbild „des ersten Maurerbruders, der seine Arbeit
also begann“. Was auch immer im Laufe der Jahrhunderte vom Menschengeschlecht geleistet sein mag auf allen
Gebieten des Wissens und Könnens: der Mensch, wenn er vor seinen Schöpfer tritt, aus dessen Hand er hervorging,
bleibt immer derselbe; nackt, arm, hilfsbedürftig, blind steht er vor dem ewigen Meister und Vater da. Was kann ihm
die ganze Kultur geben, um ihn zu erheben und dem Lichte zuzuführen ?! Auf sich selbst ist er gestellt und auf den
göttlichen Keim, der in seinem Inneren lebt. Jeder, auch der moderne, sich groß dünkende Mensch muß von vorn
anfangen. Das ist dasselbe, was Goethe anerkannt hat, wenn er sagt:
„Die Menschheit schreitet immer fort, und der Mensch bleibt immer derselbe.“
Mensch, erkenne, wie wenig du hast und bist; erkenne aber auch, was dein Schöpfer in dich hineingelegt hat; erkenne
dein göttliches Erbe, das deinem Leben allein seinen Wert verleiht! — Das ruft der Orden uns jedesmal zu, wenn ein
fremder Suchender entkleidet und hilflos die Schwelle unseres Tempels überschreitet. In dieser Erkenntnis wurzelt
die Idee der k. Kunst. Von dem nackten und blinden Wanderer ist abgefallen das Menschliche; das Göttliche aber,
der logos, das Wort, das in ihn gelegt ward, das Kleinod, das von Anbeginn der Zeiten das Leben und das Licht der
Menschen war, der Keim, aus dem sich durch die k. Kunst der wahre Mensch erst entwickeln soll, kann >264<
niemand von ihm nehmen. Unsere Akten reden von ihm, und außer ihnen das Johannisevangelium in den
monumentalen Worten seines Prologs. Faust sucht es zu übersetzen durch Wort, Sinn, Kraft, Tat; immer ist es
dasselbe, das Wort, in dem Gedanke, Wille und Tat eins ist, in dem das Licht ruht, das von dem, der sich mit dem
weltlichen Tand der Finsternis behängt hat, nicht begriffen wird, wohl aber von dem, der ihn abgelegt hat. In ihm
fängt das Wort an zu sprechen und zu schaffen, in ihm baut es Werke, die nicht untergehen. Alle diejenigen aber, in
denen das Wort lebendig geworden ist, vom ersten Maurerbruder an bis heute, bilden den Orden, und die Geschichte
der Wirksamkeit des göttlichen Wortes ist die Geschichte des Ordens im weitesten Sinne. Wir sehen seit Urzeiten die
Wirkungen des logos, anfangs in den undeutlichsten Spuren im Götzen- und Fetischdienst, dann geläutert in dem
reinen Gottesbewußtsein der Patriarchen. Wir sehen die Weisen des Altertums und die Propheten des alten Bundes,
alles Zeugen der im Menschen tätigen Gotteskraft, wir sehen den Wüstenprediger Johannes, der die Erscheinung der
im Fleische erschienenen Vollendung des göttlichen Wortes vorausverkündigte, wir sehen ihn selbst, die
Lebenssonne der Wahrheit, Jesus von Nazareth, ihn, der allein der wahre Obermeister ist, wir sehen die Wirksamkeit
all der unzähligen Geschlechter, Völker und Zungen, die die Wahrheit gesucht und gefunden haben und bereit waren,
ihr Bekenntnis mit ihrem Blute zu besiegeln. Sie alle bilden den wahren, großen Orden, die unsichtbare Loge, die da
zusammenführen möchte in ihren ewigen Tempel alles, was Mensch heißt, zum Dienste des ewigen Gottes im Geiste
und in der Wahrheit.
Möchten auch alle unsere Suchenden, welche unbekleidet unserem Altar nahen, ihres hohen Maurerberufs
innewerden, auf daß sie nicht bloß zu den Berufenen, sondern zu den Auserwählten gehören! — (1891. 1904.)
Die Binde vor den Augen des Suchenden.
Der Suchende, der mit offenem Sinn und gespannter Aufmerksamkeit dem Gange seiner Aufnahme folgt, wird, noch
ehe das erläuternde Wort an ihn gerichtet wird, erkennen, was die Freimaurerei ist und was sie will: Die Freimaurerei
ist ein Weg vom Dunkel zum Licht, vom Irrtum zur Wahrheit, vom Schein zum Sein. Sie will uns aber nicht nur den
Weg zeigen, sie will uns auch eine Führerin auf diesem Wege sein; sie bemächtigt sich unser ganz und gar, sie regt
uns an, stellt uns Aufgaben und gibt uns die Mittel zu ihrer Lösung. Überall auf unserm Lebenswege will sie uns nahe
sein, um uns stets in der Richtung zu erhalten auf das Eine, das not ist. Den ganzen Menschen nimmt sie in Anspruch
in all seinem Denken, Empfinden und Handeln. Sie möchte gern etwas anderes aus ihm machen, als er bisher
gewesen ist, und sie bedient sich dazu der mannigfachsten Mittel.
Aber alle diese Anregungen, Mittel und Werkzeuge sind vergeblich und bleiben tot, wenn nicht der angehende
Freimaurer sie ergreift und sie auf sich in voller Hingebung wirken läßt, ja noch mehr: es darf bei einer bloßen
Einwirkung, bei welcher der Suchende sich passiv verhält, nicht bleiben, er muß lernen, sie in freier Tätigkeit zu
gebrauchen und arbeitend auf sich selbst anzuwenden. Das Interesse, das alle diese Dinge, Zeichen, Worte und
Symbole und symbolische Handlungen uns erwecken, darf kein flüchtiges sein, vielmehr muß ihre Wirkung eine so
nachhaltige werden, daß wir in ihnen die Normen für unser inneres Leben und für unsere innere Gestaltung erkennen
und aktiv zu gebrauchen wissen. Ist dies der Fall, dann lernen wir zuletzt einsehen, daß alle diese Dinge, wie
mannigfach gestaltet sie auch sind, >266< und wie verschiedenartig sie uns auch anmuten mögen, dennoch einem
Zwecke dienen, nämlich, uns aus der Finsternis dem Lichte entgegenzuführen.
Schon der Umstand, daß der Suchende in eine dunkle Kammer geführt wird und von dieser aus einen langen und
mühevollen Weg bis zum lichten Raum der Loge zurücklegen muß, deutet dem Neuling an, wohin die Freimaurerei
mit ihm hinauswill. Noch deutlicher aber tut dies die Binde, welche sich um seine Augen legte, als er das Logenhaus
betrat, und die auch später bei dem Wege von der dunklen Kammer bis zur Loge und in derselben ihn an dem
Gebrauch des Augenlichtes hinderte.
Unsere Akten sagen über sie folgendes:
„Die Binde vor den Augen des Suchenden ist ein Sinnbild des geistigen Dunkels, worin der Mensch,
geblendet
durch Begierde und Sinnlichkeit, nur zu leicht versinkt. Es erinnert dies aber auch daran, daß wir Licht
und Vollkommenheit mit dem Verlangen suchen sollen, mit dem der Suchende den Gehrauch seiner Augen wieder
zu erhalten wünscht.“ (L. B. II., Beil., S. 33.)
Und im Fragebuche heißt es (Abt. V, Frage 16 und 17) :
„Was haben Sie gesehen, als Sie in die Loge traten?“
„Nichts! Denn meine Augen waren mit einer undurchdringlichen Binde bedeckt.“
„Warum waren Sie des Gebrauches Ihrer Augen beraubt ?“
„Um mir anzudeuten, daß der Maurer durch Dunkelheit zum Lichte und zur Wahrheit dringen muß,
wenn er der wahren Glückseligkeit teilhaftig werden will.“
Das, was hier in unseren Akten gesagt ist, sind Deutungen rein moralischer Art. Aber unsere Sinnbilder — es muß
immer wieder darauf hingewiesen werden — werden noch nach zwei anderen Richtungen ausgelegt, nämlich im
historischen und im freimaurerisch-wissenschaftlichen Sinne. Während die moralische Bedeutung sich auf den
Menschen als Individuum bezieht, richtet die historische Bedeutung unsern Blick auf die menschliche Gesellschaft,
auf die Menschheit, die wissenschaftliche Bedeutung aber auf die ganze Schöpfung, auf das Universum. Obschon
diese letzte Bedeutung die tiefste und darum am weitesten abliegende ist, möchte ich doch mit ihr beginnen.
Das, was wir von dem Weltganzen kennen, ist nur ein verschwindend kleiner Teil des unendlichen Kosmos. Von
unserer Erde, die wir bewohnen, kennen wir nur deren Oberfläche und auch diese nicht einmal vollständig. In ihr
Inneres ist noch niemand eingedrungen. Von den anderen Weltkörpern wissen wir nicht viel mehr, als daß sie
vorhanden sind. Wenn auch die Astronomen den Lauf der Planeten und Kometen zu berechnen wissen, wenn sich
auch durch die Spektralanalyse eine Art Chemie des gestirnten Himmels herausgebildet hat, die uns lehrt, welche
chemischen Elemente auf den entferntesten Weltkörpern vorhanden sind, so sind das zwar staunenswerte Resultate,
aber sie zeigen uns nur um so deutlicher, wieviel unserem Wissen verborgen ist und wohl für immer verborgen
bleiben wird. Eins aber erkennen wir schon aus dem, was unsere Erde der Forschung darbietet, nämlich, daß die
ganze Schöpfung eine große Stufenleiter darstellt, die vom Unvollkommenen zum Vollkommenen hinführt.
Unsere Erde zeigt uns drei Naturreiche, das Mineralreich, das Pflanzenreich und das Tierreich. Das Mineralreich ist
zwar die Basis, auf welcher sich die beiden anderen Reiche entwickelt haben; es war zuerst vorhanden und bildete
den Erdball, lange bevor sich das organische Leben auf ihm entwickelte, und es hat für das Pflanzen- und Tierreich
die Stoffe hergegeben. Aber es ist ohne das, was wir Leben im höheren Sinne nennen, es zeigt uns nur Massen, die
den physikalischen Gesetzen gehorchen.
Auf diesem Boden hat sich nun in uns unbegreiflicher Weise die organische Welt entwickelt, zunächst das
Pflanzenreich. In ihm erscheinen die Urstoffe in den mannigfachsten Zusammensetzungen und in der wunderbarsten,
verschiedenartigsten Weise geformt. Wenn auch dort im Mineralreiche die Form im Kristall schon vorhanden war, so
zeigt sie sich hier im Pflanzenreich erst in der Gestalt, der Trägerin des organischen Lebens mit ihren mannigfachen
vitalen Äußerungen, wenn auch noch unbewußt und willenlos. Fest am Boden, dem sie entsprossen ist, haftet die
Pflanze, ohne die Fähigkeit, sich fortzubewegen. Erst >268< im Tierreich tritt Bewußtsein und Wille auf, zwar auf
den untersten Stufen noch kaum merkbar, kaum sich unterscheidend vom Pflanzenleben, aber immer mehr sich
entfaltend, immer ausgeprägter und freier, bis es endlich im Menschen seinen Abschluß findet, in dem vernunftbegabten Wesen, das fähig ist, sich mit freiem Geiste in das Reich der Idee zu erheben, und das imstande ist, den
Schöpfer und Urheber aller Dinge zu ahnen und betend zu ihm aufzuschauen.
Aber die Wissenschaft zeigt uns nicht nur, daß das organische Leben, fußend auf der unorganischen Natur, welche
einer weiteren Fortbildung nicht fähig zu sein scheint, sich vom Unvollkommenen zu immer höheren Stufen
entwickelt hat, sondern sie lehrt uns auch, daß diese Entwicklung keineswegs beendet ist, sondern daß sie
fortschreitet. Wir sehen also auch hier, daß das ganze Leben auf der Erde sich auf dem Wege vom Dunkel zum Licht
befindet, und daß dieser Weg noch keineswegs abgeschlossen, sein Ziel noch nicht erreicht ist.
Das Eine aber erkennen wir klar: Als der ewige Vater den Menschen entstehen ließ — es ist gleichgültig, ob durch
einen plötzlichen Schöpfungsakt oder als letztes Glied einer langen Reihe von Wesen, wie es die moderne
Wissenschaft lehrt, da hat er seiner Schöpfung die Binde abgenommen, die auf den niederen Stufen den Sinn des
Erkennens noch umgab. Im Menschen entstand das Organ, durch welches die Natur zu sehen vermag, und durch
welches sie allein die Fähigkeit erlangt, mit ihrem Schöpfer in eine bewußte Wechselwirkung zu treten.
Aber das Lüften dieser Binde geschieht nicht plötzlich, wie hier bei unserer Aufnahme geschieht; das zeigt uns ein
Blick auf die Menschheit und ihre Geschichte. Welch ein weiter Weg ist es von dem rohen Bewohner der Pfahlbauten
bis zum höchst entwickelten Kulturmenschen, welch ein weiter Weg von der Anbetung eines roh geschnitzten
Götzenbildes bis zu dem reinen Dienst des einigen, unsichtbaren Gottes im Geiste und in der Wahrheit! Die
Weltgeschichte ist mit Blut geschrieben; sie zeigt uns eine ununterbrochene Reihe von Kriegen und Kämpfen, deren
Ende trotz aller Friedensapostel noch nicht abzusehen ist, und ein Kurzsichtiger könnte wohl versucht sein, daran zu
zweifeln, ob das Licht, das dem Menschen gegeben ist, eine Himmelsfackel sei, oder ob es nicht vielmehr ein
Feuerbrand ist, der Städte und Länder einäschert. Der Weise aber sieht weiter. Wenn er auch sich sagen muß, daß der
Fortschritt des Menschengeschlechts nicht kontinuierlich in aufsteigender Linie vor sich geht, sondern Schwankungen
unterworfen ist, so kann ihm doch nicht verborgen bleiben, daß es trotzdem hinaufgeht. Die Binde fällt eben langsam
der Menschheit von den Augen, und bis zum vollen Lichte ist es noch weit. Auch der Neuaufgenommene ist vom
vollen Lichte noch weit entfernt, dessen erster Schimmer ihm beim Fallen der Binde erst vergönnt ist. Eine lange
Reihe von Stufen, deren einige ihn sogar rückwärts zu führen scheinen, hat er noch zu durchlaufen, bis der leuchtende
Strahlenglanz des vollen Lichtes ihm aufgeht.
Damit sind wir nun endlich bei dem angelangt, was die Binde für den einzelnen Menschen, insonderheit für den
Suchenden, bedeutet, der bei uns Einlaß begehrt. — Der Suchende steht vor uns als ein Mensch, der den ersten
Schritt vorwärts auf der Bahn des freien Maurers tun will. Die Binde vor seinen Augen soll ihm sagen, daß es des
Menschen vornehmste und größte Aufgabe ist, vom Dunkel zum Lichte hindurchzudringen, zum Lichte, das wir
schauen mit des Geistes Auge. Er bilde sich nicht ein, daß er dieses Licht als Erbteil mühelos erhalten hat. Nur die
Fähigkeit ist ihm gegeben, sich für ein Schauen desselben durch Reinigung und Veredlung zu bereiten. Nicht die
Kenntnisse, die er erlangt hat, nicht die Bildung, die er erworben, nicht die Fertigkeiten, die er sein eigen nennt, nicht
Ehren und Würden, die man ihm übertragen hat, sind das Licht. Was hülfe es ihm, wenn er die ganze Welt gewänne:
dem wahren Lichte käme er dadurch nicht einen Schritt näher. Das soll der Suchende schon bei seiner
Lehrlingsaufnahme klar erkennen; er soll erkennen, daß nur in der Entwicklung des inneren Lebens das Heil liegt,
und daß alles andere wie nichts zu achten ist gegenüber diesem Einen, Höchsten. Der Leib, der mit irdischer Hülle
uns umgibt, aus dem Sinnlichkeit und Begierden stammen und unser wahres Leben unterdrücken, ist eine Binde, die
abgetan werden muß. Die mannigfachen Verhältnisse unserer Lebensstellung, die unseren Sinn gar zu leicht auf
andere Bahnen locken und uns vom rechten Wege zum Lichte ablenken, sind eine Binde, die fallen muß. Der
Hochmut, der Wissensdünkel, die Selbstsucht und alle üblen Regungen in ihrem Gefolge sind Hemmnisse für das
Licht, die beseitigt werden müssen wie die Binde, wenn der Suchende das Licht schauen soll.
„Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“, sagt der Obermeister der Menschheit. Er mußte
es am besten wissen, er, der das reinste Licht geschaut hatte. Darum muß der Suchende sein Herz reinigen, auf daß er
der höchsten Glückseligkeit >270< des Lichtes teilhaftig werde. Aber nicht für sich selbst allein soll er dieses
höchste Ziel zu erreichen suchen. Der rechte Maurer kennt Glückseligkeit allein, wenn er sie mit seinen Brüdern, mit
den gleich ihm für das Licht erschaffenen und bestimmten Menschen, teilen kann. Nur dann, wenn er sieht, daß das
von ihm selbst errungene Licht auch außer ihm wirksam wird in seiner befreienden, bindenabtuenden, erlösenden
Kraft, nur dann kehrt die volle Befriedigung vollbrachter Maurerarbeit in sein Herz ein. So wird er tätig im Dienste
der Menschheit und gestaltet sich zu einem, wenn auch kleinen, so doch immerhin wirksamen Triebrad ihres
Fortschreitens, ja, er arbeitet mit an dem großen Weltenbau und trägt fest im Glauben, stark im Lieben und getreu im
Hoffen sein Scherflein bei zur Vollendung des Ganzen; und dem allsehenden Auge des ewigen Meisters wird auch
das Kleine nicht entgehen, ihm, vor dem nichts klein und nichts groß ist. (1900.)
Die drei harten Schläge.
Es ist ein unumstößliches biologisches Gesetz, daß die Organe unseres Körpers, wenn sie in ihren Funktionen geübt
werden, sich kräftigen und zu immer höherer Leistungsfähigkeit gesteigert werden können, daß sie dagegen, wenn sie
außer Tätigkeit gesetzt werden, an Kraft immer mehr abnehmen und schließlich ganz der Degeneration verfallen. Das
weiß jeder Turner; er übt seine Muskeln, um sie endlich fähig zu machen für die Ausführung der schwierigsten
Übungen.
Dasselbe Gesetz gilt auch auf geistigem Gebiet. So kann beispielsweise das Gedächtnis durch Übung zu einer
staunenswerten Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Ein Schauspieler, der täglich sein Gedächtnis zu üben
Gelegenheit hat, lernt eine große Rolle von vielen Bogen, wenn es nötig ist, in einem Tage, eine Leistung, die einem
anderen Menschen eine Unmöglichkeit wäre.
Auf diesem Gesetz beruht die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten des Menschen. Ebenso wie es eine Gymnastik
des Körpers gibt, so gibt es auch eine Gymnastik des Geistes. Das weiß der Pädagoge ebenso wie der Jünger der
Wissenschaft und der Künstler. Die Seele des Kindes kann nur entwickelt werden durch Übung ihrer Kräfte. Wir
haben in der Schule mancherlei gelernt, nicht damit wir es zeitlebens im Gedächtnis behalten, sondern damit wir die
Kraft unseres Geistes daran entwickeln sollten (ich erinnere z.B. an die Mathematik). Darum ist es töricht, wenn viele
darüber klagen, daß ihre Kinder in der Schule mit Dingen gequält werden, die sie für das praktische Leben gar nicht
gebrauchen und später, je unlustiger sie sich damit beschäftigt haben, desto eher vergessen. Der Gelehrte schärft die
Findigkeit seines Geistes durch stets erneutes Suchen und Forschen, und der Künstler muß sich den unausgesetzten
Übungen seiner Kunst >272< unterziehen, wenn er Tüchtiges leisten soll, ja, er darf die Übungen niemals
unterbrechen, wenn, er nicht befürchten soll, Rückschritte in seiner Kunst zu machen. Bei all diesem Streben, das
eine geistige Entwicklung zum Zweck hat, sind Widerstände zu überwinden. Das lernende Kind kämpft mit seiner
Trägheit und mit der Versuchung, durch die es von der Schulbank zum Spielplatz hingezogen wird; der Denker ringt
mit der ungenügenden Schärfe seines Geistes, so wie der Künstler mit der Sprödigkeit des zu formenden Stoffes und
der noch nicht genug entwickelten Fertigkeit seiner Hand. Treffend hat Schiller das ausgedrückt, wenn er sagt:
„Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet,
Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born;
Nur des Meißels schwerem Schlag erweichet
Sich des Marmors sprödes Korn.“
Kommen wir nun auf unsere k. Kunst zurück, so finden wir, daß auch in ihr sich jenes Gesetz überall bewahrheitet.
Auch hier gilt es, vorhandene Kräfte voll zu entwickeln, um das Bedeutendste und Schwerste zu vollbringen; auch
hier sind Widerstände vorhanden, die nur durch höchste Kraftentfaltung überwunden werden können. In allem, was
der Orden uns darbietet, weist er auf diese Widerstände hin und führt es seinen Jüngern zu Gemüt, daß die Aufgaben,
die er ihnen stellt, nicht leicht zu lösen sind. Das Verständnis für unsere Sache kann nur gewonnen werden, wenn wir
uns stets gegenwärtig halten, daß das Wesen der Freimaurerei nicht in einem mühelosen Empfangen, sondern in
einem angestrengten Erarbeiten und Erringen besteht. Alles, was der Aufzunehmende bis zu seiner Ankunft an der
Tür der Loge erfährt, deutete schon darauf hin; die dunkle Kammer, in welche er geführt wurde, sollte ihn nicht bloß
anleiten, den durch nichts abgelenkten Blick in sein Inneres zur strengen Selbstprüfung zu richten, sondern sie war
auch ein Hindernis, das Licht der Loge zu schauen, dem er zustreben sollte. Die Entkleidung und der niedergetretene
Schuh waren Hindernisse, die ihn hinwiesen auf die eigene Unvollkommenheit, die überwunden werden sollte durch
Streben zum Vollkommenen; die Binde vor seinen Augen war ein Hindernis, den rechten Weg allein zu finden; durch
Vertrauen und Ergebung mußte er es zu überwinden suchen, damit endlich die Binde fallen und das wahre Licht ihm
scheinen konnte. Endlich nun steht er vor der Pforte der Loge, der er auf vielfachen Umwegen sich näherte, aber sie
ist verschlossen; wieder ein neues Hindernis, das sich ihm darbietet. Doch der Geist des Ordens kommt ihm entgegen
und hilft ihm überwinden. Drei harte Schlage hört der Suchende fallen; der erste ertönt aus dem innersten Heiligtum
heraus, der Hammer des Meisters war es, der ihn führte. Der zweite geschah durch den Wachthabenden gegen die
Tür von innen, und endlich tat der einführende Bruder den dritten und letzten Schlag von außen im Namen des
Suchenden, den er an der Hand führt. Dieser hört die Schläge wohl, er fährt durch ihre Wucht zusammen und wird
erschüttert, aber er weiß noch nicht, was sie bedeuten; nur das ahnt er wohl, daß sie ihn angehen und für ihn getan
werden. Viel später erst erfährt er, was sie sagen wollen. Im Lehrlingsfragebuch (Abt. V, Fr. 14 und 15) heißt es:
„Durch welche Mittel haben Sie den Eintritt erlangt ?“
„Durch drei harte Schlage.“
„Was bedeuten diese Schläge?“
„Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch auf getan.“
Die wohlbekannten Worte des höchsten Obermeisters (Matth. 7,7) sind es, die hier den drei Schlägen als Bedeutung
untergelegt werden. In der Bergpredigt verkündigte er sie seinem Volke und der ganzen Welt. Sie enthalten drei
Forderungen: Suchen, Anklopfen und Bitten. In ihnen wird der angehende Jünger der k. Kunst angeregt, vorwärts zu
schreiten in freier Selbsttätigkeit. Sie müssen von ihm erfüllt werden, wenn er etwas erreichen will; denn ohne sie gibt
es kein Fortschreiten auf dem Gebiete der Kunst und des Geisteslebens. So ist es in jeder Kunst. Wer sich einer Kunst
weihen will, muß, begeistert von dem Drange, ihr Licht und ihre Wahrheit zu erlangen, — suchen die Werkstätte des
Meisters, in der die Kunst gelehrt wird; er muß anklopfen an die verschlossene Tür, damit der Meister ihm öffne; und
wenn dieser ihn fragt: was führt dich her? was willst du?, dann muß er bittend ihn angehen, damit er ihn unterweise
und an die Arbeit stelle. Alles das ist auch erforderlich in unserer Sache; das wird jeder einsehen lernen, dem die
Bezeichnung „königliche Kunst“ nicht bloß eine Phrase und eine Spielerei ist. >274<
Im Suchen, Anklopfen und Bitten haben sich somit die Kräfte zu bewähren, welche die Widerstände, die sich
zwischen uns und unser Ziel stellen, schwinden machen. An jene drei Forderungen werden vom Obermeister drei
Verheißungen geknüpft: auf das Suchen folgt das Finden, auf das Anklopfen das Auftun, auf das Bitten das
Empfangen; denn, so spricht der Obermeister weiter: „Wer da bittet, der empfanget, und wer da suchet, der findet,
und wer da anklopfet, dem wird aufgetan.“ Aber diese Verheißungen erfüllen sich uns nur, wenn wir mit
Daransetzung aller unserer Kräfte jenen Forderungen gerecht werden. Die Schrift sagt, daß diejenigen, die dem
Himmelreich Gewalt antun, es an sich reißen. (Matth. 11, 12.) So ist es auch hier. Niemand dringt in das Heiligtum
unserer Kunst als durch die Gewalt des Suchens, Anklopfens und Bittens, und die Härte der Schläge vergegenwärtigt
uns eben die Gewalt, mit der wir uns in Festigkeit und Beharrlichkeit das Reich des Geistes zu öffnen haben, das die
Loge uns mit ihren Schleiern verhüllt. Sie tut das nicht, um uns zu reizen und unsere Neugier auf die Folter zu
spannen, sondern es liegt das in der Natur der Sache der Freimaurerei, welche ein Geheimnis enthält, das sich nur
dem gewaltsam Eindringenden erschließt. Dieses gewaltsame Eindringen aber darf nicht roh und ungeschlacht sein,
sondern es muß sich der Regel fügen und zur Kunst werden; in langsamer, aber sicherer Steigerung muß es sich in der
Seele des Arbeitenden entwickeln, um ihn endlich an das Ziel zu führen; und das geschieht eben im Suchen,
Anklopfen und Bitten.
Mit Recht hat Br. Widmann (Zirkelkorr. 1872, S. 252) darauf hingewiesen, daß die drei Forderungen des
Obermeisters unsern Erkennungszeichen entsprechen. Die Mittel, sagt er, durch welche sich der Mensch seinem
göttlichen Ursprung nähert und zu einem Baustein des unsichtbaren Tempels wird, nennt Christus Suchen, Anklopfen
und Bitten; die Freimaurerei nennt sie Zeichen, Griff und Wort; denn was können wir anderes suchen als die Zeichen
einer Sache, womit klopfen als durch den Griff, womit bitten als mit dem Wort? Was die Erkennungszeichen in
ihrer tiefsten Bedeutung für uns sind und wie sie uns zur tiefsten Erkenntnis, zur Wahrheit und zum Licht führen
können, das habe ich in dem betreffenden Vortrag (siehe oben S. 205 ff.) darzustellen gesucht und verweise hier
darauf. Der Obermeister hat durch diese seine Worte allen, die da Ohren haben, zu hören, den Weg gewiesen, der zur
Vollendung führt; die Freimaurerei aber zeigt uns durch Zeichen, Griff und Wort, wie wir recht zu suchen, recht
zu klopfen und recht zu bitten haben, sie faßt alle diese Tätigkeiten in die Regeln der Kunst ein und lehrt uns ihre
Ausübung. Sie lehrt uns recht suchen und die unvergänglichen Zeichen des Göttlichen finden, wie sie sich überall für
den zeigen, der sein Auge für sie zu öffnen weiß; sie lehrt uns das göttliche Recht, das nur zu oft durch trübe
Menschensatzung verhüllt ist, erkennen und anwenden. Und ferner lehrt sie uns, recht anklopfen; sie führt uns vor die
richtige Tür und läßt uns die eitlen Prunkpforten, hinter denen Hohlheit und Nichtigkeit wohnt, vermeiden, um nur da
den Eingang zu begehren, wo Licht und Wahrheit uns entgegenkommen, und wo der Meister zu finden ist. Endlich
aber vollendet sie ihr Werk an uns, indem sie uns recht bitten lehrt. Was erbitten sich die Menschen nicht alles von
der Gottheit! Wieviel törichte Wünsche werden laut! Irdische Schätze und Dinge, die dem heutigen oder morgenden
Tage dienen sollen, ja auch oft genug Frevelhaftes, was vor der göttlichen Gerechtigkeit nicht bestehen kann, sucht
der eitle Erdensohn für sich zu erflehen. Nicht so der Maurer, der das Wort kennt. Das Wort, das in ihm lebendig
geworden, ist ein Widerhall des ewigen Wortes, das im Anfang war, und durch welches alle Dinge gemacht sind. Es
ist das innere Licht seines Lebens, das er gesucht und für das er angeklopft hat. In reinster Erkenntnis lehrt es ihn, das
Wahre vom Falschen unterscheiden, und darum kann er durch das Wort, das in ihm lebt, nur bitten um die rechten
geistigen Güter, um das reine Herz und um den neuen gewissen Geist; er kann nur bitten um die endliche Vereinigung
mit dem Meister selbst, mit ihm, in dessen Schoße allein Friede und Freude ist.
Wir haben aber die drei harten Schläge und, was sie bedeuten, noch von einer anderen Seite zu betrachten. Wenn wir
uns daran erinnern, daß der Meister vom Altar aus den ersten Schlag tut, und daß die beiden anderen von seinen
Boten, dem wachthabenden und einführenden Bruder, gegeben werden, so müssen wir darauf kommen, daß auch
wohl der Meister es sein könnte, der bei dem der Logenpforte sich Nahenden sucht, anklopft und bittet. Und warum
sollte es nicht so sein? Uns umschwebt überall der Geist der ewigen Liebe, die uns in das Dasein rief, und die uns die
Pfade leiten möchte, welche uns zu ihr hinführen, auf daß wir nicht verloren seien. Denn dazu sind wir geschaffen,
daß wir Gott suchen, finden und erkennen und so mit ihm eins werden. So wie wir beim Meister suchen, anklopfen
und bitten sollen, so sucht, >276< klopft und bittet der ewige Meister bei uns. Er sucht den Menschen, sein
Geschöpf, auf tausend Wegen und auf tausend Arten, durch allerlei Fügungen und Erweckungen. Aber der Mensch
macht es seinem Gott oft genug zu schwer; er will sich nicht finden lassen. Und was ist härter als ein Herz, das sich
von seinem Gott abwendet und sich vor ihm verschließt! Aber der Meister läßt nicht nach und klopft an. Es steht
geschrieben: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun,
zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir.“ (Offenb. 3,20.) Darum tue ihm auf,
o Mensch! Der Meister will zu dir hinein und will dir geben Speise des Geistes, die da sättigt, und Wasser des
Lebens, danach niemand mehr dürstet. Darum verhärte dein Ohr nicht und öffne ihm; lausche auf ihn, der dich bittet,
mit tausend Stimmen, bald leise und kaum hörbar, bald laut und eindringlich. Es ist das ewige Wort selbst, das Wort,
das im Anfang war, ist es, das dich bittet: „Sei mein, wie ich dein sein will.“ — Das Wort ist ja schon in dich
hineingelegt; es schlummert nur. Laß es erwachen zum Leben, daß es laut verkündige das Lob des Ewigen, daß es
eins werde mit ihm im reinsten Zusammenklang. Erfülle, was die unendliche Liebe von dir begehrt: sie will dich, dich
selbst, und zwar ganz, auf daß sie in dir und du in ihr seist! Dann ist das Abendmahl gehalten, der Geist des Ewigen
hat dich durchdrungen, und dein Tempel ist vollendet. (1904.)
Die an den Suchenden gerichteten Fragen.
Die Gebräuche unserer Lehrlingsaufnahme, denen der Suchende unterworfen wird, müssen diesem sehr eigentümlich
erscheinen, und selbst dasjenige, was selbstverständlich ist, erhält in ihr ein eigenartiges Gepräge. Selbstverständlich
ist es, daß eine Gesellschaft, welche ein neues Glied in ihren Verband aufnehmen will, sich nach den näheren
Lebensumständen ihres zukünftigen Mitgliedes erkundigt. Sie muß seinen Namen, sein Alter, seine Religion, seinen
Stand und Beruf wissen; sie muß wissen, aus welcher Familie er stammt, und welche Beweggründe es waren, die ihn
vermochten, sich zur Aufnahme zu melden. Je ernster die Zwecke der Gesellschaft sind, und je fester das Band ist,
durch welches sie ihre Mitglieder miteinander verknüpfen will, desto mehr muß ihr daran gelegen sein, genau über
die äußeren und inneren Lebensumstände des Neulings unterrichtet zu sein.
Also ist es auch bei uns. In dem Reverse, der dem Suchenden bei seiner Anmeldung vorgelegt wird, muß er alle diese
Fragen schriftlich beantworten. Um so auffallender muß es ihm erscheinen, daß alle diese Fragen bei der Aufnahme
mündlich wiederholentlich an ihn gerichtet werden. Die drei Personen, welche die drei harten Schläge für ihn tun,
legen sie ihm vor, der einführende Bruder in der dunklen Kammer, der wachthabende Bruder vor der Pforte, und
endlich der Logenmeister in Gegenwart sämtlicher Brüder.
(Es ist nicht richtig, daß, wie es hier und da geschieht, die Tür der Loge offen bleiht, während der wachthabende Bruder die Fragen an den
Suchenden tut, vielmehr muß der erstere die Tür hinter sich schließen, so daß die in der Loge befindlichen Brüder die Antworten nicht hören. Sie
vernehmen erst die Antworten des Suchenden, wenn der Meister ihm die Fragen vorlegt; dann erst legt der Suchende vor der ganzen Loge
Zeugnis von seinem Wesen ab.)
Der Suchende mag >278< daraus erkennen, wie wichtig es dem Orden ist, ihn genau zu kennen und sein Inneres zu
erforschen, da auf allen Stationen, die er zu durchlaufen hat, in der dunklen Kammer, vor der Logentür und in der
Loge, als Suchender, als Anhaltender und als Leidender, er einer Prüfung unterworfen wird, die zu erkennen trachtet,
wes Geistes Kind er ist. Einen uns Unbekannten können wir nicht zu uns hereinführen, und neben dem Zeugnis,
welches ehrenwerte Männer ihm gegeben haben, müssen seine eigenen Worte für ihn zeugen.
Einen noch bedeutenderen Sinn aber legen unsere Akten diesen Fragen unter, indem sie folgende Erklärung darüber
geben. (II. L. B., Beil. S. 34 u. 35) :
„Die verschiedenen Fragen wegen Ihres Tauf-, Vater- und Geschlechtsnamen, Ihres Geburtsorts usw. wurden
an Sie gerichtet, damit Sie, obschon wir Ihre Person vorher kannten, doch öffentlich diese Umständebestätigen
und zugleich einsehen lernen, daß Herkunft und Glücksumstände allein nie Beweggründe sind, das
Bürgerrecht bei uns zu gewinnen. Wir bauen nicht auf so schwache Säulen. Ein aufrichtiger Trieb, bei uns
aufgenommen zu werden, und eine edle Seele sind allein die Vorzüge, die wir schätzen. Hirtenstab und
Bauernkittel haben in diesem Betracht bei uns gleichen Wert mit Königsschmuck und Purpurmantel. In
unserer Loge setzen wir alle Titel, Würden und ererbte Namen beiseite und vertauschen sie mit dem lieblichen
Namen Bruder, einen Namen, den der weiseste Baumeister allen Menschen zuerkannte, weil sie alle
gegenseitiger Hilfe, Stärkung, Liebe und Vertrauens bedürfen. Gleichheit schürzet unser starkes und
unzertrennliches Freundschaftsband und hilft uns, den Hochmut meiden, der die Mauern niederreißt, welche
zärtliche Freundschaft erbaut hat.“
Jedes Mitglied der Loge wird vom Orden mit einem Steine verglichen, der für einen Tempelbau bearbeitet und in ihn
hineingefügt werden soll. Die Steine, die zu uns hereinkommen, haben noch nicht die rechte Form, es sind rauhe
Steine, die soeben aus dem Steinbruch herbeigebracht worden sind. Demgemäß zeigt uns unsere Arbeitstafel im
Norden das Bild des unbehauenen Bruchsteins und ihm gegenüber im Süden das des behauenen Steines, der in
kubischer Form für den Bau bereitet ist. Der Steinbruch nun, der uns das Baumaterial liefert, das ist die profane Welt,
die bürgerliche Gesellschaft.
Wie mannigfach und verschieden sind die Individuen, die uns in dieser unendlichen Fülle unseres Baumaterials
entgegentreten! ebenso wie die Steine, welche die Natur in ihren verschiedenen Gebirgsarten dem Baumeister
darbietet. Der erfahrene Meister aber erkennt wohl, wenn er diese Fülle übersieht, daß nicht alle Steine für den Bau
geeignet sind. Da gibt es Steine, welche zu hart, zu schwer zu bearbeiten sind; dann wieder solche, die zu weich sind.
Andere wieder zeigen Sprünge und Risse, die sie allmählich ganz zu zerspalten drohen, so daß sie auseinanderfallen;
da gibt es ferner solche, die schon durch allerlei äußere und innere Einflüsse eine bestimmte, feste Form
angenommen haben, welche sich schwer oder gar nicht mehr andern läßt, usw.
Darum ist es für uns von bedeutendster Wichtigkeit, unser Baumaterial den rechten Steinbrüchen zu entnehmen, wo
wir Steine zu finden hoffen dürfen, welche mit allen unserem Bau dienlichen Eigenschaften ausgestattet sind. Bei
dieser Prüfung können wir nicht sorgfältig genug verfahren. Die Brüder, welche als Bürgen es unternehmen, einen
Suchenden vorzuschlagen, tragen die größte Verantwortlichkeit und haben die vornehmste Pflicht, ihn zu prüfen, ob
er sich für unseren Bau eignet. Diese Pflicht ruht aber nicht auf ihnen allein, sondern auf allen Mitgliedern der Loge.
Darum wird der Name des Suchenden den Brüdern bekannt gemacht nicht nur durch Verkündigung in geöffneter
Loge, sondern auch durch Anheftung an die schwarze Tafel, damit jeder wisse, wer zur Aufnahme vorgeschlagen ist.
Wer da sagt, er habe von dem Vorschlage eines Suchenden nichts gewußt, der klagt sich selbst einer
Pflichtverletzung gegen den Orden an; denn jedem Bruder liegt ob, sich über die eingegangenen Vorschläge zu
unterrichten. Konnte er bei der betreffenden Arbeit nicht anwesend sein, so war doch die schwarze Tafel dazu da, um
ihn mit den Namen der Suchenden bekannt zu machen.
(Die schwarze Tafel sollte darum nicht im Tempel hängen, welcher ein oder zweimal im Monat den Brüdern offen steht, sondern in den
Gesellschaftsräumen an einer Stelle, wo sie allen möglichst in die Augen fällt.)
Wie sorgfältig wir nun bei der Prüfung des Suchenden zu verfahren haben, daran sollen die wiederholentlich an den
Suchenden gerichteten Fragen uns erinnern. Die Paten haben den neuen Baustein bis vor unsere Pforte gebracht;
ihnen haben wir vertraut und ihn so weit kommen lassen. Aber damit hört die Prüfung nicht auf; die Loge kann sich
darin gar nicht genug tun. Der einführende Bruder tut die Fragen an den Suchenden, der sich noch in der dunklen
Kammer befindet, der Wachthabende, der mit dem bloßen Schwert vor die Pforte tritt, „um die fremden Unkundigen
abzuhalten“ (Frgb., III. Abt., 3, Art., Fr. 12), wiederholt sie „mit ernster Stimme“, wie das Ritual ausdrücklich
vorschreibt, und endlich, wenn die Pforte durchschritten ist, dann fragt ihn zum dritten Mal der Meister, der berufen
ist, den neuen Stein in den Bau einzufügen.
Gleichwohl beziehen sich alle die Fragen, welche dem Suchenden vorgelegt werden, mehr oder weniger auf
äußerliche Dinge und Verhältnisse. Wo bist du her? Aus welcher Familie? Was treibst du draußen? Zu welcher
Religion bekennst du dich? — Das sind alles Fragen, die uns wohl über die äußeren Lebensumstände des Suchenden
Auskunft geben können, und ob er aus Kreisen kommt, deren Mitglieder überhaupt befähigt sind, die k. Kunst zu
treiben; in sein Inneres aber können sie uns keinen Einblick verschaffen. Den Suchenden selbst aber sollen sie, wie
die Erklärung sagt, daran erinnern, „daß Herkunft und Glücksumstände allein nie Beweggründe sind, das Bürgerrecht
bei uns zu gewinnen“. Und wenn er dem edelsten Geschlecht entstammte, und wenn er Fürsten und Könige als seine
Ahnen uns genannt hätte, so könnte sich doch die Tür der Loge vor ihm verschließen, wenn er in den nachfolgenden
Prüfungen nicht besteht. „Wir bauen nicht auf so schwache Säulen“; denn „Hirtenstab und Bauernkittel haben in
diesem Betracht bei uns gleichen Wert mit Königsschmuck und Purpurmantel“. Ja, es müßte noch hinzugesetzt
werden: ebensowenig, wie Herkunft und Glücksumstände maßgebend sind, um das Bürgerrecht bei uns zu gewinnen,so wenig sind es Kenntnisse, Gelehrsamkeit, sog. Bildung, Ehre und Ansehen, kurz alles das, worauf die Welt
Gewicht legt. Ansehen vor der Welt! was ist das? — Der Mann von gutem Ruf, den seine Mitbürger hochachten und
verehren, — ist er unter allen Umständen für uns geeignet? Die Erfahrung hat gelehrt, daß dem nicht immer so ist,
und anderseits wieder, daß Leute, deren Würdigkeit zweifelhaft erschien, sich trotzdem zu tüchtigen Maurern
heranbildeten.
Wie oft ist selbst ein untadelhafter Wandel und ein tugendhaftes Wesen weiter nichts als äußerer Schein! Es gibt
Mustermenschen, denen man nicht das Geringste vorwerfen kann, und die dennoch innerlich hohl und sittlich
verkommen sind, deren Tugend weiter nichts ist als ein Bewahren des äußeren Scheins. Alles das ist wertlos vor dem
Richterstuhle des Ordens. Worauf wir allein Wert legen, das sagt uns unsere Erklärung: „es ist ein aufrichtiger Trieb,
bei uns aufgenommen zu werden, und eine edle Seele.“ Darum fügt der Meister, wenn an ihn die Reihe kommt, zu
fragen, noch hinzu:
„Treibt Sie bloße eitle Neugierde hierher oder ein wahrer Eifer und Verlangen nach dem Orden?“
Neugierde ist kindisch, verächtlich und des Maurers unwürdig; der wahre Eifer nach dem Orden aber kann nur in
einer edlen Seele wohnen. Denn eine edle Seele freut sich der Wahrheit; eine edle Seele strebt zum Licht; eine edle
Seele trägt den Quell der höchsten Tugend in sich, jener Tugend, die nicht bloß ein äußerliches Befolgen von
Tugendregeln, sondern ein Handeln von innen heraus nach ewigen, göttlichen Gesetzen ist. — Die edle Seele, das ist
das feine Korn des Marmors, die innerliche, gleichmäßige, ebenso kernige und feste als auch wohl formbare Struktur
des angehenden Bausteins, die ihn auserwählt und köstlich macht für den Tempel, dem er dienen und in welchem er
seine Stelle zieren soll.
Was sind alle Titel, Würden und ererbte Namen, was sind Königsschmuck und Purpurmantel gegen den hohen
Adelsbrief, den eine edle Seele dem Menschen selbst ausfertigt! Darum steht auch über allen Titeln und Würden uns
als der höchste Ehrentitel der Brudername, und freudig erkennt der Maurer, der durch die k. Kunst geformt und frei
geworden ist von den Banden der Finsternis, in jedem Menschen seinen Bruder, seinen Stamm- und Blutsverwandten,
der gleich ihm aus der Hand des ewigen Vaters und Schöpfers hervorgegangen ist.
Das ist das Band der Gleichheit, das, wenn es recht geknüpft und festgehalten wird, uns in fester Freundschaft
verbindet und die losen Steine zur Mauer zusammenfügt, die nicht wanken und fallen kann. Zwar haben wir auch hier
in der Loge eine vollkommene Gleichheit der Glieder ebensowenig wie draußen im profanen Leben. Auch hier sind
die Geistesgaben verschieden ausgeteilt, und wir finden Mannigfaltigkeit >282< der Charaktere, ja, wir haben auch
maurerische Unterschiede und Stufen, wir haben Lehrlinge, Gesellen und Meister, niedere und höhere Ordensgrade
und Beamte mit niederen und höheren Funktionen. Aber alles dies ist nicht selbst Zweck, sondern soll nur dazu
dienen, das zu erkennen und herauszuarbeiten, worin wir alle gleich sind vor dem allsehenden Auge des ewigen
Vaters, das Eine, das als unverlöschliches salomonisches Siegel uns allen von seiner Schöpferhand aufgeprägt
worden ist.
Wer das erkannt hat, der ist auf dem rechten Wege, der hat das Licht, in dessen Himmelsglanz ihm alles Irdische, alle
Unterschiede des Standes und Berufes, und was das Erdenleben sonst für Schranken ziehen mag, dahinschwindet.
Wenn man ihm, dem Ziele der Vollendung Nahen, jene Fragen, die an den Suchenden gerichtet werden, aufs neue tun
würde, — wie möchte er sie beantworten?
Wie ist dein Name? — Mensch werde ich genannt, ein Wesen, aus Staub geformt, aber dennoch bestimmt, sich zum
Lichte zu erheben und ewiges Leben zu erlangen.
Wie ist der Name deines Vaters? — Es ist der Ewige, Allmächtige und Allgütige, dessen Namen kein irdischer Laut
nennt, und dessen heiliges Wesen ich voll erkennen werde, wenn die letzte irdische Hülle gefallen ist.
Wie alt bist du? — Ich bin so alt wie mein Vater. Unbewußt ruhte ich in ihm, ehe er mich in diese Welt hineinrief,
und zu ihm kehre ich wieder zurück, um Teil zu haben an seinem ewigen Wesen und an seiner Herrlichkeit.
An welchem Tage bist du geboren? — An dem Tage, an welchem ich das erste Licht schaute, in dem ich den
höchsten Meister als meinen Vater erkannte.
Was für eine Religion bekennst du? — Das unzerreißliche Vereinigungsband, das den Schöpfer mit dem Geschöpf,
das Kind mit dem Vater verbindet, hält auch mich umschlungen. Zu dieser einen und einzigen Religion bekenne ich
mich.
Was hast du für ein Amt oder Geschäft ? — Ich treibe die königliche Kunst, den höchsten menschlichen Beruf, die
Kunst, mich vom vergänglichen Erdenstaube zum ewigen Lichte zu erheben durch Reinigung und Veredlung meines
Wesens.
Wie heißt dein,Geburtsort? — Der kleine Stern, auf welchem ich zum Lichte erwachte, wird die Erde genannt. Von
ihr sind die Stoffe genommen, die meinen Leib bilden, auf ihr ist mein Wirkungskreis in der irdischen Zeitrechnung,
und ihr gebe ich einst, wenn für mich die Zeitrechnung aufhört, zurück, was sterblich an mir ist.
Bist du Mitglied einer öffentlichen oder geheimen Ordensverbindung? — Der öffentliche, jetzt aller Welt bekannte
Orden, zu dem ich gehöre, ist der Freimaurerorden. Ihm habe ich mich angelobt und gehöre ihm an mit all meinen
Kräften im Leben und Sterben. — Aber es gibt noch einen geheimen Orden, den niemand sieht, den nur der findet,
der zu ihm gerufen ist. Nicht jeder, der den Freimaurernamen trägt, gehört zu ihm. Das ist der geheimnisvolle Orden,
der mit unsichtbarem Bande alle strebenden Geister umschlingt, die zum höchsten Ziele wollen. Das ist der Orden,
durch den alles Große und Herrliche vollbracht ist, was das Menschengeschlecht auf dieser armen Erde erleuchtet. Zu
ihm strebe ich; mich für ihn würdig zu machen, ist mein heißes Bemühen. O, daß ich doch zu ihm gezählt werden
könnte! (1901.) >284<
Das Schicksal, das sich der Maurer selbst bereitet.
Sobald der Suchende die Schwelle der Loge überschritten hat, führt er den Namen eines Anhaltenden; denn er hat
sich durch mannigfache Prüfungen und Mühen nicht abschrecken lassen, den Weg zu verfolgen, der zum Ziele führt.
Noch freilich kann er umkehren. Noch hat er durch das dreifache Ja seinen Vorsatz, auszuharren bis ans Ende, nicht
bekräftigt; der Rückweg steht ihm noch frei, und die Pforte, die sich eben hinter ihm geschlossen hat, kann sich aufs
neue öffnen, um ihn für immer zu entlassen. Der einführende Bruder aber geleitet ihn vorwärts bis zu den Brüdern
Aufsehern, und indem er ihn verläßt, spricht er zu ihm die bedeutungsvollen Worte:
„Mein Herr ! Bis hierher habe ich Sie geführt. Jetzt überlasse ich Sie dem Schicksal, das Sie sich selbst
bereitet haben.“
Einen Augenblick steht er dann ganz allein und verlassen. Tiefe Nacht umgibt ihn, und das Wort Schicksal hallt
drohend und unheimlich in seinem Innern nach, bis endlich die Aufseher von rechts und links seine Hände fassen und
er merkt, daß liebevolle Sorgfalt ihn umgibt und ihn zu führen bereit ist.
Einem Schicksal geht er entgegen, einem Schicksal, das er sich selbst bereitet hat. — Das Erste, was ihm dabei durch
den Sinn gehen wird, sind wohl die ihm bevorstehenden Prüfungen, denen zu unterwerfen er sich bereit gezeigt hat.
Wie er sie besteht, ob er würdig oder unwürdig aus ihnen hervorgeht, das ist sein Schicksal; und sich selbst hat er es
bereitet, denn es war ja sein freier Wille, den Eintritt in die Loge zu erlangen, und er hat eingewilligt, sich allen
Proben der Standhaftigkeit zu unterwerfen. Es steht wohl fest, daß in früheren Zeiten die Prüfungen bei der
Aufnahme viel härtere und schwerer zu bestehende gewesen sind als jetzt. Aus den Initiationen in die Mysterien der
antiken Welt, in welchen Prüfungen zu bestehen waren, welche in der Tat Gefahren für Leib und Leben mit sich
brachten, ist wohl mancherlei in die modernen maurerischen Mysterien herübergenommen worden. So finden wir
noch heute in der Lehrart der Großloge Royal York Andeutungen der Elementarproben, d.h. Reinigungen durch die
Elemente, Luft, Erde, Feuer und Wasser, und auch in unsern Akten (d.h. in den bis 1842 gebräuchlichen sog. Eckleff sehen
Akten.) spielte in früheren Zeiten ein glühendes Eisen, durch welches der Aufzunehmende geschreckt wurde, sowie
aufzuckende Flammen eine Rolle. Demgemäß lauteten auch die Worte des einführenden Bruders früher noch viel
strenger und drohender, nämlich: „Ich überlasse Sie den unglücklichen Schicksalen, welche Sie so oft verdient
haben.“ Diese Worte schlagen noch kräftiger an das Gewissen des Suchenden, sie rütteln sein Schuldbewußtsein auf
und mahnen ihn an alles das, was er auf seinem bisherigen Lebenswege verfehlt und versäumt hat.
Wir würden aber fehlgehen, wenn wir annehmen wollten, daß die Einweisung auf die dem Suchenden bevorstehenden
symbolischen Prüfungen das Einzige wäre, was jene Worte bezwecken. Schon der Suchende selbst muß, wenn er nur
etwas tiefer nachdenkt, darauf verfallen, daß hier das Schicksal gemeint sein könnte, das dem Menschen in seinem
Erdenwallen und darüber hinaus in einer anderen Welt beschieden ist. Das Leben führt uns unzähligen Ereignissen
entgegen, welche bestimmend, manchmal fördernd und glückbringend, manchmal verstörend und unheilvoll, ja wohl
auch zerstörend und zertrümmernd auf uns einwirken. Das nennt der Mensch sein Schicksal. Er spricht von
wunderbaren Schickungen und Fügungen, die ihn beglückt, gestärkt und aufgerichtet haben, aber auch von
Schicksalsschlägen, die ihn schwer trafen und nahe an den Rand des Abgrunds und der Verzweiflung brachten. Das
Schicksal ist ihm eine dunkle, verborgene Macht, mit welcher ihm zu kämpfen bestimmt ist. Aber er fühlt, daß ihm
diese Macht überlegen ist. Wohl sucht er sich sein Schicksal zu bereiten. Er sucht in die Zukunft zu schauen und
späht nach kommenden Ereignissen. Mit Vorsicht und Klugheit trifft er allerlei Maßregeln, die ihn schützen sollen
vor unvorhergesehenen Unglücksfällen, er spart und sammelt Mittel an, um Vorrat zu haben in Zeiten der Not, er
versichert seine Habe gegen allerlei Gefahren und versichert sein Leben, damit die Seinen nach seinem Tode nicht
darben. Er lernt viel und eignet sich allerlei Fertigkeiten und Künste an, die ihm auf >286< seinem Lebenswege
nützen und Not und Mangel von ihm fernhalten sollen. Aber was nützt das alles. Er muß sich in sein Schicksal
ergeben. Er sieht die aufgehobene Hand des Schicksals nicht, sondern er fühlt sie erst, wenn der Schlag gefallen ist,
der ihn zu Boden streckte. Der törichte Mensch! Er nennt das Schicksal blind und meint, daß der Zufall es regiere,
gegen den keine Vorsicht aufkommen könne; aber er bedenkt nicht, daß es gar keinen Zufall geben kann, sondern daß
jedes Ereignis das Ergebnis einer langen Reihe von Ursachen und Wirkungen ist. Ja, selbst unsere Entschließungen,
die die Ergebnisse unseres freien Willens zu sein scheinen, sind davon nicht ausgenommen. Und er bedenkt ferner
nicht, daß als letzter Grund und Ursache alles Geschehens eine Macht waltet, die die Haare auf unserem Haupte
gezählt hat, und die selbst den am härtesten Geprüften, wenn er ihr vertraut, zum herrlichsten Ende hinaus führt.
Diese Macht anerkennen und ihr vertrauen im Glauben, in Geduld und Hoffnung, das ist die rechte Ergebenheit, die
das Schicksal in die Hand des allliebenden Vaters legt. —
Die profane Welt kennt zwei Sprichwörter, die sich darauf beziehen, daß der Mensch sein Schicksal sich selbst
bereiten soll; sie heißen: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Wie man sich bettet, so schläft man.“ Das sind
tüchtige Worte, die in jedem Menschen das Bewußtsein der Pflicht wachrufen sollen, die er gegen sich selbst hat.
Aber dem profanen Sinn, dem nicht der Sinn für den höchsten Wert des Lebens aufgegangen ist, müssen sie in ihrer
vollen Tiefe unverständlich bleiben. Und hätte er sich mit allem Heroismus, mit allem Gleichmut der Stoiker
ausgerüstet, und hätte er als Devise jenen Spruch des Horaz auf seinen Schild geschrieben:
„Si fractus illabatur orbis,
Impavidum ferient ruinae,“
(„Mag auch der Erdenkreis krachend wanken,
Treffen die Trümmer den Unerschrockenen.“)
(Horat. Carm. III, 3.)
er müßte doch zusammenbrechen unter des Schicksals Schlägen, wenn er nicht die wahre Stärke kennen möchte, die
da aufrichtet und unüberwindlich macht.
Diese Kraft lernt der freie Maurer kennen, und durch sie ist er imstande, sich sein Schicksal selbst zu bereiten. Wohl
können wir auch Stärke finden bei Nichtgeweihten, wohl ist Ergebenheit in Gottes heiligen Willen auch außerhalb
unserer geschlossenen Kreise anzutreffen. Aber nirgend sonst finden wir eine Schule, wo diese Stärke so wunderbar
geweckt und so planvoll geübt und vermehrt wird wie in unserm Orden.
Wenn der Anhaltende zwischen den Brüdern Aufsehern angelangt ist und vom einführenden Bruder jene mahnenden
Worte hört vom selbstbereiteten Schicksal, dann muß er innewerden — wenn er es nicht schon früher geworden sein
sollte —, daß er mit dem Eintritt in den Orden an einem Wendepunkt seines Lebens angelangt ist. Wäre das nicht der
Fall, dann hätte er besser getan, die Schwelle der Loge nie zu überschreiten. Wenn nicht jeder Sinn in ihm
verschlossen ist, so muß er empfinden, daß mit dem Schritt, den er zu tun im Begriff steht, ein neues Leben ihm
beginnen soll. Schicksalsentscheidend ist das dreifache Ja, mit dem er seinen Entschluß bekräftigt;
schicksalsentscheidend ist der erste Strahl des maurerischen Lichtes, der in seine Seele fällt. Er ist im Begriff, in die
Werkstätte zu treten, wo er selbst zu einem höheren Leben bereitet werden soll durch Erweckung des Lichtes, das in
ihm schlummert. Vor der rechten Schmiede ist er angelangt, wo er lernen kann, seines Glückes Schmied und Herr
seines Schicksals zu werden, und wo er erfahren kann, wie wir uns das Lager für den ewigen Ruhetag bereiten
können. Das alles geschieht durch die Hingabe des ganzen inneren Menschen an die k. Kunst. Das ist das Schicksal,
das wir uns selbst bereiten können; darum sollte der einführende Bruder eigentlich sagen: „Ich überlasse Sie dem
Schicksal, das Sie sich selbst bereiten mögen.“ Jawohl, wir bereiten es uns, indem wir selbst bereitet und geformt
werden durch unsere Kunst. Das ist es, was wir erfahren auf unserm Wege durch den Orden; er führt uns bald steil,
bald sanft; seine Wege sind tief verborgen und dennoch stets erkennbar dem eifrig Suchenden; bald sind sie dornig,
wenn wir uns vergebens mühen, bald mit Rosen bestreut, wenn der Erfolg unsere Mühen lohnt und unsern Mut erhebt
und uns begeistert zum weiteren Schaffen und Schmieden, zum Formen und Schleifen. Rastlos und unermüdet
vollzieht sich in uns die große, wunderbare Arbeit, welche die eigentliche Aufgabe unseres Erdenlebens ist, das Licht
in uns zu erwecken und zu vermehren. Wie der Stern auf dunklem Grunde uns vom Mittelpunkte unserer Tafel
strahlt, so geht auch das Licht uns auf; nicht nur in unserm Inneren, sondern auch außer uns finden wir es wieder, und
wir verstehen sein Wirken und sein Walten, je mehr uns seine Quelle, die ewige Gottheit selbst, zum Bewußtsein
kommt.
„In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.“ >288<
Je heller das Licht in uns aufleuchtet, desto stärker, desto freier werden wir, und diese Geistesfreiheit, die wir uns
erringen, gibt uns Macht und läßt uns zu Herren werden über unser Schicksal. Der Sklave, der sich früher in dumpfer
Resignation dem blinden Fatum beugte, ist nicht mehr; groß und frei durch den Geist der göttlichen Liebe ist ein Herr
erstanden, der sein Schicksal in fester Hand hält, das er sich selbst bereitet hat. Nichts kann ihm etwas anhaben, kein
Schicksalsschlag, der ihn von außen trifft, kann den innerlich Gefestigten niederbeugen.
ihn
„Wer will ihn scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst, oder Verfolgung oder Hunger, oder Blöße,
oder Fährlichkeit oder Schwert ? Er ist gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentum,
noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur
mag scheiden von der Liebe Gottes.“ (Röm. 8, 35 ff.)
Diese Freiheit und Herrschaft über das Schicksal gehört zu den höchsten Errungenschaften der k. Kunst. Man wende
mir nicht ein, daß das idealistische Schwärmerei sei, und daß hier Unmögliches verlangt werde. Das herrlichste
Beispiel dieser Herrschaft über das Schicksal durch die Kraft und Freiheit des Geistes steht uns in unserm
Obermeister vor Augen. In seiner tiefsten Erniedrigung am Kreuz auf Golgatha war und blieb er der Herr und König
des Lebens, der Sieger über den Tod. Und selbst der eine Augenblick, als er im höchsten Leiden seiner
Menschlichkeit zu unterliegen schien und sich von Gott verlassen glaubte, konnte seinen Triumph nicht verdunkeln;
er fand den Vater wieder, und ihm seinen Geist befehlend, vollendete er sein großes Werk.
Sein Beispiel leuchtet fort durch die Jahrtausende und ist auch uns gegeben, nicht damit wir, bewundernd von ferne
stehend, darin etwas Übermenschliches anstaunen, sondern damit wir ihm nachfolgen, von ihm die Bereitung unseres
Schicksals erlernen, um fähig zu werden, die uns auferlegten kleinen Prüfungen zu bestehen, wie er die größte und
schwerste bestanden hat. Wenn wir so die Seinen werden, dann wird es auch von uns heißen: „Der Gerechten
Seelen“, d.h. der durch die Werkzeuge der k. Kunst Bereiteten, „sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.“
(Weish. Sal. 3,1.) (1892.)
Das dreifache Ja des Anhaltenden.
Die k. Kunst der Freimaurerei liebt es, durch möglichst einfache Dinge die tiefsinnigsten Lehren, die sie uns
übermitteln will, und die hohen Ideen, mit denen sie sich beschäftigt, auszudrücken. Wir mögen in ihrer Symbolik
und in ihren Riten hinblicken, wo wir wollen, immer wird uns der Charakter der Einfachheit entgegentreten, und
immer werden wir finden, daß die Bedeutungen, welche diesen Dingen untergelegt werden, sich in ungezwungener
Weise aus der Sache selbst ergeben, wenngleich sich nicht leugnen läßt, daß der ganze freimaurerische Apparat, in
seinem Zusammenhange betrachtet, ein immerhin kompliziertes Ganzes darstellt, dessen Auffassung dem Anfänger
nicht gerade leicht erscheint.
Eins der einfachsten Dinge vernimmt der Suchende, sobald er den Raum der Loge betreten hat, während noch die
Binde seine Augen umhüllt. Nachdem er als ein Anhaltender durch den einführenden Bruder zwischen die Aufseher
geleitet worden ist, hört er das eigentümliche maurerische Klopfen, welches, vom Meister am Altar im Osten
ausgehend, im Westen bei den Aufsehern gleichsam seinen Widerhall findet. Jedesmal sind es drei Schläge, und zwar
zwei leisere, schnell aufeinanderfolgende, und dann nach einer Pause ein dritter stärkerer Schlag. Diese dreimal drei
Schläge wiederholen sich fortwährend, sie bilden gleichsam den lebendigen Pulsschlag der Loge, sie ertönen als
Ankündigung aller wichtigen Akte der Aufnahme und grenzen so die verschiedenen Abschnitte derselben ab. Wenn
dann endlich die Aufnahme beendigt ist und der neue Bruder das maurerische Kleid und Werkzeug empfangen hat,
dann wird er selbst in dem Klopfen der drei merkwürdigen Schläge unterwiesen, um sich damit als Maurer
ankündigen zu können, und man eröffnet ihm dabei, daß diese drei >290< Schläge die drei Grundursachen
bedeuten, auf welchen die k. Kunst wie auf ihrer Grundfeste ruht, und diese Grundursachen sind: Natur, Religion und
Stärke. Das tiefste Geheimnis des Ordens ist hier ausgesprochen, freilich, in dunklen Worten, deren volle Bedeutung
dem Strebenden vielleicht erst nach Jahren aufgeht. Auf diese drei Worte will ich hier nicht näher eingehen, sondern
möchte nur darauf hinweisen, daß lange vorher, ehe der Neuaufgenommene unterwiesen wurde, die drei
merkwürdigen Schläge zu klopfen, von ihm selbst, ohne daß er es wußte, eine Kundgebung gekommen war, welche
ganz und gar mit jenen Schlägen zusammenfällt.
Von dem Augenblicke an, da er die Schwelle des Tempels überschritten hat, bis zu den Prüfungen, welche die
eigentliche Aufnahme darstellen, wird der Aufzunehmende ein Anhaltender genannt, d.h. ein solcher, der als
Suchender endlich den Eingang zum Heiligtum gefunden hat, und der nun mit Beharrlichkeit dem Vorsatze treu
bleiben will, weiter vorzudringen, um endlich das Geheimnis der k. Kunst zu ergründen und zu ergreifen.
„Wachthabender Bruder, lassen Sie den einführenden Bruder mit dem Anhaltenden eintreten!“, so ergeht das Geheiß
vom Altare aus, und nachdem der Anhaltende zwischen den Aufsehern seine Stelle eingenommen hat, richtet der
Meister drei Ansprachen an ihn und fordert ihn am Schluß von allen dreien auf, seinen Vorsatz, sich dem Orden zu
weihen, durch ein wohlüberlegtes Ja zu bekräftigen. Zweimal spricht der Anhaltende dieses Ja mit seiner
gewöhnlichen Stimme aus, das dritte und letzte Einwilligungswort aber wird er aufgefordert, laut und fest zu geben.
Indem er das tut, geschieht also von seiner Seite genau dasselbe, was sich in jenen drei Schlägen rhythmisch und
klanglich vollzieht.
Was ist es nun, was der Anhaltende mit seinem dreifachen Ja bekräftigt?
In der ersten Anrede weist der Meister ihn auf das Vertrauen hin, das der Orden zu ihm hat, und fordert von ihm, daß
er ein gleiches Vertrauen zum Orden haben solle. Denn der Orden hat ihn nicht gesucht, sondern er den Orden. Sein
ehrlicher Name und guter Ruf, das Zeugnis ehrenwerter Männer war es, was uns vermocht hat, ihn bei uns
einzulassen, und das ist trotz jener ehrenwerten Zeugnisse immerhin ein Beweis von großem Vertrauen. Denn leider
haben wir oft genug die trübe Erfahrung machen müssen, daß wir uns in unserm Vertrauen getäuscht gesehen haben.
Wir wollen die Schar unserer Mitarbeiter nicht mit vielen, sondern nur durch würdige und tüchtige Glieder
vermehren, die dem Orden und seiner heiligen Sache wahrhaft zu nützen geeignet sind. Wie oft aber wird diese
Erwartung getäuscht! Wie verhältnismäßig gering ist die Zahl derjenigen Brüder, die wirklich tiefer von dem Genius
unserer Kunst berührt werden, wieviel Indifferente müssen wir in unsern Reihen sehen, die an der äußeren Schale
haften, ohne auch nur das Verlangen zu haben, in das Innere zu dringen, wenn es nicht gar noch Schlimmeres war,
das wir an ihnen erleben mußten. Trotz solcher Mißerfolge knüpfen wir an jede Aufnahme die Hoffnung, daß wir
einen Bruder gewonnen haben, der als Anhaltender bis an das Ende beharren und getreu bis in den Tod im Orden
feststehen will. Aber nur Vertrauen um Vertrauen! Für das unsrige fordern wir das seinige. Auf das Wort eines
ehrlichen Mannes fragt ihn der Meister, ob er sich ganz und gar unserer Führung anvertrauen wolle, um nach den
Gesetzen, welchen wir gehorchen, zum Freimaurer aufgenommen zu werden, d.h. nicht bloß äußerlich der Schar der
Brüder durch einige Zeremonien einverleibt zu werden, sondern auch als Freimaurer zu leben, fortzuschreiten und
sich zu entwickeln; denn das ist doch der tiefere Sinn, den uns die Aufnahme zeigt, die ja doch weiter nichts bedeuten
will als ein Fortschreiten, eine Entwicklung vom Dunkel zum Licht. Diese Gesetze sind dem Neuling vollkommen
unbekannt, und ein Beweis seines großen Vertrauens zu uns ist es, wenn er sich zu diesen Gesetzen verpflichtet, noch
ehe er sie kennen gelernt hat. Wie sorgfältig wir über dieses Vertrauen wachen, geht daraus hervor, daß wir noch im
letzten Augenblicke dem Anhaltenden die Freiheit lassen, zurückzutreten, und daß wir sein erstes Ja fordern mit der
Bitte, seinen Entschluß wohl zu überlegen. Hat der Anhaltende aber sein Ja ausgesprochen, so soll es ein
unverletzliches Siegel seines Vertrauens sein, und wenn er zu dem Vertrauen zum Orden noch das Vertrauen zu sich
selbst hinzufügt, zu der Kraft, die in seinem Inneren ruht, und das Vertrauen zu dem ewigen Gott, von dem alle gute
und vollkommene Gabe kommt, dann wird das Werk gelingen. —
Die zweite Anrede ist bestimmt, den Anhaltenden auf die Tugenden und Pflichten eines Freimaurers hinzuweisen.
Reine Ehrfurcht gegen das höchste Wesen, Gottesfurcht und Gottesglaube ist das feste Fundament >292< jeder
Freimaurerei. Gehorsam gegen Obrigkeit und Gesetze ziert den Freimaurer, der seine höchste Ehre darin setzt, zu den
besten Staatsbürgern zu gehören. Und alle andern Tugenden reihen sich an: Menschenliebe, Treue und Fleiß im
Beruf, Mäßigkeit und Wohltätigkeit, Geduld und Standhaftigkeit im Leiden, Demut im Glück. Das alles nun, so kann
man einwenden, sind doch nicht Dinge, die etwa nur der Freimaurerei eigentümlich sind; denn an jeden tüchtigen
gesitteten Menschen werden dieselben Anforderungen gestellt. Das ist wohl richtig; aber wenn der Freimaurer von
Tugenden spricht, so tut er das doch in einem noch etwas anderen Sinne als die profane Welt. Gleich der folgende
Satz der Ansprache führt darauf hin. Es heißt daselbst: Von einem Freimaurer wird Stärke gefordert, um Mühen und
Beschwerden zu ertragen, auf Ruhe und Vergnügen zu verzichten und selbst dem Tode mutvoll entgegenzugehen,
wenn es gilt, das Gute zu wollen und zu erreichen. In dem einen Wort „Stärke“ liegt der entscheidende Punkt, auf den
alles ankommt. Nicht jeder, er mag sonst noch so tugendhaft gesonnen sein, kann sich dieser Starke rühmen; wohl
aber liegt sie in jedem, verborgen und harrt des Freiwerdens. Das ist es vor allem, worauf der angehende Maurer
hingewiesen werden muß. Und wenn er aufgefordert wird, sich zu prüfen, ob er hinlängliche Stärke des Körpers und
der Seele habe, um jene Pflichten zu erfüllen und jene Eigenschaften sich zu erwerben, so ist hier eben von jener
noch in ihm schlummernden Kraft die Rede, von deren Gefühl und Vorhandensein sein zweites Ja Zeugnis ablegen
soll. Dieses zweite Ja aber soll sein ein unverletzliches Siegel des durch nichts zu erschütternden Vorsatzes des
Anhaltenden, diese Kraft seines Inneren nicht ruhen zu lassen, sondern zu entwickeln.
Und nun das dritte und letzte Einwilligungswort oder Ja, das von dem Anhaltenden verlangt wird, ohne daß weitere
Ermahnungen und Vorhaltungen daran geknüpft werden. Der Meister macht ihn nur darauf aufmerksam, daß Gesetz
und Amtspflicht ihn (den Meister) verbänden, es von ihm zu fordern. Laut und fest muß der Anhaltende dieses Ja
aussprechen, so wie der letzte der drei Freimaurerschläge laut und kräftig getan werden muß, welcher, wie es im
Unterricht in den Erkennungszeichen heißt, die Stärke bezeichnet, welche mit Gleichmut und Nachdruck angewendet
werden muß. Hier haben wir es also nicht mehr mit der ruhenden und gebundenen, sondern mit der in Aktion
getretenen, frei gewordenen Stärke zu tun, und das ist es gerade, worauf in der k. Kunst alles hinausläuft. Wer das
göttliche Licht in seinem Inneren entbunden und die göttliche Stärke in sich frei gemacht hat, der ist erlöst von der
Knechtschaft des Gesetzes, der ist frei durch den Geist der Liebe. Tugendregeln und Pflichtgebote gibt es für ihn
nicht mehr; denn in ihm lebt das, was des Gesetzes Erfüllung ist: die Liebe, die höchste Kraft, die reinste und vollste
Betätigung des göttlichen Geistes im Menschen. Und so wie es des angehenden Maurers Pflicht wird, dies
anzustreben, so ist es auch des Meisters Aufgabe, ihn dazu anzuregen und darauf hinzuführen; das ist es, wozu ihn
Gesetze und Amtspflicht verbinden.
Dieses Höchste in uns zu entwickeln, und diese Kraft in uns frei zu machen, das ist die letzte, schwerste und schönste
Aufgabe der k. Kunst. Einzig und allein zu diesem Zwecke führt sie uns ihre verschlungenen Pfade, reicht uns ihre
Werkzeuge und leitet uns an zu der einen Arbeit, die not ist, und gegen welche alles übrige an Bedeutung verliert.
Der Anhaltende aber, der das bedeutungsvolle dritte und letzte Ja mit lauter und fester Stimme gibt, besiegelt damit
seinen freien und männlichen Entschluß, das in ihm ruhende göttliche Licht und Leben zu entwickeln nach den
Regeln der Kunst, die sein Meister ihm weisen wird, und endlich jene Stärke zu finden, die alles überwindet und uns
am Ende in der Vereinigung mit dem Göttlichen selbst des Maurers höchsten Lohn finden läßt. Der Orden aber
nimmt das letzte Ja des Anhaltenden als das heilige Siegel seines höchsten Entschlusses an. Möge jeder, der es
abgibt, gedenken der großen Zukunft, die uns bevorsteht, wenn wir treu gearbeitet haben. So laut und fest wie sein Ja,
so rein und unerschöpflich sei sein Vorsatz, ein Anhaltender im höchsten Sinne zu sein und zu bleiben. — (1901.)
>294<
Vorsicht, kaltes Blut und Sammeln der Gedanken.
Sobald der Anhaltende zwischen die Aufseher geführt ist, verläßt ihn sein Führer und gibt ihn damit den
grundlegenden, werkstellenden Kräften der Loge anheim, welche nunmehr bei der eigentlichen Aufnahme auf ihn
einzuwirken beginnen. Diese Kräfte sind dargestellt in dem Meister und den beiden Aufsehern. Der Anhaltende steht
in der Mitte der Grundlinie eines Dreiecks, das sich durch die ganze Loge erstreckt, und das durch die Plätze jener
drei hammerführenden Beamten gebildet wird, welche der Loge „die Gestalt geben“. Dies Dreieck hat für die Loge
dieselbe Bedeutung, wie die Kelle, welche jeder auf der Brust trägt, für jeden einzelnen hat. So wie durch die Kelle,
d.h. durch die Kraft des göttlichen Wortes, der einzelne zum Ideal der Vollkommenheit hingeführt werden soll, so
stellt auch das Dreieck der drei obersten Beamten diejenige wirksame Kraft dar, durch welche der freimaurerische
Gedanke innerhalb einer geschlossenen Brüderschaft zum Ausdruck gelangen, durch welche das Licht in das Dunkel
getragen und die Loge zum Abbilde des Weltalls gestaltet werden soll. Die ganze eigentliche Aufnahme aber besteht,
wie wir später sehen werden, in der Einwirkung jener dreifachen Kraft, welche im Suchenden bei der Stiftung seiner
inneren Loge tätig sein soll.
Nachdem der Anhaltende sein dreifaches Ja ausgesprochen hat, richtet der Meister noch eine ernste Mahnung an ihn,
welche sich unmittelbar an das dritte und stärkste Ja anschließt, indem er ihn folgendermaßen anredet:
„Mein Herr, es soll geschehen. Wissen Sie, daß Mut und Standhaftigkeit, Vorsicht und kaltes Blut Gefahren
abwenden, daß aber, wer sich fürchtet, bloß sinnlichen Eindrücken nachgibt und seine Gedanken nicht
gesammelt hat, zu beklagen ist und leicht ein Opfer werden kann.“
Diese Worte müssen den Anhaltenden begreiflicherweise in eine noch größere Spannung versetzen, als es schon
durch den Aufenthalt in der dunkeln Kammer und durch das, was bisher geschah, der Fall war. Etwas Drohendes,
schwer zu Überwindendes wird ihm angekündigt; zusammenraffen soll er all seine Kraft, um die Hindernisse zu
besiegen und die Schwierigkeiten zu überwinden, welche ihn von dem zu erreichenden Ziele trennen. Später, wenn
sich die Aufnahme glatt und ohne Schwierigkeit vollzogen hat, wenn er nach beendigten Reisen zum Altar geführt
und nach abgelegtem Gelübde das Licht erhalten hat, und endlich sogar die Forderung, daß er sein Blut mit dem
Blute der Brüder vermische, nicht wirklich vollzogen, sondern seine Bereitwilligkeit dazu als genügend angenommen
wurde, da mag wohl etwas wie Enttäuschung über ihn kommen.
Dennoch werden wir, wenn wir der Sache auf den Grund gehen, finden, daß keine Ursache für eine Enttäuschung
vorliegt. Jene Worte haben ihre wohlerwogene Berechtigung, wenn wir bedenken, daß der ganze Gang der Aufnahme
in seiner symbolischen Form eine Darstellung des Menschenlebens ist als eines Weges, der uns zu Licht und
Wahrheit führen soll, eines Weges, der das Göttliche, das im Menschen schlummert, zu entwickeln und zu vollenden
den Zweck hat. Das aber ist das höchste Ziel, das der Menschengeist sich stecken kann. Je höher aber das Ziel, desto
schwieriger der dahin führende Weg, desto hartnäckiger die Widerstände, die sich uns entgegenstellen, desto
bedeutender die Gefahren, denen wir uns aussetzen.
Selbst ein gewöhnliches, ohne besondere Schicksale verlaufendes Menschenleben, das sich so hohe Ziele nicht
gesetzt hat und sich nur in der Alltäglichkeit bewegt, ist nicht frei von Mühen und Gefahren, und jeder Mensch ohne
Ausnahme muß, um durch das Leben zu kommen, Vorsicht anwenden und kaltes Blut haben; er muß seine Gedanken
beisammenhalten, um nichts zu versäumen und ohne Furcht dem begegnen zu können, was seinen Weg durchkreuzt
und ihn von der rechten Richtung abbringen will.
So wie der Bergsteiger festen Mut und Ausdauer haben muß, so wie er nicht sinnlichen Eindrücken nachgeben und in
die furchtbaren Abgründe hinab blicken darf, die sich neben seinem Pfade öffnen, wenn >296< er nicht von
Schwindel erfaßt werden will, so wie er mit Vorsicht und kaltem Blut die Stelle sich suchen muß, wo sein Puls sicher
haften kann, wenn er nicht des jähen Sturzes Opfer werden will, so muß jeder Mensch unter Mühen und Beschwerden
seinen Weg sich suchen, „vom Steine hier, vom Sturze da“ die Räder seines Wagens fernhaltend. Ein Heer von
Krankheiten und Unglücksfällen lauert auf ihn in jedem Augenblick, das Erdenleben mit seinen verwickelten
Verhältnissen stellt ihm tausend Netze, in welche er mit und ohne Schuld verstrickt werden kann, wenn nicht Vorsicht
ihn leitet, und trotz aller Vorsicht kann er doch ein Opfer werden. Schicksal nennt das die Welt; ein blindes Fatum, so
meint man, waltet unentrinnbar über der Menschen Tun und Treiben, und was kann man anderes dabei machen, als
mit Lebensklugheit allen Wechselfällen begegnen und das Unvermeidliche mit Ruhe und Geduld ertragen.
Nun ist aber der Orden weit davon entfernt, dem Anhaltenden in jenem Worte eine banale Lebensregel geben zu
wollen, die jeder sich selbst sagen kann; vielmehr müssen wir sie in innigste Beziehung setzen zu dem, was seiner im
Orden und auf seinem freimaurerischen Wege wartet. Er soll diesen Weg und die Gefahren, welche ihm auf
demselben drohen, ins Auge fassen, um ihnen mit Vorsicht und kaltem Blut zu begegnen. Dabei ist zuvörderst das
eine zu bedenken, daß der Maurer, wenn er richtig seine Bahn vor sich wandelt, ein Schicksal, d.h. ein blindes Fatum,
nicht kennt, sondern daß er, wie schon der einführende Bruder sagt, sein Schicksal sich selbst bereitet. Er bereitet es
sich aber dadurch, daß er in voller Klarheit mit der ganzen Kraft seines Wollens und Könnens sich dem ewigen
Lichte zuwendet, es in sich und außer sich zu finden trachtet und sich erleuchten läßt von der göttlichen Wahrheit, die
ihm im Scheine jenes Lichtes als das Höchste, Wertvollste und allein Erstrebenswerte aufgegangen ist. Wer also
fortschreitet, dessen Schicksal ist besiegelt; ihn kann das nicht mehr anrühren, was die andern draußen, die das Licht
nicht gesehen haben, niederwirft. Das, was die profane Welt Schicksal nennt, was kann es ihm anhaben, ihm, der da
weiß, daß über ihm eine höhere Macht waltet, nicht die Macht des blinden Zufalls, sondern die Macht der ewigen
Liebe, in die er einbeschlossen ist. Die Gefahren aber, die er abzuwenden hat durch Vorsicht und kaltes Blut,
bestehen in etwas ganz anderem. Der Weg, der zum maurerischen Ziele führt, ist der schmale Weg des Lebens; er ist
rauh und steil, Abgründe gähnen ihm zur Seite, die die Finsternis dem Wanderer öffnet; Sirenenstimmen schallen verlockend aus ihnen empor und möchten den mühsam Strebenden in die Tiefe ziehen. Trugbilder gaukeln darüber hin
und wollen ihn verführen, seinen Fuß von dem dornigen Pfade hinweg zu lenken zu sanften Wiesenteppichen, die
aber unter sich den faulen Sumpf verbergen, in welchen der Unvorsichtige nur zu leicht versinkt. Darum gilt es Vorsicht und kaltes Blut. Vorsicht ist eine der vornehmsten Meistertugenden. Blicke vorwärts! ruft sie uns zu, nicht
hinter dich oder zur Seite, sondern behalte dein Ziel im Auge! Und wenn du dem Lichte, das dir von ferne leuchtet,
unverrückt folgst, dann wird dein Herz erglühen von warmer Begeisterung für das Ideal, aber abgekühlt werden für
alles, was der Finsternis angehört und darum dem unerleuchteten Sinne so begehrenswert erscheint. Von der Hitze
niederer Leidenschaften soll dein Blut unberührt bleiben, da mußt du kühl bleiben bis ans Herz hinan. Wenn aber
dein Herz allein für die Wahrheit zu erglühen gelernt hat, dann gelangst du allein zu dem kalten Blute, das neben der
Vorsicht notwendig ist, um die Gefahren der Finsternis abzuwenden.
Und ferner warnt der Orden in jenen Worten des Rituals, sich zu fürchten, sinnlichen Eindrücken nachzugeben, und
vor dem Nichtgesammeltsein der Gedanken. Unsere deutsche Heldensage zeigt uns Siegfried, den herrlichsten
Helden der Welt, der das Fürchten nicht kennt und darum unüberwindlich ist. Auch der rechte Maurer soll etwas von
jener Lichtgestalt haben und mit dem unüberwindlichen Schwerte, der Waffe des Lichts, den Lindwurm bestehen, den
der Pfuhl der Finsternis ihm in den Weg stellt. Unter Fürchten ist hier allein zu verstehen das feige Erbeben vor der
Gefahr, die die Finsternis uns bringt. Wer da glaubt an das Licht und seine siegende Kraft, der wird solche Furcht
nicht kennen und keinem Kleinmut zum Opfer fallen. — Eine andere Furcht aber soll stets in uns sein. Wir Maurer
können unserm großen Staatsmann das Wort nachgebrauchen: „Wir Maurer fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!“
„Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“, steht in unserm Heiligtum dort über der Pforte der Meisterloge
angeschrieben, und wer es liest, der achte darauf. Reine Ehrfurcht gegen das höchste Wesen, die sich auflöst in die
Liebe zu ihm und in Hingebung an ihn — sie ist es, die jene knechtische Furcht in uns nicht aufkommen läßt. —
>298<
Nun gibt es noch zwei Punkte, auf welche die Worte des Rituals uns aufmerksam machen, und welche meiner
Meinung nach gerade für des Maurers innerstes Leben von ganz außerordentlicher Wichtigkeit sind. Es heißt: „Wer
bloß sinnlichen Eindrücken nachgibt und seine Gedanken nicht gesammelt hat, ist zu beklagen und kann leicht ein
Opfer werden.“ Beides gehört genau zusammen; denn wer nur den Eindrücken seiner Sinne nachgibt, d.h. wer sie
allein für das Maßgebende hält, kann nicht zur inneren Sammlung kommen, und umgekehrt: wer nicht danach
trachtet, sich zu sammeln, der wird sich gar zu leicht durch die äußeren Eindrücke zerstreuen lassen und so ein Opfer
des Irrtums und des Wahnes werden.
Der angehende Freimaurer erhält hier die eindringliche Mahnung, nicht an der Oberfläche haften zu bleiben, sondern
sich zu vertiefen. Die Philosophie lehrt — und zwar stimmen darin die Philosophen aller Zeiten ziemlich
überein —, daß die Eindrücke, die wir durch unsere Sinnesorgane von der Außenwelt empfangen, nicht das wahre
Wesen der Dinge sein können, sondern daß das eigentlich Seiende sich hinter diesem Schein verbirgt. Dies läßt sich
sehr wohl auf unsere Freimaurerei anwenden. Der Orden zeigt sich schon dem Neueintretenden, und auf noch
weiteren Stufen nicht minder, in einer symbolischen Hülle, die wir mit unsern Sinnen als seine äußerliche Gestalt
wahrnehmen. Wir sehen die Bilder von Werkzeugen und anderen Dingen auf der Arbeitstafel vor uns ausgebreitet,
auch auf dem Altar sehen wir dergleichen, und wir selbst tragen solche Symbole als maurerische Bekleidung an uns
und wurden bei unserer Aufnahme und bei den Weihegebräuchen der verschiedenen Grade einer ganzen Reihe von
symbolischen Gebräuchen und Formen unterworfen. Der würde zu beklagen sein, der diese Dinge für die Sache
selbst halten wollte; er würde der Oberflächlichkeit zum Opfer fallen. Der ganze symbolische Apparat ist weiter
nichts als ein Mittel, welches dazu führen soll, das Wesen der k. Kunst verstehen und diese selbst üben zu lernen. Das
ist aber nicht leicht und erfordert volle Hingebung an die Sache; es kann nur erreicht werden durch Sammlung der
Gedanken und durch jene Konzentration unseres Sinnes auf einen Punkt, ohne welche ein freimaurerisches Arbeiten
schlechterdings nicht möglich ist. In unserm Lehrlingsfragebuch lautet die letzte Frage:
„Welches sind die vornehmsten Arbeiten der Freimaurer ?“
„Ihre Handlungen abzumessen und ihre Gedanken und Worte zu richten.“
Ich halte diese wenig beachtete und lange nicht genug gewürdigte Frage für eine der wichtigsten unseres ganzen
Fragebuches und komme daher immer wieder auf sie zurück; denn sie weist auf das hin, was das notwendigste ist, auf
die Richtung der Gedanken auf einen Punkt, nämlich auf das Licht der göttlichen Wahrheit, das da scheint in die
Finsternis, aber von der Finsternis nicht begriffen wird, von uns aber begriffen werden soll; sie weist uns auf die
innere Sammlung hin, die uns erst geschickt macht, das Licht zu empfangen, um es dann in Worten und Taten wieder
auszustrahlen.
Wenn jemand im profanen Leben durch Leid und Kummer schwer heimgesucht ist, so hört man oft, wie ein Freund,
der da vorgibt, es mit dem Betrübten gut zu meinen, diesem den Rat gibt: „Du mußt dich zerstreuen!“ — Wie
gedankenlos und frivol ist doch solcher Rat! Als ob durch Zerstreuung mittels allerlei Tand — das wird ja doch
gewöhnlich unter Zerstreuung verstanden — ein blutendes Herz geheilt werden könnte! — Wäre es nicht besser, dem
Leidenden zu raten: „Du mußt dich sammeln! Nimm dich zusammen!“ Das müßte der Freund ihm zurufen. Sammle
dich! Richte deine Gedanken auf das Ewige, auf das, von dem allein Heil kommen kann, auf die Kraft, die allein die
zerschlagenen Herzen aufzurichten vermag!
Von ganzem Herzen wünsche ich, daß niemand von uns es nötig hätte, die k. Kunst als Heilmittel seiner verwundeten
Seele in Anspruch zu nehmen; aber das wünsche ich, daß das Glück, das uns im Leben beschieden worden ist,
gekrönt werde durch das Werk der k. Kunst. Ich wünsche, daß es uns allen gelänge, unser ganzes Denken, Empfinden
und Handeln unter die Weihe unserer Kunst zu stellen; denn nur der ist ein wahrer Freimaurer, der es versteht, überall
im Leben, wo und in welcher Lage er sich auch befinden mag, sich von dem Genius der k. Kunst leiten zu lassen. Das
kann aber nur geschehen, wenn unsere Gedanken gesammelt sind und ohne Abirren auf das eine hohe Ziel gerichtet
bleiben. — (1901.) >300<
Die Lehrlingsreisen.
Nachdem der Anhaltende vom Meister die letzte Warnung erhalten hat, wird er ein Leidender, und nachdem die
Brüder ihre Einwilligung zu seiner Aufnahme gegeben haben, ruft der Meister:
„So soll seine Aufnahme beginnen zur Belohnung seines festen Entschlusses, der Proben der Standhaftigkeit
und des großen Verlangens, welches unser Leidender bisher an den Tag gelegt und bewiesen hat.“
Damit wird ihm der Weg zum Lichte eröffnet; aber noch lange währt es, bis er seine Strahlen zu schauen bekommt.
Gleichwohl soll er schon den mühevollen Weg dahin als eine Belohnung seines großen Verlangens und seiner
Beharrlichkeit und Standhaftigkeit erkennen. Wohl dem, der es vermag! Er besitzt den rechten Adel der Gesinnung.
Er trachtet nicht nach der mühelosen Erwerbung des höchsten Gutes, sondern findet in dem harten Ringen und
Streben nach demselben die sichere Gewähr, daß er es sich dadurch zum bleibenden Besitz erringt. Denn nur das,
was wir mit Mühe und Schweiß erarbeitet haben, besitzen wir wirklich. Auf den also Denkenden paßt das erhabene
Wort Lessings:
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige
Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht
durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein
seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. — Wenn Gott in seiner
Rechten alle Wahrheit und in seiner linken den einzigen immer regen Trieb zur Wahrheit, obschon mit
dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit
Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein! —“
Freilich hat Lessing hier nur die Wahrheit gemeint, die durch menschliche Wissenschaft in dieser Zeitlichkeit
erstrebt wird. Der Jünger der k. Kunst aber geht noch andere Wege; er hofft, den Vater endlich am Schlusse seiner
Maurerbahn zu finden und aus seiner geöffneten Rechten die volle Wahrheit zu empfangen ohne Schleier und Hülle,
als ein inneres Licht, das ihm im Glauben mit voller Gewißheit aufgegangen ist als Lohn seines unablässigen Mühens
und Strebens. — „Bruder zweiter Aufseher, lassen Sie diesen Leidenden als Maurer reisen!“, so ergeht nun
das Geheiß des Meisters.
Die Reisen bilden im Lehrlingsgrade sowohl als auch in anderen Graden den eigentlichen Mittelpunkt unserer
Gebräuche; wir können sie mit Recht als das Wesentlichste, als die eigentliche Aufnahme selbst betrachten. Das, was
den Reisen vorangeht, war Vorbereitung, was ihnen folgt, ist der Abschluß der Aufnahme. Die Reisen stellen
gleichsam den langsamen Werde- und Entwicklungsgang dar, auf welchem der profane Suchende zum Maurer, zu
einem Geweihten der k. Kunst, heranreift.
Unsere Akten sagen über die Reisen folgendes:
„Die Reisen, welche Sie unter Beistand eines Führers zu drei verschiedenen Malen machen mußten, sollen
Ihnen andeuten, daß der Weg zur Tugend mannigfaltigen Schwierigkeiten unterworfen ist, zu deren
glücklichen Überwindung die Vorsicht uns einen unsichtbaren, aber sicheren Führer in unserem eigenen
inneren Richter gegeben hat. Vollenden Sie diese Wanderung mit Standhaftigkeit, und weichen Sie nie von
dem ruhmvollen Wege ab, der zum Ziele führt. — Die Spitze des Degens wurde gegen Ihre Brust gesetzt,
um Sie zu erinnern, daß Sie einen ehrenvollen Tod höher schätzen sollen, als ein lasterhaftes Leben.“ (L. B. II,
Beil., S. 37.) >302<
Im Fragebuche aber heilßt es (Abt. V, Fr. 22) :
„Warum ließ man Sie auf verschiedene Art als Maurer wandern?“
„Um mir zu erkennen zu geben, daß man nicht durch den ersten Schritt sich der Wahrheit und dem
Lichte nähern kann.“
Kein passenderes Bild konnte unser Orden für den inneren Werdeprozeß wählen als das Bild einer Reise. Die
Freimaurerei ist ein Weg, der Weg des Menschen von der Finsternis zum Licht. Wenn wir eintreten in einen
Maurertempel, so ruft uns der Genius der k. Kunst aus allen Zeichen und Sinnbildern, aus allem, was wir in der Loge
sehen und erfahren, ein „Vorwärts“ zu. Du bist in Finsternis, mache dich auf, werde Licht! Mache dich auf, d.h. begib
dich auf die Reise, um zu suchen; bleibe nicht stehen auf einer Stelle, verdumpfe und versumpfe nicht in Trägheit und
behaglicher Ruhe wie ein Pilz, der auf demselben faulen Boden, aus dem er erwachsen ist, sich groß mästet, um an
derselben Stelle wieder zu vergehen, ohne ein Spur zurückzulassen. Nein! Mache dich auf! Du mußt vorwärts! Begib
dich auf die Reise! —
Wenn wir eine Reise tun, so kann dieselbe einen doppelten Zweck haben. Einmal ist die Reise ein Weg, den ich
zurücklege, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dieses ist dann die Hauptsache, der Weg Nebensache. Wenn ich in
einer anderen Stadt ein bestimmtes Geschäft habe oder einen Freund besuchen will, so kümmert mich der Weg gar
nicht; ich wähle den kürzesten Weg, suche ihn so schnell als möglich zu vollenden, wähle den schnellsten
Eisenbahnzug, um nur so bald als möglich an Ort und Stelle zu sein. Zweitens aber kann die Reise selbst Zweck sein.
Ich mache einen Spaziergang oft nur, um mich in frischer Luft zu ergehen, nicht aber in der Absicht, an einen
bestimmten Punkt hin zu gelangen. Eine Erholungsreise unternehme ich, um mich überall, wo ich hinkomme, an den
Schönheiten der Natur zu erlaben und mich durch Genuß an Werken der Kunst erheben zu lassen. Der
wissenschaftliche Forscher, den seine Reise in unbekannte Gegenden der Erde hinführt, muß auf Schritt und Tritt sein
Auge offen halten, um alles in sich aufzunehmen, was sich seiner Beobachtung darbietet. Der Entdeckungsreisende
weiß oft gar nicht, ob seine Wege ihn an irgend ein bestimmtes Ziel führen werden, er sucht erst nach einem solchen.
Die maurerischen Reisen vereinigen beides in sich. Sie erstreben zunächst ein großes Ziel; sie beginnen im Westen
und suchen, den Osten zu erreichen; sie fangen an in der Finsternis und wollen uns das Licht erreichen lassen. Licht
und Wahrheit, diese beiden großen Worte, welche die höchsten Güter der Menschheit bedeuten, sind das Ziel der
maurerischen Wanderung. — Aber die maurerischen Reisen tragen auch ihren Zweck in sich selbst, und zwar
insofern, als sie bei jedem Schritte, den wir vorwärts tun, unsere Kräfte üben und stählen, um uns zur Erreichung des
Zieles immer geschickter zu machen. Das Unterwegs darf nicht vergebens sein, wenn der Maurer reist, auch dann
nicht, wenn seine Schritte ihn in eine Richtung führen, die dem Endziel abgewendet liegt; kein Schritt darf ohne
Frucht sein. Das Unterwegs gerade muß den Mut des Wanderers erstarken lassen und seine Sehnsucht nach dem
Endziel anfeuern. Unzählige Einwirkungen soll er unterwegs erfahren, er soll sie in sich aufnehmen, prüfen und
sichten, er soll sie abweisen, wenn sie ihn hindern und ablenken, und er soll sie festhalten und erproben, wenn sie ihm
nützen und förderlich sein können. Alles das kann und soll der Maurer auf seinen Reisen finden.
Betrachten wir nun die Reisen selbst. Wenn jemand sich auf die Reise begibt, so pflegt er sich mit allen möglichen
nötigen und unnötigen Dingen auszurüsten, damit er möglichst bequem, mühelos und ohne Gefahr seinen Weg
vollenden könne. Wie ist nun der angehende Maurer auf seiner Lehrlingsreise ausgerüstet? Scheinbar sehr
unvollkommen und mangelhaft; ja, der Zustand, in den er versetzt wurde, hatte ihn sogar der notwendigsten
Reisebedürfnisse beraubt. Das erste Erfordernis für die Reise ist eine feste, schützende Kleidung; man hatte ihn aber
zum Teil seiner Kleidung beraubt; halb entblößt mußte er seine Wanderung antreten. Tüchtiges Schuhzeug ist es vor
allem, wofür der Wanderer sorgen muß; statt dessen muß er an den linken Fuß einen niedergetretenen Schuh
anziehen, so daß sein Gang dadurch etwas Unbeholfenes erhält; wahrlich eine üble Vorbereitung für eine Reise! Und
seine Augen sind mit einer undurchdringlichen Binde bedeckt. Das Augenlicht, mittels dessen man sich den Weg
suchen muß und die Dinge um sich her erkennen soll, ist ihm geraubt. Seine Barschaft, die irdischen Besitztümer, auf
die er Wert legte, sind ihm abgenommen; arm, nackt und bloß muß er sich auf die Wanderschaft begeben, und die
kalte Spitze eines Schwertes fühlt er auf seinem Herzen und muß fürchten, bei jedem Straucheln und bei jedem
Fehltritt von ihr durchbohrt zu werden. Das ist die Ausrüstung für unsere erste Maurerreise! — >304<
Was dies alles sagen will, ist leicht zu finden. Der mühselige Zustand des maurerischen Reisenden ist ein Abbild des
zum Licht und zur Wahrheit strebenden Menschen. Wenn diese höchsten Güter errungen werden sollen, dann nützen
uns nichts die Schätze dieser Welt, nichts die Bequemlichkeiten, mit denen der Wollüstling sein Leben ausstattet,
nichts die Ehren und Würden, die von Menschen uns übertragen werden können. Licht und Wahrheit sind nicht für
Gold feil, sondern nur für Schweiß; Licht und Wahrheit erschließen sich nur dem einfältigen, demutsvollen Sinn.
Mühsam und dornenvoll ist der Weg, der zu ihnen führt, und nur der Entsagende und sich selbst Verleugnende kann
ihn zurücklegen. Wie viele, die dieses leuchtende Ziel suchen, tappen geblendet im Dunkeln; sie straucheln, gleiten
aus, und Gefahren umgeben sie auf Schritt und Tritt. Darum ach! wie viele stehen ab vom Suchen, sie kehren um und
lassen es sich wohl sein im Behagen der Sinnenlust, wie die Welt sie ihnen bietet.
Aber nicht so der Suchende, der sein Leben der k. Kunst weihen will. Auch er wandert im Dunkeln, aber die
Hoffnung, zum Ziele zu gelangen, verläßt ihn nicht; auch er strauchelt und fällt vielleicht, aber er richtet sich auf in
neuer Kraft, auch er muß umkehren, aber nur, um mit verdoppeltem Verlangen den rechten Weg zu finden. Und so
ganz verlassen sein läßt der Orden den armen Wandersmann nicht. Wenn er nicht weiß, wie er blind und hilflos den
mühevollen Weg zurücklegen soll, dann streckt sich ihm eine warme Hand entgegen, die mit innigem Druck die
seinige faßt und ihn vorwärts zieht. Ohne daß der Aufzunehmende es weiß, wird er schon auf seiner ersten
Maurerreise durch Zeichen, Griff und Wort geleitet, die ihm später, wenn er zum Licht und zum maurerischen
Bewußtsein erwacht ist, als Führer dienen sollen. Der zweite Aufseher, der ihn leitet, setzt ihm die Spitze des
Schwertes auf das Herz. In dem Kreuz des Schwertes aber liegt der rechte Winkel, das Zeichen, dem er zu folgen hat
jetzt und künftig; mit dem Griff wird seine rechte Hand von dem Führer gefaßt, und das Wort, desselben erhebt ihn,
ermutigt ihn und tröstet ihn. Der zweite Aufseher ist in seiner Instruktion (L. B. I, Beil., S. 19 ff.) angewiesen, in den
Ansprachen während der drei Reisen den Suchenden anzuleiten, die tiefsten Blicke in sein Inneres zu tun, sein
vergangenes Leben zu prüfen, sein gegenwärtiges Leben der Maurerpflicht zu weihen und an die selige Zukunft zu
denken, welche den getreuen Bruder erwartet, der seine Werkzeuge nach dem Bauriß gebraucht hat. Die Stimme des
Führers schlägt zwar ernst und mahnend, aber auch mild und tröstend an sein Ohr. Das ist die rechte Wegkost, die ihn
stärken soll auf der beschwerlichen Wanderung; denn — wie geschrieben steht — „der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“. (Matth. 4, 4.) Das heißt: Das Wort des
Lebens und der Wahrheit ist die rechte Speise, die unserm inneren Menschen frommt. Uns allen hat die göttliche
Liebe eine solche Stimme in das Herz gelegt, die als Aufseher Wache hält über unser inneres Leben; das ist die
Stimme des Gewissens. Wohl dem, der sie vernimmt; wohl dem, der von ihr die Himmelsspeise empfängt, die allein
zu sättigen vermag! Die Schwertspitze, die auf dem Herzen des Wanderers ruht, ist die Waffe unseres Gewissens.
Wir fühlen ihren Stich, wenn wir ausgleiten und straucheln; aber sie will uns nicht töten, sondern nur warnen. Töten
will sie in uns das, was der Finsternis angehört, um das, was des Lichtes in uns ist, zum Leben zu erwecken.
So wandert der Suchende durch die Loge, d.i. durch die Welt; denn die Loge ist ein Abbild der Welt, sie hat Nord
und Süd, Ost und West. Von Westen geht er aus und sucht nach Osten zu gelangen, zum Sitz des ewigen Lichtes.
Nicht ohne Irren ist sein Weg, denn „es irrt der Mensch, solange er strebt“. Von Westen nach Osten strebend, muß er
hindurch durch Nord und Süd, durch Wintereis und Sonnenbrand, durch Nacht und Tag, durch Schmerz und durch
Freude, durchliefen und über Höhen; er muß hindurch durch das große Arbeitsfeld, das ihm im Leben gegeben ist,
um alles in sich aufzunehmen, was es ihm bietet.
In unbewußter Dunkelheit, wie das Kind aus dein Mutterleibe, tritt er die Reise an. Sie führt ihn zuerst durch das
Dunkel des Nordens. Dann muß er umkehren, denn er war, wie der Meister sagt, noch weit vom rechten Wege
entfernt; er muß auf der zweiten Reise durch Süden, hinaus in die Welt auf die Höhen des Lebens, um das Gute zu
behalten und das Schlechte von sich zu weisen. Aber auch die Wanderung durch das Leben führt ihn noch nicht zum
Ziele, doch ist, wenn er richtig gewandert ist, Hoffnung vorhanden, daß er auf den rechten Weg gelangen könne, wie
der Meister sagt. Nochmals muß er umkehren, und abermals führt ihn sein Weg durch Norden, er muß scheinbar
zurück in die Finsternis. Vom Leben wendet er sich ab auf der dritten Reise und geht — dem Tode entgegen. Ja, es
ist die Todesreise, die ihn endlich ans Ziel bringt. Durch sie wird endlich das Ziel erreicht und der Lohn erlangt; denn
nur durch den Tod geht es zum >306< Leben. Willst du das Leben erringen, so mußt du den Tod nicht scheuen; gib
dem Tode, was des Todes ist, so wirst du leben! „Stirb und werde!“ Laß fahren das Irdische, Flüchtige und erwirb das
Ewige! Das sagt dem Wanderer die dritte und letzte Lehrlingsreise. Und so ist endlich der Suchende auf dem rechten
Wege; die gerade Bahn öffnet sich ihm nach Osten.
Wer immer auch reisen mag, und welchen Zweck seine Reise auch haben mag: stets nennt der Wanderer das Ziel
seiner höchsten Sehnsucht mit einem Wort, das wie Harfenlaut in unserem Herzen widerhallt : Heimat! — Wenn
nach langer Irrfahrt die Heimat uns umfängt mit ihrem trauten Frieden und ihrer süßen Kühe, wenn die lieben Augen
der Unsrigen uns leuchten und ihre Hände uns halten, dann wird es Licht in uns. Alles Trübe und Finstere entweicht;
vergessen sind des Weges Mühen, vergessen die Steine, an denen sich unser Fuß wund stieß, vergessen die Stürme,
die uns umtobten. — Solche Seligkeit gewährt uns schon die irdische Heimat; aber es gibt noch eine andere: die
Heimat droben, das große Vaterhaus, mit den vielen Wohnungen, das wir ahnen, wenn wir die Sterne über uns
funkeln sehen, die uns grüßen wie die Lichter aus der Heimat. Sie sucht der Maurer; sie ist seiner Sehnsucht höchstes
Ziel. Und der ewige Vater droben will seine Kinder zu sich emporziehen und an sein Herz nehmen. Das ist es, was
die müden Kniee aufrichtet und die lässigen Hände stärkt: der Glaube an die ewige Heimat, die uns bereitet ist im
Reiche des Lichtes.
So wandert der Maurer. Sein Weg ist das wahre, würdige Leben; sein Führer, Versöhner und Erlöser ist die Liebe,
und sein Ziel ist jetzt und immerdar das Licht und die Wahrheit, die wir in vollem Glanze zu schauen hoffen in der
ewigen Heimat. (1901.)
Suchen, Anhalten und Leiden.
Suchen, Anhalten und Leiden, das sind die drei großen Stationen, in welche unsere Lehrlingsaufnahme zerfällt. Der
Aufzunehmende heißt von dem ersten Schritt in das Logenhaus, ja eigentlich schon seit seiner Anmeldung und der
Anheftung seines Namens an die schwarze Tafel bis zu dem Zeitpunkt, da er Erlaubnis zum Eintritt in die Loge
erhält, ein Suchender, von da an bis zum Beginn der Reisen ein Anhaltender, und von da ab bis zur Erteilung der
Weihe durch die drei Hammerschläge ein Leidender.
Diese Bezeichnungen sind nicht willkürlich; sie haben sich aus dem innersten Mysterium, aus dem eigentlichen Kern
unseres Bundes, ergeben und sind unveränderlich, weil sie über jedem Zeitgeist stehen. Solange es auf Erden
Menschen gibt, die menschlich fühlen, denken und streben, werden sie ihre Bedeutung behalten und die Stationen
bezeichnen auf der Bahn, auf welcher die erschaffenen Geister zum Lichte emporsteigen.
Beachtenswert erscheint es nun, daß in jeder der drei oben bezeichneten Abteilungen des Aufnahmerituals sich die
einzelnen symbolischen Handlungen wiederum in Unterabteilungen nach jenen drei Gesichtspunkten gruppieren
lassen.
Demnach zerfiele die Station des Suchens in drei Teile:
a) Suchen, als Anfang des Ganzen, der Weg zum Logenhause und in die dunkle Kammer.
b) Anhalten: Prüfung des Suchenden durch den einführenden Bruder und Lichtprobe.
c) Leiden: Entkleidung, Ablegen der Metalle und der beschwerliche Weg auf Umwegen bis zur Logentür.
>308<
Ebenso teilt sich die Station des Anhaltens ein:
a) Suchen: Eintritt in die Loge und Weg bis zu den Aufsehern.
b) Anhalten: Prüfung durch den Meister und Bekräftigung des gefaßten Entschlusses durch das dreifache Ja.
c) Leiden: Die Reisen mit der Schwertspitze auf der Brust.
(Die Reisen gehören eigentlich dem Ritual nach in die Station des Leidens, da der Meister den Aufzunehmenden, nachdem er sein drittes Ja
geantwortet hat, einen Leidenden nennt. Dem Sinne nach aber möchte ich sie zu der Station des Anhaltens rechnen aus Gründen, auf welche ich
hier nicht näher eingehen kann. (Vgl. Zirkelcorrespondenz 1878, S. 249. Anm.) Übrigens sind in den Reisen selbst alle drei Stationen enthalten,
da der Aufzunehmende bei der ersten Reise ein Suchender, bei der zweiten ein Anhaltender, bei der dritten ein Leidender genannt wird.)
Endlich zerfällt die Station des Leidens in
a) Suchen: Der Weg über die Tafel durch die drei merkwürdigen Schritte zum Altar.
b) Anhalten: Gelübde und Versiegelung durch Salomos Siegel.
c) Leiden als Höhepunkt: Lichterteilung und Blutmischung.
Anfangen, Fortsetzen und Beenden, das ist das große Schema, unter welchem alles, was geschieht, alles, was wir
selbst unternehmen und ausführen, uns erscheint, ja, unser Dasein selbst wird durch diese Linien eingefaßt, wir
nennen es Geburt, Leben und Tod. Ebenso ist auch unser maurerisches Werk, wie alles, was in Raum und Zeit
verläuft, in dieses Schema eingeschlossen. Aber die trocknen Linien des Schemas erwarmen hier zum farbigen,
lebensvollen Bilde, wenn wir es mit den drei Worten bezeichnen, in denen sich unsere maurerische Arbeit erfüllen
soll: Suchen, Anhalten, Leiden. Alles, was des Maurers Geist und Herz bewegt, fassen diese drei Worte in sich. Ich
möchte sagen: überall, wohin wir im Orden blicken, finden wir sie wieder. Daß sie bei der Lehrlingsaufnahme eine
große Rolle spielen, muß jedem Neuaufzunehmenden auffallen. Aber davon ahnt er noch nichts, daß seine Aufnahme
eigentlich schon den ganzen Weg durch den Orden widerspiegelt, freilich nur für den erkennbar, der diesen Weg
kennt und selbst gegangen ist. Demgemäß ist in den drei Abteilungen unseres Ordens, in der Johannisloge, in der
Andreasloge und im Kapitel, ebenso auch in den drei allgemeinen Graden, Lehrling, Geselle und Meister, nach
welchen sich alle drei Abteilungen einteilen, unsere Trias stets wiederzufinden. Suchen, Anhalten und Leiden zeigen
sich in den drei großen Schritten, welche der Suchende über die Arbeitstafel nach Osten tun muß, sie zeigen sich in
den Symbolen der Arbeitstafel selbst; sie sind zu spüren in den drei harten Schlägen, durch welche der Suchende an
der Pforte angemeldet wird, ebenso in der Bedeutung der drei Freimaurerschläge, welche der Lehrling klopfen lernt,
und welche ihn an die drei Grundursachen der k. Kunst, Natur, Religion und Stärke, erinnern sollen.
„Es ist ein Suchender, welcher auf dem angefangenen Freimaurerwege Licht und Wahrheit sucht.“
So meldet der zweite Aufseher auf die Frage des Meisters, wer da sei, den Aufzunehmenden nach der ersten Reise an.
Viel ist schon in diesen schlichten Worten enthalten. Zunächst wird dem künftigen Bruder dadurch seine Stellung und
sein Verhältnis zum Orden bestimmt. Er soll ein Suchender sein. Der Anfang des Werkes, das er hier zu vollbringen
hat, ist Suchen. Ein hohes Gut soll er finden, das noch nicht in seinem Besitz ist, von dem er viel, ja alles zu erwarten
hat. Er erhält ferner eine wichtige Andeutung, welche das Wesen der Freimaurerei selbst betrifft. Er soll daraus
erkennen, daß unsere Sache nicht etwas Fertiges ist, das er mühelos erwerben und bloß hinzunehmen braucht, wenn
es ihm angeboten wird, sondern daß sie ein Weg ist, der von ihm selbst beschritten werden muß, und der Mühen
genug ihm bereiten wird, wie ich das bei der Betrachtung der Reisen weiter ausgeführt habe. Endlich werden ihm die
hohen Güter, um welche es sich handelt, angedeutet: Licht und Wahrheit. — Was ist Licht, und was ist Wahrheit?
Vielleicht ist beides, wenn wir es im höchsten Sinne nehmen, identisch. — Bei näherer Betrachtung finden wir aber,
daß das doch nicht ganz der Fall ist. Wer etwas suchen will, muß Licht haben; im Finstern kann er nichts finden. Der
Mensch aber will finden; ein inneres, unnennbares Sehnen treibt ihn dazu, darum strebt er nach dem Licht, um die
Wahrheit finden und erkennen zu können. Unsere Freimaurerei will uns, vorausgesetzt, daß wir es suchen, das Licht
geben, in dem wir das wahre Wesen der Dinge erkennen sollen. Dem Arbeitenden nimmt sie eine Hülle nach der
andern ab, und je mehr die Finsternis schwindet, die uns umgibt und in uns selbst herrschte, desto reiner und voller
erkennen wir die Wahrheit, bis endlich die letzte Hülle fällt, und wir erkennen, gleichwie wir erkannt worden sind. —
Was ist Wahrheit? Wer diese Pilatusfrage tut, der ist von der Welt, die noch in Finsternis ist und das Licht nicht
begriffen >310< hat. Wer auch nur einen Schimmer von Wahrheit geschaut hat, der fragt nicht mehr, was sie sei; der
streitet und disputiert auch nicht mehr darüber, denn er weiß sehr wohl, daß jene, die in der Natur mit ihrer Vernunft
und ihren fünf Sinnen die Wahrheit zu ergründen meinen, ihn nicht verstehen können. Wahrheit ist nicht Wissen und
Kenntnisse, so schätzenswert diese auch sein mögen; Wahrheit ist der tiefinnerste Zusammenklang des Irdischen mit
dem Ewigen, des Menschlichen mit dem Göttlichen. Nur ein reines Herz findet Licht, erkennt in ihm die Wahrheit
und gelangt durch sie zur Freiheit. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
(Joh. 8,32.)
„Es ist ein Anhaltender, welcher fortfährt, den Weg zum Lichte aufzusuchen.“
Zögernd nur teilt die Gottheit die Gaben ihrer Erkenntnis aus. Obwohl die Verheißung an ihn ergangen war: „Suchet,
so werdet ihr finden“, so findet dennoch der Suchende nicht gleich. Durch ein sorgloses Suchen läßt sich der hohe
Preis nicht erringen, und durch ein bequemes Wandern gelangen wir nicht zum leuchtenden Ende unseres Weges, das
von steiler Höhe herab uns entgegen winkt. Dieses lässige Suchen und bequeme Wandern ist so recht die Sache der
Kinder der Welt. Die Sehnsucht nach dem Schauen der Wahrheit ist auch ihnen eingepflanzt; denn in jedem
Menschenherzen lebt der göttliche Funke. Sie suchen wohl, aber sie finden nicht den Weg, und wenn sie nicht gleich
finden, so erlahmen sie, ja, sie fangen an zu zweifeln, ob ein Weg zur Wahrheit überhaupt vorhanden ist, und
bezweifeln schließlich diese selbst. „Was hilft es“, — so hört man sie fragen — „wenn wir Hirngespinsten
nachjagen? Laßt uns den realen Boden nicht unter den Füßen verlieren!“ So bleiben sie fein ruhig auf der breiten
Straße, auf der die Finsternis liegt, und die in ihre Abgründe hinab führt. Was sie allein mit allen Kräften erstreben,
das sind die irdischen Genüsse, Geld und Gut, Ehre und Ansehen vor der Welt. Darunter aber fängt das innere Leben
an zu leiden. Sie kranken in ihrem innersten, edelsten Mark. Religiosität und Sittlichkeit schwinden mehr und mehr.
Wie sollen Gedanken an ein höchstes Wesen und an das Verhältnis, in dem wir zu ihm stehen, noch Platz finden in
einer Seele, deren ganzes Trachten nur auf Äußerlichkeiten, auf Genuß, auf eitlen Glanz und Schimmer gerichtet ist?
Wie soll wahre Sittlichkeit gedeihen, wenn das innere Licht, aus welchem sie stammt, nur spärliche oder gar keine
Nahrung findet. Die Sittlichkeit der Kinder der Welt ist Konvenienz und Opportunitätspolitik; ihr Moralkodex wird
modifiziert durch äußere Verhältnisse, und ihre Religiosität ist im besten Falle weiter nichts als ein äußeres Bekennen
von Formeln und ein Mitmachen, kirchlicher Zeremonien ohne tiefere innere Beteiligung. Daher stammt jene innere
Hohlheit und Haltlosigkeit, welche früher oder später zur Unseligkeit und Verzweiflung führt, daher die unheimliche
Vermehrung der Geisteskrankheiten und der Selbstmorde. Ein schleichendes Gift scheint an der Volksseele zu zehren
und ihre Kraft zu untergraben.
Unser Orden kämpft gegen diese Übel, indem er seine Jünger lehrt, in ihrem eigenen Innern den Punkt zu finden, von
dem allein alles Heil kommen kann. Den Suchenden, der geirrt hat, läßt er einen Anhaltenden werden. Er läßt ihn
nicht versinken in träger Ruhe und Sorglosigkeit, er läßt nicht zu, daß er sich zerstreue und seine Kraft zersplittere,
sondern er regt ihn an zum weiteren Suchen; er läßt ihn umkehren und schickt ihn auf eine neue Reise, damit er sehe,
ob es ihm möglich sei, auf den rechten Weg zu gelangen. So darf der zweite Aufseher nach der zweiten Reise den
Wanderer als Anhaltenden anmelden.
Der Suchende geht den Weg der Natur, des natürlichen Erkennens; er muß ihn gehen, weil er der zunächstliegende
ist, der sich ihm von selbst darbietet. Wohl ihm, wenn er zeitig genug einsieht, daß dieser Weg allein nicht zum Ziele
führt, sondern nur die Unterlage gibt für ein höheres Streben, und wohl ihm, wenn er den Mut findet, die Lockungen
des breiten Weges abzuweisen und sich dem Streben nach dem Höchsten mit ganzer Kraft zu weihen. Wenn er so die
Kräfte seines Erkennens und seines Willens zusammenrafft, dann wird er inne, daß das Licht, das er nicht fand, weil
es sich ihm zu versagen schien, dennoch vorhanden und auch zugänglich sein muß für den, der mit Eifer danach
trachtet. Eine neue Kraft wird in ihm befreit: die Kraft des Glaubens, nicht eines Glaubens, der geknechtet wird vom
toten Buchstaben der Satzung, sondern der belebend, stärkend und erleuchtend wie ein Quell lebendigen Wassers mit
Urgewalt seinem Innern entströmt. Das Licht, das dem Suchenden, in der Sinnenwelt Wandelnden wie ein
ahnungsvoller Traum erschien, das fängt an ihm aufzugehen, weil er daran glaubt. Wie ein leuchtender Stern strahlt
es ihm aus dunkler Nacht und wird ihm zum Wegweiser. In ihm geht ihm das Wesen der Gottheit auf, nicht etwa, als
ob er sie schon erkennen und umfassen könnte, nein, aus weiter Ferne glaubt er sie zu sehen, >312< wenn die
Strahlen des Lichtes, das von ihr stammt — stammen muß —, aus einer reineren, höheren Welt zu ihm herüber
grüßen. Das Band, das Schöpfer und Geschöpf verbindet, ist geknüpft und die erste Annäherung des Kindes an den
Vater gegeben. Der Anhaltende allein, der vergebens gesucht hat und anhaltend fortfahren will zu suchen, lernt
einsehen, was Religion und Religiosität ist. Religiosität ist ein Geheimnis; nur dem Strebenden erschließt es sich; nur
der Anhaltende spürt in den Offenbarungen um ihn her und in seinem tiefsten Innern das Wehen des göttlichen
Geistes. Er allein findet das Licht, das ihn in alle Wahrheit leiten kann.
Aber noch ist er nicht am Ziele. Zwischen dem Erschauen des Lichtes aus der Ferne und dem vollen Erfassen und
Durchdrungensein vom Lichte ist ein großer Unterschied. Das höchste Licht kann nur erreicht werden, wenn die
irdische Fessel, die uns am vollen Schauen hindert, von uns abfällt. Wenn unser Leib, von dem wir so abhängig sind,
der uns so oft hernieder zieht und so vielfach den freien Schwung unseres Geistes hemmt, im Tode dahin gesunken
ist, dann dürfen wir, vorausgesetzt, daß unser Geist die rechte Nahrung erhalten hat, hoffen, daß er zum vollen
Schauen des Lichtes und der Wahrheit gelangen müsse. Aber nicht bloß am Ende unserer Erdenfahrt dürfen wir das
zu erreichen hoffen, sondern auch schon hienieden, wenn wir den Tod erfahren. Das ist es, was der Orden Leiden
nennt, darum trägt die letzte Station der Aufnahme diesen Namen. Wohl leidet schon der Suchende, wenn er nicht
findet, und noch mehr der Anhaltende, wenn er nicht erlangt, und darum zählt auch wohl der Orden die Reisen zur
Leidensstation. Aber das höchste Leiden erfährt er auf der letzten, der Todesreise. Heil ihm, wenn er es durch
Vermehrung seines inneren Lichtes recht zu tragen weiß; dann kann der zweite Aufseher den Aufzunehmenden, wenn
er die dritte und letzte Reise vollendet hat, ankündigen mit den Worten:
„Es ist ein würdig Leidender, welcher den Weg zur Wahrheit und zum Lichte aufgesucht hat und fortfahren
will, darauf zu wandeln.“
Leiden! — Welchem Erdenmenschen bleibt es erspart! Auch dem Glücklichsten nicht. Wieviel Kreuz und Elend gibt
es, wieviel Schmerzen körperlicher und seelischer Art, wieviel Jammer und Betrübnis, wieviel Kummer, Sorge und
Herzeleid! „Warum sind der Tränen unterm Mond so viel!“ — Aber wie werden die Leiden von den Menschen
getragen? — Hier sehen wir dumpfe Resignation, dort Verbitterung und Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und
Anklagen des Schicksals, Irrewerden an der göttlichen Liebe, Kleinmut und Verzagtheit. Der Mensch beneidet in
trüben Tagen die Glücklichen, und in Zeiten der Freude läßt ihn die Furcht nicht schlafen, daß ein Unheil ihn treffen
könnte. So sind die törichten Menschen, die ohne Erleuchtung im Finstern umhertappen. Sie mögen sich noch so sehr
waffnen mit stoischem Gleichmut und Heroismus, sie brechen doch zusammen, wenn es zu hart kommt, und wenn sie
das Eine nicht haben, das überwinden hilft. Das ist die Stärke, die uns erwächst aus unserem göttlichen Erbe selbst,
und die darum selbst göttlich ist. Welcher Mund spricht ihr Geheimnis aus! Nur der weiß davon, der ihr Regen in
seinem Innern gefühlt hat.
Und der Freimaurer, der den rechten Weg endlich gefunden hat und fortfahren will, auf ihm zu wandern trotz aller
Hemmnisse und Gefahren, erlangt diese Stärke. Mit jedem Schritt, den er, den furchtlosen Blick fest auf das Licht
gerichtet, vorwärts tut, wird sein Auge heller, sein Mut stärker, sein Vertrauen großer. Leiden bleiben ihm nicht
erspart, wie jedem anderen, ja, er muß Leiden erfahren, wie sie die in der Finsternis Wandelnden nicht kennen; denn
die Finsternis, mit der er gebrochen hat, verlacht und verspottet ihn, sie verachtet und verfolgt ihn, sie wütet gegen
ihn und möchte ihn ans Kreuz schlagen, sie sucht die Wahrheit, die er beim Scheine des Lichtes gefunden hat, in
Lüge zu verdrehen. Aber alle diese Geschosse prallen ab an dem Lichtschilde, der ihn deckt. Auch dieses Leid kennt
er, wie alle andern Schmerzen, und weiß es zu würdigen. Nicht ihn beherrscht das Leiden und beugt ihn danieder,
sondern er ist der Herr, und wenn er es auch nicht abweisen kann, so steht er doch über ihm. Nur so allein wird er ein
würdig Leidender. Er wandelt noch auf Erden und trägt mit seinen Mitmenschen alle Unvollkommenheiten des
irdischen Daseins, aber er überwindet die Welt. Er wurde auf die letzte, die Todesreise, geschickt, darum hat er,
durch Norden gehend, den Tod erfahren und ist dem Irdischen abgestorben, um das Ewige zu gewinnen. Die
irdischen Güter und Freuden weiß er nach ihrem rechten Wert abzuschätzen; nicht sie beherrschen ihn, sondern er
sie; und die irdischen Leiden werden ihm zu Hebeln und Vermehrern seiner Stärke, mit der er sie zu überwinden
weiß.
So kann ihn nichts mehr aufhalten. Geöffnet ist ihm der gerade Weg nach Osten zum Heiligtum. (1904.) >314<
Der Weg zum Altar und der Zirkel auf dem Herzen.
Die ganze Lehrlingsaufnahme ist einem Drama vergleichbar, dessen Held der Aufzunehmende ist. Freilich spielt
dieser Held eine ziemlich passive Rolle; er muß alles über sich ergehen lassen und verhält sich leidend; nur in dem
letzten Teil der Aufnahme, in welchem er ein Leidender genannt wird, fängt er gerade an, aus diesem passiven
Zustand herauszutreten und beginnt sich aktiv zu beteiligen. Es werden Handlungen von ihm verlangt, die er ausführt,
und die, so unscheinbar sie auch aussehen mögen, dennoch von tiefster Bedeutung für ihn sind. Er muß seine Füße in
einen rechten Winkel setzen; er muß drei rechtwinklige Schritte über die Lehrlingstafel tun; er muß mit dem rechten
Knie auf dem Kissen vor dem Altar, auf welchem ein Winkelmaß befestigt ist, niederknien; er muß seine rechte Hand
auf die Bibel und das Schwert des Meisters legen, und endlich erhält er in seine linke Hand einen rechtwinklig
geöffneten Zirkel, dessen eine Spitze er sich auf das Herz zu setzen hat. Bei allen diesen Akten spielt der rechte
Winkel eine bedeutungsvolle Rolle, und der Suchende wird in dem letzten Akte seiner Aufnahme bereits mit diesem
wichtigsten freimaurerischen Werkzeug in Berührung gebracht.
In unserer ganzen freimaurerischen Symbolik ist nichts so bedeutungsvoll wie der rechte Winkel. Das Wesen der
Freimaurerei ist ein geistiges Bauen. Wie in der profanen Baukunst alles vom rechten Winkel abhängt, wie ihre ganze
Statik auf ihm beruht, da jedes Bauwerk schief ausfällt und zusammenstürzen muß, wenn das Winkelmaß nicht bei
ihm in Anwendung gebracht wird, so ist es auch in unserer geistigen Baukunst. So wie fast jedes unserer Sinnbilder
sich aus dem rechten Winkel ableiten läßt, so geschieht auch jedes freimaurerische Handeln und Fortschreiten nach
dem rechten Winkel. In der profanen Baukunst ist er das unveränderliche, unumstößliche Gesetz, das Grundprinzip
alles Bauens und alles Zusammenhanges; in der k. Kunst bedeutet er das ewige Gesetz der Gottheit, das unwandelbar
waltet in allem Geschehen und Vergehen, das alles umfaßt und leitet, das nichts verloren sein läßt, allem und jedem
seine Stelle im großen Weltenbau anweist und das Zerstreute zur großen Einheit der göttlichen Liebe wieder
versammelt und einfügt. Ein solches Gesetz herrscht nicht nur in der Natur, sondern auch in der idealen Welt des
Geistes. Der Mensch aber soll in seinem Suchen und Streben sich fühlen lernen als Bürger dieser idealen Welt, und
die Arbeit, dieses göttliche Gesetz in sich zu finden, zur bewußten Tätigkeit zu entwickeln und sein Inneres danach zu
gestalten, das ist die k. Kunst.
Und die Stätte der k. Kunst ist die Loge. Wie der ewige Weltenmeister das Gesetz handhabt im Weltenall, das seine
Allmacht hervorgehen ließ, so ist der Meister der Loge berufen, das Gesetz in seiner Werkstätte zur Geltung zu
bringen und die Brüder in Gerechtigkeit anzuleiten, die Wege dieses Gesetzes zu wandeln. Darum trägt er das
Winkelmaß, das starre, unabänderliche Symbol des Gesetzes, auf seiner Brust.
Die erste Handlung, die nun von dem Suchenden verlangt wird, ist das Setzen der Füße in einen rechten Winkel am
westlichen Rande der Arbeitstafel und demnächst die rechtwinkligen Schritte über die Tafel selbst. Der Weg nach
Osten ist ihm geöffnet. Wer unter Führung seiner Gewissensstimme (zweiter Aufseher) durch Norden und Süden
gereist ist und auf dieser dreifachen Reise gesucht, angehalten und gelitten hat, den kann nichts mehr aufhalten auf
dem Wege zum Heiligtum. Neben der Stimme seines Gewissens erhält er jetzt auf seinem geraden Wege noch einen
zweiten Führer zur rechten Seite, die Stimme der Vernunft, versinnbildlicht durch den ersten Aufseher, der sich als
die zweite Kraft des gestaltgebenden Logendreiecks (d.h. der Meister und die beiden Aufseher; siehe oben Seite 294)
zu ihm gesellt und seine Einwirkung auf ihn beginnt. Dem auf dem rechten Wege Befindlichen darf die Stimme der
Vernunft nicht länger schweigen. Sie muß ihm den ersten Schein der Offenbarung eines göttlichen Gesetzes geben,
darum mußte auch der erste Aufseher es sein, der den Aufzunehmenden anweist, die Füße in einen rechten Winkel zu
stellen, obschon unser Ritual das nicht ausdrücklich vorschreibt. In unseren Akten heißt es (L. B. II, Beil. Seite 37):
>316<
„Daß Ihre Füße in den rechten Winkel gestellt wurden, als Sie zur westlichen Seite der Arbeitstafel geführt
wurden, soll Sie erinnern, daß Ihr höchster Fleiß dahin gehen soll, Ihre Handlungen nach den Geboten des
höchsten Baumeisters und den Gesetzen des Ordens einzurichten und Ordnung, Einigkeit zu bewahren und
Aufrichtigkeit zu üben.“
Das stimmt mit dem Gesagten überein. Wo der rechte Winkel herrscht, kann Unordnung nicht aufkommen, wo die
Steine nach ihm zugehauen sind, müssen sie sich in Einigkeit fest aneinanderfügen; Wahrheit und Recht ist da, wo er
gebietet.
Die drei großen Schritte, welche der Suchende jetzt über die Tafel zu tun hat, werden in unseren Lehrlingsakten noch
nicht erklärt. Es heißt dort, daß sie wohl eine bestimmte Bedeutung haben, welche indes erst in der Folge erklärt
werden kann. Was diese Schritte zu sagen haben, soll also dem Lehrling ein Geheimnis bleiben. Erst der JohannisGeselle erhält eine Andeutung darüber, und der Johannis-Meistergrad bringt die vollständige Darlegung ihrer tiefsten
Bedeutung. Wenn dieselbe aber auch vom Orden dem Lehrling noch vorenthalten wird, so ist es diesem doch nicht
verwehrt, darüber nachzudenken. Anhaltspunkte ergeben sich dafür genug. Zunächst wird er sich sagen müssen, daß
die drei Schritte den eigentlichen Weg zum Altar, also von Westen nach Osten, darstellen, und daß die sonstigen
Schritte, welche etwa bis zum Westrand der Tafel und von dieser bis zum Altar getan werden müssen, nebensächlich
sind. Wenn dieser Weg ihm nun auch frei und ohne Hindernis offen liegt, so geschehen die Schritte doch nicht in
gerader Richtung, sondern im Zickzack. Er geht von Westen aus, wo seine rechtwinklig gesetzten Füße stehen, und
tut den ersten Schritt mit dem rechten Fuß schräg rechts nach Süden, indem er den anderen Fuß wie auch bei den
folgenden Schritten im rechten Winkel nachzieht; der zweite Schritt, mit dem linken Fuß getan, führt ihn links
hinüber mitten durch die Tafel nach Norden, und endlich schreitet er wieder mit dem rechten Fuße schräg vorwärts
nach Osten. Es ist dabei beachtenswert, daß der erste Aufseher es ist, der ihn den ersten und dritten Schritt tun läßt,
während der zweite Aufseher ihm beim zweiten behilflich ist. Beachtenswert ist es ferner, daß der zweite Schritt mit
dem Fuße geschieht, an welchem der Suchende den niedergetretenen Schuh trägt. Warum ferner, so wird sich der
nachdenkende Lehrling fragen, warum habe ich die Arbeitstafel betreten müssen, warum ging ich von Westen aus,
und warum waren Süden, Norden und Osten die Endziele meiner Schritte? — Alle diese Fragen werden wir bei
unseren Erläuterungen des Meistergrades uns wieder vorzulegen und zu beantworten haben. Das Eine aber haben wir
hier schon zu erkennen und festzuhalten: Wenn der Suchende seine Füße rechtwinklig stellt und rechtwinklig
schreitet, so will er damit sagen: Ich erkenne ein ewiges, göttliches Gesetz an, und wenn meine Augen auch noch
gehalten sind, und ich es noch nicht ganz erkennen kann, so will ich ihm doch forschend und strebend nachgehen und
meinen Wandel danach einzurichten suchen. Für den blinden Wanderer ist es nicht leicht, dieser Aufgabe gerecht zu
werden; und wenn sich auch die Aufseher die größte Mühe geben, den Schreitenden zu unterweisen, so fallen die
Schritte vielfach unregelmäßig und wankend aus und halten die rechte Richtung nicht genau ein, verfehlen das Ziel,
geraten dem Zaghaften zu klein, dem Selbstbewußten zu groß, und vielfach nicht so rechtwinklig, wie sie sein sollten,
wie wir das, wenn wir aufmerksam beobachten, bei unseren Aufnahmen wahrnehmen können. Ja, der Weg ist schwer
für den Blinden, den die Fessel der Materie noch bindet, der das schwankende Herz mit seinen ungestümen
Leidenschaften und Begierden, mit seinem himmelhoch Jauchzen und zum Tode Betrübtsein in der unruhigen Brust
trägt.
In diesem Gefühl seiner Schwäche und Hilfsbedürftigkeit sinkt der blinde Suchende aufs Knie und beugt sich in
Demut vor der unsichtbaren Macht, die über ihm waltet. — Ich erkenne meine Schwäche! — so ruft es in ihm —, hilf
mir, Meister! Dein Gesetz und Wort sei meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Dein Wort, das in
der Menschheit offenbart ist als ihr Licht, will ich erfassen trotz meiner Blindheit. Dem Schwerte deiner
Gerechtigkeit unterwerfe ich mich; es richte mich, aber es vernichte mich nicht. Hilf, Herr!! >318<
Der Meister aber ist nicht fern mit seiner Hilfe. Wenn der Leidende am Altare kniet, dann ruht sein Knie schon, ohne
daß er es weiß, auf dem rechten Winkel. Wer sich erniedrigt, der wird erhöhet werden; wer da hungert und dürstet
nach der Gerechtigkeit, der soll satt werden; das Gesetz, das er sucht, verläßt ihn nicht und wird eine Stütze seiner
demutsvollen Schwäche. Sein Glaube an das Licht gereicht ihm zur Rechtfertigung. Das will wohl das unter dem
Knie des Leidenden befindliche Winkelmaß sagen. Schützende Genien umgeben jetzt den Leidenden. Wenn er am
Altar kniet, bildet er den Mittelpunkt des gestaltgebenden Dreiecks der Loge, an dessen Grundlinie er bisher nur
herangetreten war. Jetzt ist er zum Meister gebracht, und die drei gestaltgebenden Kräfte wirken auf ihn ein: der
Meister steht vor ihm, die Aufseher aber nicht mehr neben ihm, sondern hinter ihm, und sobald er kniet, erheben sie
ihre Schwerter und kreuzen sie in Form eines schrägen, sog. Andreaskreuzes hinter ihm. Unsere Akten erklären
diesen Gebrauch nicht. Was bedeuten nun diese gekreuzten Schwerter? Treffen sie einander zum Kampf? Sind sie
gezückt zum Schutze des heiligen Werkes, das sich am Altare vollzieht? — Vielleicht trifft beides zu. Überall, wo
wir im Orden gekreuzten Schwertern begegnen, sind sie uns ein Zeichen des Kampfes für das Göttliche und Große,
ohne welchen kein Sieg errungen und kein Lohn gewährt wird. Der Leidende, der vor dem Altare kniet, ahnt noch
nicht, wie schwer dieser Kampf ist, er sieht die erhobenen Schwerter noch nicht; aber es kommt die Zeit, da er die
furchtbare Macht des zu überwindenden Feindes ins Auge fassen muß und die Schwerter sich vor seiner Brust und
vor seinen sehenden Augen kreuzen werden. — Aber die Schwerter sind auch zu seinem Schutze erhoben. Die beiden
Aufseher sind es ja, die ihre Waffen im Kreuze vereinen; das will sagen: die Ahnung des Lichtes, die den Suchenden
auf Irrwegen sicheren Fußes geführt hat, ist jetzt durchdrungen von dem Glauben an das Licht. Ahnen und Glauben
aber vereinigen sich winkelrecht, und wie ein schützendes Gitter verhindern sie, daß der nach Osten Gebrachte
zurücksinke aus der Stätte des Lichtes zur Stätte der Finsternis, von dannen er hergekommen ist. So richtet sich das
Kreuz, das Zeichen des Leidens, aber auch des Sieges, hinter ihm auf, ihn schützend und stärkend mit unsichtbarer
Macht.
Während so die Aufseher schützend hinter ihm stehen, unterliegt jetzt der Leidende ganz der Einwirkung des
Meisters. Unser Fragebuch äußert sich über das, was jetzt geschieht, folgendermaßen (Abt. V, Fr. 24 bis 27) :
„Was hat der Logenmeister von Ihnen verlangt, als Sie zum Altar kamen?“
„Meine rechte Hand, die ich ihm auch zum Zeichen meiner Aufrichtigkeit gegeben habe.“
„Was hat er mit derselben getan?“
„Er hat mir geboten, sie auf die heilige Schrift zu legen, welche beim Evangelium Johannis
aufgeschlagen war, und über welcher der Degen des Logenmeisters lag.“
„Was hat er Ihnen ferner in die linke Hand gegeben ?“
„Er hat mir in die linke Hand den im (rechten) Winkel geöffneten Zirkel gegeben und mir befohlen, die
eine Spitze desselben auf meine linke Brust zu setzen.“
„Weswegen setzte man den Zirkel auf Ihre Brust?
„Um mich zu erinnern, daß das Herz eines Freimaurers stets rechtschaffen und für die Tugend nicht
verschlossen sein soll.“
In den Erklärungen der Aufnahmegebräuche aber finden wir folgendes (L. B. II, Beil. Seite 38):
„Durch das Niederknien und das Auflegen der Hand auf die Bibel bezeugen Sie Ihre Ehrfurcht gegen den
höchsten Baumeister, als den allgegenwärtigen Zeugen und Hörer Ihres Freimaurer-Gelübdes. — Die Hand,
auf das Schwert gelegt, gibt die Ergebenheit gegen unseres Ordens Richterstuhl zu erkennen, dessen Gesetzen
Sie sich unterwerfen. — Daß die Bibel beim Evangelium Johannis geöffnet ist, ist eine Hinweisung auf
Johannes den Täufer, den unsere Väter als Patron des Ordens und der drei ersten Freimaurergrade
angenommen haben.“
Weshalb die Bibel unser größtes Licht genannt wird, das habe ich in einem Vortrag über dieselbe zu zeigen versucht.
Auch die Bedeutung >320< Johannis des Täufers für die Freimaurerei habe ich zu zeigen unternommen. Ich brauche
deshalb hier nicht darauf zurückzukommen. Nur das eine will ich hier noch bemerken, daß das erste Kapitel des
Johannisevangeliums, auf welches der Aufzunehmende sein Gelübde ablegt, nicht nur zur Erinnerung an Johannes
den Täufer, von welchem vom sechsten Verse ab die Rede ist, aufgeschlagen ist, sondern weil es redet von dem Licht
der Welt, welches als Wort der Wahrheit im Fleische erschienen ist, und auf welches der Täufer als auf das
vollendende Endziel alles menschlichen Strebens hingewiesen hat. Es wird so vielfach behauptet, daß Johannes der
Täufer die allgemeine Verbrüderung der Menschheit gepredigt hat, welche die Freimaurerei anstrebt und darum ihn
als ihren besonderen Helden feiert. Das ist ihm aber nie eingefallen. Bis zu dieser hohen Idee hat der Täufer sich
niemals erhoben. Das war jenem Größeren vorbehalten, auf den er hinwies. Der Täufer predigte die innere
Umwandlung der Geister, dasselbe, was auch die k. Kunst will, und bahnte dadurch den Weg in die Herzen der
Menschen für den Größeren, der nach ihm kommen sollte. Dieser erst, Jesus von Nazareth, war es, der da
verkündigte, daß einer unser Meister sei und wir alle Brüder, der seine Jünger in alle Welt hinaus sandte, um das
Gottesreich zu verkündigen, in dem vereinigt alles anbeten sollte, was Mensch heißt. Von ihm geht die Idee des
Menschheitsbundes aus, an dem die Freimaurerei schaffen will, nicht indem sie ihn in der Loge darstellt, sondern
indem sie durch die Arbeit der Loge ihn zu verwirklichen und zu vollenden sucht.
Im innigsten Zusammenhange mit Johannes dem Täufer und seiner Bedeutung für den angehenden Freimaurer steht
nun das Setzen der Spitze des rechtwinklig geöffneten Zirkels auf das Herz. Der Meister sagt dem Leidenden dabei,
daß dies geschehe,
„um dadurch anzuzeigen, daß in Ihrem Innern alles wohl erwogen und ermessen sei, was Sie jetzt äußerlich
tun, und Ihr Herz vollen Anteil habe an dem, was Ihr Mund geloben soll.“
Und die Erklärungen setzen hinzu (Beil. S. 39) :
„Das Setzen des Zirkels auf die Brust erinnert Sie, daß in Ihrer Brust nie ein Herz schlagen soll, welches die
Verbindungen zu brechen imstande wäre, die Ihr Mund angelobt hat.“
Was ist der Zirkel? Er ist das einfachste geometrische Instrument, dessen sich der Mensch seit uralten Zeiten bedient
hat, um zu messen und Maße zu übertragen, um Kreise zu schlagen und allerlei Konstruktionen auszuführen. Wenn
die Schenkel des Winkelmaßes unbeweglich miteinander verbunden sind, so sind die des Zirkels um einen
gemeinsamen Punkt beweglich und verstellbar. Wir sind also imstande, mit den Schenkeln des Zirkels jeden
beliebigen Winkel zu bilden. Wo sich aber auch der Zirkel in unserer Symbolik finden mag, immer erscheint er im
rechten Winkel geöffnet und dem Winkelmaß gegenübergestellt. So auch auf unserer Tafel. Das Winkelmaß erscheint
daselbst im Osten als Sinnbild des göttlichen Gesetzes, der Zirkel liegt ihm gegenüber im Westen, als Widerschein
des göttlichen Gesetzes im Irdischen. Das Winkelmaß streckt von Osten seine Arme herab nach Westen zu der der
Erleuchtung bedürftigen Welt; der Zirkel richtet seine Spitzen nach Osten zum Sitz des Lichtes. Das Winkelmaß
gehört dem Meister, Wasserwaage und Senkblei, die den Winkel durch waagerecht und senkrecht bilden, den beiden
Aufsehern; „der Zirkel aber ist allen Brüdern gegeben“, wie unsere Akten sagen. Er ist das Sinnbild der zum ewigen
Lichte emporstrebenden Menschheit. Vernunft und Gewissen, das gottentsprossene Licht des Geistes und die
mahnende Stimme des Herzens, sind die Aufseher der Menschheit. Wasserwaage und Senkblei, nach denen die
Spitzen des Zirkels gerichtet sind, die Komponenten des rechten Winkels, sind ihre Werkzeuge. Sie lehren den
Menschen jederzeit, wenn er auf ihre Stimme achten will, wie er seinen Zirkel rechtwinklig stellen soll.
Darum setzt sich der Leidende den rechtwinklig geöffneten Zirkel selbst auf das Herz. In dem schwankenden,
törichten, leicht bewegten Herzen soll der rechte Winkel seine Herrschaft beginnen. So wie der Wandel des.
Leidenden auf dem Wege zum Altar rechtwinklig war, so soll es auch sein ganzes inneres Leben werden, auf daß in
ihm der Meister gebiete und das rechtwinklige Schreiten ihm, ohne Anleitung zu bedürfen, zur innersten Natur werde.
Ist das erreicht, dann wird er nicht nur die Verbindungen mit dem Orden nie zu brechen vermögen, sondern sein Herz
wird auch stets für die Tugend, die ihn zum höchsten Lichte erhobt, geöffnet und „rechtschaffen“ sein. Rechtschaffen
ist ein Wort, das unsere Akten oft brauchen; sie sprechen von einem rechtschaffenen Bruder (bei Überreichung der
Kelle), vom rechtschaffenen Wandel usw. Uns bedeutet dieses Wort noch mehr, als man gewöhnlich >322<
darunter versteht, d.h. ehrlich und treu. Freimaurerische Rechtschaffenheit ist die Fähigkeit, das Rechte zu erkennen
und zu lieben und das Rechte zu schaffen; das kann der Maurer aber nur, wenn er von dem göttlichen Gesetz recht
erleuchtet ist und die Spitze des rechtwinklig geöffneten Zirkels stets auf seinem Herzen fühlt.
Wer reichte nun aber dem Leidenden den Zirkel dar? — Wer anders als der Meister! Er ergriff den neben dem
Winkelmaß auf dem Altar liegenden Zirkel und gab ihn dem Knieenden in die Hand. So ist auch dem ewigen
Meister neben dem Winkelmaß der Gerechtigkeit der Zirkel der Gnade und Liebe bereit. Unsere Akten sagen, daß
der höchste Meister
„unsere Arbeiten untersucht und misset mit seinem weit ausgestreckten Zirkel ...... Darum soll dieser
Baumeister, wenn er die Arbeit dereinst nach seiner Gerechtigkeit prüfen wird, zum wenigsten finden, daß
unser Bemühen nur seine Ehre zum Zweck gehabt habe, und daß es unser Bemühen gewesen ist, unsere Arbeit
mit seinem, auf dem Reißbrette gemachten Entwurfe in Übereinstimmung zu bringen.“ (Beil. Seite 48.)
Wer wollte bestehen vor ihm, wenn er unsere Taten mit dem starren Winkelmaß seiner richtenden Gerechtigkeit
abmessen wollte! Nein, der Zirkel der Gnade ruht in seiner Hand, der zwischen seine Spitzen auch die kleinsten
Werte zu fassen vermag. Darum, o Mensch, wenn du hoffst, mit diesem Werkzeug gemessen zu werden, so richte
auch deine Mitmenschen nicht, damit du nicht gerichtet werdest. „Der Zirkel ist allen Brüdern zu einem Sinnbilde
gegeben“, und auch dir ist er in die Hand gelegt. Setze ihn auf dein Herz und lerne ihn gebrauchen gegen deine
Menschenbrüder. Dann wird Strenge, Haß, Vergeltung und Rache in dir keinen Platz finden; Liebe und Versöhnung
werden in dein Herz einziehen und es schmücken mit der höchsten Maurertugend. (1897.)
Eid und Gelübde.
Auf das feierlichste vorbereitet und von dem Br. Redner noch in einer besonderen Ansprache auf die Wichtigkeit des
bevorstehenden Aktes aufmerksam gemacht, gelangt nun endlich der Leidende dazu, das Gelübde abzulegen, welches
ihn mit dem Orden auf ewig unauflöslich verbinden soll.
Von allem, was die Aufnahme darbietet, mutet uns nichts so eigentümlich an als der alte Freimaurereid. Er macht auf
den, der ihn zum ersten Male hört, einen geradezu mittelalterlichen Eindruck; er erscheint als etwas ganz
Unzeitgemäßes, das beseitigt werden müßte. Eine ganze Reihe von Fragen drängen sich dabei auf. Zunächst, wenn
unsere Sache etwas Gutes und Ersprießliches ist, warum halten wir sie geheim? Warum fordern wir eine so strenge
Verpflichtung, darüber verschwiegen zu sein? Warum wird der Bruch dieser Verpflichtung mit so gräßlichen Strafen
bedroht, die wir doch in Wirklichkeit zu vollstrecken keine Macht haben und, selbst wenn wir diese hätten, nie
vollstrecken würden? Warum ferner müssen wir geloben, etwas zu verschweigen und weder durch Zeichnen,
Schreiben, Drucken, Eingraben zu veröffentlichen, was schon längst geschrieben und gedruckt und schon längst kein
Geheimnis mehr ist, weil jeder es sich aus dem ersten besten Buchladen für wenige Groschen kaufen kann? Endlich
hören wir so oft, daß das wahre Geheimnis der Freimaurerei sich ohne weiteres überhaupt gar nicht mitteilen lasse;
sollte darum das Gelübde der Verschwiegenheit nicht ganz überflüssig sein? —
Beginnen wir zunächst bei der letzten Frage und erwägen wir die Bedeutung des freimaurerischen Geheimnisses.
Wenn unsere Sache >324< eine Kunst ist, und zwar die königliche Kunst, die sich vorgesetzt hat, den edelsten Stoff,
die Menschenseele, zu formen und zu einem göttlichen Kunstwerk zu gestalten, so muß diese Kunst wie jede andere
auch ihr Geheimnis haben, ein den Laien Verborgenes, das nicht ohne weiteres mitgeteilt, sondern nur durch
langwierige Übung und Fleiß erworben werden kann. Nicht die Mittel, durch welche ein Kunstwerk hergestellt wird,
bilden das Kunstgeheimnis, noch weniger das Kunstwerk selbst, denn dieses soll aller Welt leuchten, sondern das
innere Schaffen des Künstlers, seine Begeisterung, seine Fähigkeit und Fertigkeit. Und wenn ein Jünger zum Künstler
kommt, so kann der Meister nicht zu ihm sagen: „Hier hast du mein Geheimnis schwarz auf weiß“, sondern er kann
nur ihn zur Übung anleiten und ihn allmählich in die Geheimnisse seiner Kunst einweihen. Genau so ist es auch mit
der k. Kunst der Freimaurerei. Unser Kunstwerk soll offenbar werden; durch Werke und Handlungen sollen wir
überall zeigen, was unser Maurerfleiß in uns gewirkt hat, aber das eigentliche Geheimnis soll verschwiegen, bleiben,
das innerste Heiligtum unseres Herzens soll wohl gedeckt sein, wie der Raum der Loge, in dem wir uns zur Arbeit
versammeln, unzugänglich für Profane und durch das bloße Schwert des Wachthabenden geschützt ist. Und darum ist
unser Gelübde, das wir abzulegen haben, weniger ein Gelübde der Verschwiegenheit als vielmehr des Schweigens,
wie wir sogleich sehen werden. Gleichwohl aber ist die Forderung des Verschweigens, der Diskretion über das, was
in der Loge geschieht, und über alles, was ihr Wesen ausmacht, eine wohlberechtigte. Wollten wir mit dem, was uns
hier beschäftigt, auf den öffentlichen Markt gehen, so würde die profane Menge uns nicht verstehen und, nur das
Äußerliche schauend, uns verlachen und verspotten. Was wir treiben, ist so zart und so heilig, daß wir es nicht
ängstlich genug vor Entweihung hüten können. Wir haben daher guten Grund, das Versprechen der Verschwiegenheit
zu verlangen und dasselbe trotz der vielfach begangenen Indiskretionen aufrecht zu erhalten. Das Gelübde, das jeder
Freimaurer bei der Aufnahme abzulegen hat, ist darum gleichsam eine Schutzmauer zur Sicherung seiner inneren
Arbeit. So wie unsere Arbeitstafel, die in symbolischen Zeichen das Ganze der k. Kunst enthält, von einem
geschlossenen Rahmen umgeben ist, so wie der geschlossene Raum der Loge durch undurchdringliche Mauern von
der Außenwelt geschieden ist, so schützt das, was wir gelobt haben, unser innerstes Heiligtum überall, wohin wir
auch gehen, vor Entweihung, und über die dadurch gezogene Schranke darf nichts herein und nichts hinaus, was das
Werk der k. Kunst stören oder schädigen könnte.
Der Wortlaut des Gelübdes, das wir an Stelle des früher üblichen, fürchterlich klingenden Eides ablegen, ist dafür der
vollkommenste Ausdruck in seiner Schlichtheit und Kürze:
„Ja, ich gelobe, von den Geheimnissen der Freimaurerei mit keinem Unberechtigten zu reden oder solche auf
irgend eine Weise zu verraten, auch den Ordensgesetzen gehorsam zu sein.“
In dieser Formel wird genau unterschieden zwischen einem indiskreten Ausplaudern freimaurerischer Dinge und
einem Verrat der Geheimnisse oder, besser gesagt, an den Geheimnissen der Freimaurerei.
„Mit keinem Unberechtigten zu reden“, das ist das Verbot der Geschwätzigkeit; „dieselben“ — nämlich die
Geheimnisse — „auf irgend eine Weise zu verraten“, ist das Verbot des Verrats. Der Schwätzer handelt aus
Unvorsichtigkeit, Leichtsinn oder Eigendünkel, vielleicht weil er der Meinung ist, etwas, das man gedruckt lesen
könne, brauche nicht geheim gehalten zu werden. Der Schwätzer übertritt das geschriebene Gesetz; anders aber der
Verräter; er verletzt das ungeschriebene göttliche Gesetz, das er in seinem Inneren tragen soll. Geschwätzigkeit ist ein
Fehler, der strafbar ist, wenn auch nicht so entsetzliche Strafen dabei verwirkt werden, wie sie der alte Eid androht;
Verrat dagegen ist ein Verbrechen. Der Verräter am Heiligtum des Ordens frevelt gegen das Licht, das er suchen soll;
der Verrat ist schwarz wie die Finsternis selbst, die das Licht flieht, und deren Werke dem Verrat dienen, weil sie im
unversöhnlichen Kampfe die Werke des Lichtes zu zerstören suchen. Der Verrat am Heiligtum des Ordens ist das
schwerste Verbrechen, das gegen ihn begangen werden kann, und darum will auch der alte Eid, daß er durch die
schwersten Strafen geahndet werde. In dieser Hinsicht hat jene alte Eidesformel, welche in vielen maurerischen
Lehrarten ganz beseitigt ist und auch bei uns nicht mehr nachgesprochen wird, einen tiefen Sinn. Der Eid
unterscheidet zwischen den „Geheimnissen des Freimaurer-Ordens“ und, „was ihre Kunst betrifft“. Jene, die
Geheimnisse, sind der innerste Kern der Sache, dieses, „was ihre Kunst betrifft“, die äußere Hülle. Letztere läßt sich
ausplaudern, dem >326< Orden zum Schaden und Nachteil; jene, die Geheimnisse, lassen sich nicht ausplaudern,
wohl aber können sie verraten werden. Im alten Eide heißt es:
„Im Falle ich mein Versprechen im geringsten brechen sollte, so willige ich ein, daß mir mein Haupt
abgeschlagen, mein Herz ausgerissen, meine Zunge und Eingeweide ausgewunden und alles in den Abgrund
des Meeres geworfen, mein Körper verbrannt und seine Asche in die Luft zerstreut werde, so daß kein
Andenken von mir unter den Menschen und Freimaurern gefunden werde.“
Derjenige verrät die wahren Geheimnisse der Freimaurerei, der sie mißbraucht, der sie negiert, dem die Finsternis
besser gefällt als das Licht. Wer so handelt, der wütet gegen sich selbst, der verrät und vernichtet sein besseres Sein;
er willigt darein, daß jene grausigen Strafen an ihm vollzogen werden. In dem Kopfe, welcher abgeschlagen, in dem
Herzen, das ausgerissen, den Eingeweiden, welche ausgewunden werden sollen, finden wir das ganze Wesen des
Menschen symbolisiert in seinem geistigen, seelischen und leiblichen Element. Auf weiteren Ordensstufen finden wir
die Bestätigung davon. Der Verräter vernichtet seine eigene Existenz durch den Bruch seines Gelübdes. Die
Freimaurerei will unsere Vernunft befreien und für die Erkenntnis des Göttlichen hell machen, sie will die
Empfindungen unseres Herzens veredeln und verfeinern, und sie will auch unsern Leib heiligen und läutern, auf daß
er ein Tempel des Höchsten sei. Der Verräter will von alledem das Gegenteil, und daher willigt er darein, daß jene
Strafen an ihm vollzogen werden. Die Strafe aber, die ihn von unserer Seite trifft, ist die Ausstoßung aus dem Orden;
sie hat für uns denselben Erfolg, als wenn er in den Abgrund des Meeres versenkt oder verbrannt und seine Asche in
die Luft zerstreut wäre; denn kein Andenken bleibt von ihm unter uns Freimaurerbrüdern übrig. Wir sehen also, daß
unser uralter Eid doch nicht so ganz jedes Sinnes, auch für unsere heutige Zeit, entbehrt, und daß wir guten Grund
haben, ihn beizubehalten, wenn wir ihn auch nicht in Wirklichkeit leisten. Eide werden überhaupt heutzutage in
keinem Grade mehr geleistet; an ihre Stelle sind Gelübde, feierliche Versprechungen, getreten, die dem Maurer
ebenso heilig gelten sollen wie geschworene Eide. Schon das einfache Wort, das er seinem Bruder gibt, gilt dem
Maurer an Eides Statt, um wieviel mehr nicht ein feierliches Versprechen, das er, die Hand auf das heilige Wort der
Wahrheit gelegt, dem Orden und — sich selbst in ernster Weihestunde leistet.
Nachdem ich nun zu erklären versucht habe, warum wir ein solches Gelübde sogleich beim Eintritt in den Orden
fordern müssen, erkennen wir auch, welche hohe Bedeutung darin für unser ganzes zukünftiges Leben liegt. Ich habe
schon darauf aufmerksam gemacht, daß das Gelübde eine Schutzwehr für das innerste Heiligtum unseres Herzens
sein soll. Aber es soll noch mehr sein: es soll uns stets an das feste unzerreißliche Band erinnern, das uns mit dem
Orden, dem wir uns ganz zu eigen gegeben haben, verbindet; es soll uns mahnen an die unverbrüchliche Treue, die
wir dem Orden schuldig sind. In den beiden kurzen Sätzen des Gelübdes liegt der Hinweis auf die heiligen Pflichten,
die wir übernommen haben und in unverbrüchlicher Treue durch unser ganzes Leben erfüllen sollen.
Die Pflichten des Lehrlings aber sind, wie unser Fragebuch sagt, arbeiten, gehorchen und schweigen; und dieser
Lehrlingspflichten sind wir keineswegs enthoben, wenn wir zu weiteren Graden fortschreiten. Sie dauern durch das
ganze Leben fort, weil wir, auch wenn wir das höchste Alter erreichen, doch noch immer zu lernen übrig haben und
darum stets Lehrlinge bleiben. — Arbeiten, gehorchen, schweigen! — Hart und streng klingen diese Pflichten und
führen uns doch zum Höchsten und Herrlichsten hin. Zwei von ihnen durch die unser Wille und unsere Zunge
gebunden werden, sind im Gelübde unmittelbar enthalten: Gehorsam und Schweigen. Hier wird aber nicht von
Verschwiegenheit, sondern von Schweigen gesprochen, und das mit vollem Recht. Unser Inneres soll durch das Werk
der k. Kunst zu einem Tempel des Höchsten gestaltet werden. Im Heiligtum aber muß heilige Stille herrschen. Wenn
profane Reden und faules Geschwätz in uns laut werden, dann flieht der Geist der Gottheit aus unserm inneren
Tempel, den er sich zum Wohnsitz ausersehen hat. Wenn aber Schweigen herrscht, dann zieht er ein. Darum: sei
stille dem Herrn und warte auf ihn. Hüte deine Zunge und schweige, denn nur so wirst du die Stimme der Gottheit
vernehmen. Sei stille und laß den andern, Höheren, in dir >328< reden. Sein Wort soll in dir lebendig werden, bis
du es selbst sprechen kannst. Der Lehrling erhält den ersten maurerischen Sprachunterricht, wenn er sein Wort
aussprechen lernt. — Und auch die zweite Pflicht ist im Gelübde enthalten: Gehorchen. Die Ordensgesetze, denen zu
gehorchen wir geloben müssen, sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern sie sind eine Schule der Übung unseres
Willens zum Gehorsam gegen das ungeschriebene göttliche Gesetz, das wir eben dadurch, daß es stille in uns ist,
vernehmen und verstehen lernen sollen. Alles, was die Ordensgesetze von uns verlangen, kommt in letzter Absicht
darauf hinaus, jene suprema lex, das höchste Gesetz, den Willen Gottes, zu erfüllen. Ist aber unser Wille mit dem
Willen Gottes eins, dann ist, weil Gott die Liebe ist, auch in uns die Liebe vollendet. Dann brauchen wir jene
geschriebenen Paragraphen nicht mehr, denn wir tragen die Erfüllung des Gesetzes in uns, durch sie allein werden wir
bewegt und werden bei all unserm Denken, Wollen und Handeln durch ihr heiliges Licht erleuchtet.
Nun ist es aber nicht leicht, jene heilige Stille in uns zu schaffen und dauernd zu erhalten, damit wir das göttliche
Wort vernehmen, und noch schwerer ist es, den Hochmut unseres Eigenwillens dem höheren Willen in uns zu
unterwerfen. Alles dies ist Gegenstand unserer maurerischen Arbeit; das ist die dritte Lehrlingspflicht: arbeiten! Wir
sehen, daß diese Pflicht, wenn im Gelübde auch nicht direkt ausgesprochen, dennoch in ihm enthalten ist; denn ohne
innere Arbeit können wir unsern Willen nicht zum Gehorsam zwingen, und ohne Arbeit können wir nicht die
lockenden Sirenenstimmen zum Schweigen bringen, die die Stille in unserm Heiligtum stören. Die freimaurerische
Arbeit aber muß von uns mit aller Energie angefaßt werden; sie darf, wie das uns in unserm Fragebuch ausdrücklich
eingeschärft wird, keine Unterbrechung erleiden; wird sie unterbrochen, so kommen wir zurück, und das, was wir mit
Mühe aufgerichtet haben, stürzt wieder ein. Kein profanes Werk darf diese Arbeit stören; sie muß stets über dem
stehen, was wir draußen in der Welt treiben, um es mit einer höheren Weihe zu erfüllen.
An diese Arbeit möge der angehende Maurer beständig durch die Umstände erinnert werden, unter denen er sein
Gelübde abgelegt hat. Er hat in Demut sein Knie gebeugt, nicht vor Menschen, sondern vor Gott, und sein Knie ruhte
auf dem rechten Winkel, dem Zeichen des unabänderlichen, göttlichen Gesetzes, das fortan seines Fußes Leuchte sein
soll, sowie er auch schon mit rechtwinkligen Schritten unsere Arbeitstafel überschritten hat. Auf sein Herz setzte er
sich selbst die Spitze eines Zirkels, des ersten maurerischen Werkzeuges, das ihm in die Hand gegeben wurde. Und
seine Hand ruhte auf der heiligen Urkunde, die da redet von dem Wort, in dem das Leben und das Licht der
Menschen war, ist und bleiben wird, und das auch in ihm reden soll. Über das Buch der Bücher war ein Schwert
gelegt, das seine Hand berührte, zum Zeichen, daß die Wahrheit und das Licht, das der Freimaurer sucht, um das er
anhält, und für das er zu leiden bereit ist, nicht bloß ergründet und ergriffen, sondern auch verteidigt werden muß
gegen die Anfälle der Finsternis.
Endlich aber, als er das Gelübde abgelegt hatte, da berührte der irdische Meister sein Haupt mit den Worten: „Der
Herr helfe dem Leidenden!“ So möge auch der ewige Meister ihn segnen und stärken! Möge seine Hand auf ihm
ruhen und seine Kraft in ihm mächtig sein, wenn des Leidenden Kniee wanken und sein Wille erlahmen will. —
(1902.) >330<
Salomos Siegel.
Cicero richtet in seiner Schrift „über die Gesetze“ folgende Worte an seinen Freund Atticus: (De legibus II, 14, 36:)
„Dein Athen hat zwar viel Vortreffliches, Göttliches, der Menschheit Nützliches hervorgebracht; allein nichts
Besseres als die Mysterien; durch diese sind wir vom rohen unmenschlichen Leben zur Menschlichkeit
gelenkt und gesänftigt worden. Die sogenannte Einweihung haben wir wirklich als Anfang zum Leben
erkannt, und wir haben darin nicht allein eine Richtschnur erhalten, daß wir mit Freudigkeit leben, sondern
auch, daß wir mit einer besseren Hoffnung sterben können.“
Sollten nun solch segensvolle Einrichtungen, wie sie sich damals in den geheimnisvollen Versammlungen der
Geweihten zu Eleusis und Samothrake bargen, verschwunden und für die Menschheit verloren gegangen sein ? —
Keineswegs. Wenn auch mit dem Zusammenbruch der antiken Welt der geheime Kultus der Demeter und des
Dionysos zerfiel, so lebte doch der Trieb der Menschennatur, der sich in jenen Mysterienfeiern offenbarte, weiter fort
und betätigte sich im ferneren Laufe der Zeiten, und zwar in reinerer und geläuterter Weise, Schritt haltend mit den
geläuterten Anschauungen späterer Zeiten über göttliche und menschliche Dinge. Auch unsere moderne Welt hat ihre
Mysterien, die sich in unserer Freimaurerei darstellen. Was Cicero damals an den alten Mysterien pries, das will auch
die Loge den suchenden und strebenden Menschen geben; und sogar noch mehr: nicht bloß Freudigkeit im Leben und
bessere Hoffnung im Sterben, sondern die rechte Erkenntnis von dem Wert und der Bedeutung des Lebens und die
sichere Hoffnung und Zuversicht, daß der Tod nur die Pforte zu einem reineren und höheren Sein bildet, für welches
uns zu bereiten wir als die höchste Aufgabe unseres Erdendaseins erkennen müssen.
„Aber“, könnte man mir erwidern, „genau dasselbe will die Kirche gleichfalls. Wozu bedarf es da noch eurer
Mysterien?“ — Den ersten Satz muß ich zugeben, jedoch kann ich die Überflüssigkeit dessen, was die Loge
darbietet, nicht einräumen. Die Kirche sowohl wie die Loge will den Menschen zur höchsten Vollendung und zur
Vereinigung mit unserm ewigen Vater führen. Ihren Inhalt haben beide gemeinsam, aber verschieden sind die Wege,
die sie uns führen. Trotzdem aber fehlt es auch nicht an gemeinsamen Berührungspunkten dieser Wege. Die Kirche
führt uns den Weg des Dogmas. Den jugendlichen, noch ganz unreifen Menschen, den Konfirmanden, führt sie in ihr
großes Gebäude von Satzungen ein und heißt ihn, sich daselbst wohnlich einrichten, und sie hilft ihm auch dabei,
vorausgesetzt, daß er in ferneren Lebensjahren ihr treu bleibt; sie sucht durch Schriftauslegung und Predigt die tote
Satzung in lebensvolle Wahrheit umzusetzen. Denn Glaube ist nicht bloß das Fürwahrhalten von Satzungen, sondern
eine lebendige Kraft, die in unserm Inneren schlummert und der Erweckung harrt, und gerade an der Befreiung dieser
Kraft muß der Kirche alles gelegen sein. Aber ihre Mittel reichen nicht aus, sie versagen an Unzähligen, nicht bloß an
solchen, die sich ganz von ihr abwenden, sondern auch an solchen, die gewohnheitsmäßig den Gottesdienst besuchen,
ohne davon tiefer berührt zu werden. Ich bin der festen Überzeugung, daß die überwiegend größere Zahl der geistlich
Armen und derer, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, nicht unter denen zu suchen ist, die da andächtig
auf den Kirchenbänken sitzen, sondern gerade unter denen, die den Weg in die Kirche nicht mehr finden. Hier nun,
wo die Kirche nichts mehr vermag, tritt ergänzend und helfend die Loge für sie ein, sie, die so oft von der Kirche
verkannt und verfolgt wird, und doch von ihr als ihre treueste Bundesgenossin anerkannt werden sollte. Die Loge
führt denjenigen, der suchend und strebend zu ihr kommt, den Weg des Mysteriums, und alles, was wir in der Loge
finden, jedes Bild, das sie uns vor Augen stellt, jede Handlung, die sie >332< vor uns vollzieht oder an uns selbst
vornimmt, dient diesem Zweck allein. Was ist nun aber das Mysterium? Es wird überall da lebendig, wo durch
äußerliche, sinnlich wahrnehmbare Zeichen und Vorgänge innerliche geistige Tätigkeiten in uns ausgelöst werden,
„nicht als Traum und Schatten“, wie unser Br. Goethe sagt, „sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des
Unerforschlichen“. Das, was in demjenigen vorgeht, der sich offenen Sinnes und empfänglichen Herzens dem
Mysterium hingibt, ist ein Geheimnis, welches an andere ohne weiteres mitzuteilen schlechterdings unmöglich ist; es
läßt sich wohl darüber reden, aber nicht durch Reden auf andere übertragen.
Auch die Kirche hat Mysterien, das sind die Sakramente. Auch hier haben wir äußere Zeichen, die uns innere geistige
Vorgänge übermitteln sollen, das Wasser bei der Taufe, Brot und Wein beim Abendmahl. Aber diese Mysterien
erscheinen durch den dogmatischen Apparat vielfach gehemmt und in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt. Die Taufe
kommt übrigens hier kaum in Betracht, da sie an dem noch nicht zum Bewußtsein erwachten Kinde vollzogen wird,
und nur die Taufpaten das, was sie ausdrücken will, innerlich erleben können. Und woher kommt es, daß so viele
Christen sich von der Abendmahlsfeier, die doch so sehr geeignet ist, den eigentlichen Mittelpunkt unseres Kultus zu
bilden, fernhalten? Das kommt doch wohl daher, daß sich außerordentlich viele durch den ganzen dogmatischen
Apparat, der sich an das Abendmahl knüpft, beengt und in ihrem Gewissen beängstigt fühlen, wenn sie sich sagen
müssen, daß sie der Kirche auf ihren dogmatischen Pfaden nicht in allen Stücken folgen können. Dennoch aber kann
die Kirche das Dogma nicht entbehren; gerade darin liegt auch wiederum ihre Stärke. Sie muß ihren Gliedern etwas
Festes, Bestimmtes geben, denn sie ist für alle da, sie umfaßt Hoch und Niedrig, Jung und Alt, Mann und Weib, den
hoch Gebildeten und den einfach schlichten Menschen, dessen Sache ein tieferes Nachdenken nicht sein kann. Nicht
so die Loge. Sie ist nur für wenige da, sie ist für die Suchenden, die Strebenden und Ringenden, welche nach einem
Ausweg aus den Labyrinthen des Zweifels sich sehnen, wenn sich auch, genau so wie in der kirchlichen Gemeinschaft
genug Indifferente und Oberflächliche finden, die von dem Genius unserer Kunst unberührt geblieben sind. Die
Suchenden aber auf den Weg des Mysteriums zu führen, in ihnen jene geistigen Bewegungen zu erwecken, welche
den Glauben läutern, die Liebe vermehren und die Hoffnung stärken, das ist ihre Aufgabe und ihr Ziel. Wenn die
Kirche das Hauptgewicht auf das Dogma legen muß, so betont die Loge jene geistigen Tätigkeiten, die durch ihre
Mittel in uns ausgelöst werden. Wenn die Kirche ihre Glieder in das fertige Gebäude ihrer Satzungen hineinführt, so
lehrt uns die Loge die geistige Baukunst, durch welche dieses Gebäude erst durch unsere eigene Wirksamkeit
errichtet werden soll. Das ist der große Unterschied. Aber so wie die Kirche nicht ganz ohne Mysterien ist, so kann
auch die Freimaurerei nicht ganz ohne Dogma sein, wenn sie es auch ganz anders handhabt als die Kirche. Wie die
Geometrie ihre fundamentalen Grundsätze als sog. Axiome, als denknotwendige Wahrheiten, die eines Beweises
nicht bedürfen, aufstellt, so stützt sich auch die Freimaurerei auf das Dogma von der Existenz Gottes. Der
Gottesglaube ist ihre notwendige Voraussetzung; eine atheistische Freimaurerei ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auf
dem Fundament des Gottesglaubens allein kann ihr Gebäude sicher ruhen; dieses zu errichten, ist die Aufgabe der k.
Kunst. Die Freimaurerei ist also weniger ein Wissen als vielmehr ein Können, und die Loge ist die Werkstätte, wo
diese Kunst gelehrt und geübt wird.
Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, möchte ich an einem Beispiel zeigen, welche Wege die Freimaurerei
einschlägt, um ihre Wahrheiten in uns aufgehen zu lassen, und welch unscheinbarer Mittel sie sich bedient, um uns
Großes und Herrliches zu eigen zu machen.
Wenn der Leidende im Osten am Altare sein Gelübde auf die heilige Schrift abgelegt hat, das ihn mit dem Orden für
immer verbinden soll, wird er rücklings an die Pforten des Tempels zwischen die Aufseher geführt, und nun erhält
der zweite Aufseher den Befehl, Salomos Siegel, das Siegel der Verschwiegenheit, auf des Leidenden Zunge zu
drücken.
Wenn wir dies betrachten, so entsteht für uns wieder eine ganze Reihe von Fragen: Warum wurde ich rücklings von
Osten nach Westen zurückgeführt ? Was bedeutet die Versiegelung ? Zunächst, was hat Salomo damit zu tun? Was
ist sein Siegel, und wie sieht es aus? Und warum wurde es auf meine Zunge gedrückt? —
Der ganze lange Weg, den der Suchende zurücklegt von der dunklen Kammer auf Umwegen zur Pforte des Tempels,
dann, als diese Pforte sich ihm erschlossen hatte, nach manchem Irren und Umkehren, zuletzt mittels! dreier Schritte
über die am Boden liegende Tafel bis zum Altar, war ein Weg aus der Nacht des Unbewußten zum Licht, aus dem
Gebundensein >334< zur Freiheit. Schon glaubte er sich am Ziele, das göttliche Wort der Wahrheit lag vor ihm
aufgeschlagen, er ergriff es gleichsam mit seiner Hand, er gelobte sich ihm an und dachte gewiß, daß nun die Binde
von seinen Augen fallen müßte. Aber nein! Der Weg zum Leben war vergebens gewesen; er mußte noch den
Todesweg gehen. Vom Sitz des Lichtes und Lebens wurde er rücklings zurückgerissen, nach Westen
zurückgeschleppt, von wo er ausgegangen war. Aber immer blieb sein Auge, wenn auch von der Binde bedeckt, dem
Sitz des Lichtes zugewandt. Das will sagen: Wer da leben will, muß abtun, was das Leben hemmt, er muß absterben
für das Irdische, wenn er von neuem zum Leben geboren werden soll. „Stirb und werde!“, das ist hier die Losung.
Nur wer, das Irdische von sich werfend, dem Ewigen zugewandt bleibt, wird siegen und zum Lichte gelangen, nur
wer als Leidender sich bewährt, wird die Krone des Lebens empfangen.
Das war der Standpunkt, den der Leidende einnahm, als das Geheiß der Versiegelung erging. Und mit dieser
Versiegelung beginnt das eigentliche Werk der Freimaurerei an dem Suchenden. Salomos Siegel! Wer ist uns
Salomo ? Was bedeutet er uns ? Nicht an den Herrscher in Israel, der trotz der Weisheit, die ihm nachgerühmt wird,
mit menschlichen Fehlern und Schwächen genug behaftet war, haben wir zu denken, sondern an den königlichen
Bauherrn, der jenen herrlichen Tempel errichtete, der als erster in der Welt dem unsichtbaren einigen Gott geweiht
war; jenen Tempel, der ein Sinnbild des Weltalls sein sollte, das der Unsichtbare, Ewige sich selbst errichtet hat, um
in seinem Allerheiligsten zu wohnen; jenen Tempel, der nicht wegen seiner Größe und Pracht, sondern wegen der
Hoheit der Idee, welche er verkörperte, das unveränderliche Hauptsymbol der Freimaurerei ist und bleiben muß. Zu
einem solchen Tempel, in dem alles Ebenmaß und Schönheit, alles von Weisheit eingegeben, alles von Stärke
getragen ist, wo alles dem Licht und Leben, dem ewigen Gott dient, soll auch das Innere des Freimaurers ausgestaltet
werden, und zwar durch ihn selbst, durch sein Suchen und Finden, durch sein Arbeiten und Schaffen. Und darum
wird Salomos Siegel uns aufgedrückt. Wenn ich etwas mit meinem Siegel versehe, so bedeutet das mein
Eigentumsrecht; wenn ich mein Siegel unter eine Urkunde drücke, so will das sagen, daß ich einstehe für die
Wahrhaftigkeit dessen, was ich verlautbart habe, oder für die Unverbrüchlichkeit des Vertrages, der von mir
abgeschlossen ist. So hat auch der himmlische Salomo, der große Bauherr, in dessen Dienst wir als Arbeiter getreten
sind, uns sein Siegel aufgedrückt, um zu bezeugen, daß wir die Seinen sind, und daß der Bund, den er mit uns
geschlossen hat, ewig dauern soll.
Wie sieht nun aber das Siegel aus ? Ich habe es wohl auf meiner Zunge gefühlt, aber ich habe es weder gesehen noch
betastet, denn meine Augen waren gehalten, und in meine Hände hat man es nicht gelegt; es entschwand mir mit dem
Augenblicke, in dem es mich berührte. — Nun, der neue Bruder darf es nicht weit suchen; es ist das Einfachste, was
es geben kann, und er trägt es bei sich, es ruht auf seinem Herzen. Es ist die Kelle, mit welcher seine Zunge berührt
wurde. Wie kommt nun dieses ganz alltägliche Maurerwerkzeug zu der hohen Würde, als Salomos Siegel zu gelten?
Bei der Überreichung der Kelle sagt der Meister, sie diene dazu, die Spalten und Risse des Herzens gegen die Anfälle
des Lasters zu vermauern und zu verkitten. Mit dieser negativen Arbeit aber, die das Feindliche abhält, das in unser
Inneres dringen will, wird die Bedeutung der Kelle nicht erschöpft; sie hat auch eine positive Arbeit in uns zu
verrichten, und das ist die Hauptsache. Wenn wir die Kelle ansehen, so finden wir, daß sie aus einem gleichseitigen
Dreieck besteht, an welches ein zweimal gebogener Stiel als Handhabe geheftet ist. Das Dreieck ist von alters her ein
Sinnbild für das göttliche Wesen. Wir finden es als solches vielfach in den Kirchen an Altären und Kanzeln
dargestellt, oft mit dem allsehenden Auge, wie es auch hier bei uns an der Vorderfläche des Altars zu sehen ist, oder
mit dem Tetragrammaton, dem in hebräischen Buchstaben geschriebenen Namen Jehovah. Das Dreieck, dessen drei
Endpunkte unverschieblich und unauflöslich miteinander verbunden sind, bedeutet das heilige Wesen des Ewigen,
seine Einheit von Gedanke, Wille und Tat, seine schöpferische Kraft, welche da ist sein Wort, in welchem Denken,
Wollen und Handeln eins ist. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. — Alle
Dinge sind durch dasselbe gemacht; und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ So lautet die Stelle der
Schrift, auf welche der Leidende das Gelübde ablegt. Die Kelle ist also das Symbol des göttlichen Wortes als
schöpferischer Kraft. Das wird noch deutlicher durch den am Dreieck befestigten Stiel, welcher nichts anderes ist als
der erste hebräische Buchstabe des Wortes Jehovah. Das ist das Siegel des himmlischen Salomo, das uns aufgedrückt
ist, ja noch mehr, das uns übergeben ist als Werkzeug für unsern inneren Tempelbau, >336< das uns mit einer
Handhabe dargereicht wird, damit es zur Wirksamkeit gelange, das auf unserm Herzen befestigt wird, damit sich dort
seine Kraft bewähre, wo das Licht mit der Finsternis in uns ringt. Dies alles erklärt uns auch, weshalb die Kelle als
Siegel Salomos gerade auf unsere Zunge gedrückt wird. Die Zunge ist der Sitz des menschlichen Wortes; sie wird
versiegelt mit dem Symbol des göttlichen Wortes, und zwar in doppelter Weise, erstens negativ zur
Verschwiegenheit; das göttliche Wort, das unsere Zunge berührt, bannt das faule Geschwätz, das wohl sonst über
unsere Lippen ging, weit von uns. Nicht nur Verschwiegenheit über das, was uns anvertraut ist und nicht entheiligt
werden darf, wird hier gefordert, sondern auch Schweigen, damit in heiliger Stille das in unser Inneres dringe, was
noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen ist. Das sind „carmina non prius
audita“, ähnlich wie sie der römische Dichter meinte, als er seinen Mitbürgern das berühmte „favete linguis“ zurief.
— Dann aber erhält unsere Zunge auch durch das salomonische Siegel eine Weihe nach der positiven Seite hin; die
Kraft des Wortes soll sie dadurch empfangen. Das ist die Zeugung eines neuen geistigen Lebens, das im Augenblicke
der Versiegelung beginnen soll. Das Wort ist die Form des Gedankens, wir können nie anders denken als in Worten
und durch Worte. Durch das göttliche Wort aber, wenn es in uns sich zu regen und zu sprechen beginnt, wird das
wahre Leben, das unsterblich ist, in uns entzündet, wie es denn in unserer Schriftstelle heißt: „In ihm (d.h. im Worte)
war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“ Und der Obermeister der Menschheit sprach, als er den
Versucher von sich wies: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den
Mund Gottes geht.“ Das ist die Kraft, die nicht dem Irdischen, Leiblichen, sondern dem Ewigen, Unvergänglichen in
uns zur Entwicklung dient. Sie ist es, welche die göttliche Anlage, die bei unserer Geburt in uns gelegt ward, zum
Leben erweckt und zur Entfaltung führt; sie ist es, die den unvergänglichen Tempelbau, zu dem wir unser Inneres
ausgestalten sollen, in uns aufrichtet. Und wenn wir in vollkommener Freiheit und klarer Erkenntnis dieses
unvergleichlichen Wertes uns des göttlichen Wortes und seiner Kraft bewußt werden, dann sind wir selbst nicht mehr
Arbeiter, sondern königliche Bauherren, die über den Bau unseres Inneren wachen und ihn leiten, dann ist die höchste
Menschenwürde uns zu eigen gegeben, dann sind wir wahrhafte Jünger der Kunst, welche mit Recht die königliche
genannt wird.
Schon in der ersten Stunde seines Lehrlingstums soll der junge Maurer der Wirkung des göttlichen Wortes
innewerden. Als erste Errungenschaft des salomonischen Siegels wird ihm ein Wort gegeben, das heilige
Erkennungswort des Lehrlings, welches J.... ist. Es bedeutet : Er hat aufgerichtet, also: Er hat mich erschaffen. An der
Säule zur Linken, die den Namen J.... führt, soll ich Gott als meinen Schöpfer und Vater, mich als sein Kind
erkennen. Das ist Lehrlingsarbeit, und sie ist nicht leicht. Auch die Kirche lehrt uns das. Sie spricht uns vor: Ich
glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, der auch mich geschaffen hat. Anders
aber verfährt die Freimaurerei. Sie drückt uns Salomos Siegel auf und gibt uns als seine erste Wirkung das Wort J....
und leitet uns an, es erst zu buchstabieren, dann silbenweise und endlich ganz auszusprechen. Sie will, daß wir diese
große Wahrheit, die das Fundament ihres Baues ist, uns durch selbständiges Arbeiten und Ringen zu eigen machen,
sie zeigt uns, wie wir so große Dinge erst stückweise erkennen und dann erst von Angesicht zu Angesicht, bis wir es
einst erkennen werden, gleichwie wir erkannt worden sind. (1902.) >338<
Die Lichterteilung.
Erster Vortrag.
(Gehalten bei einer gemeinsamen Instruktionsloge der drei Johannislogen zu Königsberg i. Pr.)
An einer für die Freimaurerei so ernsten und schweren Zeit, wie die gegenwärtige es ist, in einer Zeit, in welcher zur
Freude unserer Feinde Zwiespalt und Streit die Reihen der deutschen Brüder voneinander zu trennen scheint, begrüße
ich einen Tag wie den heutigen mit doppelter Freude und Genugtuung. Es ist ein Festtag, den wir heute feiern. Wir
sind heute vereinigt zu gemeinsamer Arbeit; die Brüderschaften der drei hiesigen Werkstätten sind
zusammengetreten, um Zeugnis abzulegen von der Einheit unseres Bundes, von dem Geist der Liebe und des
Friedens, der unsere Reihen durchweht, und von dem ewigen Licht, das von uns allen gesucht wird, und das, wenn
wir auch in verschiedener Weise danach streben, dennoch immerdar ein einiges und unteilbares bleiben muß.
Dieses Licht sei auch heute unser Führer; es leite uns in alle Wahrheit und erhelle unsern Pfad; es schlinge das Band
der Eintracht nicht nur um uns, die wir hier zu seinem Dienste versammelt sind, sondern es leuchte auch mit seinen
segensvollen Strahlen überall da hinein, wo Hilfe nötig ist, überall dahin, wo Brüder, die berufen sind, gemeinsam
seine Wege zu wandeln, sich nicht verstehen und auseinandergehen, statt sich zu vereinigen. Nur in ihm ist das Heil
zu finden, nur in ihm ist Trost und Hoffnung, nur in ihm ist Heilung und Wiedervereinigung.
Es wird ein würdiger Gegenstand für unsere Instruktion sein, dieses Licht, das zugleich unser Wegweiser und unser
Ziel ist, näher zu betrachten. Wenn das Wort „Licht“ im Munde des Maurers nicht zur Phrase werden soll, so muß er
sich vor allem darüber klar sein, was er darunter zu verstehen hat, und wie er dieses höchsten Gutes teilhaftig werden
kann.
Darüber nun, was wir unter Licht in maurerischem Sinne zu verstehen haben, gibt uns die Stelle der heiligen Schrift,
auf welche wir bei der Ablegung unseres Gelübdes die Hand gelegt haben, das erste Kapitel des
Johannisevangeliums, einen deutlichen Fingerzeig. Es wird daselbst gesprochen von dem göttlichen Wort, das am
Anfang war, das mit der Gottheit selbst identifiziert wird, und durch welches alle Dinge gemacht sind. „In ihm“, so
fährt der Text fort, „in ihm“ — dem göttlichen Worte — „war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen.“ Die Gottheit wird in unserer Schriftstelle zunächst als etwas Ruhendes, in sich Abgeschlossenes
betrachtet. Dann erst wird der Beginn einer Tätigkeit, einer Kraftäußerung angenommen. „Alle Dinge“, so heißt es,
„sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Zu alledem aber, was
gemacht ist, gehört vor allem der Mensch, die Krone der Schöpfung, ihr letztes Glied. Die ganze Schöpfung ist
durchdrungen vom Hauch des Göttlichen, der überall Leben bringt und Entwicklung fördert. Im Menschen aber zeigt
sich das göttliche Leben in höchster Potenz, und zwar so, daß es in ihm sich selbst wiedererkennt. Die Gottheit war
allein mit sich. Das wollte sie nicht. Da entstand durch ihr Wort, d.h. durch ihre Lebensäußerung, durch ihren Willen
und ihre Kraft, die Welt, und aus ihr erwuchs aus der langen Kette der Geschöpfe als höchste Blüte der Mensch,
begabt mit göttlicher Vernunft, mit Freiheit des Willens und Fähigkeit, zu erkennen und sich vom Irdischen zum
Ewigen zu erheben. Das ist das wahre Leben, das dem Menschen vor allen anderen Geschöpfen verliehen ist, das
Leben im höheren göttlichen Sinne, von dem das Leben der anderen Geschöpfe nur ein Symbol ist, und das, wie
unsere Schriftstelle sagt, das Licht der Menschen ist. Das Göttliche selbst ist dieses Licht, das wir nur mit dem Auge
unseres Geistes schauen können, und alle anderen Lichter, die unser irdisches Auge erblickt, das Licht der Sonne und
des Mondes, das Licht des Feuers, das wir uns entzünden, sind nur vergängliche Gleichnisse von dem einen ewigen
Lichte, durch welches Gott selbst sich uns offenbaren will.
In der ganzen Schöpfung geht alles den langsamen Weg der Entwicklung. Schon die mosaische Schöpfungslegende
erzählt uns >340< nicht etwa, daß Gott durch einen einzigen, plötzlichen Schöpfungsakt die Welt hat entstehen
lassen, was er kraft seiner Allmacht sehr wohl hätte tun können, sondern daß er dazu sechs Tagewerke brauchte. Wir
finden hier also eine Andeutung, daß auch in jenen Urzeiten, als das erste Kapitel der Genesis niedergeschrieben
wurde, die Vorstellung einer allmählichen Entwicklung des Weltganzen schon die herrschende war. Ebenso
allmählich geht auch die Entwicklung des Lichtes im Menschen vor sich. So wie das Kind, wenn es zur Welt geboren,
ist, das Tageslicht nicht ohne Schaden zu schauen vermag, das durch dunkle Vorhänge von dem Bettchen des
Säuglings ferngehalten werben muß, so enthüllen sich auch die Offenbarungen des göttlichen Lichtes dem danach
strebenden Menschen nicht auf einmal, sondern stufenweise. Das zeigt uns die kulturgeschichtliche Entwicklung der
Menschheit. Auf allen Gebieten der Kultur, sei es im politischen oder religiösen Leben, oder sei es in der
Wissenschaft und Kunst, im Handel und im Gewerbefleiß oder sonst wo immer, regt sich göttliches Licht und Leben
und trachtet nach Gestaltung und Durchbruch. Scheinbar rückläufige Bewegungen können die Entwicklung zwar für
einige Zeit aufhalten, aber nicht hemmen. Alles dient dem einen großen Zweck, der Vollendung des Menschlichen
durch das Göttliche, der Ausbreitung der Wahrheit und des Rechtes und dem immer helleren Aufleuchten des
Lichtes.
Unsere Freimaurerei ist die Darstellung dieser Entwicklung des Lichtes, des göttlichen Lebens und Seins im
Menschen. Was sie Licht nennt, fällt zusammen mit dem, was das Johannisevangelium als solches bezeichnet. Dieses
Licht ist an sich einig und unteilbar, aber die Art und Weise, wie es sich in der Welt offenbart, ist eine sehr
verschiedene. Man spricht von einem Licht der Vernunft, von einem Licht der Aufklärung, der Wissenschaft, der
Kunst usw., und so kann man auch von einem Licht der Freimaurerei reden. In unserem Aufnahmeritual wird der
Aufzunehmende „ein Suchender“ genannt, „der auf dem angefangenen Freimaurerwege Licht und Wahrheit sucht“; er
hat das Licht schon früher gesucht, er muß es gesucht haben, und es wäre schlimm für ihn und für uns, wenn dem
nicht so wäre; aber er hat das noch nicht auf dem freimaurerischen Wege getan, welcher jetzt erst beginnt. Und vor
dem Fallen der Binde fragt der Meister die Brüder, ob sie genehmigen, daß der Suchende das Licht schaue, dessen
Schein er von der Stunde seiner Geburt an bis zu diesem Augenblicke zu benutzen gehindert war. Nach meiner
Ansicht muß hier, wenn der Meister diese Worte spricht, der Ton auf „das“ ruhen, also dasjenige Licht. Es ist mir
darin widersprochen worden; man hat gemeint, es müsse einfach gesagt werden: „das Licht“, denn es gebe nur ein
Licht. Letzteres ist richtig; aber dieses eine Licht stellt sich in dem Lichte, das die Freimaurerei erteilt, in ganz
besonderer, ihr eigentümlicher Weise dar, eben in der Weise, welche der Suchende seit seiner Geburt zu benutzen
gehindert war, und darum muß ich bei meiner Meinung beharren. So wie das physikalische Licht immer in den
Wellenbewegungen des Lichtäthers besteht, aber dennoch sehr verschieden ist, je nachdem es uns von einer Kerze,
einer Gasflamme oder einer elektrischen Lampe leuchtet, so ist auch das geistige Licht, das wir durch die Loge
erhalten, ein durchaus eigentümliches, und wir können und müssen darum von einem spezifisch freimaurerischen
Lichte reden.
Betrachten wir nun die Lehrlingsaufnahme, gleichviel welcher Lehrart, so finden wir, daß es sich bei dem ganzen
Vorgange um das Streben nach diesem Lichte und um die Erteilung desselben handelt. In allen Systemen der Welt
wird der Suchende zuerst durch den Aufenthalt in der dunklen Kammer und dann durch das Umhüllen der Augen mit
einer Binde in einen Zustand versetzt, der in ihm die Sehnsucht erweckt, das Licht zu schauen, ein Sinnbild für die
Sehnsucht des Menschen, der, sich seiner Unvollkommenheit bewußt, im Gefühle seiner geistigen und geistlichen
Armut das Licht des göttlichen Geistes zu schauen verlangt. Mannigfache Prüfungen muß der Suchende durchleben,
bis endlich die Binde fällt und er das Licht der Loge zu schauen bekommt, welches ihm jenes göttliche Licht, d.h. nur
den ersten Schimmer desselben, versinnbildlichen soll. Diese Lichterteilung durch das Abnehmen der Binde ist der
eigentliche Höhepunkt der ganzen Aufnahme, bei welchem ich heute verweilen möchte. Es sei mir gestattet, in
kurzem die verschiedenen Arten, wie in den drei alt-preußischen Großlogen die Lichterteilung vor sich geht, zu
betrachten und miteinander zu vergleichen.
Am eindrucksvollsten ist der Moment der Lichterteilung jedenfalls in der Gr. Nationalmutterloge „Zu den drei
Weltkugeln“ ausgestattet. Der Akt zerfällt in zwei Teile, die Erteilung des schwachen und des starken Lichtes.
Nachdem der Suchende am Altar sein Gelübde abgelegt >342< und die Weihe zum Freimaurer durch die drei
Schläge mit dem Hammer auf den Zirkel erhalten hat, wird er nach Westen zurückgeführt. Alsdann werden die
Lichter um den Teppich verhüllt, die anderen Lichter werden gleichfalls verdeckt oder ausgelöscht, und die Loge
wird nur erleuchtet durch eine matte Weingeist-Flamme, welche zwischen dem Altar und dem Teppich brennt. Auf
das Geheiß des Meisters: „Geben Sie ihm das schwache Licht!“ wird die Binde abgenommen, die Brüder erheben die
rechte Hand und deuten damit nach oben, der Meister aber richtet das auf dem Altar liegende Schwert auf den neuen
Bruder, worauf alle rufen: „Gott straft den Frevel.“ Alsdann spricht der Meister: „Mein Bruder, Sie sehen hier den
Bund in einer ernst warnenden Gestalt. Möge dieses Bild Ihnen immer und überall lebhaft vor Augen sein, damit Sie
jeder Versuchung, Ihrem Gelübde untreu zu werden, kräftig widerstehen. Der Frevler am Heiligen wird der Strafe
seines inneren Richters nicht entgehen, wenn es ihm auch gelingt, den äußeren zu täuschen.“ Nach einem
Hammerschlage wird die Binde wieder umgelegt, und alle Brüder treten in das Zeichen, worauf der Meister fortfährt:
„Allein, mein Bruder, wir hegen zu Ihnen ein besseres Vertrauen und beten zu Gott, daß er Sie dessen würdig erhalte,
mit dem alten Gebet der Freimaurer.“ Nachdem nun jenes alte, schon in den frühesten englischen Ritualen enthaltene
Gebet gesprochen ist, das in seiner einfachen, schlichten Würde und Innigkeit jedes Herz bewegen muß, werden alle
Lichter der Loge wieder angezündet bzw. wieder enthüllt, die Brüder fassen mit der rechten Hand die linke des
Nachbarn, ebenso die Aufseher die Hände des Neuaufgenommenen, worauf der Meister den letzteren fragt: „Mein
Bruder, verlangen Sie jetzt das Licht?“ Nach Bejahung dieser Frage ruft der Meister: „So geben Sie ihm das starke
Licht!“ Die Binde fällt, und vor dem Altar zuckt eine helle Flamme auf, welche in demselben Augenblick
verschwindet; alle Brüder rufen: „Sie transit gloria mundi !“, worauf der Meister spricht: „Mein Bruder, die Flamme,
die Sie eben gesehen haben, und die im Augenblick ihres Entstehens wieder verschwand, soll Ihnen zu erkennen
geben, daß alle Hoheit und Herrlichkeit dieser Erde vergeht wie sie. Das Licht der Wahrheit aber leuchtet ewiglich,
und in diesem Lichte sind wir innig verbunden durch brüderliche Liebe.“
Es ist nicht zu leugnen, daß bei dem ganzen Akt, wie er sich in den Logen der drei Weltkugeln vollzieht, eine große
Fülle von Gedanken und Ideen zusammengedrängt ist, welche zwar überwältigend wirken müssen, aber von dem
Neuling in ihrer Tiefe kaum erfaßt werden können. Der Gegensatz der Finsternis und des Lichtes wird durch die
beiden Akte scharf hervorgehoben. Bei dem Ungewissen Scheine einer matten Flamme sieht der Suchende die
dunklen Gestalten der Brüder. Sie müssen ihm als Kämpfer erscheinen, welche die Finsternis zu überwinden haben;
ihre ausgestreckten Hände deuten zum Himmel, von wo ihnen Hilfe und Kraft kommen soll. In des Meisters Hand
blitzt ein Schwert, das sich warnend gegen ihn richtet, und das ihn ebenso wie die Worte des Meisters und der Ruf
der Brüder ernst daran mahnt, nicht durch Bruch seines Gelübdes der Finsternis zu verfallen, und ihm die Strafe des
inneren Richters androht. Der zweite Akt aber zeigt den Sieg des Lichtes über die Finsternis. Der trügerische Glanz
und Schimmer, alle Nichtigkeit und Eitelkeit der Welt muß dahin sinken und vergehen in dem Kreise der
Lichtgeweihten, welche eine feste Phalanx durch die Bruderkette bilden, in welche sich der neue Bruder nun
eingereiht findet, um selbst sich dem Kampfe für das Licht anzuschließen und an seinem Siege teilzunehmen.
Sehr viel einfacher und schlichter geschieht die Lichterteilung in den Logen der Großloge „Royal York zur
Freundschaft“. Nach erfolgter Aufnahme durch die drei Weiheschläge auf den Zirkel wird der neue Bruder an die
Pforte des Tempels zurückgeführt, worauf die Brüder die Kette bilden, in welche der neue Bruder, zwischen den
Aufsehern stehend, eingefügt wird, worauf der Meister fragt: „Mein Bruder, was verlangen Sie jetzt noch? Was ist
Ihnen in Ihrem gegenwärtigen Zustande das Wünschenswerteste ?“ Die Antwort lautet: „das Licht“, oder „der
Gebrauch meiner Augen“. Hierauf fährt der Meister fort: „Immer gehe Ihr eifriges Bestreben dahin, Licht zu
erlangen. Was das Licht für die Augen ist, das ist die Wahrheit für den Geist des Menschen. Unwissenheit und
Vorurteil hingegen verhalten sich zur Wahrheit wie Finsternis und Dunkel zum hellen Tage! — Geben Sie dem
treuen, nach Wahrheit suchenden Maurer das Licht!“ Der Meister tut drei gleich starke Schläge, nach dem dritten fällt
die Binde, worauf der Meister spricht: „Brüderliche Vereinigung und Handreichung, aufrichtige Teilnahme und
tätigen Beistand, das ist es, geliebter Bruder, was Sie vom Bunde und von uns erwarten können, und was wir Ihnen
im Lichte der Vernunft und der Weisheit zu leisten stets bereit sein werden, solange in Ihrem und unserem Herzen
Wahrheit, >344< Weisheit und Biedersinn wohnen.“ — Es folgen jetzt erst die drei Lehrlingsschritte über den
Teppich, worauf der Meister dem neuen Bruder die auf dem Altar liegenden drei großen Lichter der Maurerei zeigt:
die Bibel, welche unseren Glauben, das Winkelmaß, welches unsere Handlungen, und den Zirkel, welcher unser
Verhältnis zu unseren Brüdern und Mitmenschen regelt. Ferner zeigt er ihm die drei um den Teppich brennenden
Lichter, welche die kleinen Lichter genannt werden und dazu dienen, den Tag, die Nacht und die Loge zu erleuchten.
Ich muß hier noch die Bemerkung einschalten, daß der Gesang des letzten Verses des Liedes „In diesen heil'gen
Hallen“, welcher sogleich beim Fallen der Binde einsetzt, nicht im Ritual vorgeschrieben, sondern ein besonderer
Gebrauch unserer geliebten Schwesterloge „Immanuel“ und wohl auch anderer zur Royal-York-Lehrart gehörigen
Logen ist.
Wir sehen also hier, daß die Lichterteilung durch einmaliges Abnehmen der Binde geschieht. Es fehlt der Hinweis auf
die Finsternis und den Kampf gegen dieselbe, es fehlt der drohende Ernst der Warnung vor dem Frevel am Licht, es
fehlt die Erinnerung an die Vergänglichkeit der Herrlichkeit der Welt. Jedoch kann man alle diese fehlenden
Momente wohl wiederfinden in dem, was vorhergegangen ist, namentlich in den Reisen, jedoch sind jene Winke
nicht in den Akt der Lichterteilung hineingezogen. Gemeinsam mit dem Ritual der drei Weltkugeln ist hier die Kette
der Brüder, welche der neue Bruder erblickt und in der er sich selbst wiederfindet. Daran knüpft sich aber etwas, was
bei den drei Weltkugeln fehlt: die Verheißung der brüderlichen Vereinigung und Handreichung des Schutzes und
tätigen Beistandes, den der neue Bruder zu erwarten hat, solange er sich dessen würdig zeigen wird. Die Bruderkette,
im Verein mit dieser Verheißung, soll wohl hinweisen auf die solidarische Vereinigung aller derer, welche im Lichte
wandeln, auf den Bund der Menschheit, welche durch das Streben nach Licht und Wahrheit zu einer Einheit werden
soll, also auf das Reich Gottes auf Erden. Eins noch scheint mir von besonderer Wichtigkeit, das sind die drei
starken, gleich langen Schläge, welche der Meister vor dem Abnehmen der Binde tut. Diese Schläge finden sich
sowohl in dem Ritual der drei Weltkugeln als auch in dem unsrigen, aber an anderer Stelle; sie geschehen nämlich
hier wie dort, wenn der Suchende vor der Tür der Loge angekommen ist. Ob diese drei Schläge in den beiden
befreundeten Lehrarten eine besondere Deutung erfahren, weiß ich nicht; bei uns ist dies der Fall, und ich stehe nicht
an, diese, bei uns übliche Deutung hier heranzuziehen. In unserem Fragebuch heißt es: sie bedeuten die drei
Verheißungen der Schrift: „Suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan; bittet, so wird euch
gegeben.“ Es ist hier das ausgesprochen, ohne welches keine maurerische Arbeit und kein Lohn denkbar ist: die
eigene freie Tätigkeit des strebenden Geistes.
Wie geht nun bei uns in der Großen Landesloge die Lichterteilung vor sich? Ehe ich darauf eingehe, muß ich noch
eine Bemerkung vorausschicken. In den beiden anderen Lehrarten wird das Licht erst erteilt, nachdem die Aufnahme
zum Maurer durch die drei Weiheschläge auf den Zirkel vollendet ist. Bei uns ist das anders. Das Gelübde, das den
Suchenden auf ewig bindet, wird vorher abgelegt, aber die eigentliche Weihe, die ihm den Brudernamen verleiht,
erfolgt erst nach der Lichterteilung. Wir begrüßen also denjenigen erst als Bruder, der das Licht in seinem ersten
Aufleuchten bereits geschaut und die letzte Probe bestanden hat, welche in der Bereitwilligkeit besteht, sein Blut mit
dem Blute der Brüder zu vermischen.
Unsere Lichterteilung geschieht folgendermaßen. Nachdem der Meister, wie schon vorhin erwähnt, die Brüder
gefragt hat, ob sie „genehmigen, daß der Leidende das Licht sehe, dessen Schein er von der Stunde seiner Geburt an
bis zu diesem Augenblicke zu benutzen gehindert war“, erklärt der erste Aufseher, als der Vertreter der Brüderschaft
dem Meister gegenüber, den Leidenden des Lichtes für würdig, nach dem er mit Fleiß und Mühe getrachtet hat. Nun
ergeht an die Aufseher das Geheiß des Meisters, den Leidenden das Licht sehen zu lassen, und dieser erblickt,
nachdem die Binde gefallen, alle Brüder mit gezogenen Degen, deren Spitzen auf ihn gerichtet sind; der Meister aber
spricht:
„Mein Herr, alle diese Degen, welche Sie jetzt auf sich gerichtet sehen, deuten Ihnen an, daß wir und alle auf
der Oberfläche der Erde zerstreuten Brüder von nun an bereit sind, Sie zu schützen und zu verteidigen,
solange Sie sich bemühen werden, die Tugenden und Pflichten der Freimaurer-Ritter zu üben. Die Spitzen
dieser Degen deuten Ihnen aber auch die Strafe an, welche Ihr Gewissen an Ihnen Vollziehen wird, wenn Sie
>346< diese Pflichten jemals brechen sollten. Wir hoffen indes, daß Ihr Gewissen nie Gelegenheit haben
werde, solche Strafe an Ihnen zu vollziehen, und in dieser Hoffnung senken wir unsere Degen zum Fußboden
des Tempels.“
Es muß zugegeben werden, daß unsere Art der Lichterteilung etwas Kaltes, Abweisendes, ja beinahe Herbes und
Schroffes hat. Der Suchende erblickt keine Kette der Brüder, die von Osten nach Westen reichend ihn selbst in sich
aufgenommen hat, wie in den beiden anderen Lehrarten; es hat den Anschein, als ob er in diesem höchsten Momente
der Aufnahme noch als ein profaner Eindringling behandelt wird. Und er gehört ja auch dem Orden noch nicht an;
noch hat er die Weihe nicht empfangen, und doch erhält er das Licht und zwar durch die Brüder Aufseher, nicht wie
in den anderen Lehrarten durch den Zeremonienmeister oder irgend einen anderen. Die beiden Aufseher, mit der
Wasserwaage und dem Senkblei geschmückt, sind es, die ihm die Binde lösen, die Aufseher sind aber bei uns
Personifikationen der Vernunft und des Gewissens. Diese beiden Kräfte des Geistes und des Herzens stehen im
Menschen dem Meister gegenüber, dem ewigen Meister, der unnahbar im Osten sitzt, um seiner Stimme zu lauschen,
seine Offenbarungen zu schauen und seine Befehle zu vollziehen. Die Vernunft stellt den Menschen an die Arbeit,
d.h. sie treibt ihn an, Wahrheit zu suchen, dem Göttlichen, von dem sie selbst ein Abglanz ist, nachzugehen und es in
sich auszugestalten; das Gewissen richtet uns, verurteilt oder spricht uns frei und erteilt uns den Lohn, je nachdem wir
gearbeitet haben. Vernunft und Gewissen sind es also, die uns das Licht erteilen; das Gewissen spornt uns an und
treibt uns vorwärts, die Vernunft aber zeigt uns die Offenbarungen des göttlichen Lichtes, enthüllt sie uns, wo sie
verborgen sind, und nimmt so die Binde, mit der unsere Augen gehalten sind, von uns.
Dasjenige nun, was bei uns dem Suchenden bei der Lichterteilung am auffälligsten ist, sind die auf ihn gerichteten
Schwerter. In der Großloge „Zu den drei Weltkugeln“ erblickt er nur das Schwert des Meisters, (Vor noch nicht langer
Zeit führten auch dort alle Brüder bei der Aufnahme Degen, welche sie auf den Suchenden richteten.) ein Sinnbild der strafenden
Gerechtigkeit, das ihn bedroht; in „Royal-York“ kommt das Schwert, trotzdem es auf dem Altar liegt, gar nicht zur
Wahrnehmung; bei uns dagegen, die wir an dem ritterlichen Charakter unserer Verbindung festhalten, ist das Schwert
in der Hand eines jeden Bruders. Das Schwert in unseren Händen ist eine Waffe des Lichtes; das Licht, das wir als
Maurer empfangen haben, soll von uns ausgehen wie die blitzende Klinge aus unserer Hand; mit ihr lernen wir
kämpfen, ohne Haß und Rachedurst, für die große gemeinsame Sache des göttlichen Lichtes und der Wahrheit. Wenn
wir aber die Schwertspitzen gegen einen Suchenden richten, so wollen wir töten in ihm, was finster und unheilig ist,
aber auch zugleich in ihm erwecken, was dem Lichte und dem Leben angehört. In dem Umstand aber, daß nicht nur
der Meister allein sein Schwert auf ihn richtet, sondern alle Brüder, erkennen wir einen Hinweis darauf, daß es die
Pflicht eines jeden Bruders ist, nicht nur mit dem Aufzunehmenden, sondern mit allen in eine solche Wechselwirkung
geistigen Verkehrs zu treten, in welcher das der Finsternis Angehörende niedergeworfen, das dem Lichte Verwandte
aber befreit und aufgerichtet wird. Heil jedem Bruder, der es vermag, die Lichtstrahlen, die ihm aus seinen Brüdern
entgegenkommen, zu sammeln und in einen leuchtenden Stern zusammenzufassen! So wird das innige, geistige Band
zum Ausdruck gebracht, das jeden Bruder mit allen anderen verbinden soll, und das dann bei uns viel später in der
Kette seine Erfüllung findet. Mit dem noch nicht durch die drei Schläge Aufgenommenen können wir auch noch nicht
in die Kette treten, vollends nicht, wenn wir die Hand am Schwert haben; wir können es erst, wenn die
Schwertspitzen sich gesenkt haben und Friede nach Kampf und Prüfung eingekehrt ist. So wird auch erklärt die
Deutung, welche unser Fragebuch den auf den Suchenden gerichteten Schwertern gibt; es heißt dort, sie bedeuten
Einigkeit und Gerechtigkeit (Erb., Abt. V, Fr. 36); und an einer anderen Stelle heißt es:
„Weshalb bedienen sich die Brüder der Degen in der Loge?“
„Zur Erinnerung an den Wiederaufbau der Mauern Jerusalems.“
(Frgb., Abt. III, Art. 3, Fr. 11.)
Es wird erzählt, daß die Israeliten, als sie, heimgekehrt aus dem babylonischen Exil, sich daran machten, ihre
zerstörten Heiligtümer wiederherzustellen, mit der Kelle in der einen und mit dem Schwerte in der anderen Hand an
die Arbeit gingen, da sie gezwungen waren, den vielfachen Feinden, welche sie an ihrem Werke hindern wollten,
>348< mit der Waffe zu begegnen. So baut auch der Maurer an seinem Heiligtum, so baut er in Gemeinschaft mit
seinen Brüdern und hat sein Schwert gezückt gegen alles, was nicht nur von außen in den heiligen Kreis als störendes
Element eindringen will, sondern auch gegen das, was sich im Innern regt, um mit Finsternis und Zwietracht den Bau
zu hemmen.
Und so können wir alles das, was bei den anderen Lehrarten bei der Lichterteilung zum Ausdruck kommt, den
Gegensatz zwischen Finsternis und Licht, den Kampf, den beide miteinander kämpfen, Warnung, Verheißung,
Vereinigung in brüderlicher Liebe und gegenseitiger Hilfe für eine große Idee, aus unseren auf den Aufzunehmenden,
gerichteten Schwertern heraus erkennen.
Nun sollte ich aber erst zur eigentlichen Hauptsache kommen, nämlich zu der Erklärung der Lichtsymbole, die der
Suchende beim Abnehmen der Binde entweder sogleich erschaut, oder die ihm später beim Unterricht gewiesen
werden. Da sich das aber nicht mit zwei Worten abmachen läßt, zumal dies eins der schwierigsten und
vielumstrittensten Gebiete unserer Symbolik ist, so verschiebe ich die Besprechung dieser Dinge auf eine unserer
demnächstigen Lehrlingsarbeiten, indem ich mich für heute mit der Betrachtung der Handlungen bei der
Lichterteilung begnüge.
Ich würde hocherfreut sein, wenn es mir gelungen wäre, einen kleinen Beitrag zu der Erkenntnis zu liefern, daß
unsere Lehrarten — nicht nur unsere, sondern alle — derselben Quelle, demselben großen maurerischen Gedanken
entsprungen sind und demselben einigen und unveränderlichen göttlichen Lichte dienen wollen. Von Herzen wünsche
ich aber, daß diese Erkenntnis in allen Gliedern wachsen möge, auf daß durch sie Friede, Eintracht und brüderliche
Liebe verbreitet werde. (1901.)
Die Lichterteilung.
Zweiter Vortrag.
Der Suchende schaut, wenn die Binde fällt, das Bild der Weltenloge, ja, er befindet sich mitten darin. Aber die Loge
würde ihm dunkel bleiben, wenn sie nicht durch Lichter erhellt wäre. Das sind die drei Lichter, welche auf dem Altar
brennen, und die drei großen Kerzen, welche in derselben Anordnung wie die Altarlichter die Arbeitstafel in der
Mitte der Loge umgeben. Alle anderen Beleuchtungsvorrichtungen haben für uns keine Bedeutung; sie dienen nur zur
Aushilfe, weil durch die Altarlichter und durch die Teppichlichter der Raum der Loge nur ungenügend erhellt sein
würde.
In den meisten maurerischen Systemen werden diese drei Lichter, sowohl die auf dem Altar als auch die um die
Arbeitstafel stehenden, mit jenen drei Pfeilern zusammengebracht, auf denen unsere Arbeit ruht, und als Weisheit,
Stärke und Schönheit gedeutet. Man findet sogar vielfach die Altarleuchter sowohl wie die großen Kandelaber in der
Mitte der Loge als drei Säulen dargestellt, und zwar in den drei vornehmsten Ordnungen der griechischen Baukunst,
der dorischen, ionischen und korinthischen, welche eben Weisheit, Stärke und Schönheit versinnbildlichen sollen.
Wenn es nun auch einleuchten mag, daß die dorische Säule in ihrer untersetzten, gedrungenen Schlichtheit als Bild
der Stärke, und die korinthische Säule in ihrem schlanken Ebenmaß mit ihrem reich entwickelten und verzierten
Kapital als Bild der Schönheit gelten kann, so bleibt für die Weisheit die ionische Säule übrig, jedoch ist es
schlechterdings nicht einzusehen, wie gerade diese Säule zu der Bedeutung der Weisheit kommen soll. Es ist dies
Heranziehen der drei Säulenordnungen ebenso mißlich wie das Bestehen auf einer gewissen Reihenfolge unserer
maurerischen Trias. Ich sollte meinen, es ist ziemlich gleichgültig, ob ich sage: „Weisheit, Stärke, Schönheit“, —
oder: „Weisheit, Schönheit, Stärke“, — oder: „Stärke, >350< Weisheit, Schönheit“. Die drei Eckpunkte eines
gleichseitigen Dreiecks bedingen einander, und jeder grenzt mit den beiden anderen. So ist es auch hier. Eine kann
ohne die beiden anderen nicht sein und wird durch sie bedingt; Weisheit hat stets Stärke und Schönheit in sich, sonst
wäre sie kraftlos und wertlos; Stärke ohne Weisheit wird zur blinden Gewalt und ohne Schönheit zur Hoheit;
Schönheit aber ohne Weisheit bleibt oberflächlich und gehaltlos, ohne Stärke schwächlich und hinfällig.
Diese Abschweifung war notwendig, weil nicht nur in anderen Lehrarten beim Aufpflanzen der Kerzen durch die
Sprüche des Meisters und der Aufseher: „Weisheit leite unseren Bau! Stärke führe ihn aus! Schönheit ziere ihn!“ die
drei Lichter mit den drei, die Arbeit stützenden Pfeilern zusammengeworfen werden, sondern weil das auch bei uns in
gewissem Sinne geschieht, nämlich bei der Lichteinbringung in eine neu zu errichtende Loge und bei der Erneuerung
des Lichtes am Johannisfest. In beiden Akten werden im Vorzimmer die drei Altarkerzen an einer Lampe entzündet
und durch die unzweideutigen Worte des Rituals ausdrücklich mit „Licht der Weisheit“, „Licht der Stärke“ und
„Licht der Schönheit“ bezeichnet; ebenso bei dem erstmaligen Anzünden der Teppichlichter in einer neu
einzuweihenden Loge. Diese Rituale zur Lichteinbringung haben aber mit unseren alten uns überlieferten Akten
nichts zu tun. Sie sind erst später verfaßt worden und meines Wissens seit etwa 50 Jahren im Gebrauch. Unsere alten
Überlieferungen kennen diese Bedeutung der drei Lichter gar nicht, und die neueren Akten, nach denen wir heute
arbeiten, ebensowenig. Das aber muß für uns maßgebend sein, was sie uns über die Bedeutung der drei Lichter
lehren, nicht das, was eine spätere Zeit und was andere Lehrarten hineingebracht haben, obschon man auch die
Identifizierung der drei Lichter mit den drei Säulen wohl gelten lassen kann. Sie hat im Laufe der Jahrzehnte
gleichsam das Bürgerrecht bei uns gewonnen.
Ehe ich auf die Bedeutung der drei Lichter eingehe, möchte ich noch folgendes bemerken. Die englischen Rituale und
mit ihnen die der humanitären Logen kennen drei große und drei kleine Lichter. Die drei großen Lichter sind: Bibel,
Winkelmaß und Zirkel. Sie gelten dort als die drei vornehmsten unveränderlichen Hauptsymbole der Freimaurerei.
„Die Bibel“, heißt es, „regelt unseren Glauben, das Winkelmaß unsere Handlungen und der Zirkel unser Verhältnis
zu unseren Nebenmenschen.“ Die drei kleinen Lichter — und das sind eben die in der Loge brennenden drei Kerzen
— bedeuten die Sonne, den Mond und den Meister der Loge; „denn“ — so lautet die Erklärung — „wie die Sonne
den Tag, und der Mond die Nacht regiert, so regiert auch der Meister seine Loge, oder sollte es wenigstens.“
In unserer Lehrart finden wir Bibel, Winkelmaß und Zirkel, welche überall vereinigt auf dem Altar liegen. Sie sind
unsere Hausgeräte und Werkzeuge, und unter ihnen findet sich allerdings ein großes Licht, „ja, das größte von allen
Lichtern“, wie es heißt; das ist die Bibel oder die heilige Schrift. Dieses allergrößte Licht aber schaut der Suchende
bei seiner ersten Lichterteilung noch nicht; es geht ihm erst auf, wenn er anfängt, mit maurerisch erleuchtetem Sinn in
der Schrift zu suchen. Das erste, was er schaut, wenn auch noch unverstanden, sind die drei Lichter der Loge; und
zwar werden sie nicht wie in den anderen Logen, kleine, sondern große Lichter genannt. Kleine Lichter kennt unsere
Lehrart nicht. Diese drei großen Lichter erblicken wir sowohl auf dem Altar als auch inmitten der Loge um die Tafel
gestellt. Diese werden an jenen angezündet und müssen daher dasselbe bedeuten. Daß die Altarlichter unverändert
brennen und nur am Johannisfest erneuert werden, daß ferner die Teppichlichter bei Eröffnung jeder Loge neu
entzündet werden und am Schluß verlöschen, hat seinen guten Grund, wie wir sogleich sehen werden. Zu bemerken
ist noch, daß unsere ältesten, sog. Eckleffschen Akten die drei Teppichlichter gar nicht zu kennen scheinen;
wenigstens wird in unserem ältesten Eröffnungs- und Schlußritual eine Anzündung von Kerzen gar nicht erwähnt, so
daß es den Anschein hat, als wenn dieser Gebrauch erst durch die Nettelbladtsche Aktenredaktion eingeführt worden
ist, welche, wie wir annehmen müssen, auf alten Überlieferungen beruht.
Was bedeuten nun die drei großen Lichter, und was sagen unsere Akten darüber? Unser Fragebuch spricht sich
darüber folgendermaßen aus:
„Was sahen Sie, als Sie Ihr Gesicht wiedererhielten ?“
„Drei große Lichter und alle Brüder mit gezogenen Degen.“
„Was bedeuten die drei großen Lichter?“
„Die Sonne, den Mond und den Meister.“
„Woher haben sie die Bedeutung?“
„Weil, so wie die Sonne den Tag regiert und >352< der Mond die Nacht erleuchtet, so regiert und
erleuchtet der Meister die Loge durch seinen weisen Rat und sein eigenes Vorbild.“
(Frgb., Abt. V, Fr. 33 bis 35.)
Man hat gemeint, diese Stelle sei dunkel und schwer verständlich. Ich will das gern zugeben. Damit aber kann ich
mich nicht einverstanden erklären, daß, wie einige wollen, darum diese Deutung der Lichter beseitigt und Weisheit,
Stärke und Schönheit an ihre Stelle gesetzt werden.
Zunächst ist zu bemerken, daß wir ganz fehlgehen würden, wenn wir jedes einzelne Licht für sich mit jenen
Bedeutungen in Verbindung bringen wollten. Welche von den drei Kerzen sollte dann wohl die Sonne, welche den
Mond und welche den Meister bedeuten? Das Licht, das von ihnen ausstrahlt und die Loge erleuchtet, dieser helle
Schein ist es, der uns Sonne, Mond und Meister bedeutet. Wie das zusammenhängt, wird uns am besten klar werden,
wenn wir uns erinnern, daß die Loge ein Bild der Welt vorstellen soll, der Welt, wie sie dem Menschen, dem die
Binde des Vorurteils, des Wahns und des Irrtums von den Augen genommen ist, dem Menschen, der durch Reinigung
und Veredlung zum Lichte und zur Wahrheit zu gelangen sucht, erscheint. Dem profanen, unerleuchteten, durch
Begierden und Leidenschaften, durch Hochmut und Überhebung verdunkelten Sinne erscheint die Welt als seelenlose
Maschine, als ein Kampfplatz wilder Triebe, als ein Schauplatz, wo der blinde Zufall waltet. Dem maurerisch
Erleuchteten stellt sie sich dar als ein herrlich geordnetes Ganzes, durchflutet von göttlichem Lichte. In diesem Lichte
erblickt der Suchende, wenn die Binde fällt, die Weltenloge. Er steht im Westen, wo er gleichsam zum maurerischen
Lichte geboren ward, und läßt seine Blicke hinüber schweifen nach Osten. Osten, der Sitz des Lichtes, von wo die
leuchtenden Gestirne heraufkommen, ist das Ziel seiner Sehnsucht. Dazwischen liegt rechts Süden und links Norden.
Zwischen ihm und dem ewigen Lichte liegt Süd und Nord des Lebens. Das sind die Gegensätze des
Menschendaseins, die sich polar gegenüberstehen, die ausgeglichen, verstanden sein wollen. Dazu dienen die
Gleichnisse der Sonne und des Mondes, die der Lehrling später auf seiner Arbeitstafel wiederfindet, die Sonne im
Süden, den Mond im Norden. Sie schuf des allmächtigen Meisters Hand als die beiden Leuchten des Tages und der
Nacht. Die Sonne zeigt uns des Lebens Glanz und Fülle. Ihre erwärmenden und belebenden Strahlen rufen unzählige
Keime zum Leben und zur Entwicklung. In verschwenderischer Fülle breitet sich aus über die Erde, was in ihrem
Lichte gereift ist. Da ist überall ein frohes Treiben, ein sich Entfalten und Vorwärtsstreben. Das ist des Lebens Süden
mit seiner Pracht und Herrlichkeit. Aber das Leben hat auch seine Nordseite, wo Finsternis und Kälte herrscht, wo
der Fülle und Pracht das Unzulängliche, Dürftige, dem üppig sich entwickelnden Leben eine Hemmung dieser
Entfaltung, wo der Freude, der Begeisterung, dem Mut und der Kraft der Schmerz, die Verzagtheit, die Sorge und
Schwäche gegenübersteht. Das ist des Lebens Norden, seine Nachtseite. Aber so wie in die lange Polarnacht das
milde Licht des Mondes fällt, der gerade dann, wenn die Sonne den arktischen Regionen ihren Schein versagt, am
höchsten am Himmelsbogen heraufsteigt, so ist auch die Nordseite des Menschenlebens nicht ohne Licht. Das Licht
der helfenden Liebe, des Erbarmens, des Trostes und der Verzeihung fällt wie milder Mondesschimmer hinein auch
in die tiefsten Tiefen des Elends und der Verzweiflung. Ja, der große Meister schuf die Leuchten des Tages und der
Nacht. Aber er hat sie uns an den Himmel gesetzt, nicht bloß darum, damit wir ihren Lauf berechnen und ihre
Beschaffenheit ergründen, sondern auch als Gleichnisse, aus denen heraus wir seine Liebesfülle erkennen sollen, die
in Höhen und Tiefen, in Süd und Nord lebendig und wirksam ist, und hinter denen wir ihn selbst finden sollen, ihn,
der zwar den Staubgeborenen unnahbar, aber dennoch spürbar und erkennbar ist denen, die ihn suchen. Ja, es sind
seine Gleichnisse, Sonne und Mond, denn es heißt ausdrücklich:
„So wie die Sonne den Tag regiert und der Mond die Nacht erleuchtet, so regiert und erleuchtet der Meister
die Loge...“
Daß hier nicht der Sterbliche gemeint ist, den die Wahl der Brüder an die Spitze der Loge gestellt hat, leuchtet ein,
sonst hätten unsere Akten gesagt Meister der Loge oder Meistermaurer, wie es in den englischen Ritualen, oder
Meister vom Stuhl, wie es in anderen Systemen heißt. Hier bei uns wird gesagt: der Meister, und das ist allemal der
ewige Meister, der im Osten seinen Sitz hat und die Weltenloge erleuchtet und regiert, derselbe Meister, auf den uns
schon das Eröffnungs- und Schlußritual der Loge hinweist. Diese Auffassung, daß unser Ritual hier den ewigen
Meister meint, ist in neuester Zeit bestritten worden. Aber ich kann dem geliebten Bruder nicht Recht >354< geben,
wenn er behauptet, daß die Verlegung des Sitzes, des ewigen Meisters in den Osten sich nicht mit der Allgegenwart
Gottes verträgt, und daß hier nur der sterbliche Logenmeister gemeint sein kann. Osten ist hier keine Himmelsgegend
im irdischen Sinne, sondern etwas Transzendentales, etwas, das über irdische Begriffe, über Raum und Zeit
hinausgeht. Es ist eben der ewige Osten gemeint, der nicht räumlich ermessen werden kann, und ebenso haben
demgegenüber die Aufseher, d.h. Vernunft und Gewissen, im Westen ihre Stellen, gleichviel, in welcher
Himmelsgegend sie sich auf Erden befinden. Sie befinden sich immerdar im Westen, d.h. im Irdischen, von wo aus
alles Streben zum Ewigen ausgehen muß. Der Logenmeister hat seinen Sitz im Osten der irdischen Loge; der ewige
Meister hat seinen Sitz im ewigen Osten, in einem Lichte, da niemand zukommen kann. Der irdische Logenmeister
regiert und erleuchtet seine Loge, „oder sollte es wenigstens“, wie die englischen Rituale hinzusetzen; der ewige
Meister erleuchtet und regiert die Weltenloge, den großen Tempel des Universums, den er sich selbst in Weisheit,
Stärke und Schönheit zur Wohnung errichtet hat.
Er selbst ist das Licht für die strebenden und ringenden Geister, die sich zu ihm wenden. Wenn er auch seines vollen
Lichtes Fülle ihnen nicht weist, so läßt er sie doch sein Licht ahnen und erfüllt sie mit Glauben an dasselbe. Er lehrt
zunächst durch Gleichnisse; Sonne und Mond haben uns das gezeigt; dann aber sollen die, die sich gereinigt und
veredelt haben, sein Licht schauen ohne Schleier und Hülle; sie sollen den Meister erkennen von Angesicht zu
Angesicht, wie da verheißen ist: „Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Und so lernen
wir Freimaurer im Glanze der drei Lichter den Meister schauen, der sich uns hinter den Gleichnissen der Sonne und
des Mondes verbirgt.
Aber — könnte man meinen — sollte nicht doch in der angezogenen Stelle unseres Fragebuches der irdische
Logenmeister gemeint sein?, heißt es ja doch, „er erleuchtet und regiert die Loge durch seinen weisen Rat und sein
eigenes Vorbild.“ Nun wohl! Diese Auffassung mag niemandem verwehrt sein; mag auch jeder Meister, dem die
Leitung einer Loge anvertraut ist, darin seinen hohen Beruf und seine große Verantwortlichkeit erkennen, die ihn
immer wieder daran mahnt, sein Leben tadellos zu führen. Aber jene Worte müssen sich ebenso gut auf die ewige
Loge und den ewigen Meister beziehen; denn regiert er nicht die Welt durch die Allweisheit seiner Gesetze? Hat je
ein frommes, ihm ergebenes Herz sich vergebens an ihn gewendet, wenn es seinen Rat brauchte ? Gewiß nicht! Er
vermag denen die Wege zu weisen, die da wollen den Willen des Vaters tun. — Und sein Vorbild? — Freilich,
niemand hat Gott selbst jemals gesehen; aber hat er uns nicht das Vorbild gesandt, dessen Fußstapfen wir nachfolgen
sollen? Hat er nicht einen sterblichen Menschen mit der ganzen Fülle seiner unendlichen Liebe ausgerüstet, so daß
seine Kraft und sein Licht durch Äonen wirksam ist und bleiben muß, Erlösung und Heil bringend überall da, wo sein
Bild in die Herzen der Menschen Eingang findet? Ja, das ist sein Vorbild, das ist der Meister, der die Loge erleuchtet
und regiert, auf den Johannes der Täufer hinwies, und der auch unser Licht und Leben ist. — — —
Das ist die Bedeutung des Scheines der drei Lichter, von welchen wir die Loge erhellt sehen. Die Worte Sonne,
Mond und Meister erinnern uns an das Licht, das unsern Lebenspfad von nun an erleuchten soll, und so werden wir
imstande sein, die großen Gedanken, die sich an unsere drei Lichter knüpfen, mit einem Schlage uns ins Gedächtnis
zurückzurufen. — Beim Schluß der Loge erlöschen die drei großen, um die Arbeitstafel brennenden Kerzen. Das soll
uns daran erinnern, daß in der Welt, wo das Licht noch mit der Finsternis ringt, seine Erkenntnis wandelbar ist, daß es
ebenso oft zu erlöschen droht, wie es hell aufflammt. (In Schweden werden, um diesen Gedanken hervorzuheben, die Flammen der
drei Teppichlichter durch eine Vorrichtung zum hellen Aufleuchten gebracht, wobei (wie in den 3 Wk.) die Brüder rufen: „Sie transit gloria
mundi!“ Dieser Gebrauch ist in unsere Akten nicht übergegangen und gehört dem System der strikten Observanz an. Er scheint mir in jener Zeit
übernommen zu sein, als in Schweden der Versuch gemacht wurde, unsere Akten mit denen der strikten Observanz zusammenzuarbeiten. Ihn bei
uns anzunehmen, erscheint mir überflüssig, da durch das Entzünden bei Öffnung und Verlöschen der Kerzen beim Schluß der Loge das, was zum
Ausdruck kommen soll, genügend hervorgehoben wird. ) Aber hier auf dem Altare werden wir, wenn wir zur Arbeit eintreten,
die drei Kerzen stets brennend finden, denn die göttliche Wahrheit kann nicht aus der Welt verschwinden. Es gibt
einen Herd des Lichtes, ein Heiligtum der Menschheit, von wo immer wieder von neuem die Erleuchtung kommen
muß. Das sagen uns die stetig brennenden Altarlichter. Und wenn einmal im Jahre, am Johannisfest, diese Altarlichter
von neuem entzündet werden, so will das sagen, daß auch die Loge eine menschliche Institution ist, die der
Erneuerung bedarf. (1901.) >356<
Blutmischung und Weihe.
Nicht bloß für diese Zeitlichkeit ist das Bündnis geschlossen, welches der Aufzunehmende mit uns und dem ganzen
Orden eingeht —, es soll dieses Erdenleben überdauern und bestehen bleiben, wenn die irdische Hülle abgefallen ist
und das reinere Licht, nach dem wir hier im dunklen Erdentale streben, uns umgibt. Die Freimaurerei ist die Kunst,
die Geister zu befreien, die irdischen Fesseln abzustreifen und die Binde zu lösen, mit welcher unsere Augen bei
unserm Erdenwandel gehalten sind. Alles Leid, das in der Welt ist, aller Hader und Streit, aller Haß und Verfolgung
kommt daher, daß der Menschen Augen gehindert sind, das wahre Licht zu sehen, das ihren Weg erleuchten soll; die
Geister können nicht zueinander, Schranken sind zwischen ihnen, bergehoch. Sie können einander nicht verstehen;
sie leben nebeneinander hin, reiben sich und stoßen sich aneinander und sind doch berufen, vereinigt zu sein auf dem
Wege zum Ewigen. In jedes Menschen Herz lebt etwas Reines, Heiliges, Göttliches; aber es ist nicht frei, es ist
gebunden durch das Irdische; Leidenschaften und Begierden halten es nieder; Irrlichter lenken es ab vom rechten
Wege. Die Freimaurerei aber sucht, die Schranken niederzureißen, sie will die Geister befreien und vereinigen auf
dem gemeinsamen Wege nach oben zur ewigen Gottheit, von der sie stammen.
Wie dies geschieht, davon gibt uns schon die Lehrlingsaufnahme ein Bild. Wenn wir uns die aufeinanderfolgenden
Akte derselben vergegenwärtigen, dann erkennen wir, wie alles diesem einen Zwecke dient. Nachdem ich in einer
ganzen Reihe von Vorträgen diese Aufnahmegebräuche zu erläutern versucht habe, möchte ich heute damit den
Schluß machen und auf den letzten Akt der Aufnahme, die Blutmischung und die Weihe, etwas näher eingehen.
Beides muß zusammen betrachtet werden, denn die Blutmischung geschieht gewissermaßen erst durch die drei
weihenden Hammerschläge auf den Zirkel, den der Suchende sich selbst auf das Herz setzt.
Nachdem der Suchende den mühevollen, prüfungsreichen Weg von der dunklen Kammer bis zum Altar vollendet hat,
wird er durch ein feierlich abgelegtes Gelübde mit dem Orden für Zeit und Ewigkeit verbunden. Danach hat der
Orden ihn als sein Eigentum in Anspruch genommen und ihn mit seinem Siegel versehen. Salomos Siegel, wie wir es
nennen, wurde auf seine Zunge gedrückt. Nachdem dies geschehen, konnte ihm das Licht erteilt werden, ein Sinnbild
des ewigen Lichtes, das wir suchen. Aber trotzdem war er noch nicht aufgenommen und konnte auch noch nicht mit
dem Brudernamen angeredet werden. Dies wurde abhängig gemacht von seinem freien und männlichen Entschluß,
sein Blut mit dem Blute der Brüder zu vermischen. So wie der Orden sein Siegel auf den Leidenden gedrückt hatte,
so mußte dieser nun auch das seinige unter den Vertrag drücken, der im Heiligtum geschlossen wurde, und das ist
eben der Entschluß, sein Blut mit dem Blute der Brüder zu vermischen. Unsere erklärenden Akten fassen diesen Akt
ausdrücklich als eine Besiegelung auf, indem sie sagen: es geschehe dies,
„um von der Standhaftigkeit des Suchenden versichert zu werden, und die Bereitwilligkeit, seine
eingegangene Verpflichtung und unauflösliche Vereinigung mit den Brüdern sowie die unverbrüchliche
Pflicht
zum Beistande der Brüder, zur Verteidigung der Wahrheit, zur Aufrechterhaltung des Ordens Blut
und Leben nicht zu schonen, zu besiegeln.“ (L. B. II, Beil., S. 40.)
Und in unserm Lehrlingsfragebuch heißt es:
„Was begegnete Ihnen, nachdem Sie den Gebrauch Ihrer Augen wiedererhalten hatten?“
„Man führte mich abermals zum Altar, um mein Versprechen mit meinem Blute zu
besiegeln.“ (Fragebuch Abt. V, Fr. 37.)
Die Zeremonie der Blutmischung reicht hinauf bis in die fernsten Zeiten des Altertums. Wir finden sie bei asiatischen
Völkerstämmen ebenso wie bei unsern germanischen Vorfahren. Sie galt entweder als >358< Bekräftigung der
Heiligkeit eines Eides, indem man sagte, daß das Blut, das jetzt in Tropfen geflossen sei, in Strömen verspritzt
werden sollte, wenn ein Meineid geschworen sei, oder sie galt als ein Zeichen der innigsten Freundschaft und
Seelengemeinschaft. Man ließ das Blut entweder in die Erde unter ein Stück ausgehobenen Rasens oder in die
gemeinsamen Fußspuren rinnen, auch fing man es in einem Trinkgefäß auf, mischte es mit Wein oder Met, um es
dann gegenseitig zu genießen. Indem so einer des andern Blut in sich aufnahm, sollte dadurch ausgedrückt werden,
daß zwischen den Trinkenden das Band der Blutsverwandtschaft geknüpft sei, das durch Not und Tod nicht zerrissen
werden sollte.
So ist denn dieser alte Gebrauch in seiner tiefen Bedeutsamkeit auch in unsern Orden gekommen, und drei Ideen sind
es, welche dadurch zum Ausdruck gelangen. — Der Orden braucht 1. keine Knechte und Sklaven, sondern freie
Männer, die mit wohlüberlegtem Willen sich ihm weihen; der Orden braucht 2. Kämpfer, denen die hohen Güter,
nach denen er streben lehrt, alles sind, und die in voller Hingabe bis zum Opfer ihrer selbst sich ihm zu eigen geben,
und endlich 3. braucht der Orden Glieder, die nicht in losem Zusammenhang ihm angehören, sondern unauflöslich
und untrennbar bis in den Tod mit ihm verbunden sind.
Die Einwilligung, sein Blut mit dem Blute der Brüder zu vermischen, mußte der eigene freie und männliche
Entschluß des Leidenden sein. Er war zwar als Suchender und dann als Anhaltender bezeichnet worden, aber obwohl
beide Worte eine Tätigkeit bezeichnen, konnte er nicht viel mehr tun, als das, was an ihn herantrat, mit verlangendem
Herzen aufnehmen; denn seine Augen waren durch die Binde gehalten, und ein unbekannter Führer mußte seine
zagenden Schritte lenken. Endlich aber hatte er das Licht nicht nur wiedererhalten, sondern ein neues Licht war ihm
aufgegangen, als die Binde fiel, und in dem Scheine dieses neuen Lichtes sollte er nun selbständig und in Freiheit
handeln. Und die erste Handlung im maurerischen Lichte war, daß er die Zirkelspitze sich selbst auf das Herz setzte
und sein Blut hinzugeben sich bereit zeigte. Wenn auf des Meisters Geheiß ihm des Ordens Siegel dort im Westen
aufgedrückt ward, so verhielt er sich dabei vollkommen passiv und wußte nicht, was das zu bedeuten hatte; nun aber,
da er in vollkommener Freiheit des Willens sein eigenes blutiges Siegel unter den Vertrag setzen sollte, den der
Orden mit ihm geschlossen hatte, da war er aktiv geworden und vollbrachte im Bilde mit freiem Willen die höchste
und herrlichste Maurertat.
Und doch war er auch wiederum leidend. Als Leidender war er auf der letzten Station der Aufnahme bezeichnet
worden und hatte Prüfungen zu bestehen gehabt. Die letzte und schwerste Prüfung aber stand noch aus; das war das
Opfer seiner selbst, seine selbstverleugnende Hingabe an die Idee des Ordens, was durch die Blutmischung
bezeichnet wurde. Wir preisen laut die kühne Tat des braven Mannes, der, um das Leben eines Mitmenschen zu
retten, nicht zurückschreckt vor Feuerflammen und Wasserwogen und mutig sein Leben daransetzt; wir flechten
Lorbeerkränze dem Krieger, der auf der Wahlstatt sein Blut mit dem seiner Kameraden vermischt hat für die Freiheit
und Ehre des Vaterlandes. Aber es gibt noch ein höheres Opfer: der allein bringt es, der sein ganzes Leben lang bereit
ist, die Wahrheit und die Freiheit höher zu achten als sein eigenes Selbst. Jene Taten bei Gefahren und auf
Schlachtfeldern werden oft in einer Art von Rausch vollbracht. Wenn's im Sturmschritt vorwärts geht, denkt der einzelne kaum an die Gefahr, der Mut der Kameraden an seiner Seite reißt ihn mit fort. Aber ein anderes ist es, in jedem
Augenblicke mit kaltem Blute in freiem männlichen Entschluß der Hingebung im Dienste des Ordens zu stehen, des
Ordens, d.h. der Vereinigung, die die höchsten Güter der Menschheit zu bewahren, zu schützen und zu mehren
bestrebt ist. Wie viele Widerstände gibt es da zu überwinden, wie viele Kämpfe zu bestehen, wie viele Wunden
werden da empfangen, wie viele Schmerzen sind da zu ertragen. Noch mehr Schwerter, als dem Leidenden entgegen
starren, wenn die Binde fällt, sind auf den treuen Kämpfer für Wahrheit und Freiheit gezückt, aber nicht Lichtwaffen
wie jene, sondern Waffen der Finsternis, die schärfer verwunden als stählerne Klingen. Heil dem, der in solchem
Kampfe ausharrt, Heil dem, der in seiner Liebestat sein Selbst hingibt an die große heilige Sache des Ordens! An ihm
erfüllt sich das Wort des Obermeisters: „Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser
Welt hasset, der wird es erhalten zum ewigen Leben.“ (Joh. 12, 25.) Den Lohn, den ihm die Welt, die ihn verkannte
und verlästerte, vorenthalten hat, empfängt er schon hier durch den Frieden seines Herzens, das sich bewußt ist, das
Rechte gewollt zu haben, und er wird ihn einst dort in höchster Vollendung empfangen im Reiche der ewigen Liebe,
in deren Dienst er gekämpft und gelitten. — Bei der Aufnahme in den Orden >360< wird das Blut des Leidenden in
Wirklichkeit nicht verlangt. Sein freier und männlicher Entschluß, es herzugeben, gilt uns für die Tat selbst. Möge er
aber stets dieses Augenblickes eingedenk sein und nie vergessen, daß jeder Tag seines Lebens ihn bereit finden soll
zu opferfreudigen Taten.
Und nun das Letzte und Herrlichste, das uns die Blutmischung ausspricht: die Idee der Vereinigung. Auf der
Tafel, welche vor uns am Boden liegt, finden wir ein Symbol, welches Vereinigung bedeutet, es ist das oben im Osten
sichtbare, mit Franzen gezierte und in Knoten geschlungene Seil, das sog. Vereinigungsband. Für heute nur soviel,
daß es den Zusammenhang bedeutet, der zwischen allen Dingen besteht, das Band, welches der große Meister
um alle Glieder seiner Schöpfung geschlungen hat. Der vernunftbegabte Mensch erkennt dieses Band nicht nur,
sondern er weiß es auch selbst zu schlingen, indem er sich mit seinen Menschenbrüdern in Liebe und Freundschaft
verbindet. Diese Aufgabe wird aber im höchsten Sinne erst gelöst durch den Akt der Blutmischung. Die Schale,
welche dem Leidenden vorgehalten wurde, in die sein Blut fließen sollte, heißt darum auch die Vereinigungsschale.
Wer in opferfreudigem Mute bereit ist, sein Blut hinzugeben und sein Selbst daranzusetzen für die ewige Idee, der
vereinigt sich durch das festeste innerste Band mit allen denen, die vor ihm und mit ihm für die Wahrheit geblutet
und gelitten haben; er wird ihr Blutsverwandter, ihr Bruder. Darum konnte der Leidende auch nicht eher zum
Bruder aufgenommen werden, als bis er seine Bereitwilligkeit gezeigt hatte, sein Blut herzugeben. Mögen wir daraus
erkennen, daß zwar viele den Brudernamen tragen, daß aber nur die in Wahrheit Brüder sind, welche sich dem Orden
ganz hingeben. Bei allen denjenigen, welche wir als Mitglieder des Ordens empfangen und begrüßen, sollen wir das
voraussetzen. Wenn wir aber auch die Erfahrung machen sollten, daß zwischen manchen Gliedern dieses innerste
Band noch nicht so fest geknüpft ist, wie es sein sollte, so dürfen wir darum nicht nachlassen, müssen vielmehr um
so eifriger bemüht sein, unsere eigene Hingabe zu betätigen. Denn davon hängt nicht nur das Heil und Gedeihen
der Loge, sondern auch des Ordens ab, für welches wir, seitdem wir seine Mitglieder sind, einen Teil der
Verantwortung tragen. Und noch mehr. Die Liebe und Hingebung, die wir unsern Brüdern zu erweisen haben, soll für
uns eine Schule sein, in der wir lernen, sollen, allen Menschen das Schönste zu geben, was wir in unserer Brust
tragen. In den Adern aller Menschen fließt dasselbe Blut. Mag die Annahme eines einzigen Stammvaters des
Menschengeschlechts wissenschaftlich erwiesen sein oder nicht, das Eine sagt uns doch die biblische Erzählung, daß
alle Menschen Brüder sind, wenn nicht Kinder eines irdischen, so doch eines himmlischen Vaters, der alle erschaffen
hat, der allen sein geistiges Erbe eingepflanzt hat, und der alle wieder zurückziehen will an sein Vaterherz. Das hat
uns der große Meister gelehrt, der auf Golgatha sein Blut hingab für die Brüder, für die Erlösung des
Menschengeschlechtes, indem er sprach: „Einer ist unser Meister, und ihr alle seid Brüder“. So tritt uns also in der
Blutmischung die erhabene Idee eines großen allgemeinen Menschheitsbundes entgegen, in welchem ein Hirt und
eine Herde sein soll, ein Ideal, wie es dem Orden als höchstes Ziel vorschwebt.
Durch die freie Einwilligung, uns sein Herzblut zu geben, besteht der Leidende die letzte Prüfung; das letzte
Hindernis der Aufnahme ist hinweg geräumt; die Weihe kann erfolgen. Und sie erfolgt in eigenartiger,
bedeutungsvoller Weise. Am Altare hatte der Leidende sein Knie gebeugt, nicht vor Menschen, sondern vor dem
ewigen Meister selbst, dem Inbegriff des Lichtes, der Liebe und der Vollkommenheit. Sein Knie ruhte auf dem
Winkelmaß, dem Symbol seines ewigen Gesetzes, auf das Herz aber setzte er sich die Spitze des rechtwinklig nach
jenem Gesetz geöffneten Zirkels, des Symbols der umfassenden unendlichen Liebe. Und der Hammer, das Zeichen
der regierenden Gewalt, traf mit den drei Schlägen, durch die die Weihe vollendet wurde, den Zirkel und drückte
seine Spitze ihm gleichsam in das Herz. Diese Spitze sollte durch die Kraft des göttlichen Willens die Quellen seines
Herzens öffnen und sein Blut hinströmen lassen in die Vereinigungsschale, welche ihm vorgehalten wurde. Was das
bedeutet, wissen wir nun. Möchten die drei Schläge nie einen harten Fels, sondern stets eine Lebensader treffen, aus
welcher der Quell der Liebe, erweckt durch ihr Sinnbild, in vollem Schwall hervor strömt, Gott zur Ehre und uns
allen zur Freude und Erquickung! Mit den drei Schlägen des Hammers aber wird der Grundstein gelegt zu dem neuen
Bau, und wie der irdische Meister anklopft, so auch der Ewige und begehrt Einlaß und Wohnung zu nehmen im
Herzen seines Kindes. —
In unserm Fragebuch steht:
„Der Meister nahm mich aus Liebe auf durch die drei Schläge mit dem Hammer auf den Zirkel.“
>362<
Also nicht, weil es seine Pflicht war, weil ich es zu fordern hatte, sondern aus Liebe. Der irdische Meister, der die
Loge leitet, ist, wie wir wissen, ein Sinnbild des ewigen Meisters, der die große Weltenloge regiert, und die
Aufnahme, die hier vollzogen wird, ist ein Sinnbild der Aufnahme in sein ewiges Reich. Wie sollten wir vor ihm
bestehen, wenn er nur seine Gerechtigkeit walten ließe? Nein, durch seine Liebe und Gnade finden wir bei ihm
Aufnahme, wenn wir bereit waren, unser Blut hinzugeben. Nicht das, was wir aus eigener Kraft geschaffen — wie
fehlerhaft ist es, obgleich wir oft so stolz darauf sind —, nicht das gereicht uns zur Rechtfertigung, sondern die Liebe
allein, die als Herzblut in heißem Wollen und Streben unserm Inneren entströmt. Und wenn der große Meister nicht
vergebens an unser Herz klopft, sondern wenn wir ihm öffnen in hingebender Liebe, dann kommt uns seine Gnade
erbarmend entgegen, und wir sind aufgenommen in sein Reich, eingegangen zum Sieg und zur Herrlichkeit.
Daß wir dies Ziel erreichen, dazu hilf Du uns allen, ewiger Meister!
Amen. (1902.)
Die Eintragung in das Jahrbuch des Ordens.
Sobald der Meister durch die drei Hammerschläge die Aufnahme des Leidenden vollzogen hat, läßt er den neuen
Bruder an die Pforte des Tempels durch die Aufseher zurückführen und beauftragt dann den Bruder Sekretär, zu
verlesen, „was er in das Jahrbuch des Ordens über diese Aufnahme niedergeschrieben hat.“ Der Sekretär verliest
dann eine Art Protokoll über die vollzogene Aufnahme nach einem bestimmten, in den Akten enthaltenen Schema,
worin unter nochmaliger Anführung aller Personalien des neuen Bruders gesagt wird, daß dieser, nachdem allen
ordensgesetzlichen Forderungen entsprochen worden, in die Loge eingeführt und — wie dann der Meister ihn
hinzufügen heißt — als Freimaurer-Ritter-Lehrling und -Bruder aufgenommen ist.
Unsere erklärenden Akten sagen darüber folgendes:
„Sie sind in des Ordens Jahrbuch eingezeichnet, auf daß weder wir noch unsere Nachkommen in der
Brüderschaft die zärtliche Freundschaft vergessen mögen, die wir Ihnen schuldig sind.“
(L. B. II, Beil., S. 41.)
Diese Eintragung wurde in früheren Zeiten von den Logensekretären wirklich genau nach dem (wenn auch nur
beispielsweise) vorgeschriebenen Schema gemacht, wie es die alten Protokollbücher unserer Loge zeigen. Jetzt
geschieht das längst nicht mehr; es genügt heutzutage, wenn im Protokoll der Arbeit verzeichnet steht, daß der
fremde Suchende N. N. in die Loge eingeführt und dem Ritual gemäß zum Freimaurer aufgenommen sei. Trotzdem
wird der Bruder Sekretär >364< auch heute noch aufgefordert, aus dem „Jahrbuch des Ordens“ etwas vorzulesen,
was er tatsächlich gar nicht niedergeschrieben hat; er liest vielmehr das Schema des Rituals ab, wobei er die Namen
des Suchenden und die andern Data hinein fügt. Das sollte nicht sein. Diese Vorlesung ist eine feierliche
Beurkundung darüber, daß die Aufnahme wirklich vollzogen ist, und kann nicht verlesen werden, wenn sie nicht auch
wörtlich zu Papier gebracht ist.
Über jede erfolgte Aufnahme existieren zwei Urkunden, die eine befindet sich in dem Protokoll der betreffenden
Arbeit, die andere in der Logenmatrikel, welche der Bruder Sekretär gleichfalls zu führen verpflichtet ist. Nun heißt
es aber, er soll vorlesen, was er in das Jahrbuch des Ordens niedergeschrieben hat. Ein Jahrbuch des Ordens existiert
aber gar nicht, am wenigsten ist es im Besitz einer einzelnen Johannisloge. Wie soll denn der Sekretär darin
Eintragungen machen? Was versteht man unter einem Jahrbuch? — Unter einem Jahrbuch (annales) verstehen wir
Aufzeichnungen geschichtlicher Begebenheiten in chronologischer Folge, wie sie sich in einem Staate oder einer
Stadt oder Verein u. dergl. vollzogen haben. Nun ist aber weder unser Protokollbuch noch unsere Matrikel ein
wirkliches Jahrbuch; dazu fehlt es beiden an Vollständigkeit; denn ersteres enthält nur die Ereignisse der
Logenarbeiten, letztere nur die Namen und Personalien der Mitglieder. Wollte man nun auch eines von beiden als
Jahrbuch gelten lassen, so wäre das immer nur ein Jahrbuch der Loge, aber niemals ein Jahrbuch des Ordens,
welches, wie gesagt, gar nicht existiert.
Eine eigenartige Auffassung von diesem Jahrbuch hat nun unser Br. Gartz. Er meint, es müsse dieser Begriff, da ein
Jahrbuch nicht vorhanden ist, und auch die Logenmatrikel nicht dafür gelten kann, symbolisch aufgefaßt werden.
„Wie jeder Bauherr“, SO sagt er, „ein Buch über seine Arbeiter führt oder führen läßt, in welches die Leistungen jedes
einzelnen und der Lohn, den er dafür verdient hat, eingetragen werden, so führt auch nach unserer Symbolsprache
unser Bauherr, Gott, über die Arbeiter an seinem Tempelbau ein solches Buch, in welches die Leistungen und der
Lohn eines jeden verzeichnet werden. Dies Buch nennen wir das Jahrbuch des Ordens. In dieses Buch ist nunmehr
unser Name eingetragen. Sorgen wir dafür, daß unser Lohnkonto ein möglichst hohes sei, hüten wir uns aber
davor, daß unsere Namen wieder gelöscht werden.“ —
Diese Auffassung hat jedenfalls etwas sehr Tiefsinniges; sie erinnert etwas an einen Vers der alten Sequenz „Dies
irae“ des Thomas von Caelano, welche in das Requiem der katholischen Kirche übergegangen ist:
Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Unde mundus judicetur.“
(Ein geschriebnes Buch erscheinet,
Darin alles ist enthalten,
Was die Welt einst sühnen soll.) (Vgl. Offenb. 20, 12.)
Gleichwohl kann ich mich derselben nicht anschließen. Das Buch — um bei dem Bilde zu bleiben —, welches der
große Weltenmeister führt, enthält die Namen aller Menschen, nicht bloß die der Ordensmitglieder, und daher kann
es nicht als das Jahrbuch des Ordens aufgefaßt werden, in welches nur diejenigen eingetragen werden, welche
Aufnahme in unsern Orden gefunden haben. Kann ferner die Einzeichnung in das große Buch des Weltenmeisters
durch den Logensekretär besorgt werden?! Enthält jenes trockene Schema, das nach jeder Aufnahme durch ihn
verlesen wird, auch nur eine Spur von dem, was sich auf Arbeit und Lohn bezieht? — Nein! Das Verzeichnis von
unserm Soll und Haben trägt der Ewige selbst in die Tafeln seiner Allwissenheit ein; der Logensekretär wäre dafür
ein wenig glücklich gewähltes Sinnbild. Auch stimmt das, was unsere Akten sagen, damit nicht überein. Es heißt
darin, daß wir und unsere Nachkommen im Orden dabei der Freundschaft gedenken sollen, welche wir dem
neuaufgenommenen Bruder schuldig sind.
Ich muß daher bei meiner nüchternen Auffassung bleiben, nach welcher hier mit dem Jahrbuch des Ordens nur
entweder das Protokollbuch oder die Logenmatrikel gemeint sein kann, und zwar möchte ich mich für die letztere
entscheiden. Die Matrikel enthält die feierliche Beurkundung sämtlicher auf- und angenommenen Brüder. Sie ist
gewissermaßen ein Kleinod der Loge und soll an jedem Stiftungsfeste zu jedes Bruders Einsicht ausgelegt werden,
damit jeder beim Durchblättern sich der abwesenden und auch der in den ewigen Osten eingegangenen Brüder
erinnere und „der zärtlichen Freundschaft“ gedenke, >366< deren geheiligtes Band selbst der Tod nicht zerreißen
soll. Übrigens bin ich der Meinung, daß die Vorlesung durch den Sekretär ohne Schaden wegbleiben könnte. Wozu
sollen die Personalien des Neuaufgenommenen, die den Brüdern schon durch den Vorschlag und durch die
Beantwortung der an. den Anhaltenden gerichteten Fragen sattsam bekannt gemacht sind, wozu soll das, was vor
ihren Augen geschehen ist, ihnen als nunmehr vollzogen noch einmal vorgelesen werden ? Ebenso überflüssig ist die
entsprechende Vorlesung im zweiten und dritten Grade. Daselbst ist übrigens statt des Jahrbuchs ausdrücklich das
Protokollbuch genannt, aus welchem der Sekretär vorzulesen hat. Es würde meines Erachtens genügen, wenn, statt
der trockenen Vorlesung des Bekannten, der Logenmeister dem Sekretär den Auftrag zur Eintragung mit etwa
folgenden Worten geben möchte: „Bruder Sekretär, verzeichnen Sie die Aufnahme des neuen Bruders in unsere
Loge, auf daß weder wir noch unsere Nachkommen in der Brüderschaft die innige Freundschaft und brüderliche
Liebe vergessen mögen, welche wir ihm schuldig sind.“
Das Wichtigste an dem ganzen Akte ist das, was der Meister den Bruder Sekretär zu seiner Niederschrift hinzusetzen
heißt, nämlich, daß er
„zum Freimaurer-Ritter-Lehrling und Bruder“
aufgenommen sei. Aber auch dies ist nur eine Wiederholung dessen, was der Meister bei dem letzten der drei
Weiheschläge gesagt hat, nämlich: „ich nehme Sie auf zum Freimaurer-Ritter-Lehrling und Mitglied dieses
ehrwürdigen Ordens“, d.i. zum Bruder. Der Charakter indelebilis, der dem Neuaufgenommenen hiermit aufgeprägt
wird, ist also ein vierfacher, nämlich:
der Freimaurerberuf,
die Ritterschaft,
das Lehrlingstum und
der Brudername.
Von diesen vier Bezeichnungen sind aber nicht alle von gleicher Wichtigkeit, wenigstens nicht in dem Moment, da
die Aufnahme vollendet ist. Nach meinem Dafürhalten steht das Lehrlingstum obenan und erhält bei der Weihe den
stärksten Nachdruck. — Es ist manchmal gesagt worden, daß man in unsern Akten mitunter durch ein Komma lernen
könne. Hier ist eine solche Stelle, die das bezeugt. Bei den Worten nämlich, die der Meister zum letzten
Hammerschlage der Weihe spricht, steht zwischen dem Wort „Freimaurer“ und dem Wort „Ritter“ ein
Verbindungszeichen und nach dem Wort „Ritter“ ein Komma; bei dem Auftrage des Meisters an den Sekretär steht
dagegen anstatt dieses Kommas gleichfalls ein Verbindungszeichen, welches also das Wort „Ritter“ mit dem Wort
„Lehrling“ verbindet, so daß das Ganze lautet:
Freimaurer-Ritter-Lehrling.
Dies ist meines Erachtens das Richtige. Das Lehrlingstum, zu welchem der Suchende eingeweiht ist, wird dadurch in
den Vordergrund gerückt, und der Freimaurerberuf und die Ritterschaft sind nur die näheren Bestimmungen dessen,
worauf er als Lehrling seinen Fleiß zu verwenden hat. Es kann von dem Aufzunehmenden nicht verlangt werden, daß
er von dem Augenblick der Aufnahme an ein Freimaurer wirklich sei; nur der Name eines solchen ist ihm beigelegt
und damit zugleich die Anwartschaft, es zu werden. Freimaurer ist derjenige, der die geistige Baukunst versteht,
welche in der Loge gelehrt wird, und der sich durch dieses innere geistige Bauen zur wahren Freiheit hindurch
gerungen hat. Der Neuling fängt erst an, diese hohe Kunst zu erlernen. Darum heißt die Antwort auf die Frage:
„Sind Sie ein Freimaurer?"
nicht etwa: „Ja, ich bin es“, sondern:
„Alle Freimaurer-Brüder und -Ritter erkennen mich dafür.“ (Fragebuch Abt. III, Art. l, Frage 1.)
Das wahre Freimaurertum ist ein hohes Ideal; wer könnte sich rühmen, es erreicht zu haben? Der Freimaurername ist
der herrlichste Ehrentitel; wer könnte von sich sagen, daß er ihn würdig führe? — Wenn meine Brüder mich trotz
meiner Unwürdigkeit dafür erkennen, so geschieht das, weil ich äußerlich die Zeichen des Freimaurerberufes trage,
und weil sie, meiner Arbeit das Beste zuzutrauen, so liebevoll sind. Ins Herz können sie mir aber nicht sehen. Darum
muß meine bescheidene Antwort lauten: „Sie erkennen mich dafür.“ Wenn ich aber nach dem Lehrlingstum gefragt
werde, dann könnte ich ruhig antworten : „Ja, ich bin es“, obgleich der Orden auch hier dieselbe Antwort vorschreibt.
(Vgl. Fragebuch Abt. IV, Fr. 1.) Daß ich ein Lehrling bin, weiß ich und muß von der Gewißheit dessen durchdrungen
sein. >368< Ob ich ein arbeitsamer oder ein träger Lehrling bin, das ist eine andere Frage. Aber zum Lehrling bin
ich durch die Aufnahme und durch jene Weiheschläge gemacht, und bin und bleibe es vom ersten Augenblicke an;
das kann keinem Zweifel unterliegen.
Ein ebenso hohes Ideal ist die Ritterschaft. Ich habe in einem früheren Vortrage auseinanderzusetzen versucht,
weshalb wir daran festhalten, unsere Verbindung einen Orden zu nennen, und will hier nicht darauf zurückkommen.
Nur derjenige, der eifrig sich der freimaurerischen Arbeit unterzogen hat, erlangt zugleich mit der inneren Freiheit
auch den Geistesadel, welcher ihn befähigt, der Ritterwürde vorzustehen, wie sie in unserm Orden nach seiner Regel
angestrebt wird. Diese Ritterwürde ist dem Neuaufgenommenen ebensowenig durch die Aufnahme verliehen wie die
Freimaurerwürde, obgleich die drei Weiheschläge auf den auf das Herz gesetzten Zirkel „die drei gewöhnlichen
Freimaurer-Ritterschläge“ genannt werden. Erst sehr viel später werden ihm diese wirklich und in anderer Weise
erteilt, wenn seine Brüder ihn für würdig der Ritterschaft befunden haben. Fürs erste ist er zum Novizen, zum
Knappen, d.h. zu einem Lehrlingstum, eingeweiht, das ihm die Anwartschaft verleiht, dereinst die Ritterwürde
wirklich zu erlangen. Aber selbst wenn er diese hohe Würde erreicht hat, die ihm von seinen Brüdern erteilt worden
ist, wird er doch stets, wenn ein rechtes Maurerherz in ihm schlägt, voll Demut an seine Brust schlagen und sich
fragen müssen, ob er so hohe Ehre wirklich verdient hat, und sein Gewissen wird ihm sagen, daß, so wie er stets ein
Freimaurer-Lehrling bleibt, so auch seine Ritter-Lehrlingsschaft nie aufhört.
Eins aber ist es, was ihn in diesem schweren Arbeiten und Kämpfen erhebt und stärkt: das ist der Brudername, den er
mit seiner ersten Weihe erhalten hat, und dessen er vom ersten Augenblicke seines Maurerlebens von Herzen froh
werden darf. Bruderaugen leuchten dem Neugeweihten entgegen, Bruderhände schließen ihn in ihre Kette,
Bruderherzen schlagen an dem seinigen; wie sollte er da nicht alle seine Kraft freudig daransetzen, um selbst ein
Bruder zu sein. Die Brüderlichkeit, die ihm entgegenkommt, befreit in seinem Herzen die Liebe, die große heiligende
und erlösende Macht, die ihn nicht nur seine Ordensgenossen, sondern alles, was Mensch heißt, erkennen läßt als die
Kinder des ewigen Vaters, der auch ihn erschuf, und der alle mit ihm Erschaffenen zurückführen will an sein großes
Vaterherz. — — —
Wenn die Aufnahme zum Freimaurer-Ritter-Lehrling und Bruder vollzogen ist, dann wendet das neue Mitglied des
Ordens ein Blatt in dem Jahrbuch seines Lebens um; eine neue unbeschriebene Seite erscheint. Auf ihr und auf allen
folgenden soll er selbst mit leuchtenden Schriftzeichen Gedanken, Gesinnungen und Taten einzeichnen, welche
Zeugnis ablegen von Maurerfleiß, ritterlichem Edelmut und Tapferkeit, von Lehrlingseifer und von der alles
verklärenden Liebe, welche als schönste Frucht unseres Werkes von Herz zu Herzen das goldene Vereinigungsband
schlingt.
Das möge jeder, der die Maurerweihe erhält, wohl beherzigen! — (1904.) >370<
Der Lehrlingsschurz.
Das Erste, was wir von einem Suchenden, der das Logenhaus betreten hat, verlangen, ist, daß er seine Kleidung
ablegt und sich der Metalle und Kostbarkeiten entäußert. Am Schlusse der Aufnahme aber wird er mit einer neuen
Kleidung und Ausrüstung versehen.
„Ziehe aus den alten Menschen“, das ist die erste Forderung, die der Orden unter dem Sinnbilde der Entkleidung an
ihn stellt. Tue ab alles, was die Welt mit ihren Künsten des Scheins und des äußeren Glanzes dir aufgebürdet hat.
Wirf von dir alles, was unecht und unrein ist; denn vor dem Altar der k. Kunst, vor welchen der angehende Lehrling
hintritt, um ihre Weihe zu empfangen, gilt nur, was wahr, was ursprünglich ist, gilt nur der reine Mensch, wie er aus
der Hand des Schöpfers hervorging. Reinigen und heiligen soll die Stunde der Weihe den Neuling und ihn darauf
hinführen, was ihm zu bedenken zuvörderst not ist: Du bist Mensch! erkenne deutlich, was das heißt! Du bist ein
Wesen, angetan mit einem staubgeborenen, vergänglichen, dem Tode verfallenen Leibe; in dieser gebrechlichen
Hülle aber lebt des Geistes Licht, jener Strahl ewigen, göttlichen Lebens, das der Schöpfer dir mitgab als ewiges
Erbe. Dies zu erkennen, ist die erste Bedingung, unter welcher die k. Kunst den neuen Lehrling an die Arbeit stellt.
Aber sie läßt ihn dabei nicht stehen, sie weist ihn mit allem Nachdruck auf die aus dieser Erkenntnis entspringende
Aufgabe. Der Geist, der an sich frei und rein ist, findet in dem Erdenleibe nicht allein seine Wohnung und Hülle,
sondern auch seine Fessel, die ihn knechtet, seine Bürde, die ihn herabzieht und verunreinigt, ja, ihn ganz zu
unterjochen und zu töten sucht. Das Ringen des Göttlichen mit dem Irdischen, das ist der Inhalt jedes
Menschenlebens; des Maurers Aufgabe aber ist es, das Irdische niederzuhalten, das Göttliche zu erhöhen und so dem
Ewigen in uns zu seinem Rechte zu verhelfen. Das heißt Mensch sein im wahrsten und höchsten Sinne des Wortes,
das heißt Maurer sein.
Um den Neuaufgenommenen an diese große Aufgabe, die ihn von dieser Stunde an unausgesetzt beschäftigen soll,
beständig zu erinnern, hat er für das Kleid des äußeren Scheines, das er in der dunklen Kammer ablegen mußte,
wenngleich er es später aus naheliegenden äußeren Gründen wieder anlegte, ein neues Kleid erhalten hier am Altar
der k. Kunst. Es ist der Schurz, das eigentliche Wahrzeichen der Arbeit. Der Handwerksmann, der sich zur Arbeit
rüstet, legt sein Gewand ab, das ihn beengt und bei seiner Tätigkeit hindert, und umgürtet sich mit dem Schurz. Er ist
sein Ehrenkleid und sein Stolz; mit ihm versehen, fühlt er sich froh und freudig bereit zum Rüsten und Schaffen. Und
wenn die Feierstunde schlägt, legt er den Schurz ab, um der Ruhe zu genießen. Aber wenn er auch sein bestes
Festgewand anlegt, er weiß doch, daß ihm nichts so wohl ansteht als sein Schurz, das Kleid seiner Arbeit, die des
Bürgers Zierde ist, die seine Würde ausmacht und sein Leben ausfüllt.
So soll auch unserm Lehrling das Kleid des freien Maurers heilig und teuer sein und höher von ihm geachtet werden
als der höchste Ehrenschmuck, den weltliche Macht zu verleihen vermag. Er soll durch den Schurz zuvörderst
erkennen, daß er hier zu einer Arbeit berufen worden ist, welche von dieser Stunde an den Inhalt seines Lebens
bilden soll. Nichts darf diese Arbeit jemals aus seinem Bewußtsein verdrängen; mit ihr soll er stehen und fallen. Dem
rechten Arbeiter ist seine Arbeit nicht eine Last, sondern eine Lust, und die Schaffensfreudigkeit steigt um so höher,
je größer die Schwierigkeiten sind, die unser Mut und unsere Ausdauer zu überwinden haben. Die Arbeit, die wir im
Schurz des freien Maurers zu vollbringen haben, ist die edelste und herrlichste, aber auch die schwierigste und
mühevollste. Sie zu unternehmen, erheischt den höchsten Mut, sie durchzuführen, die unermüdlichste Ausdauer.
Unendlich hoch erhaben steht sie über der Arbeit des Handwerkers, welche nur ein Gleichnis bildet, in das sich
unsere edelste Arbeit gekleidet hat. Der Werkmaurer, mag er auch Freude am Gelingen haben, arbeitet, um zu leben,
der Freimaurer lebt, um zu arbeiten, wenn auch seine Arbeit das Leben zum Zweck hat, aber ein Leben im höheren
Sinne; der Werkmaurer sehnt den Feierabend herbei, der Freimaurer kennt keinen Feierabend, ihm ist keine Ruhe
vergönnt, und nur der ewige Feierabend soll sie ihm bringen. In der Arbeit selbst liegt seine Ruhe und seine Feier; sie
ist seine Lebensluft, sein alles. Den Werkmaurer ermüdet seine Arbeit, den Freimaurer erfrischt >372< sie und stählt
seine Kräfte, statt sie zu erschöpfen. Der Werkmaurer arbeitet um Lohn und fordert ihn mit Trotz, wenn er ihm nicht
hoch genug erscheint. Der Freimaurer denkt gar nicht an den Lohn, sondern nur an die Arbeit, weil er in ihr selbst
seinen reichsten Lohn findet. Er steht im Solde des höchsten Bauherrn, auf dessen Gerechtigkeit, Güte und
Barmherzigkeit er sich verlassen kann. Auf ihn vertrauend, schafft er ruhig fort, bis der Obermeister die große Feierstunde schlagen läßt, den Schurz dem treuen Arbeiter abnimmt und ihn zur sanften Ruhe bettet.
Wenn nun die Arbeit des Freimaurers sich so hoch über die Arbeit des Werkmaurers erhebt, so muß auch unser
Schurz noch eine höhere Bedeutung haben als die eines gewöhnlichen Arbeitskleides. Und dem ist wirklich so. Der
Schurz ist das Urkleid des Menschen. Der Wilde verfertigt sich den Schurz, um seine Blöße zu bedecken und seinen
Leib zu schützen; Tierfelle müssen ihm dazu dienen. Und die biblische Legende erzählt von den ersten Menschen,
daß sie, als sie in Ungehorsam von Jehovah abgefallen waren, sich Schürzen anfertigten. (1. Mos. 3, 7.) Und als sie
aus dem Paradiese vertrieben waren, da machte der Herr ihnen Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. (1. Mos. 3,
21.) Diese sinnbildliche Erzählung deutet uns an, daß der Mensch, ein lichtgeborenes, geistiges Wesen, mit einer
materiellen Hülle umkleidet ist, die das Licht seines Geistes trübt und verbirgt. Im Schweiße seines Angesichts soll er
arbeiten, um das Göttliche in sich zur Reife zu bringen, auf daß er das Irdische überwinde. Der Erdenleib also, mit
dem wir angetan sind, das ist unser Arbeitskleid, „die vergängliche Schürze des Fleisches“, wie unsere Akten an einer
Stelle sagen, in die wir uns nicht einhüllen sollen, um in trägem Schlafe uns in Wollüsten zu ergötzen, sondern in
welcher wir rastlos tätig sein sollen, um des Menschen höchsten Beruf zu erfüllen, auf daß dereinst, wenn diese Hülle
uns entrissen wird, ein lebensfähiges Geisteswesen daraus hervorgehe.
Mit unserm Lehrlingsschurze bedecken wir nun den Teil unseres Leibes, in welchem die Organe des vegetativen
Lebens, des Stoffwechsels, liegen, welche denjenigen Vorgängen dienen, die wir mit der Pflanze gemeinsam haben.
Wir haben es hier mit der niedrigsten Sphäre unseres Wesens zu tun, die wohl an und für sich nicht unrein ist,
sondern nur insofern auf unsern Geist verunreinigend wirken kann, als derselbe von hier aus zu Begierden und Lüsten
angeregt wird, die ihn herabziehen und an seiner Entwicklung hindern. Der Geist muß herrschen über den Leib, nicht
umgekehrt. Die Finsternis unseres irdischen Teils darf das ewige Licht in uns nicht trüben, vielmehr soll das Licht
unseres Geistes mit seinem Glanze ihn durchdringen, ihn reinigen und heiligen. Darum ist unser Schurz weiß; er wird
uns zum Kleid des Lichtes, und das Fragebuch sagt (Abt. V, Fr. 41) :
„Was bedeutet die Schürze?“
„Des Ordens Reinheit und Unschuld.“
Das ist die tiefere Bedeutung des Schurzes. Rein und unbefleckt soll er erhalten werden als höchstes Kleinod unserer
maurerischen Ehre. Mit was für Zeichen der Orden, wenn wir seine weiteren Stufen ersteigen, uns auch immer den
Schurz schmücken mag: das reine Weiß darf nimmer ihm entschwinden, sowie unser maurerisches Streben in seiner
Reinheit nie wanken darf, bis er uns dereinst vielleicht wieder in der ungetrübten Farbe des Lichtes erglänzt, wenn
wir zum Schlusse unserer Grade gelangt sind.
Heilige Pflichten also sind es, von denen der Schurz zu uns redet, heilige Pflichten, die wir gegen uns selbst und
gegen den Orden übernommen haben. Aber er weist uns auch auf die Pflichten hin, welche die Brüderschaft gegen
jeden, den sie in ihre Reihen aufnimmt, übernimmt. Bei Überreichung des Kleides wird gesagt,
„daß die weiße Farbe und die Dauerhaftigkeit des Stoffes für den Lehrling eine besondere Bedeutung hätten.
Jene sollte ihn an die Reinheit und die aufrichtigen Gesinnungen unserer Brüderschaft, diese ihn an die
Beständigkeit und Treue derselben erinnern.“
Das ist es also, was er von der Gemeinschaft der Brüder, in welche er getreten ist, erwarten kann und zu erwarten
berechtigt ist. Aber gleich darauf wird ihm gesagt, daß auch er sich dieser Eigenschaften befleißigen müsse. Nur wer
sich aus allen Kräften bemüht, ein Bruder zu sein, der findet Brüder. Daher bringe der Lehrling uns ein reines
aufrichtiges Herz entgegen und sei dem Orden und den Brüdern mit unerschütterlicher Treue ergeben, dann wird das
Ende gut sein und seine Maurerarbeit vom schönsten Erfolge gekrönt werden. (1902.) >374<
Die Kelle des Lehrlings.
Wenn den neuaufgenommenen Lehrling der Schurz, mit dem er umgürtet ist, an die nie zu unterbrechende Arbeit des
Maurers erinnert, so wird ihm dadurch die Frage nahegelegt, auf welche Weise und mit welchen Werkzeugen diese
Arbeit auszuführen sei. Hierauf gibt Antwort der andere Gegenstand der maurerischen Ausrüstung, welche der
Lehrling erhält: das ist die Kelle. Dieses kleine, unscheinbare Ding, das uns nach der Aufnahme aufs Herz gelegt
wird, ist das vornehmste, recht eigentliche Universalwerkzeug der k. Kunst. Darum wird sie auch „des Maurers
höchster Schmuck“ genannt (L. B. II, Seite 57). Wir finden in andern maurerischen Lehrarten die Brüder geschmückt
mit Abzeichen, welche meistens den Namen der Loge, der sie angehören, versinnbildlichen, und zwar oft in sehr
schöner und sinnreicher Weise. Aber kein Schmuck läßt sich an Tiefe seiner Bedeutung vergleichen mit unserer
schlichten Maurerkelle.
Was ist nun die Kelle und wie gebrauchen wir sie? Die Kelle dient dem Werkmaurer, den Mörtel zwischen die
Bausteine zu bringen, die er zu verlegen hat. Mit ihrer Hilfe verklebt und verstreicht er die Fugen und Spalten
zwischen den Steinen und stellt so ein festes, gleichmäßiges Mauerwerk her. Hiervon leitet auch die Freimaurerei
eine Bedeutung der Kelle ab. Bei ihrer Überreichung wird zu dem Neuaufgenommenen gesagt:
„ Bildlich können Sie mit Hilfe dieses Werkzeugs eine sehr nötige und nützliche Arbeit vollbringen, wenn Sie
sich bemühen, das menschliche Herz gegen die Anfälle des Lasters zu vermauern und zu verkitten.“
(L. B. II, Seite 58.)
Und an einer anderen Stelle unserer Akten heilst es:
„Die Maurerkelle erinnert alle Brüder, sorgfältig die Spalten und Risse des Herzens zu vermauern und zu
bessern und die Öffnungen zu verschließen, welche Hochmut, Zorn, Haß , Neid und Schwachheiten verursacht
haben, des Nächsten und der Brüder Fehler zu vermauern und das Herz so gut, so tugendhaft und so rein zu
machen, daß kein Bruder sich zu fürchten braucht, dem andern sein ganzes Herz aufzuschließen.“
(L.B. II, Beil., Seite 46.)
Rein moralische Forderungen sind es, welche hier an die Bedeutung der Kelle geknüpft werden. Das Menschenherz
wird verglichen mit einem unvollkommenen, rissigen Gebäude, und dem Maurer wird die Aufgabe gestellt, es
auszubessern, und zwar richtet sich diese Aufgabe nicht bloß auf das eigene Herz, sondern auch auf die Herzen
unserer Nebenmenschen. Mit Recht dürfen wir wohl in dieser Forderung, die ja jeder sittliche Mensch sich selbst
stellen muß, nichts spezifisch Freimaurerisches erblicken und könnten fragen, wozu da noch das Bild der Kelle nötig
wäre. Allerdings ist auch durch diese rein moralische Auslegung die Bedeutung der Kelle keineswegs erschöpft,
dieselbe hat vielmehr eine noch viel tiefere Bedeutung, welche schon in den Worten angedeutet ist, die bei der
Überreichung gesprochen werden. Diese Worte lauten:
„Diese Kelle hat ihren Wert durch ihre Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit, deshalb haben wir sie an
diesem ledernen Riemen befestigt, um desto sicherer zur Vollführung der wichtigen und höchst notwendigen
Arbeiten, die man Ihnen hier übertragen möchte, aufbewahrt werden zu können.“
(L.B. II, Seite 57 f.)
Hieran schließt sich dann jene bildliche Ausdeutung. Ferner werden wir darauf, daß die Kelle eine noch tiefere
Bedeutung haben müsse, auch dadurch geführt, daß der Vergleich des fehlerhaften Menschenherzens mit einer der
Ausbesserung durch Kelle und Mörtel bedürftigen Mauer nicht weiter durchgeführt wird. Ein anderes Bild wird
vielmehr für unser unvollkommenes Ich herbeigezogen, nämlich >376< das des rauhen, unbehauenen Steines, den
uns die Arbeitstafel auf ihrer Nordseite zeigt. Unsere Lehrlingsakten aber sprechen sich über denselben
folgendermaßen aus:
„Der rauhe Stein ist der Gegenstand der sorgfältigen Arbeit der Johannis-Lehrlinge. Ihnen liegt ob, denselben
zu behauen, zu ebnen und zu einem vollkommenen Baugerät zu bereiten. Er erinnert uns, unsere üblen
Neigungen abzulegen und uns immer vollkommener zu gestalten, eine Arbeit, die schwer, aber
unerläßlich für den ist, der sich der Wahrheit zu nähern wünscht.“ (L. B. II, Beil., Seite 47.)
Womit bearbeitet man nun einen rauhen Stein, um ihm die rechte Gestalt zu geben ? Doch nicht mit einer
Maurerkelle! Das wäre ein sehr ungeeignetes Werkzeug dazu. Da nützt kein Mörtelwerfen und Verstreichen, da nützt
nur ein Meißel und ein Spitzhammer. Und dennoch sehen wir auf unserer Tafel dicht neben dem rauhen Stein
wiederum die Kelle. Sie muß also doch zu ihm in einer bestimmten Beziehung stehen, und das führt uns eben auf ihre
tiefste Bedeutung. Betrachten wir die Kelle ihrer Gestalt nach. Aus einem gleichseitigen Dreieck und einem daran
gehefteten rechten Winkel setzt sich ihr Bild zusammen. Beide sind uralte und in ihrer einfachen Form
unveränderliche Symbole für den Geist des Göttlichen und für das Gesetz, in welchem sich dieser Geist offenbart.
Der Mensch kann das Wesen der Gottheit nicht umfassen, denn sie ist unendlich, und er ist in die Zeitlichkeit und in
den begrenzten Raum gebannt. Aber er vermag es, sie zu ahnen und sich ihr anbetend zu nähern. Er fühlt das Wesen
des göttlichen Geistes, und in den Gebilden, die ihm in den Wundern der Schöpfung entgegentreten, erblickt er seine
Zeichen, und deutlicher denn sonst irgendwo vernimmt er sein Walten im eigenen Inneren. Das Walten der Gottheit
ist absolut und unmittelbar, sie durchdringt alles und nichts vermag sie zu hemmen. Des Menschen Tun verläuft im
Raum und in der Zeit; wenn er etwas schaffen will, muß er erst den Gedanken fassen und diesem den Willen und
endlich die Tat folgen lassen; bei der Gottheit ist Gedanke, Wille und Tat eins; ihr Denken ist Wollen, ihr Wollen ist
Handeln. Unsere heilige Urkunde faßt an der Stelle, auf welche wir, dem Orden uns angelobend, unsere Hand legten,
im ersten Verse des Johannis-Evangeliums, dieses ewige Walten des göttlichen Geistes zusammen in den Ausdruck
„Wort“ (logos), indem sie sagt:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. — Alle Dinge sind durch
dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.“
Im Worte liegt die Einheit von Denken, Wollen und Handeln. So stehet geschrieben:
„Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“
Das sprechendste Sinnbild für diese Einheit der göttlichen Kräfte ist nun das gleichseitige Dreieck der Kelle. Wenn
wir es betrachten, tritt uns die Dreizahl in seinen drei Ecken und seinen drei Seiten entgegen, und doch erblicken wir
ein Ganzes, die einfachste, in sich abgeschlossene Flächenfigur. So haben wir also in ihm das sich uns von selbst
darbietende Symbol des göttlichen Wortes, der ewigen Schaffenskraft, welche nie ruht, stets tätig und wirksam ist,
denn ihr Wesen besteht ja gerade im ewigen Schaffen und sich Offenbaren. Und was diese Kraft schafft, das ist fest
gegründet, wenn es auch im Strome des Werdens und der Umformung seine Gestalt wechselt. Was die Kraft Gottes
schafft, ist eingefügt in den großen Plan seines Weltenbaus, sein Denken ist Weisheit, sein Wollen ist Stärke, seine
Tat ist Schönheit. Den Stempel der Vollkommenheit weist seine Schöpfung auf: „Gott sah an alles, was er gemacht
hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Ja, vollkommen ist alles und trägt trotz des Stromes der Verwandlung, in dem es
steht, die Gewährleistung des Fortbestandes in sich; denn der ewige, dreifach große Baumeister, als welcher uns die
Kraft des Wortes erscheint, bauete nach einem ewigen, aus seinem Wesen selbst hergeleiteten Gesetz. Dieses Gesetz
stellt sich uns dar unter dem Sinnbilde des rechten Winkels. Das Winkelmaß, das der wort führende Meister trägt,
gibt die Gestalt; auf ihm beruht der Zusammenhang des Baues; in der Vereinigung des Senkrechten und Wagerechten
sehen wir die Grundlage aller Konstruktion, und darum finden wir auch den rechten Winkel dem Dreieck der Kelle
angefügt.
Die Kelle also ist das Sinnbild des göttlichen Wortes und seiner Durchführung durch das göttliche Gesetz. Jetzt
wissen wir, warum der Orden sie uns aufs Herz gelegt >378< hat. In jedem Menschen lebt ein Göttliches, Freies,
Reines, Ewiges; doch es schläft, es ist gebunden durch die Fesseln der Materie, es ist verdunkelt durch unsere
irdische Natur. Aber es ist uns die Möglichkeit gegeben, das Schlummernde zu wecken, das Gebundene zu befreien,
das Finstere in uns zu erleuchten, das Irdische in uns zu reinigen und zu heiligen. Auch in unser Inneres ist die Kraft
des Wortes, die überall wirksam ist, gelegt. Das göttliche Geschenk des Wortes, die Sprache, ist allein dem
Menschen verliehen. Wir fühlen es in unserm Inneren sich regen und blitzartig empor zucken; es möchte heraus, es
möchte laut werden und wirken: aber ach! nur zu oft verhallt die innere Stimme in dem wüsten Getöse der
Leidenschaften und Begierden. Wir mißbrauchen das Geschenk der Sprache zu törichten Reden und zu Werken der
Finsternis, aber das Wort der Wahrheit schweigt uns.
Hier hat nun unsere maurerische Arbeit einzusetzen. Sie will uns mit kategorischer Strenge zwingen, dem Worte in
unserm Inneren Gehör zu geben, auf daß es unser ganzes Wesen durchdringe und uns gestalte zu einem göttlichen
Kunstwerk, aus dem rauhen Bruchstein zum Kubus nach dem Gesetz des rechten Winkels. Darum hat die Kelle, wie
bei der Überreichung gesagt wird, „ihren Wert durch ihre Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit“; denn so, und nur so
allein, arbeiten wir wirklich freimaurerisch, und die Kelle, welche wir nicht bloß bei unsern Zusammenkünften,
sondern stets auf unserm Herzen fühlen sollen, ist uns ein immerwährendes Mahnzeichen für diese Arbeit. Die Kelle
des Lehrlings ist „unpoliert, um ihn zu erinnern, daß er sie fleißig gebrauchen soll“. Nur durch Übung, und zwar
durch unausgesetzte Übung, bei welcher es keinen Feierabend gibt, nur durch unaufhörliches Schulen, unserer
inneren Werkzeuge, der Vernunft, des Verstandes und des Willens, lassen sich Erfolge erringen; nur so gelangen wir
zur polierten Kelle, die in hellem Silberglanze strahlt. — Und an einem ledernen Riemen ist das Kleinod befestigt; er
ist von demselben Stoff wie der Lehrlingsschurz. Das bedeutet, daß das Göttliche mit dem Irdischen, im
Menschenleben eng verbunden bleiben, und daß unser irdisches Teil sich stets als Träger des Göttlichen und als
nichts anderes fühlen soll; denn also ist es nach des Schöpfers Ratschluß bestimmt.
Und warum ruht nun unsere Kelle auf dem Herzen? Wohl mit vollem Recht hat sie dort ihren Platz. Während der
Schurz unsern Leib, die niedere Region unseres Seins, bedeckt, nimmt die Kelle die mittlere Region ein. Sie steht auf
der Grenzwacht zwischen Geist und Materie. Hier, auf dem Kampfplatz zwischen Finsternis und Licht, ist das
eigentliche maurerische Arbeitsfeld. Wenn der Kampf in uns tobt, wenn Leidenschaften in uns ringen, wenn des
Leidens Nacht uns umgibt, dann zuckt und zittert das bange Herz in unserer Brust, und der Dichter scheint recht zu
haben, wenn er singt:
„Das arme Herz hienieden,
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Nur, wo es nicht mehr schlägt.“
Und dennoch können wir auch hier schon dem Herzen trotz Jammer und Leid, trotz Sündenverstrickung und
Schuldbewußtsein süßen, heiligen Frieden geben durch die Arbeit mit der Kelle. Das göttliche Wort, das in uns
spricht, das göttliche Gesetz, das in uns baut, das ist es, was uns erwärmt, belebt, führt, belehrt, tröstet, beruhigt und
belohnt, das ist es, was uns allein Frieden und Seligkeit verleiht. Mit äußerlicher Tugendübung, mit Verkitten und
Verstreichen der Spalten und Risse unseres fehlerhaften Ichs kommen wir nicht aus. Da kann nur die „wichtige und
höchst notwendige Arbeit“ frommen: die Erneuerung unser selbst von innen heraus durch die Kraft des göttlichen
Wortes.
Jetzt wissen wir, warum die Kelle des Maurers höchster Schmuck genannt wird. Was schmückt uns denn in
Wahrheit? Ist es äußerer Glanz ? Reichtum und allerlei Flitter, die der Mensch sich selber anhängt? Nein, das haben
wir alles draußen gelassen, als wir vor den Toren des Tempels alle Metalle ablegten. Der höchste Schmuck ist das
göttliche Kleinod, das der Mensch in sich trägt, das unsterbliche Leben, das in ihm sich bilden und ihn befreien soll.
(1902.) >380<
Das Schwert.
Wenn der fremde Suchende das Logenhaus betreten hat, so muß er die Metalle ablegen; denn irdische Güter können
ihm nichts nützen auf dem Wege, den er zu wandeln hat. Mit Geld und Gut kann er sich die hohen Schätze nicht
erwerben, nach denen fortan sein Streben gerichtet sein soll. Wenn aber die Lehrlingsweihe vollendet ist, dann erhält
er bei seiner maurerischen Ausrüstung andere Metalle vom Orden, welche geweiht sind zum Dienste der k. Kunst. Er
empfängt die Maurerkelle von Silber, welche auf seiner Brust befestigt wird, da wo sein Herz schlägt, und das
ritterliche Schwert von Eisen, mit dem er sich umgürtet. Ein Werkzeug und eine Waffe bietet ihm der Orden dar und
unterweist ihn in dem Gebrauche beider. Wie wir die Kelle anzuwenden haben, das habe ich in dem vorstehenden
Vortrage zu zeigen versucht. Nunmehr bleibt uns noch das Schwert zu betrachten übrig.
„Was hat das Schwert, diese Mordwaffe, in dem Frieden der Loge zu tun?“, so hören wir Brüder fragen, die eine
andere Auffassung von der Freimaurerei haben als wir. Der große Herder, den sich Fr. Ludwig Schröder zum
Vertrauten und Berater bei der Abfassung seiner Rituale ausersehen hatte, äußert sich in sehr heftiger Weise gegen
die in der Loge gebrauchten Waffen. „Das Kehren der Degen auf ihn (den Aufzunehmenden)“, sagt er, „soll's
bleiben? Sein Ursprung liegt in Umständen, die gar nicht mehr sind, und deren Argwohn selbst abgewandt werden
muß. Es bezieht sich auf Geheimnisse, die nicht sind(!), und dann, welch ein erster Anblick! Brüder, Brüder gegen
sich mit gezogenem Degen! Auch symbolisch hasse ich den Anblick. Vielmehr lasse sie alle bereit stehen zur
Verfechtung der Wahrheit, und er in diese wahrhafte Gesellschaft aufgenommen werden, jedoch mit Deutungen, daß
Wahrheit und Güte nicht mit Schwertern verteidigt oder ausgemacht werde usf.“
Dieser Ausspruch Herders ist sehr interessant, weil wir daraus lernen können, daß selbst ein so bedeutender Mann,
wie er es war, der mit Recht den ersten Geistern unserer Nation zugezählt wird, von unserer Sache eine schiefe
Ansicht gewinnen kann. Herder wäre gewiß vor einem solchen Irrtum bewahrt geblieben, wenn er mehr in der Loge
gelebt hätte. Seine aktive Logentätigkeit ist aber nur, nach seiner eigenen Angabe, eine sehr kurze gewesen. Bald
nach seiner in noch jugendlichem Alter zu Riga erfolgten Aufnahme ist er wahrscheinlich durch irgendwelche
Unvollkommenheiten des Logenlebens abgeschreckt worden und hat seitdem nie wieder eine Loge betreten. Es ist
also nicht zu verwundern, daß er auf irrige Anschauungen verfallen mußte, weil ihm die nötige Erfahrung und
Einsicht in die Sache selbst fehlte. So ist auch das, was er in späteren Jahren über Freimaurerei geschrieben hat, mehr
das Ergebnis einer geistvollen Spekulation, weniger aber ein Resultat eigener Anschauung der Sache selbst. Auch
Lessing schrieb seine drei ersten Freimaurergespräche ohne die Sache selbst aus eigener Anschauung zu kennen,
sogar noch vor seiner Aufnahme. Aber wie unvergleichlich tiefer drang er mit seinem scharfen Geiste ein als Herder.
Das, was jener über unsere k. Kunst sagt, können wir als klassisch bezeichnen; es lebt gleichsam in aller Maurer
Munde, während die Herderschen Gespräche und Aufsätze so gut wie vergessen sind.
Daß das Schwert ein sehr altes maurerisches Symbol ist, hätte Herder wissen können. Die englische Großloge führt
seit ihren ältesten Zeiten ein Schwert, welches in einigen Ausgaben des Andersonschen Konstitutionen-Buches sogar
abgebildet ist; sie hatte unter ihren Beamten einen besonderen Schwertträger. Auch kennen die ältesten Rituale schon
den Gebrauch, dem Suchenden die Spitze einer Waffe (warlike instrument) auf die Brust zu setzen. Wie bedeutsam
das Schwert für uns ist, möchte ich in folgendem zu zeigen versuchen.
Ehe ich auf die Bedeutung des Schwertes eingehe, sei mir noch eine Vorbemerkung gestattet. In unsern Akten finden
sich für dieselbe Sache zwei Benennungen: „Schwert“ und „Degen“. Ich wäre dafür, den letzteren Ausdruck ganz
fallen zu lassen und nur das Wort „Schwert“ zu gebrauchen, obschon es den Anschein hat, als wenn unsere Akten
zwischen beiden einen Unterschied machen. Die beiden >382< höheren Ordensabteilungen haben ein eigenes
Schwert, welches nach Eröffnung der Loge über die Bibel gelegt wird; nicht so die Johannisloge. Es wird sogar
ausdrücklich gesagt, daß in dem Schwert ein besonderer Vorzug der oberen Abteilungen vor der Johannisloge liegt.
In dieser legt bei der Eröffnung der Logenmeister seinen Degen über die geöffnete heilige Schrift. Nur für besondere
Verdienste kann einer Johannisloge das Schwert verliehen werden, was meines Wissens nur bei der Vereinigten Loge
in Breslau der Fall ist. Mit dem Ausdrucke „Degen“ scheint also die Waffe bezeichnet zu werden, die sich in den
Händen der Brüder befindet. Nun müssen wir bedenken, daß der Begriff des Schwertes der ältere und allgemeinere
ist. Der Degen (Das Wort „Degen“ ist sehr alt. Es findet sich in den ältesten Denkmälern der deutschen Literatur; z. B im Nibelungen-Liede,
und wird dort dadurch ein Recke, ein Held bezeichnet. Ob das Wort in unseren alten Gedichten auch als Synonym von Schwert gebraucht wird,
weiß ich nicht.) — wenigstens das, was wir heute darunter verstehen — ist nichts anderes als ein verkümmertes und
entartetes Schwert. Er entstand erst nach der Erfindung der Schußwaffen, als das Schwert, die eigentliche ritterliche
Waffe auf Hieb und Stich, immer mehr und mehr ihre Bedeutung zu verlieren anfing. So wurde aus dem breiten,
starken Schwert eine schmale, biegsame Klinge, die am Gefäß allerlei Zutaten, als: Stichblätter, Korb, Bügel u.
dergl., erhielt, bis endlich im 18. Jahrhundert der Galanteriedegen die Metamorphosen beschloß, der wegen seiner
Lächerlichkeit im Volksmunde allerlei Benennungen erhalten hat. Eben im 18. Jahrhundert ist der „Degen“ in unsere
Rituale hineingekommen, in einer Zeit, da jeder Mann von Stande einen Degen trug. Ein Beweis dafür ist der in der
Großen Loge zu den drei Weltkugeln noch heute bestehende Gebrauch, daß der vorbereitende Bruder dem
Suchenden Hut und Degen abfordert und diese als Zeichen des Gehorsams dem Meister überreicht; natürlich muß
jetzt dem Aufzunehmenden zu diesem Zweck, sobald er das Logenhaus betreten hat, erst ein Degen überreicht
werden, was in jenen Zeiten, als er diesen schon an der Seite trug, nicht nötig war. — Das Schwert ist nun einmal die
ritterliche Waffe, die schon der Knappe erhielt, um sich in seinem Gebrauch zu üben, und darum paßt sie auch allein
für uns, die wir uns Freimaurer-Ritter-Lehrlinge nennen. Wie das Schwert des Ritters, so muß auch das unsrige die
Kreuzesform, den vierfachen rechten Winkel, zeigen, welche beim Degen ganz verloren gegangen ist. Daß es dem
Ritter auch als Kreuz gegolten hat, geht daraus hervor, daß er es auf dem Schlachtfelde im Sterben küßte, wenn kein
Priester vorhanden war, der ihm das Kreuz vorhalten konnte. Außerdem ist das Schwert die ideale Waffe im
allgemeinen. Wenn ein Herrscher einen Krieg anfängt, so sagen wir nicht, er greift zum Säbel oder zur Muskete oder
zur Kanone, sondern er greift zum Schwert. — Darum müßte nach meiner Meinung das Wort „Degen“ aus unserm
Gebrauchtum gänzlich verschwinden und überall das Wort „Schwert“ dafür an die Stelle treten. —
Wie kommt nun das Schwert in die Loge?, so fragt mit unsern Gegnern vielleicht mancher neuaufgenommene
Bruder, der sich — gewiß mit Recht — die Loge als eine Stätte des Friedens vorgestellt hat. Sicherlich soll unser
Maurertempel eine Stätte sein, wo Friede und Eintracht herrscht, eine Heimat für Licht und Wahrheit. Die höchsten
Güter der Menschheit sollen in ihr wohnen, und den Suchenden, die an ihre Pforte klopfen, soll der Weg zu ihnen
gewiesen werden. So sollte es sein. Auch in der Welt, von welcher die Loge das Abbild ist, sollten Licht, Wahrheit,
Frieden und Eintracht herrschen. Das ist aber nicht der Fall. Die Finsternis hat ihr Schattenreich ausgebreitet, Irrtum
nimmt der Menschen Sinn gefangen, der Menschen, die nicht in Frieden leben können, weil sie nicht alle durch
dieselbe Sehnsucht nach dem einen, ewigen Licht geleitet werden. Wo aber Licht und Wahrheit wohnen sollen, da
muß Finsternis und Irrtum ausgetrieben werden; und das kann ohne Kampf nicht geschehen, und wir, die wir in erster
Reihe zu Streitern in diesem Kampf berufen sind, wären nur halbe Maurer,. wenn wir nicht mit der Kelle in der einen
und mit dem Schwerte in der anderen Hand unsere Arbeit beginnen wollten. In unserem Fragebuche (Abt. III, Art. 3,
Fr. 11) heißt es:
„Weshalb bedienen sich die Brüder der Degen in der Loge?“
„Zur Erinnerung der Wiederaufbauung der Mauern Jerusalems.“
In der heiligen Schrift aber heißt es (Nehem. 4,18) :
„Ein jeglicher, der da bauete, hatte sein Schwert an seine Lenden gegürtet und bauete also.“
So mußten die Kinder Israel gerüstet sein gegen die feindlichen Mächte, die sie am Wiederaufbau der heiligen Stadt
und des Tempels hindern wollten; und so auch wir. Wenn wir in vielen anderen Logen das Schwert nicht finden, weil
es dort nicht angebracht erscheint, durch >384< ein Sinnbild an den Kampf erinnert zu werden, so wollen wir
darum mit jenen Brüdern nicht rechten. Der Kampf bleibt aber darum auch ihnen nicht erspart. Wir aber wollen durch
das Schwert, das wir führen, allezeit an ihn gemahnt sein.
Dieser Kampf aber wird und muß dauern, solange es Menschen gibt, die zum Lichte streben, und je heller das Licht
aufleuchtet, desto erbitterter wird der Kampf geführt. Das zeigt die Geschichte. Das hellste und größte Licht in der
Geschichte der Menschheit ist die Erscheinung Christi und seiner Lehre. Wo gibt es nun etwas, um das erbittertere
Kämpfe geführt sind? Oft freilich mit unreinen Händen, oft genug waren Haß, Rachgier, Herrschsucht und
Fanatismus die unlauteren Motive, welche die reinen Waffen befleckt haben. Aber immer war es doch dieses höchste
und reinste Licht, das die Ursache zu solchem schweren Ringen gab. Das wußte der große Meister, der der Welt das
Licht gebracht hatte, weil er selbst das Licht der Welt war, am besten, und darum sprach er zu seinen Jüngern: „Ihr
sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, Frieden zu senden auf Erden; ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden,
sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater, und die Tochter wider
ihre Mutter, und die Schnur wider ihre Schwieger; und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen
sein.“ (Matth. 10, 34 bis 36.) Und abermals sprach er zu ihnen beim letzten Abschied, wohl wissend, daß er sie
führerlos zurücklassen müsse: „Verkaufet eure Kleider und kaufet ein Schwert.“ (Luk. 22,36.) Das sprach derselbe,
der zu seinen Jüngern beim Scheiden sagte: „Den Frieden lasse ich euch; meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe
ich, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh. 14,27.) Er, der den Frieden in seiner
Brust trug, hinterließ ihn denen, die ihn verstanden, und sein letzter Zweck war, ihn der ganzen Welt zu geben; aber
er wußte sehr gut, daß dieser höchste Sieg nicht ohne schwerste Kämpfe errungen werden kann, und daß es eines
langen Ringens und einer Entwicklung von Jahrtausenden bedürfen werde, ehe das, wozu er den unvergänglichen
Grund gelegt hatte, zur Reife gelangen könne.
Wir aber als des Meisters Nachfolger sind Kämpfer, denen das Schwert zur Hand sein muß. Aber er hat uns
auch gelehrt, wie wir es zu gebrauchen haben, in welchem Sinn und Geist er den Kampf, den unvermeidlichen,
geführt wissen wollte. Als Petrus das Schwert zog, um seinen Meister zu verteidigen, da wehrte dieser es ihm, weil es
in Zorn und Leidenschaft gezückt war, und sprach: „Stecke dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht
trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ Nicht zur Rache und nicht zum Anfall soll das Schwert uns dienen, nicht
mit Erbitterung soll es geführt werden, sondern zum Schutz und zur Verteidigung der Wahrheit. Ja, das Wort der
Wahrheit selbst soll uns zum zweischneidigen Schwert werden, wie es heißt in der heiligen Schrift: „Das Wort Gottes
ist lebendig und kräftig als ein zweischneidiges Schwert;“ und Paulus, dem überall, wo seine Gestalt in Werken der
Kunst erscheint, das Schwert als Attribut beigegeben ist, nennt das Wort das Schwert des Geistes. (Eph. 6,17.)
Kann hiernach der Neueingetretene noch fragen, wie das Schwert in die Loge kommt, und kann es ihm noch
auffallend erscheinen, im Friedenstempel eine bewaffnete Brüderschaft zu finden? Wahrlich, die Waffe, die nur
bestimmt ist, das Höchste zu verteidigen und den Frieden zu erringen, ist rein und geweiht; sie wird zum Symbol für
das Wort der Wahrheit selbst. Wie die Strahlen der Sonne den trüben Nebel, der das hehre Tagesgestirn verdunkeln
will, verscheuchen und auflösen, so sind unsere Schwertklingen Lichtstrahlen zu vergleichen, die in die Finsternis
hinein fallen sollen, um das zu befreien, was in ihren Banden liegt.
Hiernach wird es auch ersichtlich, welch eine bedeutungsvolle Rolle das Schwert bei unserer ganzen
Lehrlingsaufnahme spielt. Der Suchende betritt das Logenhaus als ein Unerleuchteter, der im Dunkeln ist und das
Licht zu sehen wünscht; und unser Wunsch ihm gegenüber kommt dem seinigen entgegen: wir wollen die Finsternis,
die noch in ihm herrscht, vertreiben und ihn erleuchten durch ein Licht, das er bisher zu benutzen gehindert war.
Überall auf dem Wege der Aufnahme begegnet er dem Schwert, dem Strahl der Geistessonne, der die Finsternis
vertreiben will. Zuerst erblickt er diesen Strahl in der dunklen Kammer, wohl nur ganz flüchtig, vielleicht beim
Öffnen der Tür, wenn der vorbereitende Bruder mit gezücktem Schwert zu ihm eintritt. An der Pforte der Loge tritt
ihm der wachthabende Bruder mit bloßem Schwerte entgegen, das er „allezeit in der Hand >386< hat, um die
fremden Unkundigen abzuhalten.“ (Frgb., Abt. III, Art. 3, Fr. 12.) Noch muß der Suchende als Unkundiger für ihn
gelten. Erst wenn der Meister ihn für einen Anhaltenden erklärt, d.h. für einen, „welcher fortfährt, den Weg zum
Lichte aufzusuchen“, dann senkt sich seines Schwertes Spitze, und um seines Eifers willen darf dem Anhaltenden der
Eintritt nicht länger verwehrt werden. Bei der Aufnahme selbst aber richtet sich das Schwert gegen seine Brust,
zunächst das des zweiten Aufsehers, dann sind es die Schwertspitzen aller Brüder, welche sein Herz treffen wollen.
Der Zweck ist immer derselbe: es soll Licht werden in ihm, das Wort der Wahrheit und des Lebens soll in ihm befreit
werden, getötet wird in ihm nur das, was der Finsternis angehört. Wohl ihm, wenn er, wie einst jener Arnold von
Winkelried die Speerspitzen der feindlichen Phalanx in sein Herz hinein drückte, „um der Freiheit eine Gasse zu
machen“, die Schwerter derer, die ihm Brüder sein wollen, freudig und freiwillig in sein Herz aufnimmt, um dem
Lichte den Weg in sein Inneres zu bereiten. Endlich legt er bei der Ablegung des Gelübdes und bei der Blutmischung
die Hand auf das über dem Evangelium liegende Schwert des Meisters. Wenn die Bibel uns das Wort der Wahrheit
ist, so erinnert uns das darüber ausgestreckte Schwert, daß die Wahrheit, die das heilige Buch verkündigt, im
Menschenleben beschützt, verteidigt und durchgeführt werden muß.
„Die Hand auf das Schwert gelegt, gibt die Ergebenheit gegen unseres ehrwürdigen Ordens Richterstuhl zu
erkennen, dessen Gesetzen Sie sich unterwerfen,“
so heißt es in unseren Akten (L. B. II, Beil. Seite 38). Das Gesetz des Ordens besteht nicht sowohl in den von
Menschenhand geschriebenen Satzungen, welche das Leben unserer Verbindung regeln, sondern es ist im höchsten
Sinne darunter das Gesetz zu verstehen, durch welches dem Licht und der Wahrheit die rechte Wirksamkeit
verschafft, der Finsternis aber eine Grenze gesetzt wird. Ihm gelobt sich der Suchende an und ist bereit, seinen
Vorsatz, diesem Gesetz zu dienen, mit seinem Blute zu besiegeln.
So kann denn zum Schluß nach vollzogener Aufnahme das Schwert, ein Strahl des ewigen Lichtes, ihm in die Hand
gegeben werden. Bedeutet für ihn die Kelle das göttliche Wort, das fortan tief in der verschwiegenen Werkstatt seines
Innern schaffen soll, so führt ihn das Schwert, das er nun erhält, auf die Wirksamkeit seines inneren Lichtes nach
außen hin. Zum Noviziat einer Ritterschaft des Geistes ist er eingeweiht, in welcher er sich vorzubereiten hat für den
hohen Beruf, ein Streiter für das höchste Licht zu sein. Das Schwert, das er nun in der Hand hält, erinnert ihn daran,
daß er es fortan selbst auf die Suchenden zu richten hat, die nach ihm kommen. Darum prüfe er sich, ob er würdig
und wohl geschickt sei, einen Strahl des Lichtes auszusenden in das Herz eines Mannes, der berufen ist, sein Bruder
und Mitarbeiter am Werke des Ordens zu werden. Das kann aber nur der, welcher sich frei gemacht hat von den
Banden der Finsternis. Daran soll ihn der Hut, das Zeichen des freien Mannes, erinnern, den er neben dem Schwert
zurückerhält mit dem Geheiß, sein Haupt damit zu bedecken, das er fortan nur entblößen soll beim Gebet und bei der
Nennung des Namens des großen Baumeisters der Welt.
Wenn der Meister dem neuen Bruder die Waffe überreicht, so sagt er, daß er sie tragen soll „zur Erinnerung an seine
Pflicht, den Orden, den Unschuldigen und den Wehrlosen zu verteidigen.“ (L. B. II, Seite 58.) Das will sagen, er soll
überall da eintreten mit seiner Kraft, wo das Licht gedämpft und die Wahrheit unterdrückt wird. So kämpft er für den
Orden, der den höchsten Gütern der Menschheit dienen und das Reich des Friedens verbreiten will.
Noch freilich ist diese Zeit in weiter Ferne, von der der Prophet sagt, daß in ihr die Schwerter zu Sicheln und die
Speere zu Pflugscharen werden sollen; aber wir arbeiten daran, daß diese Zeit heraufkomme, jeder nach seinen Gaben
und seinem Vermögen. Können wir auch der Welt diesen Frieden nicht geben, so mögen wir ihn wenigstens für uns
selbst erringen und in den kleinen Kreisen zu verbreiten suchen, die unserer Wirksamkeit geöffnet sind. Dann wird
unser Werk Früchte bringen. Und wenn wir dereinst Kelle und Schwert niederlegen nach treuer Arbeit und rühmlich
bestandenem Streit, dann wird der ewige Meister, der auch das Geringste ansieht, auch auf unser Werk seinen
Gnadenblick lenken und es nicht verloren sein lassen. (1898.) >388<
Die Handschuhe.
Die maurerische Bekleidung des neuaufgenommenen Bruders wird vollständig durch die Übergabe der Handschuhe.
Die Bekleidung im engeren Sinne besteht aus dem Schurz und den Handschuhen, während Kelle und Schwert
Werkzeuge bzw. Ausrüstungsgegenstände des neuen Maurers sind.
Die Übergabe der Handschuhe findet unmittelbar nach der des Schurzes statt; hierdurch und durch die gleiche Farbe
und gleichen Stoff wird beides zueinander in Beziehung gesetzt. Der Schurz sowohl wie die Handschuhe sind von
weißem Leder; die weiße Farbe deutet auf Aufrichtigkeit und reine Gesinnung, die Dauerhaftigkeit des Stoffes auf
Beständigkeit und Treue. (L. B. II, Seite 55.)
Die Handschuhe, wenn wir sie als Symbol betrachten, scheinen aus der spezifischen Werkmaurer-Symbolik
herauszufallen. Den Schurz finden wir beim Maurer wie beim Steinmetzen und anderen Gewerben; unter den
Sinnbildern der Tafel finden wir eine ganze Anzahl, welche direkt den Werkstätten entnommen sind. Die Handschuhe
dagegen haben mit dem Handwerk, namentlich mit dem Maurer- und Steinmetzgewerbe, nichts zu schaffen. Kein
Handwerker arbeitet mit Handschuhen, weil die damit bekleidete Hand an Geschicklichkeit verliert. Man versuche
einmal, mit der behandschuhten Hand zu schreiben oder zu zeichnen oder sonst etwas zu verrichten, wozu die
unbekleidete Hand die Fertigkeit durch Übung erlangt hat, so wird man bald merken, ein wie großes Hindernis der
Handschuh für die exakte Arbeit ist. Selbst die gröbere Arbeit der verschiedenen Gewerbe wird ohne Handschuh
verrichtet.
Wozu dient nun aber der Handschuh? Zunächst ist er ein Schutz für die Hand, namentlich für ihre Innenfläche. Die
Reibung, welche bei kräftig anzufassenden und zu handhabenden Gegenständen unvermeidlich ist und störend
werden kann, wird durch den fest anliegenden Handschuh von der Handfläche abgehalten oder wenigstens
vermindert. Die Hand gewinnt dadurch an Festigkeit und Sicherheit. Die Zügel des Pferdes beim Reiten oder beim
Fahren regieren wir viel sicherer und bequemer mit Handschuhen als ohne dieselben, vor allem aber kann der Fechter
den Handschuh nicht entbehren; erst durch ihn liegt der Griff seiner Waffe fest und sicher in seiner Hand. Der
Reitersmann, der mit der Linken den Zügel seines Rosses hält und mit der Rechten seinen Pallasch führt, um
dreinzuschlagen, ist stets behandschuht. Ebenso war es der Ritter, dessen Handschuhe an der äußeren Fläche der
Hand und der Finger mit Eisenplatten belegt waren, während das Leder der Innenfläche fest den Schwertgriff
umfaßte. Welche wichtige Rolle der Handschuh beim Schlägerfechten und Florettieren spielt, ist bekannt. — Ich
möchte daher mich der Ansicht zuneigen, daß der Handschuh nicht durch die Werkmaurerei, mit welcher er nichts zu
tun hat, in unsere Symbolik hineingekommen ist, sondern daß dies vielmehr durch ein ritterliches Element geschehen
ist, mit welchem unsere Verbindung — wir wissen nicht genau, wann und wie — in Verbindung gewesen ist. Aus
dieser Zeit schreiben sich meiner Meinung nach die Handschuhe her, welche auch von denjenigen maurerischen
Lehrarten, welche von einer Ritterschaft nichts wissen wollen, trotzdem beibehalten sind.
Bei diesem kräftigen Zufassen ist es die Dauerhaftigkeit des Stoffes, da die Handschuhe ebenso wie der Schurz von
Leder sind, welche sie tüchtig macht. Beständigkeit und Treue sollte der dauerhafte Schurz ausdrücken. Bei den
Handschuhen möchte ich diese beiden Eigenschaften in Festigkeit und Energie übersetzen.
Nun haben die Handschuhe aber noch einen anderen Zweck. Sie sollen die Hand nicht nur vor Verletzungen
schützen, sondern auch vor Verunreinigungen, dann aber soll auch das, was wir anfassen, durch sie vor Verletzung
und Verunreinigung geschützt werden. Die Redensart „etwas mit Handschuhen anfassen“ bedeutet: etwas mit Zartheit
und Rücksicht behandeln. Die Dinge in der Welt, mit denen wir uns zu befassen haben, sind nicht immer so sauber,
wie sie sein sollten. Wir wissen ja, daß Finsternis überall herrscht und das Licht, das wir suchen, zu unterdrücken
sucht. Wenn wir uns, wie es ja unvermeidlich und auch notwendig ist, solchen Berührungen nicht entziehen, so
bleiben davon leicht Spuren an uns zurück; das muß aber verhindert werden, >390< denn durch solche Berührungen
werden wir herabgezogen, unsere innere Arbeit wird unterbrochen, und der Zug unseres Geistes nach oben wird
gehemmt. Daher haben wir dafür zu sorgen, daß wir nicht verunreinigt werden; das Sinnbild dafür ist der Handschuh,
mit dem wir unsere Hand bekleiden. Das zarte Weiß, das er zeigt, darf nicht befleckt werden. Das ist aber eine große
Kunst, die Dinge so anzufassen, daß wir unbefleckt aus der Berührung hervorgehen. Wir erwerben sie zugleich mit
der k. Kunst. Denn wenn wir durch sie lernen, unser inneres Licht und Leben zu erwecken, so erhalten wir dadurch
zugleich die Fertigkeit, allen Dingen, mit denen wir in Berührung kommen, ihre reine und lichte Seite abzugewinnen,
und das wird wiederum fördernd und belebend auf uns einwirken.
Nun aber haben wir nicht nur für uns eine Befleckung von außen her zu fürchten, sondern es ist auch die Gefahr
vorhanden, daß das Reine und Zarte, mit dem das Leben uns zusammenführt, durch uns eine Verunreinigung,
Herabsetzung und Kränkung erleidet. Denn in uns ist nicht alles so rein und licht, wie es sein sollte, auch wir gehören
der Finsternis an, wenn auch in uns der edle Vorsatz erwacht ist, sie zu bekämpfen. Darum ist es unsere fortwährende
Aufgabe, sie niederzuhalten und in ihre Schranken zurückzuweisen, wenn sie ihr Haupt erheben will. In allen
möglichen Gestalten tritt sie in uns auf, in die sie sich verkappt, so daß wir in unserer Eigenliebe nur zu oft ihr rechtes
Gesicht nicht sehen und wohl gar diese Masken für etwas Berechtigtes und unserer Eigenart und unserem Charakter
Angemessenes halten. Rücksichtslosigkeit, Schroffheit, Heftigkeit vergeben wir uns selbst gar zu leicht und bedenken
nicht, wie sehr sie uns selbst und anderen schaden. Das sollte aber dem Maurer, der die weißen Handschuhe trägt,
stets gegenwärtig sein. Es gibt eine Kunst, alle Dinge beim rechten Ende zu ergreifen, in allen Verhältnissen des
Lebens mit feinem Verständnis die gegebene Lage zu erfassen und stets das Richtige zu finden, das dahin gehört. Wir
nennen das Takt. Manchem ist dieser Takt angeboren. Wie aber in der Musik, von welcher der Ausdruck entlehnt ist,
es oft langer und mühevoller Übungen bedarf, um dem Schüler das richtige Taktgefühl beizubringen, so ist es auch
im Leben, wo diese Fertigkeit zu erlernen noch schwieriger ist, da wir meistens unser eigener Lehrmeister bleiben
und selten von anderen eine Einwirkung erfahren, die wir uns auch nicht recht gefallen lassen wollen; denn je älter
wir werden, desto schwerer wird es uns, von anderer Seite eine Zurechtweisung hinzunehmen. Erfolgt nun gar eine
solche gleichfalls in taktloser Art, so kann das Schlimmste daraus entstehen. Auf dieses Taktgefühl weist nun den
Maurer der weiße Handschuh hin. Es entspringt am leichtesten und ungezwungensten einem offenen und reinen
Herzen, das ohne Hintergedanken sich seinem Nächsten naht, und in dessen tiefstem Grunde die Liebe wohnt, welche
sich am Ende doch als die höchste Kraft erweist, durch welche alle Gegensätze ausgeglichen werden. Darum bedeutet
das reine Weiß der Handschuhe ebenso wie beim Schurz die Reinheit und aufrichtige Gesinnung unserer
Brüderschaft.
Drei Paar Handschuhe erhält der neuaufgenommene Bruder.
,, Hier, mein Bruder“, sagt der Meister, „empfangen Sie das erste Paar Manneshandschuhe, welches Sie be
ständig aufbewahren müssen. Diese weißen Handschuhe sollen Ihnen zum Zeichen Ihrer Aufnahme dienen,
und wenn Ihre Meister es einst nötig finden, ihre Bedeutung zu erklären, so werden Sie darüber weiteren
Unterricht erhalten.“ Und ferner: „Hier, mein Bruder, empfangen Sie das zweite Paar, welches Sie allezeit
tragen müssen, wenn Sie mit den Brüdern in der Loge sind.“ (L. B. II, Seite 55 ff.)
Was das zweite Paar anbetrifft, so ist für seine Deutung dem oben Gesagten kaum etwas hinzuzusetzen. Wenn die
Brüder in der Loge beisammen sind, vereinigt zu heiligem Geschäfte, bereit zum Dienste des Lichtes und der
Wahrheit, die Herzen emporgehoben zum Urquell alles Guten und Großen, dann soll das zweite Paar getragen
werden, dann vereinigen sich die Hände, bedeckt mit den weißen Handschuhen, zum Griff der Liebe und zur Kette
der Eintracht. Durch den Handschuh hindurch fühlen sie gegenseitig die Wärme des Blutes und den innigen Druck,
der in fester Freundschaft die Getrennten in eins zusammenschließt, und das reine Weiß, womit ihre Hände bedeckt
sind, soll ihnen die Gewähr geben, daß Reinheit, Zartheit, milder und liebreicher Sinn zwischen ihnen herrschen
möge; denn wenn die Logenarbeit die Geister dem Höchsten zuwendet, dann kommt das Licht in uns zur Wirkung,
dann spürt es auch der Bruder neben uns, dem sich unser Inneres leichter denn sonst erschließt, und dem wir freudig
unser Bestes, Reinstes und Heiligstes hingeben. >392<
Nun aber das erste Paar Handschuhe, das übrigens nur in unserer Lehrart allein üblich ist, — was bedeutet es? — Die
Worte, welche bei der Überreichung gesprochen werden, sind dunkel. Wir sollen diese ersten Handschuhe zum
Zeichen unserer Aufnahme beständig aufbewahren und werden vielleicht einmal später eine nähere Aufklärung
erhalten. Überall nun, wo der Orden uns auf eine spätere Zeit vertröstet, in welcher uns die rechte Kenntnis mitgeteilt
werden soll, darf das Nachdenken über den fraglichen Gegenstand nicht ausgeschlossen sein, im Gegenteil wird sogar
der Orden Freude empfinden über den Eifer eines Lehrlings, der durch eigene Forschung ohne Vorwitz zu finden
sucht, was ihm noch verborgen ist. So ist es z.B. mit den drei Schritten, und so ist es auch hier mit dem ersten Paar
Handschuhe. Während wir das zweite Paar, das wir in Gebrauch zu nehmen haben, öfter durch ein anderes ersetzen
müssen, sobald es unbrauchbar geworden ist, bleibt das erste beständig, solange wir leben, in unserem Besitz. Zum
Zeichen unserer Aufnahme soll es uns dienen und uns täglich daran erinnern, was wir geworden, wozu wir berufen
sind, und welches große Ziel wir erreichen sollen. Schurz und Kelle, das zweite Paar Handschuhe und das Schwert
bleiben wohl in der Loge zurück und finden dort ihren Aufbewahrungsort. Das erste Paar aber nimmt der junge
Lehrling mit nach Hause und behält es als ein Kleinod und Heiligtum in seinem Besitz. Es soll ihm ein Talisman
werden, bei dessen Anblick er des Tages gedenkt, an welchem er zu dem Lichte geboren ward, dessen Schein er von
der Stunde seiner natürlichen Geburt zu benutzen gehindert war. Vielleicht tut er es in einen weißen Umschlag,
schreibt das Datum seiner Aufnahme darauf und legt das unscheinbare Päckchen in irgend ein Schubfach, aber in ein
solches, das er oft öffnet. Vornan ist sein bester Platz, damit es ihm sogleich ins Auge falle und so der Zweck der
Erinnerung erreicht werde. Da liegt es denn jahrelang, vielleicht jahrzehntelang. — Wenn das zweite Paar zum
Tragen bei den Arbeiten der Loge bestimmt ist, so begleitet das erste den Maurer in das profane Leben. Wenn er auch
seine Hände nicht damit bekleidet, so hat er es doch stets zur Hand, und es mahnt ihn an seine Pflichten. Jede
Versäumnis aber heftet sich an diese weißen Handschuhe als ein Fleck, der zwar für menschliche Augen nicht
sichtbar, aber für das allsehende Auge des ewigen Meisters offenbar ist. Auf das zweite Paar Handschuhe, das er in
der Loge trägt, blicken die Brüder, auf das erste Paar, das im Verborgenen aufbewahrt wird, schaut der große
Meister. Und wenn die Hochmitternachtsstunde geschlagen hat, wenn der müde Leib zur letzten Ruhe gebettet wird
im dunklen Totenschrein, dann finden wohl die Hinterbliebenen das erste Paar und sprechen: „Siehe da! wie hat er
diese Handschuhe so sorgfältig verwahrt! Wie teuer und wert mögen sie ihm gewesen sein! Wir wollen sie ihm
mitgeben auf seinem letzten Gange, damit keine andere Hand sie entweihe.“ — Und so ziehen sie die lange
verwahrten Handschuhe dem Entschlafenen auf die starren Totenhände, und er nimmt sie gleichsam mit vor den
Richterstuhl des höchsten Meisters, dessen Gnadenhand die Flecken, die das zarte Weiß im langen Leben, im Ringen
und Kämpfen, im Irren und Fehlen erhalten hat, tilgen möge.
Als drittes und letztes Paar Handschuhe empfängt der neue Bruder Frauenhandschuhe, und der Meister spricht bei
ihrer Überreichung:
„Die weißen Frauenhandschuhe sind für Sie bestimmt, um sie derjenigen zu geben, für welche Sie die größte
Achtung hegen. Durch dieses Geschenk bezeugen Sie Ihr reines Herz derjenigen, die Sie einst zu Ihrer
gesetzmäßigen Maurerin erwählen oder bereits erwählt haben. Lassen Sie aber solche nie von unreinen
Händen getragen werden !“
Die Reinheit des Verhältnisses, die Zartheit des gegenseitigen Begegnens, wie sie, von dem zweiten Paar angedeutet,
zwischen den Ordensbrüdern stattfinden soll, muß auch zwischen dem Maurer und derjenigen walten, die er zur
Gefährtin seines Lebens erkoren hat, und zwar in noch viel höherem Grade. Je näher sich zwei Menschen im Leben
treten, desto genauer lernen sie sich kennen, desto schärfer nehmen sie gegenseitig ihre guten Seiten und ihre Fehler
und Schwächen wahr. Am vollkommensten ist dies bei der innigen Lebensgemeinschaft von Mann und Weib der Fall.
Wenn aber hier die weißen Handschuhe im rechten Sinne wirken, so wird eines an des anderen Lichtseiten sich
erheben und durch sie beglückt sein, die Schattenseiten aber durch das Licht der Liebe zu erhellen suchen, oder sie
mit Nachsicht und Freundlichkeit ertragen. Der Maurer bezeugt sein reines Herz der Frau, welcher er die Handschuhe
überreicht, d.h. er bietet ihr sein Herz an, so rein er es zu geben vermag, er naht sich ihr mit so reinen Gesinnungen,
wie sie für den Lebensbund erforderlich sind. Nicht Sinnenreiz soll ihn zu dem Weibe seiner Wahl hinziehen,
sondern die Erkenntnis des inneren Wertes, welcher nicht nur bleibt, sondern sich >394< vermehrt, wenn die Blüte
der Jugend und Schönheit längst dahin gesunken ist.
Aber die weißen Frauenhandschuhe haben eine noch tiefere Bedeutung. Es ist eine Art Maurerweihe, welche die
Gattin des neu aufgenommenen Bruders durch die Überreichung der Handschuhe erhält. Der Orden gibt ihr
geradezu den Titel einer „rechtmäßigen Maurerin“ und spricht dadurch in ganz unzweideutiger Weise aus, daß sie
unsere Schwester sein und teilhaben soll an dem maurerischen Werke unseres Bruders. Wohl heißt es an einer Stelle
unserer Lehrlingsakten (L. B. II, Beil., Seite 32):
„Wenngleich wir das schöne Geschlecht hochschätzen, so gestatten wir demselben doch den Eintritt bei uns
nicht, damit seine Gegenwart unsere Brüder an Beachtung der Ordnung und an der Arbeit nicht hindere“;
damit aber ist nicht gesagt, daß die Frau vom Orden gänzlich ausgeschlossen sei. — Freilich wäre es ein sehr
mißliches Ding, die Frauen in die Geheimnisse unserer k. Kunst einzuweihen und sie zu unseren geheimen
Versammlungen zuzulassen. Sie unseren ganzen Aufnahmegebräuchen, in denen doch der ganze rnaurerische Weg,
wie wir gesehen haben, sich abbildet, zu unterwerfen, wäre schon an und für sich sinnlos und bei der viel größeren
Erregbarkeit der weiblichen Natur geradezu ein Wagnis. Freilich könnte man sie auf andere Weise in die
Maurermysterien einweihen und sie an dem Unterrichte der Brüder teilnehmen lassen. An Versuchen dazu hat es
nicht gefehlt, namentlich in Frankreich. Man hat sog. Adoptionslogen eingerichtet, in welchen Frauen nach einem
ganz anders gearteten Ritual aufgenommen werden und arbeiten, teils ganz selbständig, teils unter Teilnahme und
Aufsicht von Männern. Die Erfahrungen, welche man damit gemacht hat, sind durchaus nicht ermutigend. Überall
da, wo solche Frauenlogen aufgetaucht sind, waren sie ein sicheres Anzeichen des Verfalls der Freimaurerei.
Trotzdem taucht die Frauenfrage in der Maurerei immer wieder auf. Immer von neuem hört man die Ansicht
äußern, daß es nicht recht sei, die Frauen auszuschließen, sie seien ebensogut der Erhebung und Veredlung
bedürftig wie die Männer, sie könnten ebensogut wie diese segensreich im Orden wirken, und es sei
ungerecht, sie der Segnungen der k. Kunst nicht teilhaftig werden zu lassen. Viele Logen (aber nicht unserer
Lehrart!) haben Schwesternfeste eingerichtet, welche sich schon sehr unseren maurerischen Arbeiten zu nähern
anfangen. Da werden die Frauen feierlich in den Tempel eingeführt, aus welchem man alle Lichter, Säulen,
Arbeitstafel und sonstige spezifisch freimaurerische Gegenstände entfernt hat. Die Versammlung wird nach einem
dem maurerischen nachgebildeten Ritual eröffnet, worauf dann den Schwestern ein Vortrag gehalten wird, um sie mit
dem Geist unserer Sache vertraut zu machen. Auch damit wird nicht viel erreicht; was die Schwestern sehen, ist doch
nicht das Rechte, das fühlen sie bald heraus, und was sie dort hören, kann ihnen ebensogut gesagt werden, wenn wir
sie ab und zu an froher Tafelrunde in unseren Hallen willkommen heißen, wie es in unseren Logen wohl überall
geschieht. (Wie vorsichtig man mit solchen Schwesternversammlungen sein muß, beweist die Tatsache, daß vor einiger Zeit in dem in
Braunsberg erscheinenden ultramontanen Blatt „Warmia“ unsere harmlosen Schwesternabende und Liedertafeln als „ Orgien“ bezeichnet wurden,
welche zu beschreiben sich die Feder sträubt!) Wie aber soll denn nun die Frau mit der Idee der k. Kunst vertraut gemacht
werden, und wie gelangt sie dazu, sich als gesetzmäßige Maurerin zu betätigen? — Der mühevolle Weg, den wir
gehen, der Gebrauch der maurerischen Werkzeuge, den wir in unausgesetzter Arbeit erlernen, das stete Ringen und
der schwere Kampf, der uns im Streben zum Lichte beschieden ist, — alles dies ist der weiblichen Natur nicht
angemessen. An der Arbeit am rauhen Stein erlahmt die zarte Hand der Frau, und auf dem Dornenpfade zur Höhe
ermattet ihr Fuß; für die folgerichtige Strenge unserer Arbeit hat sie kein Verständnis, sie, deren Lebenselement die
Empfindung ist, durch welche die edle Frau — und von einer solchen kann hier nur die Rede sein — stets sicher
geleitet wird. Ihr Eigentum ist „das ewig Weibliche, das uns hinan zieht.“ Das ist die demutsvolle Hingabe, das
selbstverleugnende Aufgehen in der Liebe. Dies hehre Gut, das auch uns Männern nötig ist zu unserer Vollendung,
und um das wir schwer ringen müssen im Kampfe mit unserem eigenen Selbst, das sich im herrischen Trotze dagegen
auflehnt, besitzt die edle Frau, denn es ist ihr als kostbares Geschenk vom Schöpfer in die Wiege gelegt worden, und
sie bringt es dem Manne entgegen als schönste Morgengabe. Des Mannes Leben ist vorwiegend nach außen gerichtet,
des Weibes Leben nach innen; des Mannes Bestimmung ist, zu arbeiten und zu kämpfen, des Weibes Bestimmung ist,
>396< zu lieben. Freilich muß auch das Weib arbeiten und ringen, denn sie ist wie der Mann mitten in das Leben
hineingestellt. Dabei aber bedarf sie der Hilfe und Unterstützung des Mannes; er gibt ihr Stärke, und sie hält sich an
ihm, wie die zarte Efeu-Ranke sich um den Eichenstamm schlingt. Aus des Mannes Herzen hat das Weib zu
empfangen, was ihr den festen Halt im Leben gibt, und aus des Ordensbruders Herzen wird der Schwester offenbar,
was das Geheimnis der Freimaurerei ist; das Beste, was er sich in seinem Arbeiten und Streben durch die k. Kunst
errungen hat, gehört ihr, und was sie nimmt, das gibt sie ihm reichlich wieder durch die Liebe. Sie ist des Weibes
höchstes Wissen, und nur durch sie kann auch der Mann erst wissend werden: „Das ewig Weibliche zieht ihn hinan.“
Beide, Mann und Weib, ergänzen sich gegenseitig aus ihrer inneren Natur heraus. Er gibt ihr Stärke, sie verklärt ihn
mit der Schönheit der Seele in der Liebe. So gelangen beide zum höchsten Wissen, zur Weisheit, und damit werden
sie eins. Mann und Weib sollen nicht nur ein Leib, sondern auch ein Herz und eine Seele sein. Darum steht
geschrieben (1. Mos. 1,27):
„Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde — nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib
schuf er sie.“
So wird die Logenschwester zur gesetzmäßigen Maurerin, die vollen Anteil haben soll an dem Werke, das sich in den
stillen Mauern der Loge und im Herzen des Bruders vollzieht. Jeder Bruder aber, welcher derjenigen, die er zu seiner
rechtmäßigen Maurerin erwählt hat oder erwählen wird, die weißen Frauenhandschuhe überreicht, sei darauf bedacht,
die neue Schwester an die Arbeit zu stellen. Die Weihe zur k. Kunst ist ihr gleichsam angeboren; des Bruders Sache
aber ist es, sie über ihren Beruf als Schwester, der sich an diese Weihe knüpft, aufzuklären und sie mit unzerreißbaren
Banden nicht nur an das eigene Herz, sondern auch an unseren Orden zu fesseln. (1904.)
Die Lehrlingstafel
Die schwarze Tafel mit den weißen Figuren.
Wenn der fremde Suchende auf langem mühevollen Wege endlich zur Aufnahme gelangt ist, dann darf er das
berechtigte Verlangen hegen, das eigentliche Geheimnis des Ordens zu erfahren. Es kann ihm nicht zugemutet
werden, daß er die richtige Vorstellung von dem Wesen des maurerischen Geheimnisses schon mitbringt. Wie muß er
nun erstaunen, wenn er erfährt, daß das, was er sehnlichst zu kennen wünscht, nicht unmittelbar mitgeteilt werden
kann, sondern, daß jeder einzelne es für sich erringen und erarbeiten muß. Das Geheimnis der k. Kunst läßt sich nicht
aufschreiben und schwarz auf weiß nach Hause tragen. Und dennoch sieht der junge Lehrling es aufgeschrieben vor
sich liegen, wenn auch nicht schwarz auf weiß, so doch weiß auf schwarz. In der Mitte der Loge sieht der Lehrling
zwischen drei großen Lichtern eine schwarze Tafel ausgebreitet liegen, auf welcher sechzehn weiße Figuren
gezeichnet sind. Es ist dieselbe Tafel, die er mit den merkwürdigen drei Schritten nach allen Himmelsgegenden
durchmaß. Er berührte sie mit unsicher tastendem Fuße, als noch die Binde seine Augen mit undurchdringlichem
Dunkel bedeckte. Diese merkwürdige Tafel ist eine Urkunde, welche in einer Sprache, die allen Menschen, welches
Idiom sie auch sprechen mögen, verständlich ist, den ganzen Inhalt des Ordens vom ersten bis zum letzten Grade
verkündigt, nicht in trockenen Lehrsätzen, welche veralten können, sondern in lebensvollen Hieroglyphen, welche
keinem Wechsel unterworfen sind, sondern für alle Zeiten dasselbe bedeuten. >400<
Wer aber vermag diese wunderbare Urkunde zu entziffern und ihre stummen Zeichen zum Reden zu bringen? — Das
ist nur auf einem langen Wege möglich, der noch länger ist als der, den der fremde Suchende bei seiner Aufnahme
zurücklegen muß. Die Loge kann weiter nichts tun, als dem angehenden Maurer Anleitung geben, wie er diesen Weg
finden kann, gehen aber muß er den Weg selbst.
In unseren Lehrlingsakten befindet sich eine offizielle Erklärung der Arbeitstafel, welche wir dem
neuaufgenommenen Lehrling vorlesen können, wie das ja in früheren Zeiten nach jeder Aufnahme geschehen ist. Er
würde aber sehr irren, wenn er in den Erklärungen der einzelnen Sinnbilder etwas Fertiges, Erschöpfendes erblicken
wollte, und wenn er glauben möchte, die ganze Wissenschaft des Lehrlings zu besitzen, wenn er dieses Schriftstück
auswendig gelernt hätte. In der VI. Abteilung des Fragebuches lautet die erste Frage:
„Können Sie mir zu meiner Zufriedenheit die allegorischen Figuren erklären, welche Sie auf Ihrer Tafel
erblicken?“ und der Lehrling in seiner Bescheidenheit antwortet:
„Ich hoffe es.“ Und weiter wird gefragt:
„Wa rum antworten Sie: ich hoffe es?“
„Weil ein Lehrling in allen Dingen ungewiß ist.“
Das, was in den Erklärungen gesagt ist, sind nur Andeutungen und Anleitungen zu weiterem Forschen und tieferem
Eindringen in die Sache des Ordens, deren Tiefe unerschöpflich ist; und wenn die folgenden Ausführungen vielfach
über die Erklärungen der Akten hinausgehen, so wollen sie trotzdem auch nichts weiter sein als Anregungen zum
selbständigen Suchen und Finden, gegeben von einem, der selbst ein Suchender und darum dem Irrtum
Unterworfener ist und sich als Lehrling fühlt.
Hören wir jetzt, was unsere Akten uns über die Arbeitstafel sagen.
„Die Arbeitstafel, nach welcher die freien und angenommenen Maurer-Ritter-Johannis-Lehrlinge-Brüder ihre
Arbeiten verrichten sollen, und welche ihnen von ihren Meistern zum Unterricht mitgeteilt worden, soll
viereckig und gleichseitig*) sein, um die Gestalt des Ordens zu bezeichnen, dessen Länge gleich mit seiner
Breite, und dessen Höhe gleich mit seiner Tiefe ist; denn die königliche Wissenschaft umfaßt in ihrer
Vollkommenheit den Umkreis der Welt.“
*) Wenn wir die unsern Akten beiliegende Zeichnung der Tafel betrachten, so scheint dies nicht ganz richtig zu sein, da die Tafel sich dort nicht
als vollkommenes Quadrat, sondern als ein Rechteck darstellt, das, von Westen nach Osten gemessen, länger ist als von Norden nach Süden.
Wenn wir dagegen den Raum östlich vom musivischen Fußboden, diesen als Vorhof auffassend, betrachten, so haben wir ein genaues Quadrat
vor uns. Mau hat nun gemeint, die Tafel anders herstellen und den Fußboden in das Quadrat einschließen zu sollen. Ich bin jedoch nicht dafür,
teils aus ästhetischen Gründen, weil dadurch die beiden Säulen zu gedrungen erscheinen würden, teils aus anderen Gründen, auf welche bei der
Betrachtung des Fußbodens eingegangen werden soll.
Die quadratische Form der Tafel, auf welche unsere Akten hinweisen, findet noch an einer anderen Stelle Erwähnung.
Im Fragebuche ist die Rede von der Gestalt der Loge, deren Länge gleich ihrer Breite, und deren Höhe gleich ihrer
Tiefe ist. Dort wie hier bei der Betrachtung der Tafel wird durch den Kubus bzw. das Quadrat hingewiesen auf die
Vollkommenheit, für welche die Vierzahl, die wir im Quadrat, der Grundfläche des Kubus, finden, das Sinnbild ist.
„Die königliche Wissenschaft umfaßt in ihrer Vollkommenheit den Umkreis der Welt.“ Wie das geschieht, das zeigen
auch vornehmlich die drei verschiedenen Bedeutungen unserer Symbolik. Es ist öfters darauf hingewiesen worden,
daß alles, was der Orden uns bietet, eine moralische, eine historische und eine freimaurerisch-wissenschaftliche
Bedeutung hat. Das gilt namentlich von dem Inhalt der Tafel. Ihre Figuren zeigen uns die tiefsten Ideen, sie deuten
hin auf die weltbewegenden Kräfte, durch welche sich alles entwickelt und vollzieht. Vom Engeren zum Weiteren
und Weitesten fortschreitend, werden wir durch sie geführt und angeleitet; von der eigenen Persönlichkeit läßt uns die
moralische Bedeutung ausgehen, während die historische Bedeutung unseren Blick auf die Geschichte der
Menschheit und auf ihre Entwicklung zur Vollendung lenkt; die wissenschaftliche Bedeutung aber erschließt uns das
Weltall, zeigt uns seine Gesetze und läßt uns einen Blick tun in die Werkstätte des allmächtigen Weltenmeisters.
Wenn die Gebräuche der Lehrlingsaufnahme uns den praktischen >402< Weg zeigen, welchen derjenige, der unsere
k. Kunst erlernen will, einzuschlagen hat, so ist in der Zeichensprache der Tafel die wissenschaftliche Theorie
enthalten, welche unserer Kunst zugrunde liegt. Jede Kunst ist auf einem Wissen gegründet. Der praktischen
Ausführung muß das theoretische Wissen vorangehen. Ohne dieses wächst das künstlerische Schaffen wild und
schrankenlos empor und geht einer sicheren Entartung entgegen. Nur wenn die künstlerische Übung sich stützt auf
eine klare Erkenntnis dessen, was zu leisten ist, und wie dies zu geschehen hat, wird das Bemühen des Strebenden
vom rechten Erfolge gekrönt und ein wahres Kunstwerk geschaffen.
Ganz ebenso verhält es sich auch in unserer k. Kunst, und wie großes Gewicht der Orden auf die theoretische
Erkenntnis legt, geht daraus hervor, daß er nicht nur von einer königlichen Kunst, sondern auch von einer königlichen
Wissenschaft redet. Das geschieht nicht nur an der oben angeführten Aktenstelle, sondern auch an einer Stelle des
Lehrlings-Fragebuches, wo es heißt:
„Was wird unter Maurerwissenschaft verstanden ?“
„Die Lehre von der Erhebung des Menschen durch Tugend zum Lichte und die Kenntnis von dem
Verborgenen oder dem Geheimnis des Ordens.“ (Erb., IV., 5.)
Über diese Stelle ist ausführlicher in den beiden Vorträgen über das Geheimnis des Ordens gehandelt worden.
Diese Lehre, welche die Theorie der k. Kunst enthält, sucht nun der Orden darzustellen durch die Figuren der
Lehrlingstafel, also nicht durch dogmatische Sätze, sondern durch Zeichen, welche erst durch die Arbeit des
Lernenden Leben und Sprache gewinnen sollen. Man hat vielfach gemeint, daß der symbolische Weg, den der Orden
uns vorschreibt, bedenklich sei, und es ist schon öfter allen Ernstes der Vorschlag gemacht, ihn zu verlassen, und alle
Sinnbilder als „nicht mehr zeitgemäß“ abzuschaffen. Man hat geglaubt, daß eine Symbolik, welche verschiedenartiger
Deutung unterliegt, leicht vom rechten Wege ablenken und zum Irrtum verführen könne. Daß ein solches Irren
stattfinden kann, darf nicht geleugnet werden; ja, die Geschichte der Freimaurerei beweist es, wieviel und wie
verhängnisvoll nach dieser Richtung geirrt worden ist. Das darf uns aber nicht abschrecken, denn „Irren ist
menschlich“. Ein Irren findet bei jeder Kunstübung statt. Der Stift des Zeichners kann entgleisen, und der Hammer
des Bildhauers kann fehlschlagen. Wenn es dem Kunstjünger aber rechter Ernst ist, so wird er auch aus seinen
Fehlern lernen, und der Irrtum wird ihm zum Mittel werden, der Wahrheit näher zu kommen. Faßt er die Sache mit
heiligem Eifer und mit reinen Händen an, so wird es ihm nicht schwer fallen, Irrtümer zu vermeiden, umsomehr als
der Orden es an Hinweisungen und Anregungen, den rechten Weg zu finden, nicht fehlen läßt. Die Resultate aber, die
er gewinnt, prüfen sich an sich selbst. Das Echte und Wahre wird ihm zum bleibenden Besitz, und freudigen Mutes
fühlt er sich dadurch gefördert und gehoben; das Falsche aber hat nicht Bestand, es fällt von selbst ab wie die taube
Blüte vom Baume. Wollte man der Freimaurerei ihre Symbole nehmen, so wäre das gleichbedeutend mit ihrer
Zerstörung; der ihr allein eigentümliche Weg des Erkennens und des innerlichen Erlebens würde dadurch gänzlich
verschüttet werden. Darum wollen wir treu bewahren, was uns von unseren Vätern treu überliefert ist, und was sie im
Wechsel der Zeiten als über dem Zeitgeist stehend erprobt und bewährt gefunden haben. Unsere Sinnbilder sind das
Einfachste, das sich denken läßt; sie sind geometrischen Ursprungs; Linie, Winkel, Dreieck, Viereck usw. liegen
ihnen zugrunde. Darum sind sie unveränderlich, denn wer will diesen Urelementen der Gestaltung etwas hinzutun
oder etwas hinweg nehmen. Diese einfachsten Formen aber reden zu uns von dem tiefsten und Bedeutendsten, dazu
sind sie vor allem geeignet; denn das wahrhaft Große und Erhabene ist stets einfach.
Nachdem nun unsere Akten uns in der quadratischen Form unserer Tafel auf das Weltumfassende ihres Inhalts
hingewiesen haben, reden sie uns von der Art, wie sich die Sinnbilder auf dem Grunde der Tafel darstellen. In den
Erklärungen (L. B. II, Beil., S. 43) heißt es:
„Der Grund der Tafel ist schwarz, die Figuren darauf sind weiß; denn das Dunkel, welches auf allen Seiten
unsere Arbeiten umgibt und unsere Geheimnisse verhüllt, wird endlich, wenn die Zeit erfüllet ist, dem Lichte
der Wahrheit weichen, deren klarer Schein allen Arbeiten der Freimaurerei Leben, Stärke und Schönheit gibt.“
Und im Fragebuche (Abt. VI, Fr. 3) heißt es:
„Weshalb ist die Arbeitstafel der Johannis-Lehrlinge schwarz und die Figuren weiß?“ >404<
„Weil das Dunkel, welches unsere Kenntnisse umgibt, vor dem Lichte der Wahrheit flieht.“
Schwarz und weiß, die Farben der Finsternis und des Lichtes sind es, die wir auf unserer Tafel erblicken. Den
überwiegend größeren Raum nimmt die schwarze Farbe ein; sie bildet den dunklen Hintergrund des Bildes, von
welchem sich die bedeutungsvollen Figuren in lichtem Weiß abheben wie die Sterne vom nächtlichen Himmel. Ein
treues Bild der Welt haben wir hier vor uns, wie wir es erblicken im eigenen Leben, im Leben der Menschheit und in
der Natur, die uns umgibt. Die weißen Figuren reden davon, wie das Licht bestrebt ist, sich zu offenbaren, die
Finsternis zu durchdringen und aufzuhalten, sie zeugen von den Ideen, auf denen das Leben und seine Entwicklung
vom Unvollkommenen zur Vollkommenheit beruht, und sie weisen auf eine Zukunft hin, in welcher das höchste Ziel
dieser Entwicklung erreicht sein wird.
Dieses Hervorbrechen des Lichtes aus der Finsternis, diesen Sieg der Wahrheit über den Irrtum zu schauen und
fördern zu helfen —, das ist des vernunftbegabten Menschen herrlicher Beruf, seine höchste Bestimmung. Soll er
aber diesen Beruf wahrhaft erfüllen und ein tätiger und fruchtbringender Mitarbeiter an dem großen Werke werden,
dann muß er, der das Bild der Welt in seinem Inneren trägt, erst in sich selbst die Gegensätze des Lichtes und der
Finsternis erleben und die Schwere ihres Kampfes erfahren. Der Mensch wandelt im Dunkeln und sucht durch
Erweckung und Vermehrung der in ihm wohnenden sittlichen Kraft sich zum göttlichen Lichte zu erheben. Je ernster
er es mit dieser Aufgabe meint, desto mehr lernt er ihre Schwierigkeit erkennen, desto drückender fühlt er das
Gewicht, das ihn belastet und seinen Flug zum Lichte hemmt. Sein vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges
Leben erscheint ihm wie eine schwarze, in Finsternis getauchte Tafel, auf deren dunklem Grunde sich als leuchtende
Punkte jene höheren Momente seines Daseins abheben, in denen er der Gottheit näher gerückt erschien, in denen ihr
Licht ihn durchleuchtete und beseligte. Das sind die hellen Figuren auf der Tafel seines Lebens. Sie festzuhalten, ihr
Licht auf seinen Weg strahlen zu lassen, und auch dann, wenn der Geist der Finsternis seine schwarzen Flügel um ihn
schlägt, sie nicht zu verlieren und ihrer Wirksamkeit bewußt zu bleiben, das ist die schwere Kunst, die er auszuüben
hat. Gelingt es ihm, in ihr fortzuschreiten, dann wächst er sich aus zur sittlichen Persönlichkeit, dann erlangt er die
Kraft, nach außen zu wirken und den Segen des Lichtes, den er in sich selbst erfahren hat, um sich her zu verbreiten.
Erlöst vom Selbstschein, erweitert sich sein Blick; er sieht nicht mehr sich allein, sondern auch seine Mitmenschen,
die lieben ihm wandernd, den gleichen Weg suchend, irrend streben und strebend irren. Er erkennt sie als Brüder,
denen er helfen muß, nicht durch äußerliche Mittel, durch welche er ihnen die Schwere des Daseins zu erleichtern
sucht, sondern indem er, die Pflichten höchster Wohltätigkeit erfüllend, ihnen das Licht, das ihm selbst scheint, zu
übermitteln sucht und es sie finden und benutzen lehrt. So wird er zum Erretter und Heiland, zum Tröster und Führer
für seine leidenden, im Joch der Finsternis schmachtenden Brüder.
Und von dem Bruder, der ihm zur Seite geht, richtet er seinen Blick auf die Menschheit. Auch ihre Tafel ist schwarz,
und spärlich sind die hellleuchtenden Zeichen, welche sie aufweist. Die Geschichte der Völker ist ein fortwährender
Kampf, der kein Ende nehmen will. Wieviel Blut und Tränen weist sie auf, wieviel Wirren und Greuel; sie werden
nicht weniger trotz unserer so hoch entwickelten Kultur, und gerade durch das Licht, das die Fortschritte auf allen
Gebieten gebracht haben, erscheinen die dunklen Schatten um so schwärzer. Auf dem dunklen Hintergrunde der
Weltgeschichte sehen wir einzelne leuchtende Punkte. Einzelne Helden treten auf, gottbegnadete Bringer des Lichtes,
Zeugen der Wahrheit, die sie geschaut, und für die sie bereit waren, ihr Blut und Leben hinzuopfern; sie führen neue
Zeiten herauf, sie eröffnen neue Wege und geben neue Gesetze. Aber die Finsternis rastet nicht; sie kann das Licht
nicht begreifen; sie geht entweder achtlos an seinen Zeichen vorüber, oder sie wendet sich dagegen und bekämpft es.
Ebenso spärlich wie jene Lichthelden auftreten, ebenso selten sind auch die Siege, welche das Licht erringt, und aus
denen ein bleibender Gewinn der Menschheit erwächst. Der größte Lichtheld, der je gelebt hat, ist Jesus von
Nazareth. Er steht mitten in der Weltgeschichte, wie der flammende Stern mitten auf unserer Arbeitstafel steht. Welch
wunderbares Licht hat er der Welt gebracht, und welche Fülle von Wahrheit ihr verkündigt! Aber auch sein Licht hat
die Finsternis noch lange nicht begriffen. Es ist diesem Lichte noch lange nicht gelungen, die dunklen Tafeln der
Weltgeschichte aufzuhellen. Selbst diejenigen, die sich seine Priester nennen, haben so vielfach sein Licht gefälscht,
seine Wahrheit verdreht und sind darüber >406< aus Priestern zu Pfaffen geworden, die in ihrer Herrschsucht, ihrer
Unduldsamkeit und in ihrem Fanatismus die entsetzlichsten Greuel verübt haben und noch verüben. „Er kam in sein
Eigentum; aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Jawohl! Die Tafel der Weltgeschichte ist schwarz, und sie enthält
nur spärlich helle Figuren. —
Aber dennoch! Des Lichtes Kraft ist groß, und sein endlicher Sieg kann nicht zweifelhaft sein, und wir, die wir als
Streiter mitten in diesen Kampf gestellt sind, dürfen am wenigsten daran irre werden. Der große Weltenmeister hat
uns das Auge geöffnet für die Wirksamkeit seines ewigen Lichtes, die sich uns offenbart, wenn wir unsern Blick auf
den Kosmos richten, auf den großen Tempel, in dessen mittelstem Baume er wohnt. Das Weltganze erscheint dem
menschlichen Sinn wie ein buntes Durcheinander, das sich aus unzähligen Erscheinungen und Bildern
zusammensetzt. Die Mehrheit der Menschheit geht, nur den Interessen der Ichsucht folgend, daran achtlos vorüber;
sie wandelt im Dunkeln der Weltentafel, ohne ihre leuchtenden Zeichen wahrzunehmen. Wohl erfreut sich der feiner
organisierte Mensch an den Bildern der Natur und fühlt in ihrem ästhetischen Genuß sein Herz bewegt und erhoben.
Aber nur demjenigen, der hinter jenen Bildern die ewig waltenden Gesetze aufsucht, erschließt sich ahnungsvoll der
Zusammenhang des Ganzen, das sich ihm als eine große Einheit enthüllt. Wohl findet auch er Kampf, wohin er
blickt; es ist der Kampf ums Dasein, der überall in der Natur, auf Erden und selbst am Himmel, sich vollzieht. Aber
er gewahrt auf der dunklen Weltentafel, sich über Raum und Zeit erhebend, wo die an die Materie gebundenen Dinge
hart aneinanderstoßen, in leuchtenden Zeichen das ewige Licht, das die unendliche Liebe aussendet, um alles
Erschaffene zum einen Mittelpunkte zurückzuführen. —
Dies alles lehren die weißen Figuren auf der schwarzen Tafel. Sie leiten von der Finsternis zum Lichte und lehren das
Geheimnis des Ordens, das endlich, wenn die Zeit erfüllet ist, sich offenbaren wird an dem zu seinem Ursprunge
strebenden Menschen, an der zu seligem Frieden sich durchringenden Menschheit und an dem Weltganzen, das seiner
ewigen Bestimmung und Entwicklung nach unwandelbaren Gesetzen zuschreitet. (1888. 1904.)
Der Rahmen der Arbeitstafel.
Wie oft ist schon dem Orden ein Vorwurf daraus gemacht worden, daß er sich mit dem Schleier des Geheimnisses
umgibt. „Wenn das, was ihr in euren Logen treibt, etwas Gutes ist, warum tretet ihr nicht offen damit hervor und
lasset alle Welt daran teilnehmen? Warum scheuet ihr das Licht und verbergt euch hinter Mauern und verschlossenen
Türen? Warum diese Geheimniskrämerei, die doch für unsere fortgeschrittene Zeit vollends nicht mehr paßt?“ — So
sprechen die Profanen, und wir sind kaum in der Lage, ihnen eine andere Meinung beizubringen und sie von der
Notwendigkeit unseres Abschließens von der Welt überzeugen zu können, weil nur derjenige, der unsere Sache
kennt, diese Notwendigkeit einsehen kann.
Wir scheuen nicht das Licht, sondern wir suchen es; wir lieben nicht die Finsternis, sondern wir hassen sie und
suchen sie uns fernzuhalten und aufzuhellen. Unsere ganze k. Kunst aber hat den Zweck, das göttliche Licht der
Wahrheit zu finden, zu verstehen, zu ergreifen und in uns zur Wirksamkeit zu bringen. Was uns daran hindert, das ist
eben die Finsternis. Wie vieles gilt draußen für lichtvoll und groß und ist doch nichts als eitel Blendwerk, das sich
den Schein des Lichtes erborgt hat und der Finsternis entstammt. Solches Licht scheuen wir allerdings und wehren
ihm sorgsam den Eingang. Daher die undurchdringlichen Mauern, daher die verschlossenen Türen, daher die Prüfung
derjenigen, die zu uns herein wollen, und die Abstimmung über ihre Aufnahme.
Der Orden geht aber in seiner Vorsicht noch weiter. Auch diejenigen, die, aus der profanen Welt kommend, die
Pforte der Loge durchschritten haben, unterwirft er ferneren Prüfungen und läßt nur diejenigen in sein Innerstes
dringen, die ihm als Geläuterte erscheinen, welche der Finsternis entsagt haben. Wenn nun das, was >408< auf
unserer Arbeitstafel verzeichnet steht, die Kunde ist von dem Licht und Wort und von den über jeden Wandel und
Wechsel erhabenen Gesetzen des Lebens und seiner Entwicklung zum Licht, mit einem Wort, von dem Geheimnis
des Ordens, so folgt daraus, daß nur diejenigen imstande sind, das Geheimnis des Ordens zu ergründen, zu ergreifen
und zu verteidigen, welche unablässig bestrebt sind, ihr Inneres zu reinigen und durch Läuterung von den Schlacken
der Finsternis sich dazu geschickt zu machen; denn das Geheimnis enthüllt sich uns nur durch unsere maurerische
Arbeit. Wer nie maurerisch gearbeitet hat, der geht an dem verborgenen Schatz achtlos vorüber, ohne zu ahnen, wo er
liegt, wie groß sein Wert ist, und auf welche Weise er gehoben werden kann.
An diese Schwierigkeiten und Widerstände, welche überwunden werden müssen, wenn wir in das Innere dringen
wollen, erinnert uns der Rahmen, welcher die Arbeitstafel einfaßt. Er ist es, der unsere Geheimnisse einschließt und
vor Entweihung bewahrt. Ebenso wie die Arbeitstafel erscheint auch der Rahmen in schwarzer und weißer Farbe, und
die Zeichnung, die er zeigt, besteht, ganz ähnlich dem musivischen Fußboden, aus schwarzen und weißen Dreiecken.
Gleichsam wie Palisaden stehen die weißen Dreiecke als lichtvolle Wächter um die Tafel herum, um allem den
Eingang zu wehren, was noch in Finsternis ist. Der Lehrling, wenn er zur Arbeit eingetreten ist, und die Tafel ihm bei
Eröffnung der Loge enthüllt wird, sieht wohl ihre Zeichen, aber er ist noch weit davon entfernt, ihren Inhalt begriffen
zu haben. Begreift nun der Geselle oder der Meister oder der noch höher graduierte Bruder die ganze Tiefe dessen,
was auf der Arbeitstafel verzeichnet steht? Nein! Das ganze Geheimnis des Ordens ist in ihren Zeichen enthalten, und
alle diejenigen, die noch auf einer niederen oder höheren Stufe stehen, haben sich des Inhalts nur mehr oder weniger
vollständig bemächtigt. Darum ist es jedem verboten, die Arbeitstafel zu betreten oder über sie hinwegzuschreiten.
Wohl wird der Aufzunehmende mit den drei merkwürdigen Schritten durch die Tafel hindurch und über sie hinweg
geführt, aber es geschieht, wenn noch die Binde seine Augen umhüllt, und nur der Suchende, der ein Anhaltender und
zuletzt ein Leidender geworden ist, vermag den Rahmen zu durchbrechen. Der einzige, welcher die Tafel betreten
und überschreiten darf, ist der Weiseste Ordens + Meister. Er gilt uns als derjenige, der das Geheimnis am tiefsten
und vollkommensten erfaßt haben soll.
Damit stimmt überein, was unsere Akten über den Rahmen sagen. Es heißt daselbst (L. B. II, Beil., S. 43) :
„Der Rahmen, welcher alle diese geheimen Figuren ein schließt, drängt unsere Geheimnisse auf eine Stelle
zusammen. Der große Baumeister der Welt bestimmte uns nicht zu einer eingeschlossenen und verborgenen
Gesellschaft; als aber Gewalt, Arglist und Bosheit überhand nahmen, ward Offenherzigkeit ein Fehler,
Verschwiegenheit eine Tugend und Vereinigung gegen die Übermacht eine Notwendigkeit, welches wir mit
diesem geschlossenen Rahmen anzeigen wollen.“
Das Fragebuch aber spricht sich (Abt. VI, Fr. 4) folgendermaßen darüber aus:
„Was bedeutet der um die Arbeitstafel der Johannis-Lehrlinge geschlossene Rahmen?“
„Gleichwie dieser Rahmen die auf der Tafel gezeichneten Figuren umschließt, so müssen auch die
Geheimnisse des Freimaurer-Ordens in eines rechtschaffenen Freimaurers Herzen eingeschlossen sein.“
Wenn wir die angeführte Stelle unserer Tafelerklärung betrachten, so drängt sich die Frage auf: wann geschah es,
daß Gewalt, Arglist und Bosheit überhandnahmen, wann war die Veranlassung gegeben, daß die Hüter des
maurerischen Lichtes sich in die Verborgenheit zurückzogen? — Ich will es dahingestellt sein lassen, ob unsern
Vätern, als sie diese Worte niederschrieben, irgend ein auf die Geschichte des Ordens bezügliches Faktum
vorgeschwebt hat; wir würden aber entschieden fehlgehen, wenn wir jene Worte lediglich im historischen Sinne
auffassen wollten. In der Geschichte der Allgemeinheit werden wir einen solchen Zeitpunkt schwerlich
verzeichnet finden, wohl aber in der Geschichte jedes einzelnen Menschen. Das Kind ist offenherzig und arglos. Es
erblickt in jedem, der mit ihm freundlich tut, auch einen Freund, es vertraut und glaubt alles, was man ihm sagt. Auch
der Jüngling, der ins Leben tritt, ohne die Welt zu kennen, ist noch voll Vertrauen und glaubt von jedem das Beste.
Aber bald wird es anders. Trübe Erfahrungen bleiben nicht aus. >410< Er lernt Heuchelei und Lüge kennen, das
Böse tritt ihm in jeder Gestalt entgegen und raubt ihm das Vertrauen; und wenn ihm sein gutes Herz auch
gebietet, zunächst von jedem Menschen das Beste anzunehmen, so wird er doch vorsichtig, und er fängt an, das, was
ihm seine Mitmenschen an Gesinnungen, Worten und Taten entgegenbringen, auf seine Echtheit zu prüfen. Ein
Rahmen fängt an, die Tafel seines inneren Lebens zu umziehen; denn er hat nur zu schmerzlich erfahren, daß Gewalt,
Arglist und Bosheit mächtiger sind als sein reines, unbefangenes Herz. Wohl ihm, wenn er sich durch trübe
Erfahrungen nicht verbittern läßt; wohl ihm, wenn er sich das Heiligtum seines Innern rein bewahrt, ohne
sich von der Finsternis in ihren Strudel hineinziehen zu lassen und selbst ihr Werkzeug zu werden. Dann baut er,
der sich sagen muß, daß er als einzelner gegen die furchtbare Übermacht der Finsternis nicht aufkommen kann, sein
wohl beschütztes inneres Heiligtum aus, in welches er seine heiligsten Gedanken und Empfindungen verschließt;
denn, wie der Dichter sagt:
„Die Wenigen, die was davon erkannt,
Die, töricht g'nug, ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.“
Warum sagte der Obermeister: „Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu
deinem Vater im Verborgenen.“ (Matth. 6, 6.) Und warum sagte er: „Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben,
und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen und sich
wenden und euch zerreißen.“ (Matth. 7, 6.) Warum sagte er das? Aus demselben Grunde, aus welchem der Orden
sich in das Verborgene zurückzog und einen Rahmen um seine Arbeitstafel legte. Wohl ist es wahr, daß der große
Baumeister, wie es in unserer Aktenstelle heißt, uns nicht zu einer eingeschlossenen und verborgenen Gesellschaft
bestimmte. Nach seinem Willen dürfte eigentlich unser Orden gar nicht vorhanden sein, denn er will, daß das, was
das eigentliche Wesen unserer Vereinigung ausmacht, in jedem einzelnen Menschen lebendig sei. Jeden
Erdgeborenen hat er ausgestattet mit einem Funken seines ewigen Lichtes, und er hat gewollt, daß in jedem dieser
Funke in richtiger Erkenntnis der Wahrheit und in Freiheit des Willens entwickelt werden sollte. Das ist es, was jeder
Menschenseele ihren unendlich hohen unschätzbaren Wert verleiht. Denn in jedem Menschen ist eine heilige
Werkstatt angelegt, in der sich aus unscheinbarem Keim ein göttliches Leben entwickeln kann. Aber diese Freiheit
des Willens, die des Menschen höchstes Gut ist, wird ihm zugleich zu seinem Verhängnis. An den Scheideweg
gestellt, wo der breite Weg, der zur Finsternis führt, sich scheidet von dem schmalen Pfade des Lebens, verfällt er
dem Wahn und gesellt sich dem Herrn der Finsternis zu. So kommt es, daß Gewalt, Arglist und Bosheit
überhandnehmen, und daß Verschwiegenheit eine Tugend und Vereinigung gegen die Übermacht eine Notwendigkeit
wird. Darum der Rahmen, der unsere Geheimnisse auf eine Stelle zusammendrängt. Nur diejenigen lassen wir herein,
die, mit uns gleichgesinnt, den schmalen und steilen Weg der Tugend gehen wollen. Mit ihnen vereinigen wir uns und
finden so den sichersten und festesten Halt gegen die feindlichen Mächte. So wie kein Fremdling in den
geschlossenen Kreis einer Familie eindringen darf, weil seine Geheimnisse nur für die Glieder des Hauses bestimmt
sind, so stehen wir treu verbundene Brüder zusammen, uns haltend und stützend, unsere Herzen einander öffnend,
und das Heiligste, das uns bewegt, einander vertrauend.
Das ist der Sinn des Rahmens um unsere Tafel; das ist der Grund, weshalb die Freimaurerei sich abschließen muß,
und weshalb sie das Treiben der Welt ein profanes nennt. — Aber der Rahmen der Tafel hat noch eine tiefere
Bedeutung. Der Orden lenkt unsern Blick von dem eigenen Selbst und von den beschränkten Kreisen, in denen wir
uns bewegen, auf die Entwicklung des Ganzen, vom einzelnen Menschen auf die Menschheit. Er lehrt uns die
Gesetze dieser Entwicklung aufsuchen und verstehen, wie sie sich im Fortschreiten des Menschengeschlechts zeigen.
Große Taten und mächtige Geistesbewegungen verzeichnet wohl die Weltgeschichte auf ihren Blättern, aber von dem
Größten und Schönsten, das jene weltbeglückenden Früchte zur Reife gebracht hat, muß sie schweigen, weil es tief
verborgen, weil es ein Geheimnis ist. Wir sehen staunend zu dem mächtigen Eichbaum empor, wie er seine Äste
ausbreitet und seine stolze Krone gen Himmel erhebt, aber von seinem geheimnisvollen Wachstum, von dem
Lebenssaft, der in den Zellen webt, von der wunderbaren Kraft, die aus der unscheinbaren Eichel den Riesen des
Waldes erstehen ließ, können wir nichts merken, das vollzieht sich in stiller geheimnisvoller Werkstätte. So ist es
auch im Leben der Menschheit. Was die Weltgeschichte uns an großen Errungenschaften zeigt, das sind nur die
fertigen Resultate einer inneren >412< Arbeit, die sich unserer Beobachtung entzieht. Das Höchste und Größte, das
der Menschheit frommt, wird nicht auf Schlachtfeldern erkämpft, auch nicht auf den Rednerbühnen der Parlamente
errungen. Nicht in dem Hader der Parteien offenbart sich das wahre Leben der Völker, sondern im Verborgenen.
Überall da, wo reines und rastloses Streben nach Licht und Wahrheit wach wird, sei es im stillen Arbeitszimmer des
Gelehrten, im einsamen Atelier des Künstlers oder im tiefsten Herzen des Geisteskämpfers, da breitet die
Weltgeschichte die geheime Arbeitstafel der Volksseele aus, durch deren festgeschlossenen Rahmen nur der
Geistesverwandte dringt, um seine geringe Kraft mit jenen treibenden Kräften zu vereinigen. Ihnen fühlt der wahre
Freimaurer, der es ernst mit seiner Kunst meint, sich kongenial. Mag seine Kraft noch so klein sein, sie ist nicht
vergebens da und wird ihre Frucht bringen zur rechten Zeit.
Ja, der recht Strebende wird einen Lohn erlangen, der noch über das Bewußtsein, seine Arbeit nicht verloren zu
wissen, hinausgeht. Auch der große Baumeister der Welt hat seine Arbeitstafel, auf welcher er die höchste Lösung
der Welträtsel verzeichnet hat, mit einem undurchdringlichen Rahmen umzogen. Naturforscher und Weltweise
bemühen sich vergebens, ihn zu durchbrechen, um das Dunkel aufzuhellen, in dem Jehovah wohnen will. Solange sie
auf menschliches Erkenntnisvermögen und menschlichen Scharfsinn sich stützen, vermögen sie es nie. Nur dem
Menschenherzen, das in unablässigem Eingen nach Reinheit und Veredlung seinen Gott sucht, naht sich der Ewige.
Er will sich finden lassen und hebt dem Geläuterten selbst die Decke von seinen Heiligtümern. Wohl kann der
Sterbliche, solange Erdenbande ihn fesseln, das volle Licht der Gottheit noch nicht ertragen; aber eine Ahnung davon
geht ihm auf, und in dem Frieden seines Herzens spürt er den harmonischen Zusammenklang des Menschlichen und
Göttlichen, und der große Plan und letzte Zweck des Weltenmeisters ist ihm kein Geheimnis mehr. Zwar in Worte
kann er es nicht fassen, dieses höchste Geheimnis; aber er spürt es in seinem Inneren; denn: „Das kein Auge gesehen,
und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.
Uns aber hat es Gott geoffenbaret durch seinen Geist; denn der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der
Gottheit.“ (1. Kor. 2, 9 u. 10.) (1888. 1904.)
Die auf dem Rahmen der Tafel verzeichneten Himmelsgegenden.
Wenn der Suchende mit verbundenen Augen und unsicheren Schrittes auf Umwegen zur Logentür geführt wird, und
wenn er später bei seinen Reisen mehrfach umkehren muß, verliert er gänzlich die Richtung und ist gezwungen, sich
vertrauensvoll ganz seinem Führer zu überlassen. Wenn dann endlich die Binde gefallen ist, hat er vor allem das
Bedürfnis, sich zurechtzufinden und sich zu unterrichten, wo er sich eigentlich befindet. Zwar hat er aus den Worten
des wachthabenden Bruders, der dem Anhaltenden die Pforte öffnete, erfahren, daß er nach Durchschreiten derselben
die Loge betreten hat, aber die Loge ist ihm ein unbekanntes Gebiet; er steht auf einem Boden, auf den er seinen Fuß
vorher noch nie gesetzt hat. Wenn die Binde gefallen ist, und der Suchende den unvergeßlichen Eindruck des ersten
maurerischen Lichtes, das ihm erteilt worden, auf sich hat einwirken lassen, dann schaut er wohl auch umher und
schlägt sein suchendes Auge zu der Decke des Tempels empor. Daselbst erblickt er den gestirnten Himmel und
erkennt aus ihm, daß die Loge ein Abbild des Weltgebäudes ist.
Weshalb nun stellt der Orden demjenigen, der aus der Welt zu ihm kommt, über dessen Haupt sich allezeit der
Himmel wölbt, und dem die Sonne tagtäglich leuchtet, in der Loge noch ein besonderes Abbild dieser Welt dar? —
Das geschieht darum, daß der Maurer die Welt, die so vielfach mit blöden Augen und verschlossenem Sinn
durchwandelt wird, im rechten Lichte sehen lerne. Er soll nicht in ihr umherirren, sondern sich in ihr zurechtfinden, er
soll sich, wie man zu sagen pflegt, orientieren. >414<
Sich orientieren! Was heißt das ? — Man versteht darunter, durch Aufsuchen einer Himmelsgegend die anderen
bestimmen. Der Schiffer auf der öden Heeresfläche blickt, wenn der Himmel in der .Nacht wolkenlos ist, nach dem
Polarstern, der ihm zeigt, wo Norden ist. Wenn der Himmel bedeckt ist oder auch bei Tage, wenn die Sterne nicht
sichtbar sind, hat er seinen Kompaß, dessen Magnetnadel ihm mit unfehlbarer Sicherheit die nördliche Richtung
weist. Dreht er dem Norden den Rücken, so weiß er, daß er vor sich Süden, zur Rechten Westen und zur Linken
Osten hat. Damit ist er orientiert.
Bei uns Maurern ist eine andere Himmelsgegend die maßgebende: es ist der Osten. Daher können wir den Ausdruck
„sich orientieren“ im eigentlichsten Sinne des Wortes gebrauchen; denn der „Orient“ ist es, auf den sich unsere
Blicke richten, und der uns die anderen Himmelsgegenden finden lehrt. Auch eine Bussole weist uns der Orden, die
uns anzeigt, wo Osten ist: das ist der Rahmen der Arbeitstafel, auf welchem die vier Himmelsgegenden verzeichnet
stehen. Sie zeigt uns, daß Osten da ist, wo der Altar steht, und wo der Meister seinen Sitz hat, Norden und Süden, wo
die Brüder gereiht sind als Bürger einer idealen Welt; Westen aber liegt hinter uns, wo die Pforte ist, durch welche
wir eintraten.
Indem die Arbeitstafel uns so orientiert, bringt sie uns zum Bewußtsein, daß auch wir im Herzen eine Bussole tragen,
die uns nach Osten, dem Sitz des Lichtes, hinweist, wo die Sonne sich erhebt über den Horizont und emporsteigt am
Firmament, um uns die Dinge um uns her in dem Glanze ihres Lichtes erkennen zu lassen. Diese vergängliche Sonne
aber, deren Licht einst auch erlöschen muß, wird uns zum Sinnbild für die Geistessonne, deren Licht durch die
Ewigkeiten strahlt, und die auch in unser Inneres hinein leuchtet, um dort das in uns schlummernde, ihr
wahlverwandte Licht zu entzünden. Aus dem Abgrunde des Lichtes, dem ewigen Osten, steigt sie uns entgegen, und
der Zug unseres Herzens drängt uns zu ihr hin. Wir sind recht orientiert und haben die feste sichere Richtung. Darum
wird im Fragebuche dem Lehrling das Wort in den Mund gelegt:
„Ich war im Dunkeln und wünschte das Licht zu sehen.“
Darum trat der Suchende ein durch die westliche Pforte, aus der unerleuchteten Welt kommend, aus der Gegend, die
dem Licht im Osten abgewandt ist. Westen ist der Ort des Unbewußten, unfreien; aus ihm brechen wir auf nach Osten
und suchen dort Klarheit und Freiheit, wo der Meister seinen Sitz hat. Aber der Weg dorthin ist für den Sterblichen
nicht leicht zu finden, denn, „es irrt der Mensch, solang' er strebt“. Er muß reisen. Aus dem Suchenden muß ein
Anhaltender, aus dem Anhaltenden ein Leidender werden. Immer gelangt er wieder nach Westen zurück, anstatt den
Osten zu erreichen. Und wenn er endlich auf den rechten Weg gebracht ist, der nach Osten zum Meister führt, dann
ist es ihm auch noch nicht vergönnt, in gerader Richtung vorwärts zu gehen. Es ist, als wenn eine starke Strömung,
die er direkt nicht überwinden kann, sich ihm hindernd entgegen stemmt. So wie der Schiffer bei entgegenstehendem
Winde gezwungen ist, sein Fahrzeug im Zickzack zu lenken, zu lavieren, um vorwärts zu kommen, so muß auch der
Maurer durch Süden und Norden hindurch, wenn er sich dem Osten nähern will. Er muß das Leben erfahren, erfassen
und verstehen lernen von seiner hellen und von seiner dunklen Seite. Der linde Hauch aus Süden muß ihn anwehen,
und der rauhe Sturmwind aus Norden muß ihn durchschütteln, des Lebens Fülle und Schönheit muß ihn erheben, und
seine finsteren Abgründe müssen ihn erschüttern. So vollendet er jene drei merkwürdigen Schritte über die
Arbeitstafel von Westen durch Süden und Norden nach Osten, bei denen, wenn sie richtig gemacht werden, er die
vier auf der Tafel verzeichneten Himmelsgegenden mit den Füßen berührt. Er muß lavieren. Aber bei allem Wanken
und Schwanken ist er orientiert, wenn er den ewigen Osten im Gesicht behält. Sein Kurs ist der rechte; denn die
Aufseher, Vernunft und Gewissen, sind mit ihm; sie sitzen am Steuer und lenken sein Schifflein zum sicheren Hafen.
So orientiert sich der Maurer in der Loge, die er fortan als Heimstätte bewohnen soll; er erkennt sie als die Werkstatt
der k. Kunst, die ihm alles bietet, was ihn in der Erlernung derselben fördern kann. Der Weg über die Tafel mit seiner
Durchschreitung der vier Himmelsgegenden zeigt ihm deutlich, wie er, das Böse und Finstere abweisend, das Gute
und Schöne in sich aufnehmend, das wahre Leben in sich entwickeln und Fortschritte auf der Bahn des Lichtes
machen kann. —
Dies alles konnten wir aus unserer eigenen Anschauung und Überlegung aus den auf dem Rahmen verzeichneten
Himmelsgegenden lernen. Wir dürfen aber einen wichtigen Fingerzeig nicht übersehen, welchen uns unsere Akten in
dem geben, was sie über diesen Gegenstand >416< sagen. Es heißt in unsern Erklärungen (L. B. II, Beil., S. 43) und
im Fragebuch (VI, 5):
„Die vier auf der Tafel bemerkten Himmelsgegenden bedeuten, daß unsere Brüder über alle Weltteile zerstreut
sind.“
Diese Aktenstelle scheint sich in einen gewissen Widerspruch zu setzen mit dem, was über den Rahmen gesagt ist.
Dieser soll ja unsere Geheimnisse auf eine Stelle zusammendrängen, und nun erfahren wir, daß in unsern Brüdern die
maurerische Idee über den ganzen Erdkreis zerstreut sei. Das maurerische Geheimnis ist also nicht in das enge
Viereck eingeschlossen, sondern es lebt überall in der Zerstreuung.
Wer sind nun „unsere Brüder?“ Wir können dieses Wort hier in dreifachem Sinne verstehen. Zunächst müssen wir
dabei wohl an unsere Ordensbrüder denken, an diejenigen, die durch dieselbe (oder eine ähnliche) Aufnahme wie wir
Mitglieder einer anerkannten Loge geworden sind. Aber ich meine, wir würden damit nicht das nichtige treffen. Ja,
wenn jeder, der mit dem Freimaurernamen, den er durch die Aufnahme erwirbt, auch das wahre Freimaurertum in
Fleisch und Blut übergegangen miterhalten könnte! Aber das ist leider nicht der Fall. Die schwere, unausgesetzte
Arbeit, ohne welche ein wahres Freimaurertum nicht errungen werden kann, wird leider von zu vielen gescheut. Wie
groß ist die Zahl derjenigen, die da glauben, die ganze Freimaurerei bestehe nur darin, daß man ein guter
Staatsbürger und Familienvater sei, dem nichts vorgeworfen werden kann, und die sich deshalb um das, was der
Orden ihnen bietet, entweder nur gelegentlich einmal, wenn sie gerade die Lust anwandelt, oder auch gar nicht
kümmern. Das sind die Lauen und Gleichgültigen, die da abfallen, wenn es gilt, den Brudernamen zu bewähren, die
nicht vergeben und vergessen können, weil sie mit den Arbeiten der k. Kunst ganz im Rückstande geblieben sind, und
von der alles überwindenden Liebe, die in dem wahren Freimaurer sich entfaltet, keinen Begriff haben und sich auf
die schroffen Ecken ihres rauhen Steines als auf ihre besonderen Charaktereigentümlichkeiten noch etwas einbilden.
Ferner, wie viele gibt es in den Freimaurerkreisen, die unter der k. Kunst etwas ganz anderes verstehen als wir, und
die in unbrüderlicher und fanatischer Weise nicht aufhören, uns anzufeinden und um unserer Überzeugung willen zu
verfolgen. Wir wollen es uns nur gestehen: Die Bruderkette, die den Erdkreis umspannt, und von der so oft in
schönen Reden geschwärmt wird, ist eine Illusion. Wenn sie überhaupt vorhanden ist, so ist sie stark brüchig; denn
sie enthält viele Ringe, die nicht standhalten und zerspringen, wenn sie einmal straff angespannt wird.
Zweitens sind unsere Brüder alle Menschen, weil sie alle Kinder eines ewigen Vaters sind. Es ist eine der schönsten
Aufgaben unserer k. Kunst, diese allgemeine Menschenliebe in den Herzen ihrer Jünger zu wecken und zu nähren.
Wenn wir von ihr durchdrungen sind, dann können wir wohl sagen, unsere Brüder sind in der ganzen Welt, in Ost
und West, in Süd und Nord, zerstreut. Und diese allgemeine Menschen- und Bruderliebe soll uns auch bei unserer
Arbeit leiten. Der wahre Freimaurer sieht von seinem Standpunkt aus jene Bruderkette, die den Erdkreis umspannt,
verwirklicht, wenn auch nur als Idealbild, das er in seinem liebeglühenden Herzen trägt. Er ist sich bewußt, daß alles,
was er durch seine Arbeit in der k. Kunst erringt, nicht nur ihm selbst, sondern der ganzen Menschheit zugute
kommen soll, mag es auch noch so klein und geringfügig erscheinen. Denn vor dem Auge des Allvaters ist nichts
klein und nichts groß. Aber diese ideale Kette, die der Menschenfreund schlingt, kommt nur ihm allein zum
Bewußtsein. Auch sind unsere Menschenbrüder nicht so über alle Weltteile zerstreut, daß wir sie suchen müßten. Sie
kommen uns im Gegenteil überall entgegen, und wir finden sie überall, wo Menschen wohnen mit ihren Sorgen und
Mühen, mit ihren Leiden und Freuden.
Aber es gibt drittens noch eine zerstreute, durch alle Himmelsgegenden verbreitete Brüderschaft, die uns
wahlverwandt ist, obwohl ihre Glieder einer Freimaurerloge nicht anzugehören brauchen. Überall da, wo der
freimaurerische Geist sich regt, — und das ist auch außerhalb der geschlossenen Logenkreise der Fall — sind sie
anzutreffen. Überall, wo Kräfte frei werden, um den Geist des Göttlichen im Menschen zu beleben, zu befreien, zu
entwickeln, ihn loszumachen vom Zwange des Buchstabens, und ihn zu fördern auf dem Wege seiner Bestimmung,
da ist Freimaurerei vorhanden, da wird gebaut und geschafft an demselben Werke, an dem auch wir bauen und
schaffen, und wenn diese Bestrebungen auch nicht sich unserer Organisation einfügen, also gewissermaßen nicht
zünftig sind, so kommen sie doch auf dasselbe hinaus, und ihre Träger sind unsere Brüder im höchsten und weitesten
Sinne. — Man hört vielfach den Ausdruck gebrauchen: der Mann ist ein Freimaurer ohne Schurz. Ich meine, man
muß nicht zu freigebig mit dieser Bezeichnung sein und sie nicht ohne weiteres auf >418< jeden ehrenhaften Mann
anwenden. Sie paßt nur auf diejenigen, die wirklich geistig bauen, indem sie zunächst sich selbst zu einem göttlichen
Tempel auszugestalten suchen, um dann auf ihre Mitmenschen zu wirken und, ihnen das Licht bringend, am Aufbau
der Menschheit mitzuarbeiten. — Daß es solche Mitarbeiter für uns gibt, ist zweifellos; doch sie sind über alle
Weltteile zerstreut, und viele haben weder Fühlung mit uns noch untereinander. Ja, wenn es gelänge, alle zu
vereinigen und alle ihre Kräfte auf das eine große Ziel hinzulenken, das uns vorschwebt! Das wäre eine
unüberwindliche Macht, vor der die Finsternis nicht standhalten könnte! Aber ach! sie sind zerstreut. Wie einzelne
Lichtfunken irren sie in dem wüsten und verwirrten Treiben auf der dunklen Erde umher. Die Durchschnittsmenschen
überwuchern sie, die nur nach Erwerb und Genuß, nach Ehre und Anerkennung für sich selbst geizen. Sie irren umher
auf der dunklen Erde, wo Wissen selten mit Weisheit gepaart, Schaffen selten durch Schönheit verklärt und Macht
und Gewalt weit entfernt ist von der Stärke, die uns rüstet mit Begeisterung zur Ausführung des Höchsten und
Schwersten. So scheint das Suchen nach den höchsten geistigen Gütern in Gefahr, erstickt zu werden von dem
Unkraut, das der Finsternis entsprossen ist, und nur wenige ringen sich hindurch. Sie sind zerstreut, aber sie sind
überall in allen Weltgegenden, überall auf Höhen und in Tiefen, im Lichte und im Schatten, in Palästen und in
Hütten, unter Weisen und unter Einfältigen sind sie zu finden, ja, vielleicht auch dort, wohin wir unsere Blicke voll
Sehnsucht richten, dort über den ewigen Sternen, denn wer sollte denken, daß nur auf der kleinen Erde, diesem
Staubkorn im All, sich allein der maurerische Gedanke in dem Suchen nach Gestaltung ewigen Lebens zu verkörpern
strebt! — Können denn nun die Zerstreuten sich auch finden ? Ach, nur wenige erkennen sich am rechtwinkligen
Wandel, am Griff der Liebe, am Wort der Wahrheit und des Lebens. Aber wo auch immer ein solches Erkennen
stattfindet, da ist Licht und Leben, da ist Friede und Harmonie, da gründet sich ein Hort der Wahrheit und Freiheit.
— Das ist die unsichtbare Loge mit ihrem stillen, geheimnisvollen und doch so mächtigen Wirken. An sie sollen uns
die Himmelsgegenden auf dem Rahmen erinnern, wenn sie uns sagen, daß unsere Brüder in allen Weltgegenden
zerstreut sind.
Schließlich haben wir bei der Betrachtung der Himmelsgegenden wohl zu beachten, daß dieselben in der innigsten
Beziehung zu den Figuren der Tafel stehen. Die Sinnbilder, die im Norden stehen, sollen dienen, die Nachtseite des
Lebens zu erhellen, die im Süden sollen Mittel sein, das Licht des Mittags uns in seinem strahlendsten Glanze zu
übermitteln, was im Westen liegt, gibt Kunde von dem Wechsel und Wandel der profanen Welt, an welche es grenzt,
und was im Osten sich befindet, legt Zeugnis ab von dem unvergänglichen göttlichen Lichte. Was aber in der Mitte
der Tafel liegt, das stellt die Wirksamkeit des Lichtes in der Welt und die Entwicklung des göttlichen Lebens im
Irdischen dar.
Die Stellung der Figuren ist somit keine willkürliche, obwohl es so scheinen könnte. Wer die Tafel zum erstenmal
betrachtet, erhält den Eindruck des Unruhigen, Zusammengewürfelten. Bei tieferem Eindringen aber lernen wir bald,
uns zurechtzufinden, und unsere Akten helfen uns dazu. Die Erklärungen freilich, die wir in den Beilagen des zweiten
Logenbuches erhalten, trennen oft das Zusammengehörige und fügen anderes aneinander, was getrennt hätte bleiben
müssen. Dagegen gibt das Fragebuch einen vortrefflichen Fingerzeig zu einer fruchtbringenden Gesamtauffassung
der Tafel, indem es die sechzehn Figuren in fünf genau zusammengehörige Gruppen von je drei bzw. vier Symbolen
einteilt. Das Fragebuch spricht sich darüber (Abt. VI, Fr. 6) folgendermaßen aus:
„Was schließt der doppelte Rahmen ein?“ *)
„Drei Zieraten der Loge, drei bewegliche und drei unbewegliche Kleinodien, drei Sinnbilder und
vier Gleichnisse.“
*) (Weshalb hier der Rahmen ein doppelter genannt wird, ist nicht recht ersichtlich; vielleicht haben die beiden Reihen von hellen und dunklen
Dreiecken, aus welchen er besteht, die Veranlassung zu dieser Bezeichnung gegeben.)
Nach diesem Schema werden wir die einzelnen Symbole zu betrachten haben. Doch möchte ich dabei eine etwas
andere Reihenfolge der Gruppen einhalten. Demgemäß wenden wir uns
1.
zu den drei unbeweglichen Kleinodien, dem unbehauenen oder rauhen Stein, dem behauenen oder kubischen
Stein und dem Reißbrett der Meister. In ihnen wird uns die vornehmste Aufgabe des Maurers vor Augen geführt.
Wir betrachten dann >420<
2.
die drei beweglichen Kleinodien, Winkelhaken, Wasserwaage und Senkblei, welche das Prinzip darstellen,
nach welchem die maurerische Arbeit sich vollzieht. Wir wenden uns dann
3.
zu den drei Sinnbildern, der Maurerkelle, dem Hammer und dem Zirkel. Sie sind die Werkzeuge, durch
welche die maurerische Arbeit unmittelbar in Angriff genommen wird. Wir kommen dann
4.
zu den drei Zieraten, dem flammenden Stern, dem mit Spitzen verzierten Franzen*) und dem rautigen oder
musivischen Fußboden. Sie bezeichnen den Weg, den der Maurer von Westen nach Osten, von der Finsternis zum
Lichte zurücklegt. Endlich betrachten wir
*) (Das Wort „der Franzen“ ist unserem heutigen Sprachgebrauch ganz fremd. Wir setzen dafür das Wort „Vereinigungsband,“ das jetzt überall
üblich ist.)
5.
die vier Gleichnisse, die Sonne, den Mond und die beiden kupfernen Säulen. Sie reden zu uns von den
göttlichen Kräften, durch welche der Maurer seinen Weg zurücklegt und seine Arbeit vollendet.
(1890.1904.)
Die drei unbeweglichen Kleinodien.
Der Orden legt den einzelnen Gruppen der Symbole der Arbeitstafel verschiedene Benennungen bei. Er spricht von
Kleinodien, Sinnbildern, Zieraten und Gleichnissen. Der Wert, den diese Bezeichnungen haben, liegt nicht nur in der
übersichtlichen Zusammenfassung des Zusammengehörigen, sondern auch darin, daß uns eine Übersicht über die
Bedeutung und Wirkung der Symbole gegeben wird.
Sechs Figuren heißen Kleinodien. Warum? Weshalb erhalten gerade der rauhe Stein, der kubische Stein, das
Reißbrett, das Winkelmaß, die Wasserwaage und das Senkblei diese Benennung, die doch etwas besonders
Kostbares, Unschätzbares zu bezeichnen scheint, das ihnen gewissermaßen einen Vorrang vor den anderen Dingen
gibt, welche die Tafel uns zeigt? Ein Kleinod ist uns durch den Wert, den es für uns hat, besonders teuer, und wir
hüten es mit besonderer Sorgfalt, um es nicht zu verlieren. Oft wird ein solches Wertstück auch als Schmuck
getragen, und auch im Orden treten drei Symbole in diesem Sinne auf, das Winkelmaß, die Wasserwaage und das
Senkblei, welche wir am Meister und den beiden Aufsehern als Amtsschmuck an blauen Bändern bemerken. Das
Fragebuch weist darauf (VI, 18) hin durch die Frage:
„Warum heißen diese drei Dinge Kleinodien?“
„Weil sie dem Logenmeister, wie auch dem Bruder ersten und dem Bruder zweiten Aufseher zum
Schmuck dienen.“
Eigentlich könnten wir alle Symbole für Kleinodien halten, denn sie sind uns alle teuer und wert und werden es uns in
immer höherem Grade, je mehr wir ihren hohen Wert und ihre Unentbehrlichkeit für unsere Maurerarbeit kennen
lernen. Das Wort Kleinod hat aber neben dem Begriff des Kostbaren auch noch den des Intimen in sich, es >422<
bezeichnet etwas, was wir besonders in unser Herz geschlossen haben. Was aber muß uns als Maurern mehr am
Herzen liegen als die Aufgabe, unseren rauhen Stein nach dem Plane des Reißbrettes zum Kubus zu formen, und
welche wichtigere Herzenssache kennen Meister und Aufseher, als mit Winkelmaß, Wasserwaage und Senkblei die
Arbeit zu prüfen, ob sie in rechter Weise geschieht. Auch den Hammer, den Zirkel und die Kelle könnte man wohl
Kleinodien nennen, denn ein gutes und im Gebrauch bewährtes Werkzeug wird dem Arbeiter teuer und unschätzbar.
Trotzdem führen sie den Namen Sinnbilder; weshalb — werden wir später sehen. Viel weniger paßt die Bezeichnung
„Kleinod“ auf die drei Zierate und die vier Gleichnisse. Sie haben nicht jenen intimen Charakter der anderen
Symbole; denn sie führen uns in das Weite, Allumfassende, ja, in das Unermeßliche und Unendliche.
Was hat es nun aber auf sich mit dem Unterschiede von beweglichen und unbeweglichen Kleinodien? Das Fragebuch
nennt Winkelmaß, Wasserwaage und Senkblei beweglich, „weil alle allgemeinen Zeichen des Freimaurer-Ordens
durch Darstellung dieser drei Kleinodien gemacht werden“ (VI, 14), und setzt hierzu den rauhen Stein, den Kubus
und das Reißbrett in Gegensatz, „weil“, wie es heißt, „durch ihre Darstellung keines der Zeichen des FreimaurerOrdens zustande gebracht werden kann“ (VI, 20). Diese Erklärung klingt etwas naiv und ist eigentlich
selbstverständlich. Es muß meiner Ansicht nach noch andere Gründe dafür geben. Zunächst ist zu erwägen, daß der
rauhe Stein als zu bearbeitendes Werkstück festliegt und nicht hin und her bewegt wird, wenn der Arbeiter es
unternimmt, ihn zu formen. Ebenso liegt der Kubus unbewegt, dem Lehrling als Muster, vor ihm. Auch das Reißbrett,
die Tafel, welche Plan und Regel für die Arbeit enthält, liegt fest vor seinen Augen. Das, was in fortwährender
Bewegung sein muß, das sind die Werkzeuge, durch welche die Arbeit in Angriff genommen und auf ihre Tüchtigkeit
geprüft wird. Dann aber bedeutet hier wohl das Wort „unbeweglich“ ebensoviel wie unabänderlich, ewig feststehend.
Der rauhe Stein, der Kubus und das Reißbrett drücken die unumstößliche Wahrheit aus, daß sich das Unvollkommene
zum Vollkommenen nach einem vom höchsten Meister vorgezeichneten Plane, der unabänderlich ist, wie die Gottheit
selbst, entwickeln muß.
Nunmehr kommen wir zu den unbeweglichen Kleinodien selbst, und der erste Gegenstand unserer Betrachtung ist
Der rauhe Stein.
Die vornehmste Arbeit des Freimaurer-Lehrlings, welche die Grundlage unseres ganzen maurerischen Lebens und
Strebens bildet, welche beginnt, sobald der erste freimaurerische Gedanke sich in uns regt, und welche sich erst dann
schließt, wenn beim Schlage der Hochmitternachtsstunde die Werkzeuge unseren Händen entsinken, ist die Arbeit am
rauhen Stein. So sagen unsere Akten (L. B. II, Beil., Seite 47):
„Der rauhe Stein ist der Gegenstand der sorgfältigen Arbeit der Johannis-Lehrlinge. Ihnen liegt ob,
denselben zu bebauen, zu ebnen und zu einem vollkommenen Baugerät zu bereiten. Er erinnert uns, unsere
üblen Neigungen abzulegen und uns immer vollkommener zu gestalten; eine Arbeit, die schwer, aber
unerläßlich für den ist, der sich der Wahrheit zu nähern wünscht.“
Auf unserer Arbeitstafel sehen wir das Bild des rauhen Steines im Norden abgebildet, an der Stelle, welche am
wenigsten erleuchtet ist. Über ihm steht das Bild des Mondes, der seine schwachen Strahlen auf ihn wirft, unter ihm
finden wir das Senkblei, dessen Lot nach der Säule J . . . . hinweist, und neben ihm sehen wir die Kelle, unser
vornehmstes Werkzeug, welches zwar für die Bearbeitung eines Steines wenig geeignet zu sein scheint und dennoch,
wie wir sehen werden, das wichtigste Mittel zu seiner Gestaltung ist.
Die allererste Forderung, welche der Orden an den neueingetretenen Lehrling stellt, ist eine rein ethische. Der ganze
Lehrlingsgrad redet von dieser sittlichen Aufgabe, welche uns auf der Lehrlingstafel unter dem Bilde des rauhen
Steines entgegentritt.
„Ein Freimaurer“, so heißt es in der ersten Frage des Fragebuches, „ist ein freier Mann, der seine Neigungen
zu überwinden, seine Begierden zu mäßigen und seinen Willen den Gesetzen der Vernunft zu unterwerfen
weiß.“
Und weiter heißt es im Fragebuche:
„Die Pflicht eines Freimaurers ist es, das Laster zu fliehen und der Tugend nachzustreben“
(Frgb., Abt. III, Art. 3, Fr. 1). >424<
Aber der Zweck der Freimaurerei ist darum noch nicht ein ausschließlich moralischer, wenigstens nicht derjenigen
Art der Freimaurerei, wie sie sich in den Akten unserer Lehrart darstellt. Unsere Akten sprechen es schon im
Lehrlingsgrade ganz deutlich aus, daß der Zweck der k. Kunst noch ein anderer, höherer ist; denn sie definieren an
einer anderen Stelle des Fragebuches den Begriff der Freimaurer-Wissenschaft als Lehre von der Erhebung des
Menschen durch Tugend zum Lichte (Frgb., Abt. IV, Fr. 5). Es wird also hier ganz deutlich gesagt, daß das
eigentliche Ziel unserer Arbeit das Licht und die Erleuchtung unseres Innern durch das Licht ist. Die Übung der
Tugend ist nur das notwendige Mittel zu diesem Zweck; denn nur das reine Herz kann das Licht in sich aufnehmen,
nur der geläuterte Sinn wird der rechten Erleuchtung teilhaftig. Der rauhe Stein liegt darum im Norden, im Dunkeln,
von den matten Strahlen des Mondes nur schwach erleuchtet; der fertige Kubus aber liegt im Süden im vollen Glanze
des Tages, und auf seinen polierten Flächen spiegeln sich die Strahlen der Hochmittagssonne.
Daß der Zweck der Freimaurerei nicht allein ein moralischer ist, geht noch aus dem Umstände hervor, daß unseren
Sinnbildern und Gebräuchen, wie bekannt, eine dreifache Bedeutung beigelegt wird, nämlich außer der moralischen
noch eine historische und eine wissenschaftliche oder mystische. Die k. Kunst will uns dadurch aus dem engen Kreise
unseres persönlichen Lebens hinausführen und unseren Gesichtskreis erweitern, indem sie uns einen Blick werfen läßt
auf die Entwicklung des Menschengeschlechts im ganzen und endlich auf die Entwicklung des Alls, des großen
Bauwerkes der Welten. Die Einsicht in die Weisheit, Schönheit und Stärke des allgemeinen großen Ganzen ist das
höchste Licht und der letzte Aufschluß, den sie uns geben kann. Wenn nun auch bei unserer Betrachtung des rauhen
Steines im Lehrlingsgrade die moralische Seite im Vordergrunde bleiben muß, so bleibt es uns doch unbenommen,
auch über die beiden anderen Bedeutungen nachzudenken.
Die ethische Forderung, die der rauhe Stein auf unserer Lehrlingstafel stellt, erscheint einfach und selbstverständlich,
ja, sie kommt uns auf den ersten Blick kaum als eine spezifisch freimaurerische vor; sie ist oder soll allen Menschen
geläufig sein. „Jeder Mensch hat seine Fehler“, und „wir sind allzumal Sünder“, das sind Worte, die wir alle Tage
von Maurern und Nichtmaurern hören können. Wie selten aber begegnen wir — selbst bei Maurern — einem tieferen
Erfassen der Aufgabe, welche in diesen Worten liegt, oder gar einem richtigen Anfassen der Lösung derselben mit
wahrhaft freimaurerischen Mitteln. Viele Menschen, ja, viele Maurer denken sich bei jenen Worten kaum etwas, oder
sie stellen gar die allgemeine Fehlerhaftigkeit des Individuums als einen Umstand hin, der nun einmal so ist, an dem
aber nichts zu ändern sei. „Ich habe meine Fehler und Schwächen wie alle anderen, und so wie ich bin, so muß ich
auch einmal verbraucht werden.“ Trotz der Einsicht in den fehlerhaften Zustand haben die meisten gar nicht einmal
die Absicht und den guten Willen, eine Besserung zu versuchen, ja, sie pochen wohl noch auf ihre eigenen
Schwächen, als auf Eigentümlichkeiten, für welche sie Nachsicht beanspruchen, während sie selbst schnell genug bei
der Hand sind, die Fehler anderer unnachsichtig zu verurteilen und zu strafen. Der Freimaurer, der so denkt, hätte
besser getan, nie an die Pforte unseres Tempels zu klopfen; denn bei solchen Anschauungen kann natürlich weder
von einer freimaurerischen Einsicht, noch weniger von einer freimaurerischen Arbeit die Rede sein; der Lebensnerv
der k. Kunst wird dadurch von vornherein unterbunden, und der Keim der Selbsterkenntnis, der in der Einsicht der
eigenen Fehlerhaftigkeit liegt, wird erstickt unter dem Unkraut der Selbstliebe.
Der rechte Maurer weiß diesen Irrweg zu vermeiden und versteht es, jenen Keim der Selbsterkenntnis großzuziehen.
Ein tüchtiger Steinmetz, der einen rohen Block erhält, um ihn zu einem regelmäßigen Baustein zu bebauen, prüft
denselben erst nach allen Richtungen, er untersucht ihn vor allem daraufhin, ob das Material, aus dem er gebildet ist,
sich für eine erfolgreiche Bearbeitung eignet, ob der Stein spröde und brüchig, oder ob er nachgiebig und bildsam ist.
Vielleicht hat der Stein gar einen Sprung, der bis ins Innerste geht und ihn für ein tüchtiges Baustück überhaupt
ungeeignet erscheinen läßt. Nach solcher Prüfung wird er die Werkzeuge zu wählen und die Kraft seiner Schläge
abzumessen haben.
Ebenso der Freimaurer. Seine Arbeit unterscheidet sich aber von der des Steinmetzen in einem wesentlichen Punkte.
Dieser hat seinen zu behauenden Stein als ein Objekt vor sich liegen, dem er als das handelnde Subjekt frei
gegenübersteht. Anders der Freimaurer. Hier fällt das arbeitende Subjekt und das zu bearbeitende Objekt zusammen,
denn die sittliche Tätigkeit des Maurers bezieht sich zuvörderst auf >426< ihn selbst. Es ist ihm daher unmöglich,
sich seiner Aufgabe vollkommen objektiv gegenüberzustellen. Darin liegt eine der größten Schwierigkeiten des
freimaurerischen Werkes, sowohl in bezug auf die Erkenntnis dessen, was geleistet werden soll, als auch in bezug auf
die Arbeit selbst.
Dennoch dürfen wir nicht zögern, mit solchen Untersuchungen zu beginnen. — Selbsterkenntnis ist die erste
Vorbedingung der freimaurerischen Arbeit. Darum, Lehrling, betrachte deinen rauhen Stein; sieh auf dein eigenes
Herz und schaue in seine geheimsten Falten. Das Licht, das dir dazu leuchtet, ist zwar schwach; denn du hast noch
nicht die Strahlen der Sonne der Wahrheit geschaut. Aber das Licht des Mondes, das dir gegeben ist, stammt von ihr,
und der geringe Schein ist hell genug, um dir zu deiner Erkenntnis zu leuchten.
Fragen wir uns also zuvörderst: welche Beschaffenheit hat unser Stein, aus welchem Material besteht er, welchem
Steinbruch entstammt er?
Ein köstlicheres Material kann es nicht geben, als das, welches wir zu bearbeiten haben. Nicht ein toter Marmor ist
es, sondern ein belebtes Gebilde, dessen rauhe Außenseite einen lebendigen köstlichen Kern verbirgt. Der höchste
Meister selbst hat unseren rauhen Stein aus seinem großen Steinbruch genommen und ihn auf den allgemeinen
Bauplatz gelegt, damit er dort die Form erlange, die ihn geschickt macht für seinen heiligen Tempelbau. In jeden
Bruchstein hat er einen Funken seines eigenen Geistes hineingelegt, der sich entwickeln und seine rauhe Hülle
durchbrechen soll. Wenn wir diese hohe Abkunft unseres Steines recht erkannt haben und uns allezeit gegenwärtig
halten, dann ist schon viel für unsere Arbeit geschehen. Sie gibt uns das Bewußtsein des Geistesadels, von welchem
wir bei unserer maurerischen Arbeit stets getragen sein müssen. Die Selbsterkenntnis, die ihr Fundament bildet, darf
sich nicht allein beziehen auf die Fehler und Schwächen des Menschenherzens, sondern vornehmlich auf das, was
Großes, Heiliges, Göttliches in ihm liegt. Gott schuf das Menschenherz gut und rein. Jeder Blick in ein unschuldiges
Kinderauge lehrt uns das. Freilich will die Lehre der Kirche davon nichts wissen. Sie behauptet, der Mensch sei böse
und verderbt von Geburt an, er bringe die Erbsünde mit auf die Welt, die ihm anhafte von dem Sündenfall unseres
ersten Stammvaters. Unsere Ordenslehre sagt uns davon nichts. Den Sündenfall und damit den Abfall vom göttlichen
Leben erfährt jeder einzelne in sich selbst; und das ist natürlich und folgerichtig. Der Mensch ist geschaffen aus einer
irdischen, materiellen Hülle, welche von einem Keim des göttlichen Geistes belebt wird. Mit diesem Keim gab aber
der Schöpfer dem Menschen zugleich die freie Wahl, entweder den Weg des Lichts oder den der Finsternis zu
wandeln. Von Hause aus will jeder Mensch zum Licht. Er wird aber bald abgezogen von dem geraden Wege durch
die Macht seiner irdischen Natur. Unsere materielle Hülle, in die wir gekleidet sind, ist an und für sich nicht böse, sie
ist heilig, wie die ganze Natur es ist. Das Böse entsteht erst dann, wenn der in uns wohnende göttliche Geist vom
Irdischen überwältigt, zur Sinneslust gereizt und zur Selbstsucht aufgestachelt wird. Dieser Kampf des Göttlichen mit
dem Irdischen, dieses fortwährende Fallen und Sichwiederaufrichten ist die natürliche Folge unserer menschlichen
Natur. In jedem einzelnen Menschen aber vollzieht sich dieser Kampf auf verschiedene Weise. In ihm und durch ihn
bildet sich der Charakter des Menschen, der ihm sein eigentümliches individuelles Gepräge verleiht. Je öfter das
Göttliche den Sieg behält, desto mehr werden auch die edlen Eigenschaften im Menschen hervortreten; gewinnt aber
das Irdische die Oberhand, dann bilden sich jene Unebenheiten und Rauhheiten heraus, die sich als spitzige Ecken
des rauhen Steins immer mehr und mehr verhärten, bis sie der Bearbeitung fast unüberwindliche Schwierigkeiten
entgegensetzen.
Unsere rauhen Steine, wenn sie hier auf den maurerischen Bauplatz kommen, sind alle solche entwickelten
Charaktere mit spröden Ecken und Kanten. Wir haben die Jugend hinter uns, da unser Material weich und formbar
war. Wie oft haben wir des Vaters Ermahnung, der Mutter Warnung, des Freundes Rat überhört und sind dahin
gestürmt, nur dem eigenen wilden Triebe folgend! Wie ließen wir Neigungen anwachsen zu Begierden, bis sie
unseren Willen knechteten und aus den Bahnen der Vernunft rissen! So wuchsen unsere Fehler heran zu spitzigen
Ecken und Kanten, mit denen wir überall anstoßen, und der größte Teil unserer Leiden und Plagen hat seine Ursache
in diesen Unebenheiten unseres Wesens. Nun kommen wir hierher als gereifte Männer auf unseren geistigen
Bauplatz, wo Johannes der Täufer uns auf die „Metanoia“, auf jene Umwandlung unseres Innern, jene geistige
>428< Wiedergeburt hinweist, ohne welche es kein Heil gibt, und kraftlos und verzagt will der Mut uns sinken.
Aber die Lehre, die wir in der Loge des Täufers erhalten, richtet uns bald wieder auf und belebt unser gesunkenes
Selbstvertrauen.
Wie geschieht das?
Die Art der Bearbeitung des rauhen Steins ist eine zwiefache, nämlich erstens von außen nach innen und zweitens
von innen nach außen. Die erstere deckt sich vollkommen mit der Arbeit, welche der Steinmetz in der Bauhütte unter
der Aufsicht des Meisters ausführt. So wie er die spitzigen Ecken abhaut, bis die quadratischen Flächen des Kubus
hervortreten, so können auch wir unsere üblen Neigungen überwinden und unsere Begierden mäßigen; wir können
unseren Willen durch das Pflichtgebot in Schranken halten. Wir können in Befolgung unseres freimaurerischen
Gebotes: das Laster zu fliehen und der Tugend nachzustreben, uns so weit gestalten, daß wir vor den Augen der Welt,
vor den Augen unseres Meisters und unserer Brüder äußerlich als tugendhafte Männer erscheinen. Vor den Augen
des ewigen Meisters, der Herz und Nieren prüft, genügt aber diese Arbeit noch lange nicht. Selbst wenn durch sie ein
kubischer Stein mit spiegelblank polierten Flächen, an dem niemand etwas auszusetzen findet, hergestellt ist, kann
doch das Innere tot und kalt geblieben sein. Solche Tugendhelden sind Wölfe in Schafs-Kleidern, übertünchte
Gräber, äußerlich herrlich anzuschauen, innerlich aber voll Moder und sittlicher Fäulnis.
Die rechte Bearbeitung des rauhen Steins, die eigentlich freimaurerische, die vor den Augen des richtenden
Obermeisters allein Gnade findet, die zuerst stattfinden muß, wenn jene Arbeit von außen her einen Wert behalten
soll, ist die Arbeit von innen nach außen. Sie muß ausgehen von jenem göttlichen Keim, der von dem ewigen Meister
als Erbe in uns gelegt ist, und der den wahren Ahnenstolz des Freimaurer-Ritters ausmacht. Nicht umsonst steht das
Senkblei, das mit seinem Lot auf die Säule J . . . . weist, unter dem Bilde des rauhen Steines. Mit diesem Senkblei
sondiere dein Inneres, du Lehrling, bis du den Punkt gefunden hast, von dem alles Leben stammt! Und hast du ihn
gefunden, dann halte ihn fest, verliere ihn nie wieder und sorge dafür, daß er sich entwickle und Frucht bringe! Aus
ihm gestaltet sich das Reich Gottes, das nicht kommt mit äußeren Gebärden, sondern das in uns ist und das uns
aufrichtet und vollendet.
Von diesem göttlichen Erbe redet unser Obermeister in seinen Gleichnissen, wo er es bald mit dem Samen vergleicht,
der auf gutes Land fiel, bald mit dem Senfkorn, das zum Riesenbaum erwächst, bald mit den Lampen der klugen
Jungfrauen, denen es an Öl nicht gebrechen soll, bald mit dem Pfunde, das nicht vergraben werden darf, sondern
wuchern muß.
So muß sich auch die Entwicklung unseres inneren Lebens vollziehen. Auf die Erkenntnis des in uns gelegten
Lichtfunkens muß seine Entfachung zur Flamme folgen, auf die Selbsterkenntnis die Selbstentwicklung. Das
Werkzeug aber für diesen Teil der Arbeit am rauhen Stein liegt neben ihm bereit: es ist die Kelle. Daß dieses
Werkzeug für einen Steinmetzen zur Bearbeitung des rauhen Steines ungeeignet erscheint, habe ich schon vorhin
erwähnt. Für einen Steinmetzen, der dem zu bearbeitenden Block nur von außen beikommen kann, ist Meißel und
Spitzhammer unentbehrlich. Unsere Lehrlingstafel läßt nichts von diesen Werkzeugen erblicken, während die
Teppiche anderer Systeme sie aufweisen. In diesem Umstand glaube ich, den Hinweis zu erblicken, daß unsere
Lehrart gerade die Bearbeitung unseres Steines von innen heraus hat betonen wollen. Es wird zwar bei der Erklärung
der Kelle gesagt, sie diene dazu, die Spalten und Risse des Herzens zu vermauern und zu verkitten. Damit ist ihre
Arbeit aber noch keineswegs abgetan. Mit jenen Worten verweilt unsere Aktenerklärung bei dem eigentlichen Bilde
der Kelle; denn dem Werkmaurer kann sie zu weiter nichts dienen als zum Auftragen eines verkittenden Mörtels. Nun
aber geht die Erklärung weiter, indem sie sagt, sie diene dazu, „das Herz so gut, so rein und so tugendhaft zu machen,
daß kein Bruder sich zu fürchten braucht, dem anderen sein ganzes Herz aufzuschließen“. Das kann nur von innen
heraus geschehen. Ein Herz, das dem Bruder sein Innerstes aufschließen soll, kann sich nicht begnügen mit einem
äußerlichen Verkleben seiner Spalten und Risse: es muß im Innern geläutert und gereinigt sein, dann erst wird es
geschickt zu einem unauflöslichen Bündnis. Dies geschieht durch die Kelle, welche jeder Freimaurer unseres Systems
auf dem Herzen trägt. Sie vereinigt in dem rechtwinklig gebogenen Schaft, in der Handhabe und in der dreieckigen
Platte die Erkennungszeichen des Freimaurers, Zeichen, Griff und Wort, welche zugleich seine das Innerste seines
Herzens berührenden Werkzeuge sind. Auf die tiefsinnige Lehre von Zeichen, Griff und Wort kann ich heute
ausführlicher nicht eingehen. Ich will hier nur hervorheben, daß das gleichseitige Dreieck, der Hauptbestandteil der
Kelle, von uralten Zeiten her ein Sinnbild ist der schaffenden Kraft Gottes, des göttlichen Wortes, das im Anfang
war, und durch das alle Dinge gemacht sind, des Wortes, das Gedanke, Wille und Tat in sich vereinigt. Dies Wort der
ewigen Wahrheit hat sich, soweit wir die Schöpfung überblicken können, am herrlichsten offenbart in dem
staubgeborenen Menschensohn, dem das göttliche Geschenk der Sprache verliehen wurde, durch welche er die
Fähigkeit erhielt, das Göttliche in sich lebendig zu machen und sich dadurch seinem ewigen Vater zu nähern. Das ist
die innere Arbeit mit der Kelle, das ist die neue Geburt, auf die der Täufer hinwies, und welche der Obermeister mit
klaren Worten gelehrt hat, das herrlichste, aber auch zugleich schwierigste freimaurerische Werk, ein Werk, das die
Daransetzung aller unserer Kräfte und die höchste Selbstverleugnung erfordert. Wie dieses Werk sich vollzieht,
darüber muß die Instruktion schweigen; sie kann nur daran erinnern, daß ohne dies Eine unsere ganze Freimaurerei
ein toter Kram sein würde, sie kann nur daran mahnen, daß diese Arbeit bis zur Hochmitternachtsstunde unseres
Lebens keine Unterbrechung erleiden darf, und sie kann nur darauf hinweisen, daß der heilige Vorgang unserer
Wiedergeburt sich in uns nur vollziehen kann, wenn wir dafür sorgen, daß das innere Heiligtum unseres Herzens
wohlgedeckt sei vor allem Niedrigen und Gemeinen, und wenn wir mit ängstlicher Sorgfalt und hingehendster
Selbstverleugnung darauf bedacht sind, dem in uns sich entwickelnden Leben reine geistige Nahrung zuzuführen.
Kein irdischer Meister, kein Aufseher kann diese Arbeit prüfen und kontrollieren, sie steht unter der alleinigen
Hammerführung des ewigen unsichtbaren Meisters, der uns seine Aufseher, Vernunft und Gewissen, zur Seite
gegeben hat. Er schärfe unser inneres Ohr, daß wir in der Stimme des Gewissens sein Wort vernehmen, er öffne unser
inneres Auge für das Licht der göttlichen Vernunft, die unseres Fußes Leuchte sei, damit wir zu der Stunde,
wenn die Arbeiter bezahlt und nach Hause entlassen werden, unser hinlängliches Auskommen haben und in Frieden
eingehen mögen in die ewige Heimat!
Bisher haben wir die Arbeit am rauhen Stein betrachtet aus einem Gesichtspunkte, welcher nur auf das Individuum,
auf unser eigenes Ich, Bezug nimmt. Hierbei aber bleibt die k. Kunst nicht stehen. Von dem einzelnen Baustein, den
sie bearbeitet, lenkt sie den Blick auf den Tempel, in dem der einzelne Stein nur ein kleines Glied ist; von dem
Individuum auf die Gesamtheit. Sie läßt uns innewerden, daß unser sittliches Streben nicht nur uns allein, sondern
auch denen, die neben uns stehen, und so auch mittelbar dem großen Ganzen zugute kommen soll. Die k. Kunst formt
nicht bloß, sondern sie sucht auch das, was sie geformt hat, zu vereinigen.
Einen deutlichen Hinweis auf diesen Gedanken finden wir in unseren Akten bei der Erklärung der Kelle, wenn es
heißt: die Kelle diene auch dazu,
„des Nächsten und der Brüder Fehler zu vermauern“
Also nicht bloß der eigene rauhe Stein, sondern auch der unserer Nebenmenschen unterliegt unserer Bearbeitung,
eine Idee, die im Gesellengrade ihre weitere Ausführung erfährt.
Der einzelne Stein ist für sich allein nichts; nur durch die Vereinigung mit anderen wird er etwas, nützt er etwas. Der
Einsiedler, der sich mit seinem geistigen Streben in die Wüste zurückzieht und sich von seinen Mitmenschen
abschließt, geht einen Irrweg; denn der Mensch gehört zum Menschen; einer soll vom anderen lernen, einer durch
den anderen gefördert werden. Einsamkeit ist zwar, wie unsere Akten an einer anderen Stelle sagen, „die Schule des
Nachdenkens, und in der Stille macht selbst ein Meister seinen Riß auf dem Reißbrette zu der Arbeit, die er aufführen
will“. Aber unsere Arbeit darf nicht in Einsamkeit vergraben bleiben. Auch unser Obermeister blieb im Verborgenen,
bis er sich durch innere Erhebung für seine Sendung gerüstet hatte. Dann aber trat er hervor, ward ein Führer der
Geister und Stifter der erhabensten Weltreligion. Also soll auch jeder einzelne sich bereiten in seinem Innern und
dann hinausgehen, um zu wirken unter seinen Mitmenschen.
Durch das gegenseitige Einwirken der einzelnen Menschen aufeinander gestaltet sich die menschliche Gesellschaft
gleichsam zu einem Individuum — zur Menschheit; und unsere Freimaurerei ist es, die uns die Menschheit als eine
große Einheit auffassen lehrt, in welcher alle Kräfte, die in ihr frei werden, zum Ausbau ihrer Vollendung wirken
sollen. >432<
Dies führt uns auf die historische Bedeutung des rauhen Steines. Wenn wir die menschliche Gesellschaft als ein
einheitliches Ganzes betrachten, so erhellt ohne weiteres, daß ebenso wie die einzelnen Individuen, aus denen es
besteht, unvollkommen und der Veredlung bedürftig sind, auch das Ganze weit entfernt ist von dem, was es sein soll.
Die Menschheit stellt somit einen einzigen großen rauhen Stein dar. Die Kräfte aber, die darauf hinwirken, diesen
rohen Stein seiner kubischen Vollendung näherzuführen, sind der Drang zur Vereinigung und der Trieb zur
Veredlung. Der Nachweis aber, wie sich diese Triebe im Menschengeschlecht bemerkbar machen, nach welchen
Gesetzen sie zur Wirksamkeit gelangen, und auf welche Weise durch sie das Ganze gefördert wird, — ist die
Weltgeschichte. Es wäre einseitig, die Weltgeschichte nur aufzufassen als eine Aufzählung von Tatsachen aus dem
Leben der Völker; sie soll nicht nur zeigen, was, geschehen, sondern auch, was geleistet ist, und nicht umsonst heißt
darum die Weltgeschichte das Weltgericht; denn sie fordert die Taten des einzelnen wie der Gesamtheit vor ihr
unbestechliches Tribunal und prüft sie nach dem wahren Wert, den sie für die Entwicklung des Ganzen dargebracht
haben.
Vereinigung und Veredlung sind die Werkzeuge, welche am rohen Stein der Menschheit arbeiten. Der Trieb zur
Vereinigung ist der erste, der sich geltend macht, zunächst geweckt und genährt durch den Drang der Notwendigkeit.
Der Trieb zur Erhaltung der Art führt Mann und Weib zusammen und bildet den Grund für die Familie, deren Glieder
untereinander durch die Bande des Blutes verbunden sind. Die Familien untereinander vereinigen sich zum Schutz
und Trutz gegen feindliche Angriffe zu Stämmen. Das gemeinsame Leben der Stämme macht eine Regierung
notwendig, es bilden sich Einrichtungen heraus, Gesetze werden gegeben und durch die regierende Gewalt
gehandhabt zum Schutz und zur Wohlfahrt des einzelnen wie der Gesamtheit. So bilden sich aus den einzelnen
Stämmen Völker, Nationen, die durch ihren Wohnsitz, durch die klimatischen Verhältnisse, unter denen sie sich
entwickeln, durch die Sprache, die sie sprechen, voneinander unterschieden sind, es bilden sich Staaten mit
verschieden entwickelten Gemeinwesen, die sich wiederum als größere Einheiten gegenüberstehen. Aber wenn auch
die Grenzen zwischen den einzelnen Völkern von der Natur durch Flüsse, Gebirge, ja durch Meere noch so streng
gezogen scheinen, wenn auch die Unterschiede des nationalen Charakters und der nationalen Interessen noch so groß
sind: der in der Menschheit lebende und wirkende Drang nach Vereinigung überwindet das Trennende; und so, wie er
der Schöpfer der sozialen Einrichtungen war, wird er auch zum Begründer der internationalen Verträge.
Und nicht bloß, äußerlich der menschlichen Gesellschaft ihre Gestalt zu geben, ist der Vereinigungstrieb tätig: er
unterliegt der Veredlung und Vertiefung und bildet so ein festes Band, das im Inneren die Glieder verbindet, indem er
sich von der zwingenden Macht der Naturnotwendigkeit zur bewußten Freiheit erhebt. So wird aus der Vereinigung
der Geschlechter zur Erhaltung der Art die Gattenliebe; Eltern, Kinder und Verwandte vereinigt das feste Band der
Familie. Die heilige Ordnung, „die der Städte Bau gegründet“, webt, wie der Dichter singt, das Teuerste der Bande,
die Liebe zum Vaterlande.
Und nun blicken wir genauer hin auf das innere Leben der Völker! Überall, wo eine Idee sich regt, sei sie, welcher
Art sie wolle, mag sie äußerlichen Einrichtungen dienen oder sich mit den höchsten inneren Gütern der Menschheit
beschäftigen, überall tritt der Vereinigungstrieb auf und bemächtigt sich ihrer, um sie als Band zur Vereinigung der
Glieder zu nützen und so der Idee selbst um so wirksamer zu dienen. Aus der religiösen Idee bildet sich die große
Gemeinschaft der Kirche, welche alle Glieder umfassen und in ihren Schoß aufnehmen will; der Forschungstrieb der
Menschheit, der die Wahrheit zu erkennen trachtet, gestaltet sich zur Universitas literarum, welche alle
Wissenschaften in sich zu vereinigen strebt; die Idee der Vaterlandsliebe findet ihren Ausdruck in der Heeresmacht,
die, wohl bereitet und gerüstet zur Abwehr wie zum Angriff, ihren Schild über die heimischen Penaten hält. — Es
würde zu weit führen, alle die Verbindungen aufzählen zu wollen, welche in der menschlichen Gesellschaft sich
bemerkbar machen, und die alle den Zweck haben, durch Vereinigung und Organisation der Kräfte für die Wohlfahrt
des Ganzen einzutreten.
Wo hat nun aber dieser Trieb nach Vereinigung und Veredlung, der sich im Menschengeschlecht regt, seinen
Ursprung? — So wie im einzelnen Menschen der Gedanke an das Göttliche und Ewige, das Bewußtsein seiner
Abstammung von dem großen Vater der Liebe und des Lebens es ist, welches ihn führt und innerlich auferbaut, so
bildet auch diese Idee für die gesamte Menschheit die nie versiegende Quelle für ihre Entwicklung und Veredlung.
Auch für den rauhen Stein der Menschheit bleiben das auf die Säule J . . . . hinweisende Senkblei >434< und die
Kelle des göttlichen Wortes die nicht mißzuverstehenden Sinnbilder für das, woraus allein das Heil kommen kann. In
jedem einzelnen soll der Gottesgedanke sich frei machen und als Trieb auftreten, der zum Lichte führt, und diese
Triebe der Individuen vereinigen sich durch natürliche Wahlverwandtschaft zu einem großen Strom, auf dessen
stolzen Wogen das Menschengeschlecht seiner Vollendung entgegen geführt werden soll.
Ja, so sollte es sein! Ist es aber so? — Sollten wir nicht bei all der Unvollkommenheit, bei all dem Elend und Jammer,
bei all der Gemeinheit und Niedrigkeit, von der wir die menschliche Gesellschaft zersetzt und zerrissen finden, nicht
doch gerechte Zweifel hegen, ob der Strom, auf dem sie dahintreibt, sie auch wirklich dem Lichte näher bringt? —
Freilich, die Menschheit ist eben ein rauher Stein; die Unvollkommenheiten, welche sich am einzelnen zeigen,
machen sich auch in der Gesamtheit bemerkbar. Leidenschaften und Begierden erschüttern den einzelnen und hindern
ihn in seinem Streben zur Vollkommenheit, und die Gesellschaft wird zerrissen von Parteikämpfen, die oft genug
nicht um der Wahrheit, sondern um selbstischer Zwecke willen, manchmal in unreinster, widerwärtigster Weise
geführt werden; der einzelne streitet mit seinem Nächsten, den er lieben sollte, in gehässiger Weise um Mein und
Dein, weder sein Gut noch seine Ehre und guter Name sind ihm heilig, wenn die Dämonen des Hasses und der
Zwietracht losgelassen sind, und die Völker stehen eifersüchtig und mißtrauisch nebeneinander und zerfleischen sich,
oft um geringer Ursache willen, in blutigen Kriegen mit ihren grauenhaft vervollkommneten Mordwaffen. Wie wir
beim einzelnen Hochmut und Unduldsamkeit finden, so auch in der Gesamtheit. Wir sehen priesterliche
Gemeinschaften, die, anstatt Liebe zu verbreiten, den Andersdenkenden verfluchen, wir sehen eine wissenschaftliche
Richtung, die, anstatt den Keim des göttlichen Geistes im Menschengeschlecht zu pflegen, in brutalem Materialismus
diesen Geist zu ersticken und dafür ihr aufgeblähtes Stückwerkswissen einzuschmuggeln trachtet.
Doch ich will das Bild menschlicher Zerrissenheit nicht weiter ausmalen. Mag es sich aber auch noch so traurig
gestalten, — eins dürfen wir uns dadurch nicht rauben lassen: den Glauben an das im einzelnen wie in der
Menschheit wirksame Göttliche, das das Geschlecht zwar langsam, aber sicher auf der Bahn des Lichtes der
Vollendung entgegenführt. Das menschliche Geschlecht kann untergehen, ehe es dies große Ziel erreicht hat, ebenso
wie der einzelne stirbt, ehe er mit seinem rauhen Stein fertig geworden ist: aber aufgehalten werden auf dieser Bahn
kann es nimmermehr.
Man wende nicht dagegen ein, daß sich das nicht nachweisen ließe. Jeder, der die Bücher der Weltgeschichte mit
offenem Auge und unbefangenem Sinn liest, muß das erkennen. Wohl finden wir hier große Schwankungen; so wie
wir einzelne Individuen kämpfen, unterliegen und untergehen sehen, so sehen wir auch ganze Nationen, die in hoher
Kulturblüte weltbeherrschend dagestanden, verfallen, dahin sinken und verschwinden bis auf wenige traurige Reste,
aber stets treten andere Völker auf, die die Führerschaft übernehmen. Wenn wir am Ufer des Weltmeeres bei
herannahender Flut stehen, so sehen wir die Wellen heran brausen und wieder zurückweichen; immer dasselbe
schwankende Spiel. Wir merken nicht, daß die Flut höher steigt. Wenn wir aber uns die Zeit nehmen, ruhig
auszuharren, so erkennen wir doch endlich, daß die Wogen immer weiter und weiter über den Strand rollen, bis sie
endlich unsere Füße netzen. So ist es auch mit dem Fortschreiten der Menschheit. Wie lange haben wir denn
beobachtend an dem Ufer dieses Meeres gestanden? Wie viele Wogen naben wir denn herankommen und wieder
zurückweichen gesehen? Die paar Jahrtausende Geschichte, die wir übersehen können, sind doch nur eine winzige
Spanne Zeit; und welche Bahn hat das Menschengeschlecht noch vor sich!
Die Wogen, die wir heran rauschen sehen, sind abhängig von der Kraft des wechselvollen Windes: aber immer sich
gleichbleibend wirkt die Kraft, die die Wasser in der Flut steigen macht. Und eine solche Kraft ist auch im Leben der
Menschheit tätig: das Licht des Göttlichen.
Halten wir darum fest an dem Glauben an das Licht des Göttlichen, das zwar zeitweise durch Trug und Wahn
verdunkelt, aber nie verlöscht werden kann; und halten wir ferner daran fest, daß das Licht im menschlichen
Geschlecht einzig und allein dadurch wahrhaft gefördert werden kann, daß der einzelne in sich dieses Licht zu
erwecken und zu vermehren versteht. Daran arbeitet die Loge; und durch den Blick vom einzelnen auf das
Allgemeine soll jeder von uns erneute Kraft erhalten für seine Sendung und für die Lösung der Aufgabe, zu der er
berufen ist. So wie die winzigsten Geschöpfe im Ozean durch Aufeinanderfügen kleiner Baustücke die großen
Korallenriffe erbauen, >436< so ist auch der kleinste Gedanke, der sich in deinem Innern dem ewigen Lichte
zuwendet, nicht verloren, wenn er sich umsetzt in ein Wort der Wahrheit, in eine Tat der Liebe, sondern findet seine
Stelle in der Entwicklung des Ganzen. Das bedenke, du Maurer, und handle danach!
----Vielleicht möchte es scheinen, daß der Vergleich der Menschheit mit einem rauhen, zu bearbeitenden Baustein nicht
recht passen will, daß sich vielmehr dieses Bild nur auf den einzelnen Menschen anwenden ließe. Richtiger wäre es
vielleicht, die menschliche Gesellschaft, weil sie aus vielen einzelnen Gliedern besteht, mit einem im Bau begriffenen
Gebäude, einem noch unvollendeten Tempel zu vergleichen. Dem ist aber nicht so. Die Menschheit, als Ganzes
betrachtet, ist weiter nichts als nur ein kleiner Bruchteil eines großen Ganzen, ein einzelnes Bauslück zu dem großen
Tempelgebäude.
Wo ist denn nun dieser große Tempel? Wir heben unseren Blick aufwärts von unserer kleinen Erde und blicken
hinaus in die unermeßlichen Fernen des Weltalls. Wir leihen uns vom Lichtstrahl die Flügel und eilen vorwärts bis in
die äußersten Fernen, daß es uns gelänge, die Grenzen des gewaltigen Gebäudes zu finden, seinen Bezirk zu
umspannen, seinen Plan zu ergründen. Vergebenes Bemühen! Eine Unendlichkeit häuft sich auf die andere. Mutlos
Anker werfen muß die kühne Seglerin Phantasie. Sie kehrt heim von ihrem Fluge in das Unermeßliche und begnügt
sich, das zu betrachten, was der große Meister von seinem Gebäude unseren blöden Augen zu enthüllen für gut
befunden hat.
Von Anbeginn der Zeiten hat der Mensch seinen Blick anbetend auf die Werke der Schöpfung gerichtet, auf seinen
Wohnsitz, die prangende Erde, und auf das Firmament, das sich über ihr ausspannt mit seinen Tausenden und aber
Tausenden von Welten. Man hat das Firmament den Tempel des Höchsten genannt, und doch ist es nur ein kleiner
Teil des großen Ganzen; man hat diesen Teil der Schöpfung als etwas Fertiges und Vollkommenes betrachten zu
müssen geglaubt, und doch ist es das nicht. Auch auf diesen Bruchteil des großen Tempels läßt sich das Bild des
rauhen Steines anwenden, und so ergibt sich uns die freimaurerisch-wissenschaftliche Bedeutung desselben.
Keineswegs als eine wissenschaftliche Errungenschaft der Neuzeit, sondern als eine Anschauung aus uralter Zeit gilt
die Vorstellung, daß nichts in der erschaffenen Welt feststeht, sondern daß alles einem beständigen Wechsel
unterliegt. Was der altgriechische Weltweise Heraklit durch Spekulation fand und in den Satz: „panta rhei“, alles
fließt, zusammenfaßte, das ist von der modernen, auf Beobachtung und Experiment gegründeten Naturwissenschaft in
vollem Umfange bestätigt worden. Am deutlichsten tritt uns dieses Naturgesetz in der Pflanzen- und Tierwelt
entgegen, wo sich das Geborenwerden, Wachsen, sich Entwickeln und Absterben vor unsern Augen vollzieht. Ebenso
aber ist es in der unorganischen Welt. Die Gestalt der Erde mit ihren Gebirgen und Meeren, die für die Ewigkeit
gegründet erscheint, steht keineswegs fest, sondern ist veränderlich. Ja, unsere Erde selbst ist nicht ewig, sie wird sich
auflösen in dem Feuer der Sonne, von der sie wie alle anderen Planeten einst ausgegangen. Und auch die Sonne steht
nicht still, wie man sonst wohl annahm, sondern bewegt sich mit allen ihren Begleitern nach einer bestimmten
Richtung des Himmels hin. Wer will sagen, welcher Umwandlung, in welchen unermeßlichen Fernen, nach welchen
unermeßlichen Zeiten, sie entgegengeht?
Sollte uns dieser ewige Wechsel und Wandel, die Gewißheit, daß nichts im unendlichen Weltenraum weder eine
bleibende Stätte noch eine bleibende Gestalt hat, mit Trauer und Bangigkeit erfüllen? Das müßte es, wenn wir nicht
aufschauen möchten in gläubiger Zuversicht zu dem ewigen Meister, der das Ganze in seiner Hand hält, dessen
heiliges, unabänderliches, auf seinem Reißbrett verzeichnetes Gesetz den steten Wechsel der sichtbaren Dinge
vorgezeichnet hat; wir müßten das, wenn wir in dem Meister des ewigen Tempels nicht den allliebenden Vater
erkennen möchten, der das, was er geschaffen hat, durch stufenweise Veredlung der Vollendung entgegen führen will.
Je höher der Mensch fortschreitet in wissenschaftlicher Erkenntnis, je mehr er sich frei macht von Vorurteilen, je
mehr er seinen Blick erweitert, desto heller tritt ihm die Wahrheit vor Augen, daß nicht im Stillstande, sondern in der
Entwicklung das wahre Leben zu finden ist. Dies ist in unserer Neuzeit in glänzendster Weise bestätigt worden durch
den Forschergeist Darwins, von dessen viel angefochtener Lehre man fälschlich glaubte, daß sie vom Materialismus
eingegeben sei, und daß sie die heiligsten Güter der Menschheit in Frage stelle. Wenn Darwin >438< lehrt, daß die
Arten, welche das Tier- und Pflanzenreich zeigt, nicht entstanden sein können durch einen plötzlichen
Schöpfungsakt, sondern daß nach ganz bestimmten, von ihm aufgefundenen Gesetzen sich das Höhere aus dem
Niederen entwickelt haben müsse, so hat er uns dadurch keineswegs den Glauben an Gott den Schöpfer geraubt,
vielmehr hat er uns zu einer tieferen Erkenntnis und Einsicht in die wunderbare Wirksamkeit des Schöpfers
verhelfen; er hat uns gezeigt, daß Schöpfung, Erhaltung und Regierung ein einheitliches Werk ist, das sich nach
einem ewigen Gesetz vollzieht; er hat uns den Inhalt der Säule zur Linken, J . .. ., „Gott hat mich erschaffen“, erst
zum rechten Verständnis gebracht und zu einem hellen Licht werden lassen, indem er dartat, daß die Kraft dieser
Säule bei der Entstehung der Welt, der Geschöpfe, des Menschen, der ganzen Natur sich keineswegs ausgegeben und
erschöpft hat, sondern daß sie als Entwicklungs- und Vervollkommnungstrieb in alle Ewigkeit fortwirkt.
Ich will die Gedanken, die sich mir hier in überwältigender Fülle aufdrängen, nicht weiter ausführen. Halten wir nur
das Eine fest: Die Schöpfung, soweit wir sie überblicken, ist ein unvollendetes Baustück, in dem die Kraft der Säule
J.... wirksam ist, die da geweckt und wirksam erhalten wird durch die Arbeit der Kelle, d.h. durch die Macht des
schaffenden, erhaltenden und regierenden Wortes, welches zur Vollendung führt und dasselbe bleibt gestern, heute
und in alle Ewigkeit.
Und der Tempel, in welchen sich dieses Baustück einfügen soll? Wir sehen ihn nicht; er steht im Reiche des Geistes,
unzugänglich für alle, die, an Raum und Zeit gebunden, von den Fesseln der Materie gehalten sind; nur anbetend
ahnen können wir ihn. Werden wir ihn einst schauen, wenn die irdische Binde von unsern Augen genommen ist? Wir
hoffen es und bereiten uns für diese große Zukunft, indem wir in freier Tätigkeit uns nach dem ewigen Weltgesetz zu
gestalten suchen. Der geheimste Plan des Tempels aber, den kein Sterblicher ergründet, ist der Weltzweck, und in
dem dunklen Adyton liegt die Auflösung des Welträtsels. — (1891.)
Der kubische Stein.
Dem rauhen Stein im Norden steht auf unserer Tafel gegenüber im Süden der kubische Stein. Wenn wir diese beiden
Bilder betrachten, fallen uns unwillkürlich zwei Begriffe ein, die sich im Leben schroff gegenüberstehen, und
zwischen welchen in unsern Tagen mehr denn je der Kampf entbrannt ist: Realismus und Idealismus. Der Bruchstein
mit seinen unregelmäßigen Ecken und Kanten ist das Reale, der Kubus mit seinen nach dem rechten Winkel
zugehauenen ebenen Flächen ist das Ideale. Draußen auf dem Markt des Lebens gelten die Gegensätze zwischen
Idealem und Realem für unversöhnlich; scharf getrennt stehen die beiden Lager der Idealisten und Realisten sich
gegenüber. Jene bezeichnen diese als Hemmschuh der Kulturentwicklung und als Beförderer des Verfalls auf allen
Gebieten des geistigen Lebens; diese schelten jene Träumer und Phantasten, die utopistischen Ideen nachjagen, um
endlich den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Unsere Freimaurerei, wenn sie sich auch von dem geräuschvollen Treiben der Welt zurückzieht, kann sich nicht ganz
der Einwirkung jener Strömungen entziehen. Durch die verschlossenen Türen unserer Tempel dringt von jenen
Stürmen da draußen eine scharfe Zugluft bis zu uns herein. Realisten und Idealisten hat es zu allen Zeiten auch in
unserm Bunde gegeben; wer seine Geschichte kennt, der weiß, wie dieser Gegensatz die Ursache vieler Kämpfe und
Streitigkeiten gewesen ist, die auch in unserer Zeit noch keineswegs überwunden sind. Glücklicherweise liegt in
unserer Sache selbst die Gewähr, daß solche Kämpfe unsern Orden wohl erschüttern, aber nicht umstürzen können,
ja, diese Kämpfe können nur dazu dienen, um uns Klarheit zu verschaffen und uns die Augen zu öffnen, daß wir
deutlich erkennen, was uns fördert und was uns hemmt. —
Überall ist die k. Kunst bestrebt, die Gegensätze auszugleichen und aus Kampf zum Frieden zu führen; so auch hier.
Den Realisten schützt sie vor Verrohung und Versinken in Materialismus, den Idealisten vor ideologischer
Schwärmerei und haltloser Zerfahrenheit. Indem sie beide vor den krankhaften Auswüchsen ihrer Richtung bewahrt,
will sie ihnen den Weg zeigen, auf dem sie versöhnt der Vollendung entgegengehen können. Ja, die k. Kunst will
keine Realisten und keine Idealisten, sie will Freimaurer, d.h. Männer, die da, im Realen >440< wurzelnd, zum
Idealen emporstreben und so beide Richtungen in sich vereinigen; sie will das Gleichgewicht des Geistes in uns
herstellen: darum legt sie in die Schalen ihrer Waage auf der einen Seite den rauhen, auf der andern Seite den
kubischen Stein. Während bei den ungeordneten Gemütern draußen die Zunge der Waage schwankt, soll sie beim
Freimaurer feststehen und nach oben weisen.
Die Freimaurerei läßt den zum Lehrling Aufzunehmenden drei Schritte über die Tafel tun, welche die Welt,
vornehmlich die Welt im kleinen, die Welt unseres Inneren, bedeutet. Von der Grundfeste des musivischen
Fußbodens, der da ist die Geburtsstätte des geistigen Lebens, führt der erste Schritt zum kubischen Stein nach Süden,
der zweite zum rauhen Stein nach Norden; dann erst ist es vergönnt, den letzten Schritt nach Osten zu tun. Diese drei
Schritte werden im Lehrlingsgrade in ihrer wahren Bedeutung nicht erklärt, sie werden dem Nachdenken des
Neueintretenden überlassen. Und so kann es denn dem angehenden Freimaurer nicht verborgen bleiben, daß diese
drei Schritte den Weg durch das Leben wie durch den Orden darstellen müssen, den Weg, auf dem wir, durch
Arbeiten gestaltet, durch Prüfungen bereitet, endlich zum Meister gelangen müssen, der uns aufnimmt und uns sein
Licht schauen läßt. Warum aber gelangen wir erst zum Kubus nach Süden und dann zum rauhen Stein nach Norden?
Sollte nicht die umgekehrte Reihenfolge die natürlichere sein? Heißt es doch in unsern Akten:
„der rauhe Stein sei das Hauptaugenmerk der Lehrlinge; ihnen liegt ob, denselben zu behauen, zu ebnen und
zu einem vollkommenen Baustein, d.h. zu einem Kubus, zu gestalten.“ (L. B. II, Beil., S. 47.)
Es müßte also erst der rauhe Stein vor uns liegen, um durch uns seine Gestaltung zu erfahren. Dem ist aber nicht so.
Wenn wir nicht zuerst das Bild des kubischen Steins in unserer Seele empfangen haben, können wir mit dem rauhen
Steine nichts anfangen. Erst müssen wir wissen, wozu wir diesen gestalten sollen; dann erst können wir an die Arbeit
gehen. Wer das Urbild der Vollendung nicht in sich trägt, der wandelt wie ein Blinder dahin; sein Streben wird
gegenstandslos, weil ihm die Richtung fehlt.
Darum führt uns die k. Kunst bei unserm ersten Schritt zum Ideal der Vollkommenheit; sie wählt als Bild dafür den
rechtwinklig zugehauenen Baustein, der durch seine vollendete Form befähigt ist, sich leicht und ohne Zwang in den
großen Tempelbau einzufügen, und sie
stellt ihn in das hellste Licht. Während über das Bild des rauhen Steines im Norden der schwache Schimmer des
zunehmenden Mondes sieh ergießt, strahlt über dem Bilde des Kubus im Süden die helle Mittagssonne, deren Licht
von seinen polierten Flächen zurückgeworfen wird. Der Süden der Tafel zeigt uns das Leben in seinem höchsten
Glanz und seiner reichsten Fülle, er zeigt uns das Kleinod — ein unbewegliches wird es von unsern Akten genannt —
, das die für alle Ewigkeiten feststehende Norm für das Streben des Menschen bildet, das Bild der Vollendung, zu der
jeder Mensch von seinem himmlischen Herrn und Meister berufen ist.
Und doch, trotz des hellen Sonnenlichts, in welchem das Ideal des Lebens vor uns liegt, wie oft wird es verloren im
Sturme der Leidenschaften und Begierden, wie oft wird es erstickt und begraben durch niedere Triebe, die uns das
edle Bild verwischen und uns vom rechten Wege abziehen! Wie oft wird der menschliche Geist irre an dem, was ihm
das Höchste und Begehrenswerteste sein sollte! Statt auf die Höhe seinem Ziel entgegenzuschreiten, führt ihn sein
Weg hinab in die Abgründe der Finsternis und der Verzweiflung. Aller Haß und Streit, aller Irrtum und Wahn, alle
Tränen und Schmerzen, alle Seufzer und Flüche sind in letzter Ursache zurückzuführen auf das Verlieren des Ideals
und auf den verfehlten Weg, der uns, anstatt dem Göttlichen entgegenzuführen, zum Dienste falscher Götzen bringt,
mögen diese nun Stolz, Eitelkeit, Habsucht, Sinneslust oder sonstwie heißen.
Es ist dafür gesorgt, daß die Glieder unseres Bundes, wenn sie getreu ihrer Pflicht den Winken der Ordenslehre
folgen, vor solchen Irrwegen bewahrt bleiben. Die Freimaurerei zeigt ihren Jüngern nicht bloß das Ideal, sondern sie
weist ihnen auch die Wege, auf welchen sie sich ihm nähern können, und lehrt sie ihre Werkzeuge kennen, durch
welche sie gefördert und vor Irrtümern bewahrt werden.
Zunächst bringt der Orden uns in einen Raum, wo wir geschützt und wohlbedeckt sind, sicher vor Gefahr und
Störungen. Das ist die rechte und gehörig gedeckte Loge, in welcher der Orden diejenigen versammelt, die sich der
Wahrheit und dem Lichte zu nähern wünschen, das ist die Hütte Gottes bei den Menschen, deren Heiligtum von
nichts Argem und Falschem entweiht werden darf. Wohl und festgefügt steht sie auf sicherem, nach der Wasserwaage
geebneten Grunde, und selbst jene scharfe Zugluft, die ab und zu einmal durch die geöffnete Tür von dem wirren
Treiben da draußen zu uns herein fährt, sie kann den >442< durch Liebe, Freundschaft und gleiches Streben
gefestigten Mauern nichts anhaben. Und wenn wir uns in unserer Arbeitsstätte umschauen — siehe da!, so erscheint
uns die ganze Loge wieder unter dem Idealbilde des Kubus; denn unser Lehrlings-Fragebuch (Frageb., II Abt., 2.
Art., Fr. l bis 8) sagt ausdrücklich,
„daß die Länge der Loge gleich ihrer Breite und ihre Höhe gleich ihrer Tiefe ist, daß ihre Länge von Osten
nach Westen, ihre Breite von Süden nach Norden reicht, daß ihre Höhe eine unzählbare Anzahl von Ellen
beträgt, ihre Tiefe sich von der Oberfläche der Erde bis zu deren Mittelpunkt erstreckt, und daß sie bedeckt sei
mit einer himmelblauen Decke, bestreut mit goldenen Sternen.“
So zeigt uns unsere Loge im Bilde des Kubus das große Bauwerk der Welten in seiner Unendlichkeit und Pracht, als
einen heiligen Tempel, in dessen Heiligstem unsichtbar und unnahbar der Allmächtige Baumeister dieses Tempels
selbst seinen Sitz hat, er, dessen heiliges Gesetz gilt und waltet durch das Heiligtum in seinen höchsten Höhen, seinen
tiefsten Tiefen und seinen fernsten Fernen. Und wir Brüder finden uns wieder in diesem Tempel als Bürger einer
idealen Welt, die in ihrem regelrechten Haushalt keine Störung noch Verwirrung kennt, wir finden uns zusammen als
Brüder, als Söhne des einen allmächtigen und allliebenden Vaters, als Erstgeborene seines Lichtes, hoch begnadigt
vor allen seinen anderen Geschöpfen durch die Fähigkeit, sein Licht und seine Wahrheit zu erkennen und durch
Erweckung dieses Lichtes und seines heiligen Wortes ihn zu ahnen und uns ihm zu nähern. Beim Scheine dieses
Lichtes und durch den Schall des Wortes des ewigen Meisters, der in uns widerklingt, offenbart sich uns der ewige
unzerstörbare Kern unseres Inneren. Das Bild der Welt finden wir wieder als Spiegelbild in uns. Als ewiges
unveräußerliches Erbteil ist das Kubische, das Göttliche, das Urbild der Vollkommenheit, in uns gelegt, aber nur als
Abbild, als Keim für eine zukünftige Gestaltung unseres ganzen Ichs, als ein Pfund, das wir nicht vergraben, sondern
mit dem wir wuchern sollen.
Daß dieses Kubische, dieses göttliche Erbteil, nicht nur in uns, die wir das Bewußtsein davon haben, sondern auch in
die ganze Schöpfung als etwas Unvergängliches und Unabänderliches hineingelegt ist, darauf deutet die
Wasserwaage hin, die wir auf unserer Tafel unter dem kubischen Steine dargestellt sehen. Nach unserem Fragebuche
(Fragebuch
VI. Abt., Fr. 16) dient die Wasserwaage dazu,
„den Grund zum Gebäude gleich und richtig zu machen“.
Wenn wir also die Wasserwaage unter dem Kubus sehen, so will das sagen: der Grund, auf dem das Göttliche in der
Welt ruht, ist fest und gleich, der ewige Meister hat ihn selbst gelegt, was auf ihm gebaut ist, kann nicht fallen und
gleiten. So ruhig und sicher wie das Samenkorn in der Erde ruht auch der Keim des Göttlichen im Geschaffenen. Nur
bedarf es bei jenem des Taus und des Sonnenscheins, um ihn ans Licht zu locken und zur Ähre zu entwickeln, bei
diesem müssen durch Arbeit die schlummernden Kräfte geweckt und zur Entfaltung gebracht werden, damit der
Kubus, das Bild der Vollkommenheit, welches vorgebildet im Innern liegt, nach außen hin in die Erscheinung trete.
Dies führt uns nun auf die Bedeutung des kubischen Steines als Mittel zur Gestaltung unseres Inneren und auf die
Wege, die im Schutze der wohlbedeckten Loge uns mit unfehlbarer Sicherheit ans Ziel führen, wenn wir in
hingebendem Eifer und unerschütterlicher Treue den Winken folgen, die der Orden uns gibt.
Bei unseren Betrachtungen über die Arbeit am rauhen Stein, die ja die Vollendung des kubischen Steines zum Ziel
hat, haben wir gesehen, daß diese Arbeit eine zwiefache ist, und zwar erstens eine Arbeit von außen nach innen, nach
der Art, wie sie der Steinmetz vollbringt, indem er die rauhen Ecken abschlägt und mit Hilfe von Winkelmaß,
Wasserwaage und Senkblei den Kubus herausschält; bei dieser Arbeit wird durch das von außen an uns herantretende
Pflichtgebot unser geistiger Mensch geformt und veredelt. Zweitens aber ist eine Arbeit von innen nach außen
notwendig, welche jener, die eigentlich nur vorbereitend wirkt, entgegenkommt. Sie ist die wichtigere, notwendigere,
die eigentlich freimaurerische Arbeit, die sich durch die Kelle, d.h. durch die Wirksamkeit des göttlichen Wortes, in
uns vollzieht.
Über diese Arbeit von innen heraus geben uns unsere Akten einen wichtigen Fingerzeig durch das, was sie zur
Erklärung des kubischen Steins sagen. Es heißt es in der Ausdeutung der Arbeitstafel,
„Der kubische Stein ist nach dem Winkelmaß, der Wasserwaage und dem Senkblei geebnet und dient unsern
Gesellen zum Augenmerk, um daran ihre Werkzeuge zu schleifen.“ (L. B. II, Beil., S. 47.)
Wir sehen also hier die Arbeit am kubischen Stein eigentlich den Gesellen zugewiesen. Es deutet darauf auch hin,
daß die Säule zur Rechten, an der >444< die Gesellen ihren Lohn erhalten, deren Name und Inhalt aber den
Lehrlingen unbekannt ist, im Süden unter dem kubischen Stein und der Wasserwaage befindlich ist. Das Fragebuch
aber läßt an der parallelen Stelle keinen Zweifel darüber, daß auch die Lehrlinge an dieser Arbeit vollen Anteil
haben; denn es heißt daselbst: die Gesellen sollen am kubischen Stein ihre und der Lehrlinge Werkzeuge schleifen.
Und weiter fügt das Fragebuch erklärend hinzu:
„Welches sind die Werkzeuge eines Freimaurers ?“
„Die Vernunft, der Verstand und der Wille.“
„Was bedeutet der Ausdruck, sie sollen ihre Werkzeuge schleifen?“
„Die Vernunft gewöhnen, zu verstehen und zu wollen, was gut ist.“
(Fragebuch Abt. II, Art. l,Fr. 32 bis 34.)
Ich habe vorhin die Entwicklung des inneren Menschen mit der eines Samenkorns verglichen. Was ist es denn, was
das Samenkorn befähigt, zur Pflanze zu erwachsen und Blüte und Frucht zu bringen? Erstens muß das Korn einen
gesunden Keim in sich bergen, ein kleines unscheinbares Knöspchen, dem niemand ansehen kann, was seine
eigentliche Bestimmung ist, in welchem aber die ganze Pflanze bereits vorgebildet enthalten ist; zweitens aber ist in
ihm die Kraft enthalten, die geweckt und gestärkt werden kann, um den Keim der Entwicklung entgegenzuführen, so
daß er mit unwiderstehlicher Gewalt, die dunklen Erdschollen durchbrechend, sich dem Lichte entgegen ringt. So ist
es auch mit dem Menschengeiste, der, sowie das Saatkorn vom Sämann in das Erdreich, von unserm Schöpfer und
Vater in das materielle Kleid unseres irdischen Leibes hinein gesät worden ist.
Die Keimkraft aber, die in uns gelegt ist, erscheint uns in dreifacher Art als das, was unsere Akten unsere Werkzeuge
nennen: Vernunft, Verstand und Wille. Es sind drei verschiedene Richtungen unseres Geistes, die aber doch wieder
dem einen göttlichen Keim unseres Inneren entstammen.
Die Vernunft ist das kostbarste Erbe, das wir vom Schöpfer erhalten haben. Sie ist es, die uns über alle andern
Geschöpfe erhebt, sie ist das teure Kleinod, durch das wir befähigt sind, uns über die Sinnenwelt hinaus in das Reich
der Ideen zu erheben. Alle abstrakten Begriffe, aus denen sich unser Geistesleben zusammensetzt, gewinnen wir
durch
sie. Der Verstand aber ist die Kraft, die es uns erst ermöglicht, sowohl die durch sinnliche Wahrnehmung uns
gewordenen Begriffe als auch die durch die Vernunft gewonnenen Ideen durch Urteile und Schlüsse miteinander zu
verknüpfen. Ich möchte die Vernunft als intensive, den Verstand als extensive Tätigkeit unseres Geistes bezeichnen.
Das Material, das die Vernunft bietet, sichtet und ordnet der Verstand durch den logischen Prozeß, und wir gelangen
durch ihn erst zu einem allgemeinen Weltbilde. — Der Wille endlich ist die Kraft, welche jene beiden in Bewegung
setzt. Ohne ihn ist weder ein geistiges noch ein Leben in der Sinnenwelt möglich; er ist es, der uns zum Handeln nach
freier Selbstbestimmung antreibt.
Diese drei Kräfte unseres Geistes können mißleitet werden und verkümmern wie das Samenkorn, dem nicht die
notwendigen Bedingungen zur Entwicklung gegeben werden. Die Vernunft kann einschlafen; der Verstand kann sich,
anstatt in den Dienst der ewigen Ideen zu treten, zum Irdischen, Vergänglichen, Gemeinen erniedrigen; der Wille
kann seine Richtung verfehlen und uns, anstatt vorwärts und aufwärts zum Licht und zur Wahrheit, rückwärts und
abwärts zur Finsternis und zum Irrtum führen. Darum ist das nötig, was der Orden mit dem Schleifen der Werkzeuge
am kubischen Stein bezeichnet: die Vernunft gewöhnen, zu verstehen und zu wollen, was gut ist. Jede Kraft, die recht
wirken soll, muß erstens geübt werden, sonst wird sie schwächer und schwächer, bis sie endlich ganz abstirbt;
zweitens muß sie die rechte Richtung haben, in der sie sich betätigen soll. Beide Aufgaben werden am kubischen
Stein gelöst. Dadurch, daß uns das Bild des Ideals der Vollkommenheit beständig voranleuchtet mit dem Gebot: „Ihr
sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist“, dadurch, sage ich, wird dem in unsern
irdischen Leib eingeschlossenen und durch Bande der Materie gefesselten Keim der Vernunft Luft und Licht, Tau
und Sonnenschein zugeführt. Durch das Leben, das vom Ideal ausgeht, wird sie dahin geführt, zu verstehen und zu
wollen, was gut ist, d.h. sie ist es, die durch die Erkenntnis des Guten erleuchtet, den Verstand beherrscht, anstatt von
ihm beherrscht zu werden, sie ist es, die, anstatt sich von dem Willen knechten zu lassen, ihm in rechter Erkenntnis
der Wahrheit das Gesetz des sittlichen Handelns vorschreibt und ihn so von der Willkür zur Freiheit führt. Um aber
diese unsere geistigen Kräfte zu regeln und sie stets in der rechten Richtung auf das Ziel der Vollendung >446< zu
erhalten, dient der Hammer, der mit seinem Schlag uns „in Ordnung“ zwingt und darum auch auf unserer Tafel seine
Stelle neben dem kubischen Stein hat.
So wird derjenige, der seine Werkzeuge am kubischen Steine schleift, selbst zum Kubus. Die rauhen Ecken und
Kanten fallen ab, und der vollendete Mensch, der Erstgeborene vom Vater, erhebt sich aus der irdischen Hülle, um
heimzukehren zu dem, der ihn erschaffen hat.
Wer aber hat diese Vollendung erreicht? Von allen Sterblichen nur Einer, den wir darum unsern Obermeister nennen.
Nach dem Willen des Allvaters war es ihm beschieden, das Göttliche im Menschlichen ganz zu vollenden. Darum
steht er da als vollkommener Kubus, als unseres Tempels Grund und Eckstein, dessen Licht läuternd und erlösend
durch die Jahrtausende in alle Ewigkeit hinaus leuchtet. Ihn recht zu erkennen und zu erfassen, durch seine Kraft uns
emporheben zu lassen aus dem Staub und Schutt des Bauplatzes auf die lichte Tempelhöhe eines vollkommenen
Lebens in Gott, das ist das Endziel unserer Ordenslehre, das ist die Seligkeit, die den Geprüften und
Bewährtgefundenen im innersten Raume unseres Tempels aufbewahrt ist.
Wer auf diese Höhe gelangt ist, für den ist der Unterschied zwischen Realem und Idealem geschwunden. Ein
Idealismus kann nur stattfinden und sich dem Realismus gegenüberstellen im Kampfe, wo das Göttliche noch im
Irdischen gefesselt liegt. Auf der Höhe der Vereinigung mit dem Vater ist dieser Kampf ausgekämpft; der Sieg ist
errungen, und was uns in der kämpfenden Loge als das Ideale erschien, das wird in der siegenden Loge zu dem
eigentlich Realen, weil es das einzig wahrhaft Seiende, das Ewige ist, vor dessen Wahrheit alles Irdische als eitler
Schein dahinschwindet.
Möge es uns allen vergönnt sein, durch die Hilfe dessen, der in dem Schwachen mächtig ist, das volle Licht seiner
ewigen Loge zu schauen! (1891.)
Das Reißbrett.
Die Symbole des rauhen und des kubischen Steines bereiten dem Verständnis keine besonderen Schwierigkeiten.
Wenn es dem Anfänger ohne Anleitung auch nur schwer gelingen mag, ihre ganze Tiefe zu erforschen, so wird er
sich der Hauptsache nach doch bald darüber klar, was sie ausdrücken wollen. Desto schwerer ist dagegen das dritte
der unbeweglichen Kleinodien, das Reißbrett, zu verstehen. Überhaupt muß der Lehrling auf ein volles Verständnis
dieser wichtigen Hieroglyphe verzichten. Erst im Gesellengrade läßt sich eingehender darüber reden, und der
Meistergrad gibt befriedigenden Aufschluß. Aber damit ist die Sache keineswegs abgeschlossen. In den
Andreasgraden wird die Erkenntnis des Reißbrettes noch mehr vertieft und erhält in den Kapitelgraden ihren
Abschluß. Im Lehrlingsgrade können deshalb nur einige Andeutungen gegeben werden.
Mit dem flammenden Stern zusammen nimmt das Reißbrett die Mitte der Tafel ein, ein Umstand, der auf die hohe
Wichtigkeit dieser beiden Sinnbilder hinweist. Beide zusammen sind gleichsam das Herz des Lehrlingsteppichs,
welches Lichtstrahlen und Lebensströme nach allen Seiten hin verbreitet. Auch unsere Akten heben die Beziehungen
des Reißbretts zum flammenden Stern ausdrücklich hervor.
Was sagen nun unsere Lehrlingsakten über dieses merkwürdige Symbol? In der Erklärung der Lehrlingstafel heißt es
folgendermaßen :
„Das Reißbrett, welches mitten unter dem flammenden Sterne befindlich ist, dient unsern Meistern, um darauf
Entwürfe zur Ausführung des Baues zu machen. Denn kein geschickter Baumeister fängt seine Arbeit an,
bevor er nicht eine Zeichnung gemacht und einen vernünftigen Plan entworfen hat.“
(L. B. II, Beil., S. 4T.)
Und im Fragebuch heißt es:
„Wozu dient das Reißbrett?“
„Die Meister sollen auf dem Reißbrett Entwürfe machen und für die Arbeiter und Brüder Freimaurer
die Arbeit zeichnen.“ (Fragebuch VI, 23. Vgl. auch II, Art. l, Fr. 29 und X, Fr. 85.)
Wie sieht nun das Reißbrett aus? — Dieses Symbol hat eine vollständige Geschichte in unserer Lehrart. Die
Zeichnung, welche von Br. v. Eckleff an Br. v. Zinnendorf mit den Akten gelangt ist, zeigt ein Reißbrett, welches
ganz anders aussieht als das heute bei uns >448< gebräuchliche. Es bestand aus einer rechteckigen weißen Platte,
welche eine schräge Lage hatte, so daß der eine der oberen Winkel nach dem Stern, der eine der unteren Winkel nach
dem Zirkel hinwies. Auf der Platte bemerkte man einige Figuren, zum Teil ganz unbestimmt und flüchtig gezeichnet,
über welche eine Erklärung nicht existierte; auch wußte niemand, was sie bedeuten sollten. Br. v. Zinnendorf ließ
daher diese Figuren ganz weg, so daß das Reißbrett ganz weiß blieb und in schräger Stellung. Die späteren
schwedischen Akten, welche unter König Karl XIII. eingeführt wurden, zeigen ein gerade stehendes Rechteck, auf
welchem neun geometrische Figuren in drei Reihen sichtbar sind. Die oberste Reihe zeigt ein rechtwinkliges
Doppelkreuz #, einen Kreis und ein schräges, einfaches, rechtwinkliges Kreuz; die zweite ein Quadrat zwischen zwei
gleichseitigen Dreiecken, von denen das eine mit der Spitze nach unten, das andere mit der Spitze nach oben weist;
die dritte Reihe endlich zeigt in der Mitte die Figur des großen pythagoräischen Lehrsatzes, links die Figur zum
Beweise des Satzes, daß die Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten sind, und endlich rechts die Konstruktion der
Aufgabe, ein Rechteck in ein Quadrat zu verwandeln. Bei der Neuredaktion unserer Akten, welche Br. v. Nettelbladt
nach ferneren schwedischen Überlieferungen unternahm, und welche in den vierziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts eingeführt wurde, ist das Reißbrett in dieser Gestalt vom Br. v. Nettelbladt nicht aufgenommen worden.
Er stellte das Rechteck gerade, so daß seine Seiten parallel mit dem Rahmen der Arbeitstafel stehen, und von den
geometrischen Figuren behielt er nur das schräge Kreuz bei, das er in die Mitte des Reißbrettes stellte, und dessen
rechtwinklige Form er in die eines sog. Andreaskreuzes verwandelte, welches die Figur des lateinischen Buchstabens
X oder der römischen Ziffer X zeigt. Wichtig erscheint mir dabei, daß, wenn man die beiden oberen und die beiden
unteren Enden der Kreuzbalken miteinander verbindet, zwei gleichseitige Dreiecke entstehen, die mit ihren Spitzen
aneinanderstoßen und so die ungefähre Figur einer Sanduhr bilden. Das Kreuz selbst erscheint auf unserm jetzigen
Reißbrett rein weiß auf dunkler gefärbtem Grunde, während der dasselbe umgebende Rahmen wieder heller gefärbt
ist. Es zeigt also das auf der ganzen Arbeitstafel durchgeführte Prinzip von Weiß und Schwarz, und bildet somit eine
Arbeitstafel im kleinen.
Es war ein höchst glücklicher Gedanke des Brs. v. Nettelbladt, das schräge Kreuz auf das Reißbrett zu setzen; denn
diese einfache Figur ist von großer Bedeutung für unsere ganze Symbolik. Sie ist eine sog. symbolische Wurzel, aus
der, wie spätere Grade zeigen, sich manches entwickeln läßt. (Einen ebenso genialen Gedanken faßte Br. v. Zinnendorf, als er aus
einer seiner Tochterlogen die Anfrage erhielt, wie die Aufdrückung von Salomos Siegel auf des Leidenden Zunge erfolgen solle. Da die Akten
darüber keine Vorschrift enthalten, so bestimmte Br. v. Z., daß der zweite Aufseher die Kelle dazu benutzen sollte; ein Gehrauch, der heute noch
besteht und in seiner Sinnigkeit gerade das trifft, was hier ausgedrückt werden soll.) Das schräge Kreuz ist die einzige Figur, die er
aus dem schwedischen Reißbrett (auch auf dem Eckleffschen Reißbrett ist das schräge Kreuz deutlich erkennbar)
herübergenommen hat, nur mit dem Unterschiede, daß er es nicht rechtwinklig, sondern als richtiges Andreaskreuz, in
welchem sich die beiden Balken unter einem Winkel von 60° (bzw. 120°) schneiden, in die Mitte hinein zeichnete.
So liegt das Reißbrett jetzt vor uns, hoffentlich für immer.
Betrachten wir das Symbol näher, so finden wir, daß nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form für uns
bedeutungsvoll ist. Die Form ist die eines aufrecht stehenden Rechtecks, dessen kürzere Seiten oben und unten,
dessen längere Seiten rechts und links liegen. Man erhält dieses Rechteck, wenn man die Endpunkte eines
regelmäßigen Sechsecks, mit Übergehung von zwei sich gegenüberliegenden, miteinander verbindet. Weshalb das
Reißbrett gerade die Form des im Sechseck liegenden Rechtecks haben muß, wird dem Johannisgesellen klar werden.
Der Lehrling muß sich mit der Tatsache begnügen. In unserer Symbolik nun steht das Rechteck, das rechtwinklige
Viereck mit ungleichen Seiten, auf einer niedrigeren Stufe als das Quadrat, welches in seiner rechtwinkligen und
gleichseitigen Gestalt die vollkommenste Flächenfigur ist. Der Kubus, der, wie wir gesehen haben, das Idealbild des
vollkommen Geschaffenen darstellt, zeigt uns in allen seinen Flächen auch das vollkommene Quadrat. Ein Baustein,
welcher von lauter >450< rechteckigen Flächen begrenzt wird, wäre wohl für manchen Zweck des Baumeisters
verwendbar, aber er hätte noch nicht die vollendete Form des kubischen Steines erreicht, welcher vor allen
auserwählt und köstlich ist. Doch wäre es möglich, daß er die Form erhalten könnte. Wenn wir nun für die
körperlichen Steine ihre Flächen nehmen, unter welchen sie dem Auge erscheinen, so sehen wir im Quadrat das Bild
des Vollkommenen, im Rechteck dagegen das Bild des in der Entwicklung zur Vollkommenheit Begriffenen. Dies
wird derjenige, der im Orden weiter fortschreitet, bestätigt finden. Es ist meiner Meinung nach daher auch wohl
beachtenswert, daß die ganze Lehrlingstafel, wie sie in der Zeichnung unserer Akten vor uns liegt, nicht vollkommen
quadratisch ist; die Eckleffsche Tafel ist es auch nicht. Hätte Br. v. Nettelbladt die quadratische Form gewollt, so
wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sie herzustellen. Er tat das aber nicht, obgleich er in den Erklärungen sagte: „Diese
Tafel soll viereckig und gleichseitig sein usw.“, d.h. sie sollte so sein, ist es aber nicht. Nur der eigentliche Raum der
Tafel, der die Figuren auf schwarzem Grunde zeigt, ist ein vollkommenes Quadrat. Dies ist gleichsam die höhere
Welt der Ideen, welche die Figuren ausdrücken. Diesem Quadrat haftet in dem Fußboden noch ein Erdenrest an, der
dadurch, daß er sich ihm anschließt, ihm die vollkommene Form nimmt. Es dauert noch recht lange, bis wir endlich
die quadratische Tafel finden, die uns das Bild der vollkommenen Welt ohne Trübung schauen läßt.
Der Inhalt des rechteckigen Reißbrettes ist das schräge sog. Andreaskreuz. Es ergibt sich ungezwungen aus der Form
des Rechtecks selbst; denn es entsteht, wenn man die beiden Diagonalen zieht, welche in der Zeichnung nicht ganz
bis an die Eckpunkte geführt sind. Das schräge Kreuz ist dem Lehrling nicht mehr ganz unbekannt; er erblickt es bei
jeder Aufnahme, wenn die Brüder Aufseher hinter dem am Altare knieenden Suchenden ihre Schwerter kreuzen. Ich
glaube nun, in unserer Symbolik ein bestimmtes Gesetz zu erkennen, das ich überall bewahrheitet gefunden habe, und
das ich an dieser Stelle aussprechen und vorausschicken möchte.
Die überwiegende Mehrzahl unserer Sinnbilder ist geometrischer Natur; sie zeigen als ihre Grundform die Linie. In
welche Hülle die Linie dabei gekleidet ist, ob sie als Schnur eines Bleilots, als Umriß einer geometrischen Figur, als
Kreuzbalken, als Schwertklinge oder sonstwie erscheint, ist dabei zunächst nebensächlich. Selbst die beiden Säulen
lassen sich so auffassen. Die Mitte der Säule, gleichsam ihre Seele, ist gleichfalls eine gerade Linie, welche senkrecht
auf der Grundfläche, auf welcher die Säule steht, aufgerichtet ist und ihren Schwerpunkt enthält. Wo nun in unserer
Symbolik eine Linie auf eine andere stößt, wie z. B. beim Winkelmaß, beim Hammer usw., da soll etwas ausgedrückt
werden, was erst gestaltet, gleichsam gezeugt werden soll. Eine Linie wirkt auf die andere ein als eine Kraft, die
etwas ins Werk setzen, etwas in die Erscheinung treten lassen will. Die Erweckung schlummernder Kräfte ist es, die
hier angedeutet werden soll. Wo jedoch die sich treffenden Linien einander durchschneiden, wie z.B. bei den Linien
des flammenden Sterns, bei dem Geflecht des musivischen Fußbodens und bei unserm Andreaskreuz auf dem
Reißbrett, da ist eine Gestaltung schon vollzogen, eine Idee hat Leben gewonnen und hat sich in greifbarer oder
fühlbarer Weise bereits verkörpert.
Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir das Andreaskreuz des Reißbrettes zu betrachten. Nach dem, was in unsern
Akten steht, ist es zweifellos, daß der Orden durch diese Figur die Art und Weise ausdrücken will, wie aus dem
rauhen Stein der Kubus werden soll. Es ist der Weg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, welcher hier
angedeutet wird. Das Reißbrett gehört, wie die Akten sagen, den Meistern, deren Aufgabe es ist, auf demselben
Entwürfe zur Ausführung des Baues zu machen. Sie sollen, nach dem Fragebuch, die Arbeit den Brüdern
vorzeichnen. Hierbei ist zweierlei auffallend. Erstens kann ein Zeichenbrett doch nur für den in Rede stehenden
Zweck benutzt werden, wenn es eine tabula rasa ist, wenn noch nichts darauf gezeichnet ist. Dies ist aber doch bei
unserem Reißbrett nicht der Fall, denn es zeigt das schräge Kreuz. Zweitens ist es nicht recht ersichtlich, weshalb es
noch nötig sein soll, daß die Meister für die Arbeiten Zeichnungen entwerfen; denn das unbewegliche Kleinod des
kubischen Steines steht allen als Muster vor Augen, so daß es sich zu erübrigen scheint, auf dem Reißbrett noch
besondere Vorlagen zu geben. Wie erklären sich nun diese Widersprüche? >452<
Die Entwicklung des Unvollkommenen zum Vollkommenen geschieht nach einem ewigen göttlichen Gesetz, das
unabänderlich ist und für alle Ewigkeit feststeht. Diese Wahrheit soll in dem unbeweglichen Kleinod des Reißbrettes
zum Ausdruck kommen. Es würde aber nur bedingt richtig sein, wenn wir das schräge Kreuz als Symbol dieses
Gesetzes ansprechen wollten. Das göttliche Gesetz liegt im Winkelmaß, wie wir bei der Betrachtung der beweglichen
Kleinodien sehen werden. Das Winkelmaß ist nach dem oben entwickelten Gesetz die noch ruhende göttliche
Zeugungskraft, denn die beiden Linien, die es bilden, berühren sich nur in den beiden Endpunkten. Das schräge
Kreuz dagegen besteht aus zwei sich schneidenden Linien; es bedeutet daher nach dem oben Gesagten eine
Schöpfung, die durch jenes göttliche Gesetz Leben gewonnen hat und in die Erscheinung getreten ist, ein Etwas, aus
dem das göttliche Gesetz erkennbar ist und den Strebenden zum Bewußtsein gebracht wird. In der Baukunst
geschieht dies bereits in deutlichster Weise durch den Plan, den der Meister den Arbeitern vorzeichnet. Einen solchen
Plan hat der Orden uns schon auf dem Reißbrett der Lehrlingstafel in dem schrägen Kreuz gezeigt. Zwei Strahlen
oder Kräfte durchkreuzen sich hier, es ist das Menschliche und das Göttliche, das sich in gegenseitiger
Durchdringung zu einem Gebilde gestaltet. Es sind die Kräfte der beiden Säulen, die auf der Arbeitstafel sich
getrennt gegenüberstehen, hier aber ihrem inneren Gehalt nach zu gemeinsamer Wirkung vereinigt sind. (Daß diese
Auffassung dem Orden nicht fremd ist, beweist ein altes Andreas-Meisterzeichen, welches sich in der Bijou-Sammlung unserer Loge befindet
Dasselbe stellt ein ovales Medaillon dar, welches auf der einen Seite das Bild des gekreuzigten Apostels, auf der andern aber das durch die beiden
Säulen gebildete schräge Kreuz zeigt.) Die Kraft, die sich im Winkelmaß darstellt, schuf den Menschen, wie er dasteht, als
letztes Glied der Schöpfung; das schräge Kreuz dagegen zeigt eine Neuschöpfung, eine Wiedergeburt, die der
Mensch in eigener Freiheit vollzieht, und die die göttliche Kraft in ihm zustande bringt, und das ist eben die
Entzündung des inneren Lebens, wenn das Göttliche das Menschliche zu durchdringen beginnt. Das ist das tiefste
Geheimnis der Freimaurerei, das sich nur dem erschließt, der es in sich selbst erlebt und erfahren hat.
Nun können wir auch begreifen, was es damit auf sich hat, daß die Meister die Arbeit für die Lehrlinge und Gesellen
zeichnen sollen. Wer ist ein Meister? Ein Meister ist nur der, welcher jenes innerste Geheimnis der Neuschöpfung
zum Licht in sich erlebt hat. Er allein ist befähigt, die Arbeiter recht zu unterrichten und ihnen die Wege zu weisen,
nicht dadurch, daß er ihnen mitteilt, was uns der Orden an Erklärungen seiner Zeichen und Sinnbilder gegeben hat,
auch nicht durch mehr oder weniger geistvolle Auslegungen des vom Orden Überlieferten. So schätzbar diese Mittel
auch sind, so können sie doch erst recht verfangen, wenn dahinter die durch die k. Kunst geläuterte und erleuchtete
Persönlichkeit steht, die dem toten Wort das rechte Leben verleiht. Ein Meister, der seinen Jüngern das vorlebt, was
sie zu gestalten haben, der zeichnet ihnen die Arbeit hin, auf die sie schauen als auf ein begeisterndes Vorbild, das
ihre Nacheiferung erweckt und sie mehr fördert als gute Lehren und schön gesetzte Worte. Der Orden gibt den
Meistern das Reißbrett in die Hand und belehrt sie durch das schräge Kreuz, was sie den Arbeitern vorzeichnen
sollen, jeder für sich, jeder auf sein eigenes Reißbrett, das aus seiner Persönlichkeit hervorleuchten soll. Das gelingt
in größerem oder geringerem Maße; es bleibt immer ein menschlich unvollkommenes Bild; die Tafel bleibt ein
gestrecktes Rechteck, das sich dem Quadrat zu nähern sucht, und das Kreuz darauf zeigt ungleiche Winkel, aber es
sucht sich dem rechtwinkligen Kreuz zu nähern, denn der Weg zur Vollkommenheit, vom rauhen Stein zum Kubus,
ist auf dem Reißbrett verzeichnet. Alle großen Geister, die die Menschheit wahrhaft erleuchtet und gefördert haben
auf der Bahn zur Vollendung, waren solche Meister und haben auf solche Weise gewirkt, nicht bloß durch Worte und
Lehren, sondern durch die Macht ihrer Persönlichkeit und durch das Licht ihres inneren Lebens. Solch ein Meister
war Moses, der seinem Volke das Gesetz vom Sinai herabbrachte. Wohl war er ein innerlich Erleuchteter, aber das
Volk verstand ihn nicht. Es nahm das Gesetz wohl an und befolgte es, und wenn es abfiel, so kehrte es immer
reumütig zu ihm zurück. Aber das Gesetz blieb ihm etwas Äußerliches. Wir haben bei der Betrachtung des rauhen
Steines gesehen, daß ein äußerliches Abschleifen und kubisches Formen nicht genügt, sondern daß eine innerliche
Arbeit hinzukommen muß, die allein das Baustück tüchtig machen kann. Auf der Stufe der äußeren Gesetzlichkeit
war aber das jüdische Volk stehen geblieben. Auf dem Reißbrett des Moses erschien dem Volke das schräge Kreuz
nur als die kalte Zahl X, als die zehn Gebote mit ihrem „du sollst“ und „du sollst >454< nicht“. Das Warum, die
Quelle, aus der das Gesetz geflossen war, blieb ihm verborgen. Da erschien ein anderer Meister, Johannes der Täufer.
Durch ihn leuchtete die erste Dämmerung des Lichtes auf, das von innen heraus erleuchtet. Er lehrte die innere
Umwandlung und Erneuerung und fing an, jene Quelle zu erschließen und damit die Bahn zur Vollendung zu
eröffnen. Er zeigte das Lebensgesetz, nach welchem die innere geistige Entwicklung des Menschen sich vollzieht.
Und auch uns hat er, der der Patron unseres Ordens ist, das rechte Verständnis für das schräge Kreuz (Das Siegel
unserer höchsten Ordensabteilung zeigt den Arm Johannis des Täufers, welcher das schräge Kreuz hält, mit welchem wir den Täufer auch sonst
häufig auf Kunstwerken dargestellt sehen.) des Reißbretts eröffnet. „Öffne dein Herz dem ewigen Lichte und laß dich vom
göttlichen Leben durchdringen.“ Das war seine Lehre. — Und noch mehr! Er wies auf den hin, der nach ihm kommen
sollte, auf ihn, der da ist der Meister über allen Meistern. Sein Werk war, das Gesetz durch die Liebe, die des
Gesetzes Erfüllung ist, zum rechten Verständnis zu bringen und zum Leben zu erwecken. Auf diesen höchsten
Meister weist das Kreuz des Reißbrettes hin. Aber das Reißbrett dieses höchsten Meisters kann kein Rechteck mit
schrägem Kreuze mehr sein, sondern ein Quadrat mit rechtwinklig sich kreuzenden Diagonalen. So erscheint es dem
im Orden Fortschreitenden wirklich auf der Stufe, die ihn den Obermeister finden läßt. Seine Persönlichkeit war in
Gott vollendet, menschliches und göttliches durchdrangen sich in ihm in vollkommenster Weise. Darum konnte er
auch die tiefste und nachhaltigste Wirkung ausüben, die in den Jahrtausenden, welche nach seinem Erdenwallen
verflossen sind und noch verfließen werden, sich nicht abschwächt, sondern zunimmt in dem Grade, als das
Verständnis für seine Erscheinung wächst, trotz der Verdrehungen und Entstellungen, welche Aberglauben und
Pfaffenweisheit an ihr von jeher verübt haben und noch heute an ihr zu verüben nicht müde werden. Und sollte nun
die Freimaurerei, die doch die höchste Vollendung des Menschlichen durch das Göttliche anstrebt, an dieser größten
und lichtvollsten Erscheinung der Weltgeschichte achtlos vorübergehen? — Nein! so wahr der Orden das Höchste
will, und so wahr der Held aus Nazareth das Höchste vollbracht hat, so wahr ist er unser Obermeister, von dessen
Fülle wir alle Gnade um Gnade genommen haben. Wenn er aber unser Obermeister sein soll, dann müssen wir nicht
nur auf seine Lehre achten, sondern vor allem auf sein Reißbrett, auf welches er uns die Arbeit vorgezeichnet hat, auf
dieses unbeweglich für alle Zeiten festliegende Kleinod, auf seine in höchster Vollendung von Gott durchdrungene
Persönlichkeit, von welcher der Ruf durch alle Jahrtausende erschallt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben.“
Doch genug! Wir sind über den Rahmen des Lehrlingsgrades schon hinausgegangen; denn das Verständnis des
höchsten Meisters und die Erreichung des Erblohnes, der uns durch ihn zuteil wird, das alles muß den höchsten
Stufen unseres Ordens vorbehalten bleiben. Der Lehrling soll wohl schon von weitem den Schimmer des höchsten
Lichtes schauen und der herrlichsten Zukunft ahnungsvoll entgegensehen; aber zunächst soll er auf das Johanneische
Reißbrett und auf den Weg der Erweckung des inneren Lebens achten. Er soll säen, damit er, wenn die Zeit der Ernte
kommt, volle Garben bringen und sein „Auskommen“ haben möge. (1904.) >456<
Die drei beweglichen Kleinodien,
Winkelhaken, Wasserwaage und Senkblei.
In den sogenannten beweglichen Kleinodien liegen uns drei Werkzeuge vor, welche dem Maurer oder Steinmetzen
jederzeit dienen müssen, um zu kontrollieren, ob seine Arbeit in richtiger Weise geschieht. Wenn ein Arbeiter es
unternimmt, aus einem rohen Steinblock einen Kubus herauszuschlagen, so kann er damit beginnen, daß er zunächst
die obere Fläche bearbeitet und sich bemüht, sie wagerecht herzustellen. Hierzu ist es nötig, daß die Wasserwaage
unablässig als Prüfmittel angewandt werde. Sie muß an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Richtungen
aufgesetzt werden, um nachzumessen, ob die Fläche sich horizontal gestaltet. Ist dies fertig gebracht, so wird der
Steinmetz sich daran machen, die zweite Fläche an die erste waagerechte senkrecht anzufügen. Bei dieser Arbeit muß
das Senkblei angelegt werden, um unaufhörlich zu prüfen, ob sein Lot richtig einspielt, denn nur so erhält der
Arbeiter die Gewißheit, daß er sein Werk vorschriftsmäßig ausführt. Beide Flächen aber müssen, wenn die Arbeit
richtig gemacht ist, in einer geradlinigen Kante zusammenstoßen. Soll nun die dritte Fläche entstehen, welche mit den
beiden ersten eine Ecke des Kubus bildet, so reichen Wasserwaage und Senkblei nicht mehr aus. Nunmehr muß das
Winkelmaß (Der Ausdruck „Winkelmaß“ ist dem Winkelhaken vorzuziehen. Unter diesem kann man sich jeden beliebigen Winkel denken;
unter Winkelmaß wird aber jeder ein rechtwinklig gestaltetes Werkzeug verstehen.)
angewendet werden. Nur durch dieses kann man
die Richtung der zweiten Kante finden, welche sich auf der oberen Fläche an die erste rechtwinklig anzuschließen
hat. In dieser Weise setzt sich die Arbeit fort, bis endlich der ganze Kubus hergestellt ist. Wenn wir nun einen auf
einer ebenen Fläche stehenden Kubus betrachten, so finden wir, daß alle seine Kanten senkrechte oder wagerechte
Linien sind, wir finden, daß alle Winkel, die wir an ihm wahrnehmen, rechte Winkel sind, endlich, daß alle Flächen,
von denen er begrenzt wird, als rechtwinklige und gleichseitige Vierecke, als Quadrate, erscheinen. Winkelmaß,
Wasserwaage und Senkblei, oder kürzer gesagt: das Senkrechte und das Wagerechte — der rechte Winkel ist darin
mit einbegriffen, denn er entsteht überall da, wo eine senkrechte und eine wagerechte Linie zusammentreffen —, sind
also diejenigen Elemente, welche den Kubus entstehen lassen, sie sind das Prinzip, das sich in der Erscheinung des
Kubus ausprägt.
Wir können aber noch weiter gehen und sagen: Im Senkrechten und Waagerechten oder im rechten Winkel liegt das
Prinzip der ganzen Baukunst. Bei der Vereinigung von Bausteinen müssen dieselben Prinzipien walten, welche bei
der Bildung jedes einzelnen tätig waren. Wenn ein Gebäude aufgeführt werden soll, so muß ein ebener Baugrund
vorhanden sein. Auf einem schrägen Abhang kann man nicht bauen, es müßten denn Untermauerungen oder
Aufschüttungen stattfinden, um einen ebenen Grund herzustellen; dann erst kann man daran denken, senkrecht in die
Höhe zu bauen. Das Waagerechte ist die Vorbedingung für das Senkrechte und findet in jenem Halt und Stütze; denn,
wollte man einen Bau auf schiefem Grunde rechtwinklig in die Höhe führen, so würde er umfallen. Ebenso wäre es
sinnlos und zugleich gefährlich, auf ebenem Grund ein schiefes Bauwerk zu errichten. (Die schiefen Türme zu Pisa und
Bologna sind architektonische Kuriositäten, die aber weder schön noch nachahmenswert sind.) Die Vereinigung des Senkrechten und
Waagerechten, also der rechte Winkel, ist gleichsam die Seele jedes Baues, weil er die architektonische Statik
enthält, welche dem Werk Zusammenhang und Festigkeit sowohl als auch Ebenmaß und Schönheit verleiht. Jedes
Bauwerk, von der schlichtesten Hütte bis zum stolzesten Palast, zeigt uns, wir mögen uns den Bau von außen
betrachten oder in das Innere hineingehen, wie das Prinzip des rechten Winkels überall durchgeführt, überall das
Gestalt- und Maßgebende ist. In allen Teilen des Baues, in seiner Fassade wie in seinem Innern, an jedem Pfosten
und an jeder Säule, an jeder Zimmerecke, an jeder Tür und an jedem Fensterkreuz sehen wir den rechten Winkel, und
selbst da, wo wir schräge Linien, wie an Giebelfeldern und Dachstühlen, oder gekrümmte, wie an Bögen und
Gewölben, erblicken, ist es doch immer der rechte Winkel, der das >458< letzte Wort spricht, und auf welchen in
der Konstruktion sich endlich alles zurückführen läßt.
Alles dieses sprechen unsere Akten im Fragebuch (VI, 16 bis 18) in einfachsten Worten aus:
„Wozu dient der Winkelhaken?“
„Die Gestalt zu geben.“
„Wozu dient die Wasserwaage?“
„Den Grund zum Gebäude gleich und richtig zu machen.“
„Wozu dient das Senkblei?“
„Das Gebäude auf seinem Grunde senkrecht aufzuführen.“
Wenn wir nun fragen: wer gab dem Menschen dieses Prinzip des Formens und Bauens? Wer war es, der den rechten
Winkel erfand?, so müssen wir sagen: der große Weltenmeister selbst ist es gewesen, der dieses Gesetz gab und es
den Menschen erkennen ließ. Der rechte Winkel ist ein Ausdruck für eine Naturkraft, die der ewige Meister als
unerschütterliches Gesetz hingestellt hat. Das ist — die Schwerkraft. Wenn wir uns die Wasserwaage und das
Senkblei ansehen, wie sie auf unserer Tafel abgebildet sind, so finden wir, daß das letztere die Gestalt eines Rahmens
oder soliden Scheites zeigt, welcher ein langgestrecktes Rechteck ist, dessen lange Seite gegen die auf ihre senkrechte
Richtung zu untersuchende Fläche angelegt wird. Die Wasserwaage dagegen bildet ein gleichschenkliges Dreieck,
dessen untere Seite auf die zu prüfende Fläche aufgesetzt werden muß. Diese äußerlichen Formen sind nebensächlich.
(Ob die vier- bzw. rechteckige Gestalt des Senkbleis und die dreieckige Gestalt der Wasserwaage hier einen besonderen Sinn haben, möchte ich
dahingestellt sein lassen. Das Senkblei wird auch dargestellt als eine lange, auf eine Rolle gewickelte Schnur, an deren Ende sich ein Bleilot
befindet. Ich ziehe aber die andere Form vor, da bei der einfachen Schnur die Richtung derselben durch die Kugel, welche an die zu prüfende
Fläche anstößt, eine Ablenkung erfährt.) Das, worauf es ankommt, die eigentliche Seele des Werkzeugs, ist bei beiden
dasselbe: es ist die Schnur, an welcher unten ein Bleilot hängt, und welche, wenn die zu prüfenden Flächen richtig
sind, auf der Mittellinie des Instrumentes einspielen muß. Diese Schnur weist in beiden zum Mittelpunkte der Erde
hin, und die Kraft, welche ihr diese senkrechte Richtung gibt, nennen wir Schwerkraft. Ebenso ist es die Schwerkraft,
welche uns in der Oberfläche einer in einem Gefäß befindlichen, ruhig stehenden Flüssigkeit eine wagerechte Ebene
darstellt. Diese zentripetale Kraft aber, auch Gravitation genannt, ist es, nach deren Gesetzen die Weltkörper einander
anziehen und sich umeinander bewegen, Gesetze, die wir auf unserer Erde an einem fallenden Stein, ebenso wie in
unermeßlichen Fernen, wo Planeten und Kometen um Sonnen und Doppelsterne umeinander sich bewegen,
beobachten können. Wenn dieses Gesetz der Gravitation aufgehoben werden möchte, so würde unfehlbar der ganze
Weltenbau in ein Chaos zusammensinken. Wir können also getrost behaupten, daß an den Scheitelpunkt des rechten
Winkels der Zusammenhang und die Ordnung des ganzen Weltalls gebunden ist. Demgemäß erhält das Winkelmaß
auf unserer Arbeitstafel einen besonderen Platz. Es befindet sich, wie die Erklärungen der Akten ausdrücklich
hervorheben, „zwischen Sonne und Mond“. Dadurch wird auf seine kosmische Bedeutung hingewiesen; denn das
Winkelmaß ist es, das auch diesen beiden Lichtern des Himmels, welche für unsere Erde und ihre Bewohner von so
hoher Bedeutung sind, ihre Bahnen vorschreibt.
So steht das Winkelmaß auf unserer Tafel als ein Zeuge der unendlichen Macht und der unergründlichen Weisheit
des Weltenmeisters. Es ist wunderbar, wie in unserer Symbolik durch eine so einfache Figur, wie die Vereinigung
einer waagerechten und einer senkrechten Linie zu einem Winkelmaß, so erhabene Ideen ausgedrückt werden
können. Bei genauerer Betrachtung des Winkelmaßes auf unserer Tafel finden wir nun, daß seine beiden Schenkel
weder senkrecht noch wagerecht stehen, vielmehr ist das Werkzeug so gezeichnet, daß der Scheitelpunkt nach Osten
liegt, die beiden Schenkel aber nach Norden und Süden weisen. Der Winkel öffnet sich demgemäß nach Westen hin,
um das, was er ausdrücken will, von Osten aus, woher seine Kraft stammt, nach Westen hin, wo die Geschaffenen
stehen, in welchen diese Kraft lebendig werden soll, zu verbreiten. Aus dem Winkelmaß schallt uns, die wir als
Suchende im Westen stehen, die Stimme des Ewigen entgegen: „Du Menschenkind, schaue nach Osten und erkenne
mich, denn ich bin dein Gott. Mein Licht habe ich dir gegeben, damit du in ihm schauen mögest, was ewig ist. Mein
Gesetz weise ich dir, wenn du auch mich selbst nicht sehen kannst, mein Gesetz, durch das >460< Himmel und Erde
gegründet sind, das die Welt in ihren Angeln hält, und nach dem sich alles vollzieht in der sichtbaren wie in der
unsichtbaren Welt. Erkenne meinen heiligen Willen, der auch dich in das Leben rief und dir die Fähigkeit gab, diesen
meinen Willen, der sich dir im Gesetz offenbart, heilig zu halten und zu dem deinigen zu machen. Erkenne darin
deinen heiligen Beruf, die Bestimmung, die dir gegeben ist: durch Erfüllung meines Gesetzes dich zu befreien und
dich mir zu nähern. Das Wort, das einst an Abraham erging, es ist auch dir gesprochen: Ich bin der allmächtige Gott!
Wandle vor mir und sei fromm!“ (1. Mos. 17,1.)
Die Größe und Herrlichkeit der Natur mit ihren von ewigen Gesetzen regierten Erscheinungen führt uns durch
Religion zur Gotteserkenntnis, und damit erwacht in uns der Trieb zum Höchsten und entwickelt in uns die Stärke,
durch die wir unsere Bestimmung erfüllen. Die drei Grundursachen sind gegeben, und damit hat das freimaurerische
Werk begonnen.
Das Winkelmaß weist uns das Gesetz nicht nur in der vergänglichen Natur, sondern auch in der überirdischen,
geistigen Welt, wo derselbe heilige Wille waltet, durch den der ewige Meister einen unsichtbaren Bau errichtet, bei
welchem auch wir mithelfen sollen. Darum heißt es in der Erklärung unserer Akten (L. B. II, Beil., Seite 45) :
„Der Winkelhaken, welcher zwischen Sonne und Mond befindlich ist, bedeutet, daß, so wie der Baumeister
mit diesem Werkzeug die Arbeit bestimmt, nachmißt und ihre Tüchtigkeit prüft, auch wir uns allezeit eines
winkelrechten Wandels befleißigen müssen.“
In den vorhergehenden Vorträgen ist vielfach des Winkelmaßes Erwähnung geschehen und auf seine Bedeutung als
göttliches Gesetz hingewiesen worden. Bei der Betrachtung der freimaurerischen Erkennungsart haben wir gesehen,
wie alle Zeichen des Ordens im rechten Winkel ihren Ursprung haben; wir haben gesehen, daß die allgemeinen
Zeichen des Ordens unzählig sind und gemacht werden durch Darstellung von Winkeln, wasserrechten und
senkrechten Linien.
Auch als Hausgerät der Loge haben wir den rechten Winkel kennen und seine Bedeutung schätzen gelernt. Endlich
haben wir bei der Betrachtung der Lehrlingsaufnahme die Wichtigkeit des rechten Winkels kennen gelernt und
gesehen, welche große Rolle er in den Gebräuchen spielt, z.B. bei den rechtwinkligen Schritten, bei dem Knieen auf
dem Winkelmaß, bei dem rechtwinklig geöffneten Zirkel, der auf das Herz des Suchenden gesetzt wird, usw. Es mag
daher genügen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen. Doch sei es mir gestattet, noch mit einigen Worten auf die beiden
Komponenten des rechten Winkels, Wasserwaage und Senkblei, zurückzukommen.
Wenn wir im Winkelmaß, das im Osten liegt, den heiligen Willen des Weltenmeisters und sein ewiges Gesetz erkannt
haben und an die Aufgabe herangehen, seinen Willen in uns zu erfüllen und sein Gesetz in uns lebendig zu machen,
so werden wir bald inne, wie schwer diese Aufgabe zu lösen ist, und wie groß die Widerstände sind, die wir dabei zu
überwinden haben. Aber die unendliche Güte, die mit der Gerechtigkeit Gottes gepaart ist, zeigt uns Mittel und
Wege, durch die wir überwinden und zum Ziele gelangen können. Das sind die beiden Werkzeuge, Wasserwaage und
Senkblei, die uns die große Arbeit menschlich näher bringen und uns stückweise lehren, was der menschlichen
Fassungskraft sogleich zu ergründen nicht gelingen kann. Mit dem Winkelmaß werden sie uns zu drei Kleinodien,
unschätzbare Mittel zum Zweck, welche beweglich genannt werden, „weil“, wie das Fragebuch (VI, 14) sagt, „alle
allgemeinen Zeichen des Freimaurerordens durch Darstellung dieser drei Kleinodien gemacht werden“. Wie die
unbeweglichen Kleinodien ein mit der Spitze nach Westen gerichtetes Dreieck bilden, weil die Aufgabe, den rauhen
Stein zum Kubus zu formen, sich im Westen vollzieht, wo der Sitz des Menschlichen ist, in dem sich der Plan der
Lösung der Aufgabe darstellen soll, so bilden, dem entgegengesetzt, die drei beweglichen Kleinodien ein nach Osten
gerichtetes Dreieck, an dessen Spitze das Winkelmaß steht. Wasserwaage und Senkblei sind gleichsam vom
Winkelmaß ausgegangen, sie sind von jenem dem im Westen stehenden Menschen dargereicht und offenbart. Über
den beiden Säulen erhalten sie ihre Plätze, was von Bedeutung >462< ist, wie wir bei der Betrachtung der letzteren
sehen werden. So wie die beiden Aufseher im Westen stehen, „um dem Meister zu gehorchen“, sein Wort zu
verbreiten und seinen Willen auszuführen, so stehen auch die Wasserwaage und das Senkblei nach Westen hin auf
der Tafel, und zwar jene auf der Seite des ersten Aufsehers im Süden, dieses auf der des zweiten Aufsehers im
Norden, und wie der Meister als Zeichen seines Amtes das Winkelmaß trägt, so gehören Wasserwaage und Senkblei
den beiden Aufsehern. Demgemäß heißt es im Fragebuch (VI, 18) :
„Warum heißen diese drei Dinge Kleinodien?“
„Weil sie dem Meister wie auch dem Bruder ersten Aufseher und dem Bruder zweiten Aufseher zum
Schmuck dienen.“
Was die Aufseher aber zu bedeuten haben, das wissen wir aus früheren Betrachtungen, und es ist kein Zweifel, daß
die Kleinodien, die sie tragen, in innigster Beziehung zu ihren Ämtern stehen. Vernunft und Gewissen, das sind die
beiden göttlichen Kräfte, die in den Aufsehern ihren Ausdruck finden und auch in ihren Amtszeichen dargestellt
werden.
Unsere Akten scheinen damit nicht ganz übereinzustimmen. Aus der oben angeführten Stelle des Fragebuches,
welche nur davon spricht, daß die Wasserwaage den Grund eben machen und das Senkblei dazu dienen soll, das
Gebäude senkrecht aufzuführen, gibt uns die Teppicherklärung noch einen anderen Aufschluß. Es heißt daselbst (L.
B. II,, Beil., Seite 48) folgendermaßen:
„Die Wasserwaage, das Senkblei und der Zirkel sind einem Baumeister unentbehrliche Werkzeuge. Auch
unsere Arbeiten untersucht und mißt ein vollkommener Obermeister mit seinem weit ausgestreckten Zirkel.
Der Suchende soll daher seine Handlungen mit dem Zirkel der Vernunft prüfen, seine Schritte nach der
Richtschnur des Gewissens lenken, den Grund zu allem nach der Wasserwaage der Erfahrung legen und das
Gebäude derselben nach dem Senkblei des Schönen aufführen, damit der Tempel, den jeder in seinem Innern
zur Ehre des Höchsten aufrichten soll, so gestaltet werde, daß dieser Baumeister, wenn er diese Arbeit einst
nach seiner Gerechtigkeit prüfen wird, zum wenigsten finden möge, daß unser Bestreben nur seine Ehre zum
Zweck gehabt habe, und daß es unser Bemühen gewesen sei, unsere Arbeit mit seinem auf dem Reißbrett
gemachten Entwurfe in Übereinstimmung zu bringen. Darum dienen auch diese Werkzeuge zu Ehrenzeichen“
usw.
Daß hier von unseren Akten der Zirkel als Symbol der Vernunft gedeutet wird, während wir die Wasserwaage als ihr
Sinnbild ansprechen, darf uns nicht irremachen, ebensowenig wie der Ausdruck Senkblei des Schönen, welcher nicht
mit der Beziehung dieses Werkzeuges als Gewissen zu stimmen scheint. Unsere Symbole sind mehrdeutig, und es
darf die hier angeführte Auslegung nicht als die einzig richtige und mögliche angesehen werden. Bei Betrachtung des
Zirkels werden wir sehen, inwiefern auch er ein Symbol der Vernunft ist. Unsere Aktenstelle spricht ferner von einer
„Richtschnur des Gewissens“. Eine Richtschnur aber ist in unseren beiden Kleinodien, wie wir gesehen haben, als das
eigentlich Wesentliche vorhanden. Welche soll nun als Richtschnur des Gewissens betrachtet werden? Wenn uns also
unsere Akten hier keine scharfen Begriffsbestimmungen geben, so müssen wir durch unsere Auslegung versuchen,
einen Ausweg zu finden.
Betrachten wir zuerst die Wasserwaage. Sie ist es, die den Grund legen und ihn eben herstellen soll, damit auf ihm
sich das Gebäude erhebe. Das vielfache Prüfen und Untersuchen des Grundes durch wiederholtes Ansetzen des
Werkzeuges bringt uns eine Menge von Erfahrungen, durch die wir bei unserem Suchen und Hin- und Hertasten
lernen, wie wenig meistens der Grund, den wir vorfinden, für die Aufrichtung unseres Baues geeignet ist, und wie
sehr er oft der nachbessernden Hand bedarf. Das mag wohl die Veranlassung zu dem Ausdruck „Wasserwaage der
Erfahrung“ gegeben haben. Es ist richtig, daß unser Werk ohne gemachte Erfahrungen nicht vor sich gehen kann.
Aber die große Fülle der Erfahrungen, die wir machen, muß, wenn wir davon Erfolge ernten wollen, zu einem
bestimmten Prinzip in Beziehung gesetzt und durch dieses auf ihren Wert geprüft werden. Erfahrungen macht jeder,
aber in sehr verschiedener Weise. Aus der Erinnerung an Tatsachen und Umstände eine gewisse Erkenntnis schöpfen,
das tut auch das Tier. Das Rind findet den Weg zu den „gewohnten Ställen“ >464< von selbst, und der Hund, der
einmal gezüchtigt ist, weiß ganz genau, was ihm bevorsteht, wenn sein Herr zum wohlbekannten Stock greift. Aber
die Erfahrungen, die der mit Vernunft begabte Mensch macht, entbehren vielfach einer höheren Beziehung. Der
Egoist, der da glaubt, daß die Welt nur für ihn geschaffen sei, der Hochmütige, der sich als Mittelpunkt betrachtet
und alles seiner Eitelkeit zu unterwerfen sucht, der Sinnenmensch, der in der Welt nur einen Tummelplatz seiner
Lüste erblickt, — sie alle machen Erfahrungen, aber nicht in jenem höheren Sinne, in dem sie der Maurer macht, dem
die Wasserwaage gegeben ist, die ihm in dem in der Mitte hängenden Lot die Richtschnur gibt, durch welche er das,
was ihm begegnet, auf seinen Wert prüfen und abschätzen lernt. Die Schnur des Werkzeuges weist ihn nach oben;
und wenn er es recht zu brauchen weiß, dann wird ihm jeder Ort, jedes Verhältnis, jede Begegnung zu einem
Baugrunde für ein Ewiges; dann bezieht er die Dinge um sich her nicht auf sich selbst, sondern auf das Ewige und
Göttliche, das überall in der Welt lebt und verbreitet ist, und das er zu schauen, zu erfahren trachtet. Diese Beziehung
seiner Erfahrung auf die höchste Idee, dieses Abmessen irdischer Dinge an der Richtschnur des Göttlichen vermag
der Maurer nur durch die Vernunft, wenn er sie frei gemacht hat von Befangenheit und Vorurteil. Sie ist es, die ihm
sagt, daß alles, was geschieht, wenn es auch verkehrt erscheint, nur einem Zwecke und Plane dienen kann. Damit ist
der sichere Grund gefunden, auf dem der Bau aufgeführt werden kann. Die Wasserwaage der Erfahrung aber wird
zum Symbol der Vernunft, die uns die Verhältnisse und Dinge um uns her klar schauen läßt vom Standpunkte des
Ewigen aus, auf den sie uns stellt.
Wer aber nun auf dem so gewonnenen Grunde in die Höhe bauen und seinen Bau mitten in die oft feindlichen
Verhältnisse und Umstände hineinstellen will, der sehe zu, daß sein Bau sicher stehe und nicht falle. Es ist noch ein
anderes, nach oben hin zu bauen, als nur den rechten Baugrund zu finden. Für ein solches Bauen können wir das
Senkblei nicht entbehren, und sein Bleilot wird uns zur Richtschnur des Gewissens. Wenn die Vernunft bei unserem
Gange durch das Leben in Widerspruch gerät mit dem, was wir erfahren haben, wenn unlösbare Widersprüche uns
verwirren, ablenken und uns hineinziehen wollen in ihre Verstrickungen, dann weist uns das Senkblei zurecht, das
von der tiefsten Tiefe zur höchsten Höhe zeigt. Wenn unsere Vernunft mit ihren Urteilen und Schlüssen den Weg
nicht mehr findet und zu erlahmen droht, dann spricht unser Gewissen, diese wunderbare Stimme des Herzens. Sie
weist uns nach oben und lehrt uns den Ausweg finden. Unter ihrer Leitung bauen wir, und unser Bau wird sicher
stehen, wenn wir die Richtung nicht verlieren, die uns das Senkblei gibt —: nach oben. Wasserwaage und Senkblei
haben ein Prinzip: das hängende Bleilot. So sind Vernunft und Gewissen beides Offenbarungen des göttlichen
Lichtes, das vom Schöpfer in uns gelegt ist; es zeigt sich in ihnen auf verschiedene Weise. Das Senkblei des Gewissens führt uns zur Höhe der göttlichen Idee selbst, die Wasserwaage der Vernunft lehrt uns durch die Erfahrungen,
die wir machen, die Durchführung dieser Idee auf dem Boden der realen Welt. Wohl dem, der beides zu vereinigen
weiß; er gelangt zum Winkelmaß, das aus Senkrecht und Wagerecht entsteht, und lernt winkelrecht bauen. Sein
Idealismus gerät nicht ins Schwanken, weil er den realen Boden nicht unter den Füßen verliert. Dieser Idealismus
aber, der nach oben weist, ist es wohl gewesen, der unsere Väter veranlaßt hat, den Ausdruck „Senkblei des Schönen“
zu gebrauchen. Das Schöne ist hier nicht der äußere Glanz und Schimmer, der der Menge gefällt, dabei aber der
Mode unterworfen ist, der heute begehrt wird und morgen nichts mehr gilt, sondern es ist der Abglanz des göttlichen
Lichtes im Irdischen, das Ewige, das sich in unvergänglichen Formen und Gestaltungen als das Wahre, Große und
Bleibende offenbart. Das gewinnen wir durch das Senkblei sowie durch die Wasserwaage, deren Bleilot uns in die
höchste Höhe und in die tiefste Tiefe weist. Wenn wir senkrecht aufgerichtet stehen auf waagerechtem Grunde wie
die Säule J . . . ., dann ist über unserem Scheitel der Zenit, unter unseren Füßen der Nadir. Möge sich an uns erfüllen
das Wort des Dichters:
„Wo du auch wandelst im Raum, es knüpfet dein Zenit und Nadir
An den Himmel dich an, dich an die Achse der Welt.
Wie du auch handelst in dir, es berühre den Himmel der Wille,
Durch die Achse der Welt gehe die Richtung der Tat!“ (1904.) >466<
Die drei Sinnbilder, Hammer, Zirkel und Kelle.
Nachdem wir in den drei unbeweglichen Kleinodien, im rauhen Stein, im kubischen Stein und im Reißbrett, die
freimaurerische Aufgabe, und in den drei beweglichen Kleinodien, Winkelmaß, Wasserwaage und Senkblei, das
Prinzip zur Lösung dieser Aufgabe kennen gelernt haben, kommen wir nun zu den drei Sinnbildern, dem Hammer,
dem Zirkel und der Kelle, welche die Werkzeuge darstellen, mittels deren die Lösung der maurerischen Aufgabe sich
vollzieht. Sie führen uns in die interne Arbeit der k. Kunst mitten hinein.
Was bedeutet zunächst der Ausdruck „Sinnbilder“? Von gewisser Seite hat man sich über diese Bezeichnung lustig
gemacht. Man hat gemeint, wenn man Symbole Sinnbilder nennt, so wäre das ebenso, als wenn man von „hölzernem
Holz“ reden wollte, denn Symbol und Sinnbild seien gleichbedeutend. Ich bin jedoch der Meinung, daß unsere Väter
dadurch etwas Besonderes haben bezeichnen wollen. Der Ausdruck „Sinnbild“, welcher schon von den Eckleffschen
Akten als Bezeichnung jener drei Werkzeuge gebraucht wird, erscheint mir als der engere Begriff, die Bezeichnung
„Symbol“ als der weitere. Demnach wäre wohl jedes Sinnbild ein Symbol, aber nicht jedes Symbol ein Sinnbild.
Unter Sinnbild haben wir meines Erachtens hier etwas zu verstehen, was nicht bloß durch sinnliche Wahrnehmung
zum Erfassen eines tieferen geistigen Inhalts uns führen soll, sondern was unseren inneren Sinn fortdauernd
beschäftigen, in ihm unablässig bewegt werden und so zum Erwecker unseres inneren Lebens werden muß.
Demgemäß heißt es in unserem Fragebuch (VI, 30) :
„Warum werden die genannte n Werkzeuge Sinnbilder genannt?“
„Weil sie die Tugenden und Pflichten bezeichnen, welche ein Freimaurer jederzeit im Gedächtnis
haben soll, und ohne welche er den Freimaurernamen nicht würdig tragen kann.“
Durch diese Auffassung erhalten unsere drei Werkzeuge eine ganz besonders hervorragende Bedeutung. Auf unserer
Tafel erscheinen sie zusammengedrängt um deren Mittelpunkt. Sie umgeben den flammenden Stern und das Reißbrett
in einem absteigenden Dreieck, dessen nach Westen weisende Spitze der Zirkel bildet. Sie erhalten somit gleichsam
von diesen beiden wichtigen Symbolen den Anstoß und die Inspiration für ihre Tätigkeit.
Die Reihenfolge, in welcher wir sie hier betrachten wollen, ist eine etwas andere als diejenige, in welcher sie unsere
Akten aufführen. Weshalb dies geschieht, werden wir später sehen.
Demnach unterliegt zunächst unserer Betrachtung
1. Der Hammer.
Dem Hammer liegt, wie auch den beiden anderen Sinnbildern und den meisten anderen unserer Symbole, eine
geometrische Figur zugrunde, nämlich die eines doppelten rechten Winkels. T Unser Hammer ist daher kein
Spitzhammer, wie er in manchen anderen Lehrarten vorkommt, bei welchem das eine Ende spitz, das andere breit ist;
vielmehr sind bei uns beide Enden gleichmäßig breit geformt. Dieses Symbol des doppelten rechten Winkels ist uralt,
wir finden es schon auf den Denkmälern des alten Ägyptens in den Händen von Götter- und Herrschergestalten als
sogenanntes Henkelkreuz, d.h. verbunden mit einem Kreis, der sich oben ansetzt und als Handgriff dient, und hier
offenbar ein Zeichen der regierenden Macht und Gewalt ist. Auch in unserer Symbolik sind wir dem doppelten
rechten Winkel schon begegnet. Wir fanden ihn im Winkelmaß und Zirkel auf dem Altar, welche daselbst die Gestalt
eines lateinischen T bilden. Diese beiden zum doppelten rechten Winkel zusammengefügten Werkzeuge bedeuteten
uns dort, wie wir gesehen haben, das göttliche Gesetz, nach welchem alles sich entwickelt und geschieht, und das
auch in dem Bewußtsein >468< des Erschaffenen lebendig werden und zur Geltung kommen soll.
Ganz dasselbe bedeutet der Hammer; doch ist ein Unterschied vorhanden. Zirkel und Winkelmaß, wie sie auf dem
Altar zum doppelten rechten Winkel vereinigt liegen, stellen das noch in Ruhe befindliche göttliche Gesetz dar; erst
im Hammer ist es aktuell geworden. Dort finden wir die geistige Statik versinnbildlicht, hier im Hammer die geistige
Dynamik. In der Hand des Meisters gewinnt das Gesetz durch den Hammer Leben und Wirksamkeit, hier wird es erst
in Bewegung gesetzt und zur Geltung gebracht. Wir spüren die Wirkung des Hammers selbst mit geschlossenen
Augen; auch der Suchende, dessen Augen noch von der Binde umhüllt sind, wird von seiner Kraft bewegt, wenn sein
Schall den Raum der Loge (d. i. das Weltall) durchhallt. Er weckt uns aus dem dumpfen Schlafe des Unbewußten
zum wahren Leben und Bewußtwerden unserer Bestimmung. Mit ihm und durch ihn erschallt der Ruf: „In Ordnung!“
durch die Reihen der Brüder, d.h. durch die Schar der frei erschaffenen Geister. Wenn die Arbeit beginnen soll, dann
ertönt mit einem harten Schlage sein Weckruf: Erwacht! es ist die zwölfte Stunde! Fanget an und besinnet euch auf
euch selbst! Auf aus dem trägen Schlafe und hinan zum Licht und Leben! — Und wenn der Hammer uns erweckt hat,
dann leitet sein dreifacher Schlag in bedeutungsvollster Weise uns durch Mittag und Hochmittag zur Mitternacht, bis
er um Hochmitternacht die Arbeit schließt, wie er sie eröffnet hat. Denn wie der Hammer zum Leben erweckt, so
tötet er auch, aber nur, um wieder aufs neue zum Leben zu erwecken. Sein Todesstreich ist gegen die Finsternis
gerichtet, und seine zeugende Kraft führt das frische Leben heraus.
Alles dies geschieht durch den doppelten rechten Winkel, durch das lebendig gewordene göttliche Gesetz. Aber nicht
nur der Meister führt den Hammer, sondern auch die beiden Aufseher, die Vertreter der Brüderschaft, welche der
Meister sich im Westen gegenübergestellt und denen er den Hammer als ein Lehen gegeben hat. Wie die Aufseher
mit Wasserwaage und Senkblei, aus denen sich das Winkelmaß des Meisters zusammensetzt, geschmückt sind, wie
Vernunft und Gewissen, diese Kräfte des göttlichen Lebens, sich im Menschen zur harmonischen Gestaltung
vereinigen sollen, so führen auch beide Boten des Meisters, die ihm gegenüberstehen, um ihm zu gehorchen, den
Hammer, um des Meisters Willen mit Nachdruck durchzusetzen. Als Ruf des Geistes zur Arbeit und als Stimme des
Herzens, das in Hingebung dem höheren Willen sich unterwirft, wirken die Aufseher des Meisters im Westen, um
alles wieder zu ihm hinzuführen, von dem es ausgegangen ist, und ihr Hammerschlag ist das Echo des Rufes der
Gottheit an die Menschheit.
Alles dies werden wir bestätigt finden, wenn wir uns erinnern, welche wichtige Rolle der Hammer bei der
Lehrlingsaufnahme spielt. Sein Schlag ist das erste, was der noch im Dunkeln wandelnde Suchende von der Loge
vernimmt. Er umwitterte ihn gleichsam mit seinem merkwürdigen Dreischlag. Auch den Neuling, der unsicheren
Fußes des Tempels Schwelle betreten hat, erweckt er und ruft ihn zur Tat. Bei allen wichtigen Akten der Aufnahme
spielt er mit hinein; er kündigt den Suchenden, den Anhaltenden, den Leidenden an, ja, der Hammerschlag trifft den
Aufzunehmenden selbst und kommt mit ihm in die innigste Berührung, er berührt mit dem Dreischlag seine linke
Schulter. Das tut der zweite Aufseher, die Personifikation des Gewissens, derselbe, der ihm die Schwertspitze auf das
Herz setzte. Der Schlag seines Hammers aber ruft ihm zu: „Wache auf, denn dein Tag bricht an! Öffne die Tür und
laß das neue Licht und Leben ein!“ — Und wenn bei der Weihe der Hammer die Zirkelspitze gleichsam in das Herz
des Suchenden hineintreibt, dann wird durch die drei Schläge der Grund gelegt zu dem Bau, der das Zeitliche
überdauern soll.
Ich habe oben bei der Betrachtung des Reißbrettes ein symbolisches Gesetz aufgestellt, nach welchem da, wo zwei
Linien aufeinandertreffen, ein Beginnendes, sich Gestaltendes ausgedrückt werden soll. Dies finden wir bei der
Gestalt des Hammers (und ebenso bei Zirkel und Kelle, um dies hier gleich vorweg zu sagen) bewahrheitet, wie aus
dem Gesagten hervorgeht. Durch die drei Weiheschläge wird der Aufzunehmende zu einem neuen Leben gerufen, er
wird als Maurer gezeugt, und in einem späteren Grade ist geradezu von einer Zeugung durch die drei Hammerschläge
die Rede. Darum gehört der Hammer auch zu >470< den notwendigsten Hausgeräten der Loge, die bei jeder
Aufnahme gebraucht werden.
Wenn nun der Hammer das Werkzeug ist, durch welches der neue Maurer erst geschaffen wird, so erinnert er auch an
die hohen Pflichten des Lehrlings, die das in uns neu entzündete Leben stärken, entwickeln und ihm seine Nahrung
zuführen. Diese Pflichten sind: arbeiten, gehorchen und schweigen. Darüber sprechen sich unsere Akten mit voller
Deutlichkeit aus. Es heißt in den Erklärungen der Arbeitstafel (L. B. II, Beil., Seite 46):
„Der Hammer ist das Zeichen der regierenden Gewalt und in der Loge das Werkzeug, durch welches
Gehorsam, Stille und Aufmerksamkeit bewirkt, die Ordnung erhalten und wiederhergestellt wird.“
Und im Fragebuch (VI, 27) heißt es:
„Was bedeutet der Hammer den Freimaurern?“
„Er bezeichnet dem Freimaurer die Pflicht des Gehorsams und erinnert ihn, seine Schuldigkeit still
und prunklos zu erfüllen.“
Alle drei Lehrlingspflichten, die ja die Pflichten des Freimaurers überhaupt sind, worden in diesen Ausdeutungen
berührt, doch tritt hier die Pflicht des Gehorsams in den Vordergrund, wie es ja nach dem Logengebrauch nicht
anders sein kann; denn der Hammer ruft zur Ordnung und zwingt uns, in das Zeichen zu treten. Er ist der doppelte
rechte Winkel, die in Tätigkeit tretende Kraft von Senkrecht und Waagerecht. Darum übt er auf den Arbeiter seine
Gewalt aus, heißt ihn in das Zeichen treten und in Ordnung stehen vor dem ewigen Meister, der alles nach seinem
heiligen Gesetz geordnet wissen will. Das zweite Sinnbild, welches unserer Betrachtung unterliegt, ist
2. Der Zirkel.
Über den Zirkel ist in den vorstehenden Vorträgen schon so viel gesagt worden, daß hier kaum noch etwas
nachzuholen ist. Ich möchte daher nur noch einmal kurz zusammenfassen, worin seine Bedeutung besteht.
Der Zirkel liegt auf unserer Tafel im Westen gegenüber dem im Osten befindlichen Winkelmaß. Überall, wo der
Zirkel in unserer Symbolik erscheint, ist er rechtwinklig geöffnet, und wenn man seine Schenkel verlängert und
ebenso auch die Schenkel des Winkelmaßes, so kommt ein Quadrat heraus, dessen vier Ecken nach den vier
Himmelsgegenden gerichtet sind. Es ist dies etwas unserer Lehrart Eigentümliches. In anderen Lehrarten finden wir
stets Winkelmaß und Zirkel zu einem festen Quadrat vereinigt, und zwar so, daß ihre Spitzen, übereinandergelegt,
sich kreuzend erscheinen. Anders bei uns. Der Zirkel ist bei uns vom Winkelmaß fern, und das Quadrat, welches
beide bilden oder bilden sollen, ist etwas zu Erstrebendes. Wenn wir uns dazu noch der Worte unserer Akten
erinnern:
„Der Zirkel ist allen Brüdern zu einem Sinnbilde gegeben,“
So ist uns damit der Schlüssel für das Verständnis dieses Symbols gegeben. Alsdann müssen wir uns aber auch
erinnern, was der Zirkel bedeutet, der neben dem Winkelmaß, mit diesem ein T bildend, auf dem Altar liegt. Wir
haben gesehen, daß sie dort Symbole der Gottheit sind, und zwar bezeichnet das Winkelmaß ihre Allmacht, das in
Ruhe befindliche göttliche Gesetz, der Zirkel dagegen den Willen der Gottheit, gleichsam aus sich herauszugehen
und die schöpferische Kraft zu betätigen. Dies wird in unserm Aufnahmeritual dadurch ausgedrückt, daß der Meister
dem Aufzunehmenden den Zirkel darreicht und ihn auffordert, sich die eine Spitze auf das Herz zu setzen. So reicht
der ewige Meister dem Menschen sein eigenes Werkzeug dar und befiehlt ihm, es auf sich selbst anzuwenden. Auf
der Tafel nun finden wir wieder beide Symbole, das Winkelmaß in derselben Bedeutung wie auf dem Altar, nur dem
Suchenden menschlich näher gebracht als göttliche Norm, die ihm vor Augen sein soll; den Zirkel aber finden wir auf
der Tafel wieder als das, was er erst in der Hand des Suchenden wurde, als das ihm von Gott zum eigenen Schaffen
verliehene Werkzeug; das ist aber die Vernunft. In dem Wort Vernunft fassen wir alles zusammen, was Göttliches in
den Menschen hineingelegt ist. Ob wir dieses sich betätigen sehen als Erkenntnisvermögen (Wasserwaage) oder als
geheimnisvolle Macht des Gewissens (Senkblei), immer haben wir es mit Äußerungen der Vernunft zu tun. Und wenn
der Mensch der Norm des göttlichen Gesetzes seine eigene schwache Kraft gegenüberstellt, wenn die Sehnsucht in
ihm erwacht, diese Norm in sich herzustellen, sich ihr zu nähern und sie zu >472< umfassen, so ist das nicht minder
eine Äußerung der Vernunft. Dieses Sehnen und Suchen aber ist es gerade, was der Zirkel auf der Tafel bezeichnet.
Die Vernunft hat mehrere Werkzeuge, und eines von ihnen ist der Zirkel, darum konnten unsere Akten mit Recht den
Zirkel in den Erklärungen der Tafel mit Wasserwaage und Senkblei zusammenstellen und ihn geradezu den „Zirkel
der Vernunft“ nennen; und darum heißt es auch im Fragebuch (VI, 28) :
„Woran erinnert der Zirkel?“
„Er erinnert uns an die Pflicht des Freimaurers, den Zirkel der Vernunft bei Untersuchung aller seiner
Arbeiten zu gebrauchen.“
Das will sagen: die Sehnsucht nach dem göttlichen Licht, das Verlangen, es zu erkennen und zu umfassen, muß allen
unsern Arbeiten die rechte Richtung und die wahre Weihe geben.
Der Zirkel ist, wie wir gesehen haben, das Werkzeug des Abmessens und Konstruierens, und wenn wir die eine seiner
Spitzen feststellen und die andere herumführen, so entsteht ein Kreis, der Kreis aber faßt zusammen und schließt in
sich alles ein, was die Spannung des Zirkels begreifen kann. So wie uns das Winkelmaß die göttliche Kraft zeigt, die,
aus einem Punkte ausstrahlend, das All mit ihrem Schaffen erfüllt, so zeigt uns der Zirkel die zusammenfassende,
zurückführende, umgreifende Kraft, die in den Menschen gelegt ist, die zu begreifen sucht, was göttlich und ewig ist,
die das Getrennte vereinigt, das Entgegengesetzte versöhnt und die Ausstrahlungen des Göttlichen in einem Punkte,
im Menschenherzen, zu sammeln sucht.
Darum steht der Zirkel auf unserer Tafel als Vertreter des Griffs — denn Griff heißt: Vereinigung, Zusammenfassen
—, wie der Hammer der Vertreter des Zeichens war. Der Zirkel richtet seine Spitzen gegen die beiden Säulen, deren
Inhalt er begreifen möchte; er streckt sich aus gegen Wasserwaage und Senkblei, die er in seiner rechtwinkligen
Stellung zu vereinigen sucht. Alle die geistigen Ideen, die auf der Tafel verzeichnet sind, sucht er zu umfassen und in
sich hineinzuziehen. Das ist das menschliche Streben zum Höchsten, wie es in der tiefsten Bedeutung des Geistes
liegt, und wie es auf der Tafel durch den Zirkel ausgedrückt wird. Ebenso aber ist auch der Zirkel das Sinnbild des
Schweigens. Wie die Peripherie den Mittelpunkt des Kreises ohne Lücke umgibt, so daß nichts von außen eindringen
kann, so schützt der Zirkel das Heiligtum in unserm Innern, so daß nichts seinen Frieden stören kann. Heiliges
Schweigen herrscht dann in unserm Inneren, und nichts wird dort vernommen als die Stimme des göttlichen Wortes.
So wie nun der Hammer auf unserer Tafel uns an das Zeichen, der Zirkel an den Griff erinnert, so wird das Wort dort
vertreten durch
3. Die Kelle.
Dieses wichtigste unserer drei Sinnbilder ist in einem besonderen Vortrage als Teil der maurerischen Bekleidung
schon von uns betrachtet worden, so daß ich hier nur daran erinnern will. Wir haben dort die Kelle als das
vornehmste Maurerwerkzeug, als des Maurers höchsten Schmuck, kennen gelernt. Wir haben gesehen, wie sich moralische Bedeutungen an dieses Symbol knüpfen, wenn wir die Kelle nur als das Werkzeug betrachten, welches zum
Auftragen und Verstreichen des Mörtels dient; wir haben aber auch die tiefere maurerische Bedeutung der Kelle zu
würdigen gesucht, welche ihr die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit verleiht und sie zum Werkzeug der intimsten
Maurerarbeit macht. Für die Bearbeitung des rauhen Steines als Werkzeug an sich ungeeignet, erscheint uns trotzdem
ihr Platz auf der Lehrlingstafel neben dem rauhen Stein als der passendste, da wir in ihrem gleichseitigen Dreieck und
in dem demselben angefügten rechten Winkel das göttliche Wort selbst und seine Durchführung durch das göttliche
Gesetz erkannten, durch welchen Vorgang unser Herz von innen heraus erleuchtet und zur kubischen Gestaltung
geführt werden soll. Wir haben die Kelle ferner als Siegel Salomos kennen gelernt und auch dabei ihre Bedeutung als
„Wort“ gefunden. Aber noch mehr. Wir finden in der Kelle alle drei Erkennungszeichen, die sie, wie ich
nachgewiesen zu haben glaube, vereinigt. Das Zeichen sehen wir in dem Stiel des Werkzeuges, der im rechten
Winkel gebogen ist; der Griff wird angedeutet durch die Handhabe, die sich an den Stiel wiederum rechtwinklig
ansetzt, und an welcher auch der lederne Riemen mittels eines Ringes >474< befestigt ist; das Wort endlich finden
wir in dem gleichseitigen Dreieck, der symbolischen Einheit von Gedanke, Wille und Tat.
Wenn wir aber auf die drei Sinnbilder das von mir aufgestellte symbolische Gesetz anwenden, so sehen wir, daß alle
Linien, die in ihnen erscheinen, nicht einander durchschneiden, sondern nur in einem Punkte sich treffen. Im Hammer
berührt eine senkrechte Linie die Mitte einer waagerechten; im Zirkel stoßen zwei Linien im Scheitelpunkte eines
rechten Winkels zusammen; in der Kelle endlich stoßen die drei Linien des Dreiecks in ihren Endpunkten zusammen,
der Mittelpunkt der Grundlinie wird von dem Endpunkt dess einen Schenkels des rechten Winkels berührt, während
sich an dem Endpunkt des andern die Handhabe ansetzt. Alle drei weisen daher nach unserm Gesetz auf die
Erweckung schlummernder Kräfte hin, sie stellen recht eigentlich die Zeugungsorgane unseres inneren Lebens dar
und verdienen daher mit Recht, Sinnbilder im oben erörterten Sinne genannt zu werden. (1904.)
Die drei Zieraten,
der musivische Fußboden, der flammende Stern und das
Vereinigungsband.
Die drei Gruppen von Symbolen der Arbeitstafel, welche wir bisher betrachtet haben, zeigen uns die maurerische
Arbeit, die uns obliegt, und geben uns für ihre Ausführung die Direktive und die Werkzeuge. Ganz anders die
Gruppe, zu welcher wir jetzt kommen. Die sog. drei Zieraten führen uns über das Gebiet unserer Arbeit hinaus in das
Große und Erhabene, ja in das Ewige und Unendliche. Sie geben uns große Gesichtspunkte und wollen dadurch der
stillen Tätigkeit, die sich in unserm Inneren vollziehen soll, höchsten Schwung und Bedeutung verleihen. Die drei
ersten Gruppen richteten unsern Blick mehr auf das Zunächstliegende, auf unser Inneres, und gewannen dadurch
mehr einen intimen Charakter, ohne jedoch unsern Blick für das Allgemeine zu verschließen; die drei Zieraten
dagegen erweitern unsern Gesichtskreis; sie zeigen uns die ganze Welt, und zwar nicht bloß die irdische Welt, wie sie
unsern Sinnen erscheint, sondern, auch die transzendentale Welt des Geistes, und erfüllen uns mit einer Ahnung der
unendlichen Liebesfülle der Gottheit. Alle diese großen Gesichtspunkte werden uns aber einerseits erst erschlossen
durch die Arbeit, die wir winkelrecht mit unsern Werkzeugen zu verrichten haben, anderseits sollen sie wiederum
eine rückwirkende Kraft ausüben auf die Gestaltung unseres Inneren.
Ich habe oben (Seite 420) gesagt, daß die drei Zieraten den Weg bezeichnen, den der Maurer von Westen nach Osten,
von der Finsternis zum Lichte zurücklegt. Diese Annahme folgt aus der Anordnung, in welcher die drei Symbole auf
der Tafel dargestellt sind; denn der Fußboden liegt ganz im Westen, der Stern nimmt die Mitte der Tafel ein, das
Vereinigungsband aber befindet sich im äußersten Osten. Alle >476< drei bilden also eine gerade Linie vom
Niedergang zum Auf gang. Unser Weg aber geht, wie wir gesehen haben, von Westen nach Osten, und wenn wir auch
als schwache, sterbliche Menschen diesen Weg nur im Zickzack jener drei merkwürdigen Schritte zurücklegen
können, so bleibt doch der ideale Weg, der geradlinig ist, bestehen, und bei jenen drei Schritten, die uns von Westen
ausgehen ließen und uns nach Osten brachten, führte uns der zweite von Süden über den flammenden Stern hinweg,
oder vielmehr durch sein Licht hindurch, nach Norden, von wo wir dann durch den letzten Schritt nach Osten
gelangen konnten. Die Freimaurerei ist die Lehre von dem Licht des Göttlichen und von der Erleuchtung des
Menschen durch dieses Licht. Darum geht des Freimaurers Weg von dem unerleuchteten Westen nach der Quelle des
Lichtes, nach Osten. Das Licht, das wir hienieden erreichen können, läßt uns die Wahrheit erkennen, welche uns zum
Frieden mit uns selbst und zum inneren Gleichgewicht führt. Nur ein reines Herz und ein geläuterter Sinn vermag
dies zu erreichen. Darum wird die freimaurerische Aufgabe gestellt, zunächst unsern rauhen Stein, unser
unvollkommenes Ich, zum kubischen Steine zu formen und ihn der Vollkommenheit näher zu bringen. Diese Aufgabe
erhält aber noch eine bedeutende Erweiterung durch die Pflicht, welche uns eingeschärft wird, unser Inneres zu einem
geistigen salomonischen Tempel zu gestalten, und auf diese erhöhte Aufgabe weisen die drei Zieraten hin, welche
nebst den beiden, mit dem musivischen Fußboden eng zusammenhängenden Säulen dem Tempel Salomos
entnommen sind. In unserm Fragebuche (VI, 11, 12) heißt es:
„Warum haben die Freimaurer ihren Logen diese Zieraten des salomonischen Tempels zugeeignet ?“
„Zur Erinnerung, daß ihre Logen dienen sollen zur Wiederaufbauung eines geistigen und gleich
vollkommenen Tempels im Herzen eines jeden Maurers.“
„Warum dient der Tempel Salomos den Freimaurern als Sinnbild?“
„Sie an ihre Pflicht zu erinnern, den Tempel der Tugend in ihren Herzen in gleicher Vollkommenheit,
als jener Tempel hatte, zu erbauen.“
Einen einzelnen Baustein zu formen und einen Tempel zu errichten, ist ein großer Unterschied; dennoch aber kommt
in unserer k. Kunst beides überein; denn wer sich kubisch ausgestaltet, der baut sich auch zum Tempel aus, zumal ja
auch das Allerheiligste des salomonischen Tempels eine kubische Gestalt hatte. Der schlichte Kubus, zu welchem wir
uns zu formen haben, wird zum Tempel geweiht durch die Ideen des Göttlichen und Ewigen, welche ihn erfüllen, und
diese Ideen werden eben durch die drei Zieraten ausgedrückt. Der Tempel Salomos zerfiel in drei Teile: die Vorhalle,
das Heilige und das Allerheiligste. Diesen drei Abteilungen entsprechen unsere drei Symbole, wie wir sehen werden.
Auch der zum Tempel ausgestaltete Mensch zeigt diese Einteilung. Seine äußere Erscheinung, wie sie sich in der
Welt zeigt und zur Wirksamkeit gelangt, ist die Vorhalle; das vom Licht des Geistes erleuchtete Innere ist das
Heilige; das Allerheiligste aber ist das göttliche Erbteil, das dem Menschen selbst ein Geheimnis ist, und dessen
Dasein und Wirken er als das Regen der Gottheit in sich spürt, ohne in seine Tiefe dringen zu können. Dieser
Vergleich des Menschen mit einem Tempel ist von der Freimaurerei aus ihrem größten Licht, der heiligen Schrift,
entlehnt worden. Paulus war es, der ihn aussprach in den Worten:
„Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in euch wohnet? So jemand den Tempel
Gottes verderbet, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr.“
(1. Kor. 3, 16, 17.)
Und an einer anderen Stelle (1. Kor. 6, 19) nennt er den Menschenleib einen Tempel des heiligen Geistes.
Auf unserer Tafel stehen als partes pro toto die drei Zieraten für den ganzen Tempel. (In anderen Lehrarten (z. B. in der Gr.
Nat. Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln") finden wir den ganzen salomonischen Tempel abgebildet.) Wir betrachten sie nicht in der
Reihenfolge, in welcher sie von dem Fragebuch aufgeführt werden, sondern ihrem aufsteigenden Inhalte nach, wie sie
sich dem von Westen nach Osten Vordringenden darstellen. Demnach unterliegt unserer Betrachtung zunächst
1. Der musivische Fußboden.
Unsere Akten sagen (L. B. II, Beil., Seite 44) :
„Der musivische Fußboden ist ein aus Salomos Tempel hergenommenes Sinnbild. Es deutet >478< auf die
Abwechslungen, denen der Mensch und die ganze Natur unterworfen sind. Der Freimaurer soll diese
Abwechslungen mit Ergebung, Demut und Stärke ertragen und jenes höchste Gut suchen, bei welchem kein
Wechsel des Lichts und der Finsternis ist.“
Und im Fragebuche (VI, 10) heißt es:
„Wozu dient der rautige oder musivische Fußboden ?“
„Die Grundfeste des Tempels zu decken.“
Aus diesen Worten unserer Akten geht unzweideutig hervor, daß der Orden in dem musivischen Fußboden uns ein
Bild der irdischen, materi