Ludwig Mies van der Rohe-Haus in Krefeld: zeitlos modern
Ein altes Meisterwerk neu entdeckt
Wer das „Haus Heusgen“ in Krefeld betritt, wähnt sich in einem erst kürzlich
erbauten, hochmodernen Domizil. Klare Strukturen, große Fensterflächen
und kubisch geformte Baukörper schaffen ein avantgardistisch anmutendes
Ambiente. Trotz des dominierenden puristischen Charakters, strahlen die
weitläufigen Räume Wärme und Gediegenheit aus. In Erstaunen versetzt
die Tatsache, dass der Architekt Ludwig Mies van der Rohe das heute noch
zeitgemäße Gebäude bereits in den 30-er Jahren entwarf. Lange Zeit blieb
die tatsächliche „Herkunft“ des Bauwerks jedoch im Verborgenen. Erst
kürzlich lüftete der Architekt Karl Amendt das wohlgehütete Geheimnis um
eine „Ikone des Bauhaus-Stils“. Er renovierte das Objekt konsequent im
Sinne der ursprünglichen Konzeption, vom Mauerwerk bis hin zur einzelnen
Bad-Armatur.
Die in den Jahren 1931/32 errichtete Villa plante Mies van der Rohe für die
Textilfabrikanten-Familie Heusgen. Diese zählte zu den wichtigen und sehr
wohlhabenden Vertretern der Krefelder Samt- und Seidenindustrie. Wie in
der Bekleidungsbranche üblich, gehörten innovative Designs und neue
Trends zum Tagesgeschäft. So erklärt sich das Interesse der Heusgens für
die avantgardistische Architektur der dreißiger Jahre. Stets bemüht um
klassisches Understatement und den Schutz der Privatsphäre, vermieden
es die Heusgens, ihr seltenes und außergewöhnliches Eigenheim der
Öffentlichkeit preiszugeben. Nur wenige enge Freunde wussten um den
spektakulären Hintergrund und wer die Villa plante. Für die Architekturwelt
blieb das eindrucksvolle Exponat daher vollkommen unbekannt.
Gut sichtbar und trotzdem nicht entdeckt
„Haus Heusgen“ ist eigentlich kaum zu übersehen. Auf einer Anhöhe
gelegen, scheint das Gebäude wie auf einem Sockel zu schweben.
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Der jetzige Besitzer und Architekt Karl Amendt kennt die Villa schon seit
seiner Kindheit. Er ahnte früh, dass sie etwas Besonderes ist. „Ich fuhr
schon als Junge häufig mit dem Rad an dem für damalige Zeiten auffälligen
Gebäude vorbei. Mich hat das Haus immer fasziniert. Es sah ganz anders
aus als die üblichen Bauwerke in der Gegend“, so Amendt. Sein späteres
Architektur-Studium und das spezielle Interesse für die Bauhaus-Epoche
ließen ihn schon bald erahnen, dass Haus Heusgen von Mies van der Rohe
sein könnte. Denn die Samt- und Seidenstadt Krefeld war in den dreißiger
Jahren, als das Gebäude errichtet wurde, eine Hochburg des
avantgardistischen und puristischen Designs. Auch Ludwig Mies van der
Rohe arbeitete in der niederrheinischen Stadt. Dort entwarf und baute er
drei Häuser, von denen zwei in der Fachwelt inzwischen einen hohen
Bekanntheitsgrad haben. Einzig das Domizil der Heusgens fand sich bisher
in keiner Literatur wieder.
Kein Zweifel mehr
Durch Zufall lernte Amendt die Heusgens 1972 kennen. „Frau Heusgen
verriet mir, dass ich mit meiner Ahnung durchaus richtig lag. Mies van der
Rohe hatte das Haus tatsächlich geplant“, berichtet der Krefelder Architekt.
Nachdem auch der Sohn der Textilfabrikanten als letzter Bewohner
verstorben war, erstand Amendt das Haus. Die eingeholten Gutachten von
Bauhaus-Experten aus Berlin bestätigten auch letzten Zweiflern, dass es
sich hier um ein ganz besonderes Exponat avantgardistischer Architektur
handelt. Da Mies van der Rohe nach Amerika ging, überwachte damals ein
beauftragter Architekt die Umsetzung. Dieser setzte die Planungen und
Zeichnungen Mies van der Rohes bis in das kleinste Detail um.
Amendt stand nach dem Kauf vor einem zwar recht verwohnten, jedoch
nicht maßgeblich veränderten Objekt. Er entschloss sich, das Haus von
Grund auf zu renovieren. Die Arbeiten an der unter Denkmalschutz
stehenden Villa führte der Architekt im Zeitraum 2001/2002 ganz „im Sinne
des Erfinders“ durch. Im August 2002 waren alle Arbeiten originalgetreu
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abgeschlossen – und das Haus präsentierte sich erstmals der
Öffentlichkeit.
Haus Heusgen im neuen, alten Glanz
Die Bauhaus-Villa steht, wie für Mies van der Rohe typisch, auf einem
Hügel. Er bevorzugte Grundstücke mit einer Hanglage, die ein für ihn
typisches „Wohnerlebnis“ schafft. Der Ausblick aus dem Haus sollte
möglichst ungestört und ohne Hindernisse zu genießen sein. Um
ungewollte Einblicke zu vermeiden, ist die zur Straße gelegene Front des
Erdgeschosses nur wenig geöffnet. Das obere Stockwerk hingegen prägt
ein durchgezogenes Fensterband. Dieses unterstreicht die horizontale
Lagerung des Gebäudes.
Alle Fassaden sind unterschiedlich gestaltet. Die südlich ausgerichtete,
schmale Hausseite ist zweigeteilt. Sie besteht aus einem geschlossenen
Wandstück, kombiniert mit einer ebenso großen Fensterfront. Zum Garten
hin, der hinter dem Haus angelegt ist, bestimmen offene raumhohe Teile im
Wechsel mit geschlossenen Abschnitten das Bild des Erdgeschosses.
Darüber erhebt sich ein kubischer Bauteil, der gleichzeitig
Terassenüberdachung ist. Die verbleibende zweite Schmalseite zu den
Garagenplätzen hin ist charakterisiert durch dreigeschossige Würfel, die
miteinander verzahnt sind. Das gesamte Gebäude basiert auf einer für
private Wohnzwecke einzigartigen Stahlkonstruktion. Hier experimentierte
Mies van der Rohe mit einer Methode, die er später für den Bau von
Hochhäusern nutzte.
„Atrio“ trifft Bauhaus
Die Modernisierung verlangte viel Feingefühl und Verständnis für die
Intentionen Mies van der Rohes. Um ein derart seltenes Exponat der frühen
modernen Baukunst zu erhalten, mussten alle zu erneuernden
Gegenstände bis ins Detail sorgfältig ausgewählt werden. Im Bad entschied
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sich Karl Amendt für die Armatur „Atrio“ von Grohe. Diese Linie spiegelt die
„Grundwerte“ der Bauhaus-Architektur wider. Der von Mies van der Rohe
thematisierte Purismus prägt auch hier das Design. Die absolute Reduktion
auf das Wesentliche ist stilbildend. Nur eine geometrische Grundform, der
Zylinder, beherrscht die Optik der „Atrio“. Grohe spricht deshalb vom
„modernen Klassiker“, der die Säulenarchitektur der Antike aufgreift und in
einen zeitgemäßen Zusammenhang stellt.
„Dieses Haus ist eines der wenigen, ganz konsequent der Moderne
verpflichteten Bauten“, erklärt Amendt. „Ich bin diesen Prinzipien bei den
Maßnahmen präzise gefolgt. Einige Änderungen, wie beispielsweise in den
Wänden und im Fußboden versteckte Heizkörper, schaffen mehr
Stellfläche als aufliegende Wärmespender. Ich bin überzeugt, wenn diese
Technik damals schon möglich gewesen wäre, hätte Mies van der Rohe sie
mit Sicherheit genutzt.“
„Dramatische“ Wendungen
Um die komplette Struktur des „Haus Heusgen“ zu erfassen, reicht es nicht,
nur „einen Blick darauf zu werfen“ – ein Marsch rund um das Gebäude ist
unerlässlich. Auch innerhalb der Villa ist Stillstand nicht gefragt, wenn
architektonischer Fortschritt entdeckt werden will.
Wer den Zugang zu der Architektur von Mies van der Rohe finden möchte,
sucht zuerst den Eingang. Nähert man sich der Villa, ist die Haustür
verborgen. Der Weg in das Innere führt zunächst direkt auf eine Wand zu.
Erst nach einer Drehung von 90° wird die raumhohe, imposante
Eingangstür sichtbar. Diese Wendungen gehören zu der „Strategie“ Mies
van der Rohes. Er schafft so in seinen Bauwerken eine ausgeklügelte
Dramaturgie, die es Raum für Raum zu entdecken gilt. Licht und Schatten,
unterschiedliche Sonneneinstrahlungen zu verschiedenen Tageszeiten,
variierende Materialien und geschickt angeordnete Fensterflächen sind Teil
einer Inszenierung, die Wohnen zu einem echten Erlebnis macht. Die
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Begehung des Erdgeschosses zwingt den Besucher immer wieder, sich um
90° zu drehen und die Richtung entsprechend zu wechseln, um nicht vor
eine Wand zu stoßen. So bieten sich von mal zu mal neue An- und
Aussichten, die vorher ungeahnt sind.
Alle Räume im Erdgeschoss fließen ineinander und bilden eine
Gesamtfläche, die allein durch unterschiedliche Fußbodengestaltungen
gegliedert ist. Der Wohnraum ist teilweise mit Solnhofer Platten, teils mit
Parkett ausgelegt. Eine spezielle Holzkonstruktion schafft zwischen
Fußboden und Erdreich einen Luftraum, der Temperatur- und
Feuchtigkeitsschwankungen ausgleicht. Diese spezielle Methode
vermeidet, dass das Holz arbeitet und Risse oder Fugen im Parkett
entstehen. So bleibt der Holzbelag in seiner ursprünglichen Form dauerhaft
erhalten.
Zurück in die Zukunft
Raumhohe, vertikal geteilte Glasfronten öffnen den „gerahmten“ Blick ins
Freie. Sie erlauben dem Besucher exakt komponierte Aussichten,
beispielsweise in den Garten. Wie ein Mosaik aus verschiedenen
Gemälden erschließt sich die gesamte Umgebung - zu jeder Tageszeit und
Himmelsrichtung variierend. Im Erdgeschoss sorgen der offene Grundriss
und raumhohe Türen für einen ungehinderten Genuss einer Komposition,
bei der Mies van der Rohe Regie führt.
Schlaf- und Wirtschaftsräume sind hingegen weniger zugänglich. Der
Architekt folgt hier den Prinzipien des bürgerlichen Wohnens. Großzügige
und offen gestaltete Wohnräume im unteren Teil der Villa ermöglichen
komfortables Leben und zum Beispiel Empfänge oder Präsentationen. Das
Obergeschoss erlaubt es, sich zurückzuziehen. Bäder und Schlafräume,
die in einer schlichten Reihung durch einen langen Flur verbunden sind,
schaffen die nötige Privatsphäre. Im nördlichen Teil des Gebäudes schließt
sich der Wirtschaftstrakt an, wo auch die Küche ihren Platz hat.
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Alle Wohnabschnitte, die insgesamt 310 qm2 messen, verbindet ein
halbrundes Treppenhaus in der Mitte des Hauses. Die 180° gewendelten
Stufen brechen das ansonsten rechtwinklige Raumgefüge auf.
Neben der Villa ließen die Heusgens 1943 nachträglich einen Bunker
anbauen, der auch heute noch in gutem Zustand und begehbar ist. Ein
langer Gang, der gleichzeitig Versteck und Fluchtweg war, führt bis weit in
den Park hinein.
Das komplette Gebäude steht in einem Spannungsverhältnis, es
thematisiert die Relation zwischen schwebenden und tragenden Teilen ein Leitmotiv Mies van der Rohes in den dreißiger Jahren. Seine
Ausstrahlung hat bis heute noch nichts eingebüßt. Die avantgardistische
und dennoch zeitlose Architektur scheint über den ständigen
Veränderungen und Modeerscheinungen zu schweben. Mit dem Wissen,
ein bereits in den dreißiger Jahren erbautes Gebäude zu betreten, fühlt
man sich zurückversetzt – in die Zukunft.
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