Manuskript Kulturjournal Kritik. Dialog. Essay Zusammenstellung und Moderation: Dieter Heß Redaktion: Kulturkritik und Literatur Musik: Björk, "Vulnicura" [embassy of music] Sendedatum: 22. März 2015, 18.05 – 19.30 Uhr Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min.) Fax: 089/5900-3862 [email protected] www.bayern2.de Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2014 MUSIK 1 / CD BJÖRK Track 1 6.49 DARÜBER AUF ZEICHEN Die isländische Sängerin und Musikerin Björk ist nun auch schon über 20 Jahre im Geschäft, aber nie war ihre Kunst so universell wie heute: auch ihr 8.Studioalbum dokumentiert nur einen Teil ihrer globalen, medialen, künstlerischen Performance, dabei wahrscheinlich den persönlichsten, intimsten: Rhythmen, Klangflächen, Textpassagen, die von Trennungen, Herzschmerz und mancherlei Bewältigungsversuchen berichten: „Vulnicura“ hat Björk ihre neue CD genannt, „Wundheilung“ – und Björk wäre nicht Björk, wenn sie nicht spielerisch und produktiv mit ihren Verletzungen und Wunden umginge. MUSIK HOCH UND STEHEN LASSEN Björk, die Universalkünstlerin, das Gesamtkunstwerk. Von klein auf inszenierte diese Frau mit ihrer Kunst auch sich selbst. Nun widmet ihr sogar das New Yorker Museum of Modern Art eine Retrospektive. Parallel dazu die neue CD und eine Welttournee. Im Kulturjournal Eindrücke von ihrem New Yorker Konzert und aus dem berühmten MoMa von Moritz Gaudlitz gleich in dieser Sendung. Willkommen zum Kulturjournal! MUSIK HOCH, DANN DARÜBER Was hat die Kunst mit der Welt zu tun? Die Gleichzeitigkeit aller Ereignisse, diese sich permanent fortschreibende „Real time“-History macht es nicht nur Künstlern schwer, die laufenden Ereignisse zu registrieren, geschweige denn Seite 2 zu verarbeiten. Die Informationsschleppnetze des Internets machen uns nolens volens zu Mitwissern „von allem“. Während Björk konzertiert und umjubelt wird, fliehen tausende aus Syrien und Libyen und dem Irak, schießen sogenannte Separatisten im Osten der Ukraine auf ihre Landsleute, überziehen Boko Haram, IS, tunesische Dschihadisten ganze Landstriche mit Mord und Terror, spitzt sich die Krise unseres kapitalistischen Systems immer noch ein bisschen mehr zu. Was kann, darf, soll in dieser Welt der Unkultur die Kultur, wenn sie denn mehr sein will als nur Freizeitvergnügen, ästhetische Selbstgenügsamkeit und intellektuelle Wellness? Eine Frage, die sich auch deutsche Autoren und Literaten zu allen Zeiten gestellt haben – zur Zeit aber, wenn der Eindruck nicht täuscht, nicht besonders intensiv diskutieren. Herrscht etwa Ruhe im Land? Anders als in den 1970er Jahren, als von dem damals neugegründeten Verband deutscher Schriftsteller, VS, ein regelrechter Politisierungsschub ausging. 45 Jahre danach versucht die gerade gewählte VS-Bundesvorsitzende Eva Leipprand einen Neuanfang. Sie ist heute zu Gast im Kulturjournal. Gottseidank gibt es zur Bewältigung der Gegenwart immer noch und immer wieder den Blick in die Geschichte. Auf Schloss Elmau haben sich in der vergangenen Woche einige prominente Historiker eingefunden, um einen fürchterlichen Verdacht auf seine Plausibilität abzuklopfen: Könnte es sein, dass all die berühmten, „historischen“ Friedensverträge der letzten 200 Jahre schon den Keim des Krieges in sich trugen? Und dann natürlich die Frage, was uns Geschichte lehren kann in diesen Zeiten kriegerischer Handlungen und Gefahren. Christine Hamel sprach mit vier bedeutenden Historikern über die Lage der Welt, einst und jetzt. Seite 3 Wir wissen nicht, ob im neuerbauten gläsernen Wolkenkratzer der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main Platz für eine Bibliothek eingeplant wurde – aber im Zweifel genügt ja heute eine kleinere Festplatte, um ganze Fachbibliotheken –wie man so sagt –„vorzuhalten“. Elektronisch oder auf Papier – das neue Buch des Leipziger Philosophen Christoph Türcke müsste zum Grundbestand gehören: „Mehr! – Philosophie des Geldes“ heißt das 500 Seiten-Werk. Wer „Geld“ verstehen will, so Türckes Ansatz, muss seine Geschichte genau kennen und die verschlungenen Bedeutungswege in den Köpfen der Menschen nachzeichnen. Jochen Rack hat sich mit Christoph Türcke unterhalten – zu hören ist das Gespräch gegen Ende dieser Sendung. MUSIK Das ist fast schon eine Kunst für sich, wie sich die immer jung erscheinende, „elfenhafte“, „feenähnliche“ Isländerin Björk in den Jahrzehnten ihrer Karriere immer wieder neu erfunden hat. Obwohl: Neu? Nein, Björk war immer Björk geblieben, wandlungsfähig, aber als solche erkennbar, eine außergewöhnlich neugierige, risikofreudige Avantgardistin, die ihre Kunst aus Musik, Video und Performance nun schon seit über 20 Jahren in vielerlei Rollen vorantreibt: als Schwanendame, als „Cyber-Geisha“, wie es in der ZEIT stand, als verliebter Roboter. „Vulnicura“ steht über ihrem jüngsten Projekt, einer CD-Produktion mit angehängter Welttournee – also: Bühnenperformance. Auf dem Cover: Björk in einer kaktusartigen Kostümierung, der Oberkörper längs aufgeschlitzt, eine riesige offene Wunde. Und wo „Vulnicura“ draufsteht, also: Heilung, müssen Wunden, Schmerzen, Verletzungen eine Rolle spielen oder gespielt haben. Dazu die große Björk-Retrospektive im weltbedeutenden New Yorker Museum of modern Art, das sich damit vielleicht ein bißchen spät für die Welt des 90er Jahre Pop interessiert hat. Seite 4 Moritz Gaudlitz war in New York, im Museum, im Konzert, in Björks Welt. ZUSPIELUNG / GAUDLITZ BJÖRK Moritz Gaudlitz mit Impressionen von Björks New Yorker Auftritten. MUSIK 2 / TRACK 3 3.00 Musik aus Björks neuem Album „Vulnicura“: „History of Touches“. Mehr Informationen und viele Bilder aus dem MoMA finden Sie auf Bayern2.de. Ich begrüße jetzt im Studio des Kulturjournals Eva Leipprand, Schriftstellerin, Übersetzerin, Autorin aus Augsburg, und seit kurzem Bundesvorsitzende des Verbands deutscher Schriftsteller, kurz VS. Herzlich willkommen! ZUSPIELUNG / GESPRÄCH LEIPPRAND Und hier ist wieder Musik von Björk – angesiedelt irgendwo zwischen Pop, Jazz, Elektro, Avantgarde. „Lionsong“. Großes Streichensemble. MUSIK 3 / TRACK 2 6.08 Das war ja beinahe ein Gipfeltreffen bedeutender Historiker letzte Woche auf Schloss Elmau in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Knapp drei Monate vor dem G7 Gipfel an gleicher Stelle tauschten sich Koriphäen wie Brendan Simms, Ulrich Herbert, Herfried Münkler und Jörg Friedrich aus über eine so naheliegende wie prekäre These: Könnte es sein, dass berühmte, „historische“ Friedensverträge wie der „Friede von Frankfurt“ 1871 oder der Versailler Vertrag von 1919 bis hin zum Potsdamer Abkommen 1945 zwar so etwas wie Seite 5 „Frieden“ festschrieben, im Rückblick aber schon den Keim des Krieges in sich bargen? Eine Frage, die sich vor dem Hintergrund unablässig betriebener, unverzichtbarer Friedensbemühungen angesichts der unzähligen Konfliktherde und Kampfplätze dieser Welt ganz dringlich stellt. Unsere Reporterin Christine Hamel erhoffte sich von den Historikern Auskünfte, Bewertungen, Ausblicke in einer krisengeschüttelten, mit Gewalt und Terror angereicherten Welt. ZUSPIELUNG / HAMEL Christine Hamel besuchte ein Symposium im oberbayerischen Schloss Elmau.mit den Historikern Ulrich Herbert, Herfried Münkler, Jörg Friedrich und Michael Wolffsohn. MUSIK 4 / TRACK 7 8.08 „Atom Dance“. Musik von Björk. „Vulnicura“ heißt ihre neue CD. Es steckt schon eine gewisse Symbolik in dem Umstand, dass die neue Zentrale der Europäischen Zentralbank ausgerechnet auf deutschem Boden, in Deutschlands Finanzmetropole Frankfurt errichtet wurde – in vier Jahren Bauzeit, im vergangenen November bezogen, und vergangene Woche mit den bekannten Begleiterscheinungen und skandalösen Gewaltausbrüchen eingeweiht. Es geht hier wie immer ums Geld, um Geld in seinen abstraktesten Ausprägungen. In der EZB und vor der EZB – immer arbeiten sich EUWährungshüter einerseits und Kapitalismuskritiker andererseits nicht am Geld an sich ab, sondern am Umgang mit dem Zahlungsmittel, seiner Symbolik, Seite 6 seiner Verteilung zwischen Arm und Reich, an seiner Strahlkraft, seinem Vernichtungspotential. Ein fürwahr philosophisches Themenfeld, dem sich der Leipziger Philosoph Christoph Türcke in seinem jüngsten Buch erschöpfend gewidmet hat. „Mehr!“ ist der Titel des 500-Seiten-Werks, und schlicht „Philosophie des Geldes“ sein Untertitel. Jochen Rack im Gespräch mit Christoph Türcke. ZUSPIELUNG / RACK TÜRCKE Christoph Türckes Buch „Mehr! Philosophie des Geldes“ ist bei C.H. Beck erschienen – Jochen Rack sprach mit dem Autor. MUSIK 5 / TRACK 8 6.09 DARÜBER Am Ende dieses Kulturjournals nimmt uns Björk noch einmal mit in ihren ganz eigenen musikalischen Heilungsprozess. „Mouth Mantra“. Im Namen aller Beteiligten wünscht Dieter Heß einen angenehmen Sonntagabend. Bis zum nächsten Mal! MUSIK HOCH UND STEHEN LASSEN -stopp- Seite 7 Gebrochene Herzen Annäherungen an das Gesamtkunstwerk Björk Von Moritz Gaudlitz Musik: Atom Dance oder Stadt/Wind 00:00 – 00:26 Es ist besonders kalt an diesem Wochenende in New York. Nur vier Straßen voneinander entfernt warten die Menschen bei isländischen Temperaturen vor der Carnegie Hall und dem Museum of Modern Art. Sie wollen, ebenso wie Ich, einem gebrochenen Herzen folgen. Dem Herz der elfengleichen Ausnahmekünstlerin Björk, die wie ein Nordlicht erscheint und verschwindet. Vor vier Jahren war sie zuletzt auf der Bildfläche der Medien. Jetzt ist die Isländerin plötzlich wieder überall. In den Feuilletons, in Plattenläden, im Netz, auf der Bühne und - im Museum. Ihr neues Album erscheint unerwartet - und mit ihm eine neue musikalische Welt, die niemand von Björk erwartet hätte: „Vulnicura“ ist ein sehr persönliches Herzschmerzalbum geworden, das die Trennung von Björks langjährigem Partner Matthew Barney dokumentiert. Doch welcher Situation ist die erfolgreiche Frau, die Mutter, der Familienmensch nun ausgesetzt? Die Kunstund Musikwelt ist neugierig und auch ich will erfahren, wie sich Islands bekannteste Musikerin nun neu erfindet. Früher waren es Alben über das Universum, die Erde, die Natur oder das menschliche Wesen, die sie aufnahm. Jetzt geht es um die Liebe. Ihre persönliche, gescheiterte Liebe. Musik: All is Full of Love 1999 war ihre Welt noch voller Liebe. Björk veröffentlichte ihren Song „All Is Full of Love“. Der Videokünstler Chris Cunningham produzierte das umstrittene Seite 8 Musikvideo dazu. In einem sterilen, technischen Raum, werden zwei Roboter von Maschinenarmen gebaut. Einer der zwei Roboter hat Björks Gesicht. Den Höhepunkt des Videos bildet ein sehr emotionaler, sexuell aufgeladener Kuss der beiden Maschinen. Es war auch der Beginn von Björks und Matthew Barneys Beziehung. Musik: All is Full of Love 14 Jahre lang war Björk mit dem amerikanischen Performancekünstler liiert. In New York lebend, waren sie ein bekanntes internationales Künstlerpaar. Wie Marina Abramovic und Frank Uwe Laysiepen oder Gilbert & George. Jedoch schienen Barney und Björk immer unnahbarer und sonderbarer als andere Künstler zu sein, schon allein deshalb, weil ihre Kunst auf viele hermetischer, abweisender, geheimnisvoller wirkte. Dass Matthew Barneys Kunst umstritten und grenzwertig ist, weiß spätestens der, der die Möglichkeit hatte, sich sein Lebenswerk, den Cremaster Cycle anzusehen - ein über 12 Stunden langer Experimentalkunstfilm. Während der gemeinsamen Zeit veränderte auch Björk ihren Musikstil ein wenig. Ihre Alben der Nullerjahre, wie Medulla oder Volta, klangen aggressiver und elektronischer als die früheren. Einige Musikkritiker machten Matthew Barney für diese Veränderungen verantwortlich. Musik: History of Touches 00:00 – 00:30 danach unterlegen Vor knapp zwei Jahren trennten sich die beiden. Auch jetzt ist es noch Matthew Barney, der indirekt für die Texte und die Musik ihres neuesten Albums Vulnicura verantwortlich ist, denn es handelt von dieser langjährigen Beziehung und ihrem Ende. Zwei Monate vor der eigentlichen Veröffentlichung wurde „Vulnicura“ illegal im Netz verbreitet. Björk entschied sich für einen klugen Schachzug und stellte das Album einen Tag danach exklusiv digital zum Seite 9 Kauf online. Nun gibt es die neun Songs über ihr gebrochenes Herz auch als CD und Vinyl. Begonnen hat Björk mit dem Songwriting neun Monate vor der Trennung, wie es im CD-Booklet heißt. Diese Notizen zeigen: das Album spiegelt in drei Teilen die Zeit vor, während und nach der Trennung. Musik: History of Touches 01:45 – 02:00 freistehen und dann Fade out History of Touches heißt der Song, in dem Björk die zerbrochene Beziehung und letzte Berührungen schildert. Geschrieben drei Monate vor der Trennung. Die Texte auf dem Album sind einfach gefasst, fast wie in simplen Popballaden. Doch dadurch werden sie ehrlich und persönlich. Ihre Stimme ist noch immer so sonderbar und klar wie vor 20 Jahren, sogar etwas kräftiger. Das macht die Songs so melancholisch und intensiv und die Person Björk so überraschend zerbrechlich. War sie doch sonst die Musikerin, die von dieser gewissen Magie, dieser starken, elfenhaften Aura umgeben war, von der selbst die routiniertesten Journalisten und Talkmaster angezogen wurden und schließlich aufhörten, ihr unnötige Fragen zu stellen. Musik: Stonemilker nur Streicher ab 05:55 unterlegen Mit eigenen Streicher-Kompositionen für ein 15-köpfiges Ensemble, bestehend aus Geigen, Viola und Celli, begann Björk die Arbeit an Vulnicura. Die Thematik des Albums war ihr zu persönlich, um mehrere Produzenten für das Album zu beauftragen, die die Songs dann nach Björks Vorarbeit und Vorstellungen arrangieren und interpretierten und produzierten. So hatte sie es bei ihren letzten Alben gemacht. Vulnicura entstand nur mit dem 25-jährigen, venezolanischen Produzenten Alejandro Ghersi, der unter seinem Pseudonym Arca schon andere zeitgenössische Musiker wie Kanye West oder FKA Twigs produziert hat. Arca kannte ihr gesamtes Werk besser als sie selbst, sagte sie Seite 10 in einem Interview mit dem amerikanischen Musikmagazin Pitchfork. Und er hat Björks Songs musikalisch in die Techno- und Hip Hop- Zeit überführt. Schnelle Beats und düstere Synthesizer Elemente in der Kombination mit dem schweren Streicherensemble machen die Musik auf Vulnicura sehr traurig, düster und mysteriös, aber zugleich hoffnungsvoll und motivierend. Es ist wohl das Album Björks, das der herkömmlichen Popmusik am weitesten entfernt ist. Musik: Mouth Mantra ab 3:50 oder Quicksand Björk ist ein Gesamtkunstwerk. Seit Jahrzehnten spaltet sie die Musik- und Kunstwelt in zwei Lager. Es gibt diejenigen, die ihre Musik, ihr avantgardistisches Auftreten und ihre aufwendig produzierten, oft verstörenden Videos lieben. Dann gibt es die, die mit der Person, den Kompositionen, ja ihrer seltsamen Stimme nichts anfangen können, ihre Elfenhaftigkeit und ihr rollendes R für reine Attitüde halten. In einer Sache sind sich aber dennoch alle einig: Sie lässt sich nur als Inszenierung eines umfassenden Konzepts begreifen. Und so ist die New Yorker Mid-Career-Retrospektive der Musikerin, der Künstlerin, nur ein Teil der aktuellen Performance von Björk. Atmo: MoMA Ausstellung App Intro Das MoMA in New York. Mit iPod um den Hals und Kopfhörern auf, beginnt die kurze Reise durch die Geschichte Björks. In einer für die Ausstellung aufgebauten Raum-in-Raum Konstruktion im dritten Stocks des MoMA führt der Audioguide durch die Stationen von Björks Diskographie. Eine fremde Frauenstimme erzählt eine esoterisch-märchenhafte Geschichte über die Sängerin und ihr Leben. Jeder Raum ist einem Album Björks zugeordnet und man kann wie in einem Wachsfigurenkabinett, einem altertümlichen Museum, Kleider, Masken und Requisiten aus ihren Videos sehen, die von Seite 11 verschiedenen Künstlern gestaltet wurden, mit denen Björk bisher zusammengearbeitet hat. Etwa die Modedesigner Alexander McQueen oder Bernhard Wilhelm. Den Höhepunkt bildet eine sanft beleuchtete Vitrine, in der die beiden Roboter aus dem Video zu „All Is Full Of Love“ installiert sind. Auch wenn man sich 40 Minuten lang auf das Märchen konzentriert und den Anweisungen des Computers folgt, verlässt man die kurze Tour etwas unbefriedigt. Das Märchen gibt keinen Mehrwert und im letzten Raum, der dem 2011 erschienen Album „Biophilia“ gewidmet ist, steht allein eine weitere Björkfigur beschmückt mit einem Kleid aus einem Musikvideo. Biophilia war ein intermediales Gesamtkonzept samt Film und einer revolutionären App, die Björk extra für das Album entwickeln lies. Das MoMA hat die App vor kurzem für seine Sammlung erworben, leider aber nicht mit in die Ausstellung integriert. Neben ein paar von Björk mitentwickelten Musikinstrumenten, die man in der lauten Eingangshalle des MoMA abgestellt hat, birgt die Ausstellung noch eine Audio-Video-Installation, eine Auftragsarbeit des Museums. In einem von oben bis unten mit Stoff ausgebauten Kinosaal läuft auf zwei gegenüberliegenden Breitbildleinwänden das Video zum trennungsverarbeitenden Song „Black Lake“. Björk läuft darin barfuß durch eine karge, isländische Lavalandschaft und klopft sich dabei verzweifelt auf ihre Brust. Das ist nicht schön anzusehen und gibt der Arbeit etwas sehr Tragisches. Tragisch peinlich und auch unnötig. Denn einen Kinosaal weiter werden sämtliche Musikvideos von Björk neuaufbereitet und in Dolby Digital gezeigt. Dort kann man sich sehr gründlich und 4 Stunden lang auf einer großen, sofaähnlichen Anlage mit Arbeiten von Spike Jonze, Michel Gondry oder Chris Cunningham berieseln lassen und in die Diskographie Björks eintauchen. Atmo: Black Lake Installation/ Ladies & Gentlemen the exit is on the right.... Seite 12 Klaus Biesenbach, Chefkurator der Ausstellung und selbsternannter Björk-Fan, bekam bereits vor dem Eröffnungswochenende viele schlechte Kritiken. Der amerikanische Kunstkritiker Jerry Saltz forderte gar, dass Biesenbach seinen Kuratorenposten am MoMA aufgibt und sich nur noch um das in Queens gelegene, experimenteller orientierte MoMA PS1 kümmert, an dem Biesenbach Direktor ist. Björk wäre vielleicht dort auch besser aufgehoben, denn im New Yorker Museum of Modern Art eine provisorische Ausstellung aus reiner Bewunderung für die Musikerin zu machen, scheint der falsche Ansatz für ein Museum dieser Bedeutung zu sein. Atmo: Applaus Carnegie Hall. Wieder Björk, wieder New York, anderer Ort: Einen Tag vor der Eröffnung der Ausstellung gab Björk Mittags um 12:00 in der Carnegie Hall auf der 57. Straße ihren Auftakt für die kommende Vulnicura-Tour, die sie nach einigen Konzerten in der amerikanischen Metropole auch in Europa präsentieren wird. Vor ausverkauftem Haus tritt sie im weißen Elfenkleid und mit einem strahlenförmigen Kopfschmuck wie auf dem Albumcover auf. Hinter ihr auf der großen Bühne ein 15 köpfiges Streicherensemble der New Yorker Avantgardegruppe Alarm Will Sound, an Computer und Synthesizern der CoProduzent des Albums Arca, und an Schlagzeug und Percussions der österreichische Multi-Perkussionist Manu Delago. Musik: zum unterlegen Carnegie Hall Live Ausschnitt In ihrer knapp zweistündigen Show tritt sie so selbstbewusst, stark und motiviert auf wie man es nie erwartet hätte, anders als die Begräbnisstimmung des Albums. Björks Performance nimmt den Songs jegliche Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung Mit einer unglaublichen Präsenz tänzelt sie auf der Bühne, ihre Seite 13 Stimme getragen von Stolz und Sicherheit. Und auch beim traurigsten Song „Black Lake“ singt sie Ihre Verzweiflung einfach laut in die große Konzerthalle. Die feinen Streichermelodien des Ensembles, die düsteren Klangflächen von Arca und die äußerst komplexen Rhythmen des Schlagzeugers formen sich mit Björks Stimme zu einem bewegenden Erlebnis - packender als auf ihrem Studio- Album. Auf dem Album zerbricht ihr Herz. Im Konzert sieht und hört man mehr. Hier steht eine starke, ständig der Kritik ausgesetzte Frau auf der Bühne, die einem gerade aus dem Bett gefallenen Publikum beweist, dass sie noch immer so gut ist wie vor 20 Jahren. Musik: Carnegie Hall Live Wanderlust oder Stonemilker Seite 14 Einigkeit der Einzelgänger? Was kann und was will der Verband Deutscher Schriftsteller? Ein Gespräch mit der neuen VS-Vorsitzenden Eva Leipprand Von Dieter Heß (Gespräch liegt nicht schriftlich vor) Seite 15 (Möglichst) nie wieder Krieg! Wie wirksam waren und sind Friedensverträge? Von Christine Hamel Autorin: Die Frage ist ja doch die: Wie kann man einer Welt gerecht werden, die vor unseren Augen zerfällt? Deren alte Ordnung regelrecht kollabiert? Die große Überraschung seit dem Ende des Kalten Krieges besteht darin, dass sich der Glaube an eine one world als gründlicher Irrtum entpuppt hat. Die Überzeugung nämlich, dass die Welt nach dem Fall der Mauer zu einem großen Rund zusammenwächst, in dem von New Delhi bis Patagonien marktkonforme Demokratien für das Wohl ihrer Bürger sorgen - in aller politischer und gesellschaftlicher Offenheit. Es sollte anders kommen. Der Kollaps der Sowjetunion und die darauffolgende „Schocktherapie“ schufen nur neue Oligarchen und Kleptokratien. Auch in Asien blieb die Angleichung der Lebensverhältnisse aus. Der Anschluss an den Weltmarkt vertiefte vielmehr noch alle Ungleichheit. Es mag insgesamt mehr Wohlstand geben, aber das Leben verwandelte sich in einen „sozialen Dschungel“. Indien etwa trägt alle Züge einer Chaosmoderne mit schreienden Kontrasten. In den postkolonialen Staaten Afrikas und des Nahen Ostens treten neuerdings Stämme, Clans und Sekten als wichtigste politische Akteure auf, während Südamerika im Drogenkrieg versinkt und China eine besonders brutale Form des despotischen Merkantilismus perfektioniert. Eine mehr als beunruhigende Weltunordnung, die keineswegs den Eindruck erweckt, Vorstufe einer gerechteren Stabilität von Morgen zu sein, sondern eher knallharte Zukunft. Normalität der post-westernworld, die von wirtschaftlichem Profitstreben ohne soziale Rücksicht in immer neue Konflikte getrieben wird. Es fehlt ein soziales Fundament, sagt der Freiburger Historiker Ulrich Herbert. Seite 16 Zsp.: (Ulrich Herbert) Wir haben spezifische, erkennbare, definierbare und sich verändernde Probleme. Wenn man sie jetzt überträgt ins Ökonomische, dann haben wir das Grundproblem einer ungerechten Weltordnung, die immer wieder neue wirtschaftliche und soziale Disparitäten mit sich bringt. Was nicht bedeutet, dass, wenn man die sozialen Probleme abstellen würde, es überhaupt keine Kriege mehr gäbe, aber es gäbe sehr viel weniger Anlass dazu, solche Kriege zu führen. Und solange das nicht geschieht, wird es immer wieder Gruppen geben und Bevölkerungsteile, die sich von einem Krieg mehr versprechen als von einem Frieden. Autorin: Wir sind von Aufruhr, Krisen und Kriegen umzingelt, Konflikte sind die neue Normalität und schlagen Millionen Menschen in die Flucht. Die EUGrenzbehörde Frontex, die immer wieder auch als brutale Abschottungsorganisation kritisiert wird, rechnet in diesem Jahr mit einer neuen Rekordzahl von Flüchtlingen, vor allem aus Libyen, wo wegen wachsender Gewalt und Chaos schätzungsweise eine Millionen Menschen das Land verlassen wollen. Auch im zerfallenden Syrien und im instabilen Irak sind keine Verhältnisse in Sicht, die Menschen ein menschenwürdiges Leben erlauben würden. Inmitten der Ärmsten der Armen erlebt zudem die Religion ein militantes Revival. Islamische Extremisten beanspruchen für sich, einen Krieg gegen den Westen und die globalisierte Moderne mitsamt ihren Werten zu führen. Die Abkehr von den Verheißungen des Westens und seiner Metropolen ist geradezu atemberaubend. Das Problem der Radikalisierung, sagt Ulrich Herbert, ist dabei auch unser Problem. Zsp.: (Ulrich Herbert) Was wir derzeit erleben weltweit ist ja die Auseinandersetzung zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Das heißt, im Grunde will der globale Norden seine wirtschaftliche Situation abfedern. Nach aller Erfahrung Seite 17 der letzten 100 Jahre wird das nicht funktionieren. Die Rückgängigmachung von Migrationsprozessen hat bisher nur mit massiver staatlicher Gewalt funktioniert und auch nur für eine begrenzte Zeit. Das heißt, ob wir das nun wollen oder nicht oder hübsch finden, wir werden uns darauf einstellen müssen. Und hinzu kommt noch etwas Neues, Islamismus, und der hat mit der Migration insofern was zu tun, als wir den Islamismus nur verstehen können, wenn wir ihn als eine weitere Variante sozusagen der antimetropolitanen Bewegung des globalen Südens verstehen. Im Grunde kann man die Arabellion vor ein paar Jahren als Symbol dafür nehmen, dass eine neue, jetzt aber religiös motivierte Variante aufgekommen ist, die sehr erfolgreich ist, deswegen, weil sie dem Westen seine kulturelle Vorherrschaft auch abspricht. Die verbindet sich nun mit den Migrationsprozessen und zeigt ja nun auf verschiedene Weise, dass die Vorherrschaft des Nordens in Gefahr gerät. Autorin: Die Welt ist aus den Angeln gehoben. Der nächste große Bürgerkrieg bahnt sich schon in Nigeria an, wo sich die Terrortruppe Boko Haram - der Name bedeutet so viel wie „westliche Bildung ist Sünde“ - gerade dem IS unterstellt hat – obwohl zwischen dem Norden Nigerias und der Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staates Rakka in Syrien 5000 Kilometer liegen. Die Methoden allerdings ähneln sich bis ins Detail. Entführungen, äußerste Brutalität und Gewalt, Erpressungen, Drogen- und Waffenschmuggel. Der Politologe Herfried Münkler, der Theorie der Politik an der Berliner Humboldt Universität lehrt und ein gefragter Berater von Politikern ist, macht auch in Regionen, mit denen wir unmittelbar gar nichts zu tun haben, eine neue Verantwortung der Europäer aus. In einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, gibt es für Europa keine Nischenerlaubnis mehr. Zumal die amerikanische Hypermacht nur noch ein mächtiger Stern unter anderen ist. Im Kern bedeutet die Obama-Doktrin ja doch: Führungsrolle ja, aber Alleingänge nur noch im Einzelfall. Seite 18 Zsp.: (Herfried Münkler) Ich glaube schon, dass man aus der Geschichte jetzt vielleicht nicht eins zu eins lernen kann, in dem sich irgendein vergangenes Ereignis anguckt und glaubt, man kann es dann auf die Gegenwart übertragen. Aber es gibt schon komplexere Analogien. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Hegemonialmacht des 19. Jahrhunderts, nämlich das British Empire im relativen Niedergang. Das ist eine ausgesprochen gefährliche Situation, weil ein Gerangel um die Frage entsteht, wer wird an die Stelle treten und wer wird mit dabei sein. Und das Spannende ist eigentlich, dass sich die USA zurzeit in einer ähnlichen Situation befinden. Die Übermacht der USA ist nicht mehr so eindeutig, wie sie die ganze Zeit gewesen ist. Das führt dazu, dass die USA sich nicht mehr zutrauen, Ordnungsprojektionen im globalen Zusammenhang durchzusetzen, sondern den atlantischen und den mittelmeerischen Raum relativ niedrigstufig behandeln und dafür sich auf den pazifischen Raum verlagern. Das heißt nun, relativ viele Aufgaben, von denen die Europäer sagen konnten, ach, da gehen wir gar nicht rein, das machen die Amis, die werden nun auf uns zukommen. Autorin: Der in Israel geborene Historiker Michael Wolfssohn bietet angesichts dieser neuen Aufgabenstellung gleich eine Art Patentrezept an, das man auf den Nenner bringen könnte: Learning from Europe. In Zeiten, in denen immer mehr Europäer Brüsseler Politik als Demütigung verstehen und deutsche Gemüter sich an griechischen Stinkefinger überhitzen, mag diese Lektion überraschend sein. Aber Wolfssohn erinnert an den Grundgedanken des europäischen Einigungswerks. Zsp.: (Michael Wolfssohn) Die ursprüngliche Idee des vereinten Europa war ja die, Deutschland und Frankreich sollten sich nicht mehr ineinander verbeißen, und daher mussten sie Seite 19 verzahnt werden. Wir werden also nicht erreichen, dass alle Menschen sich wahnsinnig umarmen werden, aber dass man Konflikte durch Verluste von Vorteilen vermeiden kann. Das ist wirklich der welthistorische Durchbruch des europäischen Einigungswerks, der eine Dynamik entfaltet hat, die ursprünglich so gar nicht vorgesehen war. Und deswegen sollte man überlegen, dieses Modell auch auf außereuropäische Regionen oder die europäischen Regionen zu erweitern. Nicht unbedingt im Rahmen einer EU, aber im Sinne dieser Verzahnung, und die Verzahnung kann erstens bundestaatlich sein und zweitens staatenbündisch. Autorin: Nach dem Fall der Mauer dominierte die Hoffnung der Globalisierungswortführer, dass sich die Welt so sehr ökonomisch ineinander verstrickt, dass sie die Kriegslogik „Dein Verlust ist mein Gewinn“ ad absurdum führt. Heute dehnen sich Staaten wie China oder die USA mit Hilfe diplomatischer und kommerzieller Netzwerke aus, und wenn sich Peking für kleinere militärische Aktionen im Pazifik entscheidet, wird noch immer penibel darauf geachtet, dass keine Provokationsschwelle überschritten wird. Xiang Qian Kann – ist eine Losung, die noch in jeder chinesischen Stadt hängt. Sie bedeutete ursprünglich „Voran“! Mitte der 90er Jahre hat man ein Zeichen ausgetauscht. Jetzt bedeutet sie „Zum Gelde hin!“ Putins Russland indes betreibt noch klassische Machtpolitik, die auf Territorialgewinn und Dominanz zielt. Herfried Münkler spricht von einer Logik des 18. und 19. Jahrhunderts und warnt eindrücklich davor, ihr mit Waffen zu antworten. Zsp.: (Herfried Münkler) Wir haben die ganze Zeit darauf gesetzt zu sagen, militärische Macht spielt eigentlich keine Rolle mehr, alles macht ökonomische Macht. Jetzt stellen wir fest, ökonomische Macht ist wunderbar, aber sie wirkt in anderen Zeitabständen. Also man kann schon den Russen einige Sanktionen ansetzen, aber wenn da so Heinis kommen und sagen, wir sollten der Ukraine Waffen Seite 20 liefern, dann übersehen sie, dass die Russen, wenn sie wollten, innerhalb von zwei Tagen am Dnepr stünden. Also das, was die Russen in der Krim und in der Ostukraine gemacht haben, das ist sozusagen old-fashioned-war. Das beeindruckt uns noch mal, weil es entsprechende Bilder generiert. Ob das so auf Dauer funktioniert oder ob die Russen nicht in eine ganz furchtbare Situation kommen, weil sie mit den Chinesen Geschäfte machen müssen und sie von denen für ihre Bodenschätze sehr viel weniger Geld bekommen als von den Europäern, das alles muss man erst einmal sehen. Da soll man sich nicht fünf Zentimeter vor den Spiegel stellen und glauben, man würde die Welt beobachten, wenn man nur ins eigene Gesicht guckt. Autorin: Ganz anders die Argumentationslinie des Berliner Publizisten Jörg Friedrich, zu dessen Arbeitsschwerpunkten die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg gehören. Friedrich, der sich vor allem mit einem Buch zu den Opfern alliierter Bombenangriffe einen Namen gemacht hat, gilt als Querdenker. In den1990er Jahren gehörte er beispielsweise zu den Kritikern der berühmten Wehrmachtsausstellung über die Verbrechen von Hitlers Armee. Hans-Ulrich Wehler, der Doyen der deutschen Gesellschaftsgeschichte, bescheinigte Friedrich einmal eine „bedenkenlose Neigung zur Emotionalisierung“. Sie klingt auch in Friedrichs Plädoyer für eine militärische Antwort auf Putins Aggression durch. Zsp.: (Jörg Friedrich) Wenn der potentielle Aggressor von vornherein die Zusicherung hat, das geht aus der Geschichte hervor, er sitzt am längeren Hebel, man kann gegen ihn nichts machen, dann geht er ja so weit wie der Horizont. Er geht vor und der Horizont wandert mit ihm. Wenn man sich anschaut, was hier in den letzten 400, 500 Jahren gelaufen ist, dann haben wir doch einen Zyklus von Frieden und Krieg, und wenn man es skeptisch oder depressiv betrachten will, dann sind doch die Friedensphasen eigentlich Abklingräume zur Vorbereitung auf Seite 21 den nächsten Krieg. Die Geschichte ist keine Lehrbuch für irgendetwas, aus dem man Gebrauchsanweisungen nehmen kann, was in Zukunft funktionieren wird und was nicht. Wenn wir vor zwei Jahren diskutiert hätten, was sind denn die Aufgaben der Gegenwart, dann hätten wir einen arabischen Frühling gehabt und hätten wir gesagt, na ja, wie kann man in Russland ein bisschen mehr Demokratie einführen, damit hier also die Menschenrechte besser gewahrt sind. Dass dort mit der Annexion eines großen Gebietes und eines Angriffs auf einen anderen Staat mit verkappten Truppen und mit schweren Waffen, dass dort Bevölkerungen zu mobilisieren und zu fanatisieren sind, hätten wir doch vor zwei Jahren überhaupt auch nicht im Entferntesten geahnt. Die totale Friedfertigkeit als Prämie für den Aggressor garantiert keinen Frieden. Autorin: Mit Waffengewalt Aggression einschränken, gar Frieden schaffen? Michael Wolfssohn hat da berechtigte Zweifel. Zsp.: (Michael Wolffsohn) So gesehen müsste der Staat Israel auch rein militärisch sicherer denn je sein, aber er hat jedes Mal militärisch gesiegt und politisch jedes Mal verloren. Und den nächsten Krieg programmiert. Ich glaube, dass wir ohne eine Stabilisierung der jeweiligen Staaten auch keinen zwischenstaatlichen Friedens- oder Nichtkriegsstatus erreichen können. Autorin: Zweifellos stellt Putins offen verdeckter Krieg in der Ostukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim Europa vor immense Probleme und Herausforderungen. Putin hat nicht nur das amerikanische Monopol auf Völkerrechtsbruch unterwandert, wie man es zynisch sehen könnte, sondern auch die europäische Friedensphase beendet. Seine Panzer überrollen den Traum einer gemeinsamen europäischen Wertegemeinschaft, in der imperiale Akte keinen Platz mehr haben. Dennoch fordert etwa Herfried Münkler Gelassenheit und rationalem Kalkül. Seite 22 Zsp.: (Herfried Münkler) Wenn man sich jetzt durch den Druck, den der Putin organisiert, ganz aus der Fassung bringen lässt, dann passiert einen das, was immer über die Generäle gesagt hat, nämlich die planen die Kriege der Zukunft im Modell der Vergangenheit und führen deswegen die vorletzten Kriege noch einmal. Wir wissen ja gar nicht, in welcher Weise in der russischen Politik Motive zusammen spielen. Wenn wir das analysieren können, wir sagen Putin 1 ist gewissermaßen der Exekutor von Alexander Dugin, also einem Neuentwurf des eurasischen Reiches, das irgendwo in den Grenzen des Zarischen Reiches oder in den Grenzen der Sowjetunion neu geschaltet wird. Putin 2 ist derjenige, der an für sich prinzipiell defensiv ist und der sagt, ich habe begriffen, dass keine Nato-Mitglied werden kann, der territorial ungeklärte Fragen hat. Und das hat 2006 in Georgien funktioniert, da habe ich ungeklärte territoriale Fragen geschaffen, ergo konnte Georgien nicht Mitglied der Nato werden. Und das mache ich jetzt in der Ukraine auch. Dann haben wir eine eher strategischedefensive Grundkonzeption. Putin 3, das ist derjenige, der mitbekommen hat, dass wenn er einen kleinen Krieg führt, der erfolgreich ist, dann steigen seine Zustimmungswerte innerhalb der russischen Bevölkerung, ohne dass er besondere ökonomische Erfolge vorzuweisen hat, die er nun mal nicht vorzuweisen hat. So, und eine kluge Politik hat nun herauszufinden, welches Modell von Putin ist für uns das attraktivste. Und das heißt, wir müssen versuchen, ihn so zu beeinflussen, dass er in seinem Verhalten so organisiert, als wäre er das, was er im Modell angenommen ist. Ist völlig klar, für die deutsche Politik, für die europäische Politik ist Putin 2 die attraktivste Lösung. Autorin: Ob wir uns einen Putin nach unserem Bilde schaffen können, bleibt wohl fraglich. Denn Europa steuert diesen Konflikt ja nicht allein. Die Strategie der USA verbleibt weitgehend im Dunkeln, wir wissen kaum, woraufhin sie abzielt. Seite 23 Zsp.: (Ulrich Herbert) Und das macht die Sache so gefährlich. Das heißt, ein Ausprobieren dieser Situation, ein Abtesten der russischen Reaktion, was denn da kommt, wenn man möglicherweise in der Ukraine so vorgeht, wie man vorgegangen ist, gehört zu den Elementen, die wir von Europa nicht nur nicht steuern können, sondern auch gewissermaßen noch nicht einmal kennen. Insofern bin ich skeptisch, was so eine bellizistische Struktur dieses Konflikts angeht. Ich finde eigentlich die kleinteilige, vorsichte zurückhaltende, fast ein bisschen verschämte Aktion der deutschen Seite ganz vortrefflich. Und zwar deswegen, weil sie Friedfertigkeit geradezu physisch vor sich herträgt, in Form unserer Bundeskanzlerin, und auf der anderen Seite aber wirtschaftliche Drohungen auch ausspricht und den Gesprächsfaden nicht abbrechen lässt, sich nicht von den Amerikanern beeinflussen lässt. Nach den Erfahrungen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts sind das eigentlich die Strategien, weil sie den anderen nicht provozieren, weil sie den anderen nicht herausfordern, weil sie einen auch leicht unterschätzen lassen, das ist immer gut, das sind die Strategien, die zum Erfolg geführt haben. Autorin: Bescheidene Ziele und realistische Erwartungen - darin wird sich Politik üben müssen. Gleichzeit muss sie hybride Mittel und Wege finden, um auf die Herausforderungen der neuen hybriden Kriege zu antworten. Eine deprimierende Bilanz, bei der die Ahnung mitspielt, wir hätten es besser machen können. Oder optimistisch formuliert: Wir müssen es in Zukunft besser machen. Seite 24 Mehr oder weniger Christoph Türcke über die Philosophie des Geldes Von Jochen Rack (Gespräch liegt nicht schriftlich vor) Seite 25
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