ÖSTERREICH report 2015 GEMEINSAM AN ZUKUNFT ARBEITEN Foto: MBJ/Elia Zilberberg Der Justizminister möchte Jugendlichen das Gefängnis ersparen. Seine Vorhaben: gezielt betreuen, deradikalisieren und das System qualitativ verbessern. Justizminister o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter im Interview mit NEUSTART Redakteurin Dorit Bruckdorfer. NEUSTART: Wie sehen Ihre Überlegungen zur Radikalisie- rung Jugendlicher (Stichwort Dschihadismus) innerhalb und außerhalb von Haft aus? Wie soll man damit umgehen? Ist das ein wichtiges Handlungsfeld für die Justiz? Wolfgang Brandstetter: Unser Ziel ist es, inhaftierte radikalisierte Insassinnen und Insassen soweit wie möglich zu deradikalisieren – egal um welche Form der Radikalisierung es sich handelt. Dabei brauchen gerade Jugendliche besondere Betreuung. Das Gute ist, dass bei dieser Zielgruppe die Chancen groß sind, auf ihre INHALT Opferorientierung Seite 3 Jung, schwierig, radikal Seite 4 40.497 Klientinnen und Klienten Seite 8 Zivilgesellschaftlich engagieren Seite 10 Reformen im Maßnahmevollzug Seite 11 Beste Praxis Tatausgleich Seite 12 Profis der Bewährungshilfe Seite 14 ÖSTERREICH report 2015 Persönlichkeitsentwicklung positiven Einfluss zu nehmen. Mittels spezieller Deradikalisierungsprogramme sollen sie dabei individuell auf ihre Haftentlassung vorbereitet werden. So sollen beispielsweise mittels Bildungsarbeit die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen erzeugt und die für die Wahrnehmung der Bürgerpflichten nötigen Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt werden. Zusätzlich setzen wir auf eine enge Betreuung durch ausgewählte muslimische Seelsorger, die auch als Multiplikatoren zur Verfügung stehen und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beratend unterstützen. Was hat sich nach der Task Force Jugendliche getan? Die Task Force hat tolle Arbeit geleistet. Mit den von uns gesetzten Maßnahmen haben wir bereits erste Erfolge erzielt und die Zahl inhaftierter Jugendlicher deutlich gesenkt. Grundsätzlich ist es unser oberstes Ziel, zu vermeiden, dass Jugendliche in Untersuchungshaft kommen. Das wollen wir einerseits durch die bundesweiten Sozialnetz-Konferenzen erreichen. Andererseits können Jugendliche seit Jahresbeginn in Wohngemeinschaften als Alternative zur Untersuchungshaft untergebracht werden. Zusätzlich wollen wir mit der Einführung einer österreichweiten Jugendgerichtshilfe die gegenwärtige Situation verbessern. Seit Jänner 2015 haben wir hier den Probebetrieb in Graz aufgenommen. Im Laufe des Jahres soll die bundesweite 2 Ausrollung erfolgen. Abseits davon werden wir die Qualität des Personals steigern, indem wir beispielsweise Sozialpädagogen einstellen. Damit ist die Arbeit der Task Force jedoch nicht beendet: Die weiteren Entwicklungen im Bereich Jugendkriminalität und Jugendvollzug werden in einem „Netzwerk Jugendvollzug“ weiterverfolgt. Dieses trifft sich zweimal jährlich, setzt den Dialog fort und leistet damit einen Beitrag zur Qualitätssicherung im Jugendstrafvollzug. Thema Maßnahmevollzug: Welche Erwartungen haben Sie bezüglich der Mitwirkung von NEUSTART? Das Bundesministerium für Justiz hat NEUSTART damit beauftragt, das Modell Sozialnetz-Konferenz im Maßnahmevollzug für die Dauer von 16 Monaten zu erproben. Damit wollen wir die Zahl der Entlassungen steigern, bedingte Maßnahmen fördern und die Anhaltedauer verkürzen. Aufgabe der Sozialnetz-Konferenz ist es dabei, einen Zukunftsplan mit der Klientin oder dem Klienten und ihrem oder seinem sozialen Umfeld zu erarbeiten. Das erfolgt gemeinsam mit professionellen Institutionen. Mit dem Plan sollen Justizanstalten und Gerichte in weiterer Folge bessere Entscheidungen treffen können – sei es für eine bedingte Nachsicht der Maßnahme oder eine bedingte Entlassung. Parallel zum Probebetrieb in Graz wird eine Begleitforschung durch die Universität Wien durchgeführt, die mit April des Jahres 2015 startet. www.neustart.at KONKRET HELFEN BEI HÄUSLICHER GEWALT Das gemeinsame Anliegen von Opferschutzeinrichtungen und NEUSTART ist es, Gericht und Staatsanwaltschaft zu sensibilisieren, verstärkt und frühzeitig Betreuungs- und Therapiemaßnahmen für Täter anzuordnen. DIE BEDÜRFNISSE DES OPFERS WAHREN Für Opfer muss es flächendeckende Unterstützung geben. NEUSTART betreibt Opferschutz durch Täterarbeit. Mit Bewährungshilfe, Tatausgleich, Anti-Gewalt-Training und anderen Initiativen. BEWÄHRUNGSHILFE KOOPERIERT MIT FRAUENORGANISATIONEN Für Delikte häuslicher Gewalt gibt es seit Dezember 2014 österreichweit Kooperationsvereinbarungen mit den Opferschutzeinrichtungen, die im Bereich von Gewalt an Frauen tätig sind (Gewaltschutzzentren, Interventionsstellen, Frauenhäuser). Ziel dieser Kooperation ist eine gemeinsame Gefährlichkeitseinschätzung und Sicherheitsplanung, um wirksame und abgestimmte Maßnahmen der Rückfallsprävention zu setzen. Dazu gehört auch die laufende Abstimmung der Betreuungsmaßnahmen. TATAUSGLEICH WIRD VON OPFERN GENUTZT Der Bereich Tatausgleich entspricht per se dem Prinzip der Opferorientierung, da er die einzige Diversionsmaßnahme darstellt, bei der die Interessen des Opfers im Sinne des § 206 Strafprozessordnung explizit erkundet und berücksichtigt werden. Im Wesentlichen ist ein gelungener Tatausgleich nur möglich, wenn die Zustimmung des Opfers vorliegt. Besondere Vorsichtsmaßnahmen in Bezug auf Opferschutz werden bei Gewalt in Partnerbeziehungen sowie bei Stalking getroffen (bei letzterem wird ausschließlich getrennt bearbeitet). Standards sind in diesen Fällen: Spezielles Augenmerk auf Gewaltdynamik, Nachhaltigkeit, Beobachtungszeiträume, flankierende, über den Tatausgleich hinausgehende Unterstützungsangebote wie verbindliche Vermittlung zu Therapien oder Anti-Gewalt-Trainings und systematische Risikoeinschätzung. Darüber hinaus arbeiten in diesen Fällen grundsätzlich eine Konfliktreglerin und ein Konfliktregler, um jedenfalls eine weibliche Ansprechpartne- Ein Einstellung des Verfahrens nach §191 Strafprozessordnung, Geldstrafe oder bedingte Verurteilungen ohne Weisungen und Auflagen sind keine ausreichende Reaktionsform auf häusliche Gewalt. Eine flächendeckende Unterstützung für Opfer muss gewährleistet sein. Im gesamten Strafverfahren ist den Interessen und Bedürfnissen von Opfern in größtmöglichem Ausmaß zu entsprechen, insbesondere dem Bedürfnis, wahrgenommen und in ihren Interessen ernst genommen zu werden. In der Entwicklung sozialarbeiterischer Angebote orientieren wir uns grundsätzlich an der Verknüpfung von täterorientierten, rehabilitativen und opferorientierten, wiedergutmachenden Grundsätzen. Bei den Deliktgruppen häusliche Gewalt und sexuell motivierte Übergriffe steht der Schutz der Opfer im Vordergrund. Daher sprechen wir in diesen Bereichen von „opferschutzorientierter Täterarbeit“ mit folgenden Prinzipien: Die Bedürfnisse der Opfer werden ernst genommen; Stopp der Gewalt ist Voraussetzung für einen Dialog; der Täter ist konsequent gefordert, sich zu seiner Tat zu bekennen und Verantwortung zu übernehmen; wenn das Opfer es wünscht, wird materielle und emotionale Wiedergutmachung thematisiert; mit dem Täter wird das Delikt bearbeitet und konstruktive Handlungsalternativen werden entwickelt. [email protected] | Leiterin NEUSTART Steiermark [email protected] | Leiterin Zentralbereich Sozialarbeit 3 ÖSTERREICH report 2015 rin für die meist weiblichen Opfer zu haben. Der Tatausgleich ist nur möglich, wenn das Verhalten des Beschuldigten (Nachstellung, Drohungen, Gewalt) sofort beendet wird. Forschungsergebnisse belegen nicht nur, dass Opfer „Opfer werden gestärkt, im Tatausgleich in großem Ausmaß zuTäter bekommen Impulse, frieden sind und sich sich anders zu verhalten.“ gestärkt fühlen (insbesondere auch in Fällen von Gewalt in Partnerbeziehungen), sondern dass die Beschuldigten auch Impulse für positive Verhaltensänderungen aufnehmen und integrieren. Der Tatausgleich hat die geringste Rückfallsquote (unter zehn Prozent) im Vergleich zu allen anderen Sanktionsmaßnahmen. ANTI-GEWALT-TRAINING REKONSTRUIERT DIE TAT Das intensive Gruppentraining wird von zwei Personen (Trainerin und Trainer) durchgeführt, umfasst 60 Einheiten und dauert rund neun Monate. In allen Anti-Gewalt-Trainings ist eine exakte Tatrekonstruktion, Verantwortungsübernahme, Auflösung von Neutralisierungstechniken und die Konfrontation mit der Opferperspektive Inhalt des Trainings. ELEKTRONISCH ÜBERWACHTER HAUSARREST Ein elektronisch überwachter Hausarrest ist ohne Zustimmung der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner nicht möglich. Daher werden die Angehörigen bereits in der Erhebungsphase sensibilisiert, welche Auswirkungen es haben kann, wenn eine Mitbewohnerin oder ein Mitbewohner die Fußfessel bekommt. Das hat unter anderem zur Folge, dass sie oder er im Konfliktfall nicht spontan die Wohnung verlassen kann. Kam es in der Vergangenheit bereits zu häuslicher Gewalt, wird mit Opferschutzeinrichtungen kooperiert. WAS TUN MIT SCHWIERIGEN JUGENDLICHEN? Jugendliche in der Pubertät suchen: Sinn, Werte, Orientierung. Abweichendes Verhalten, Kriminalität, extreme Entwicklungen kann es da auch geben. Altersbedingt endet diese Phase meist von selbst. Wie lange ist man jugendlich und wie soll auf Jugendkriminalität reagiert werden? Ob Graffiti Kunst oder Schaden sind hängt teilweise davon ab, wo gesprayt wird. Wenn Graffiti unerwünscht sind und als Sachbeschädigung gelten, kann 4 das bei einem Schaden von über 50.000,- Euro gravierende Folgen für junge Menschen haben. Der mögliche Strafrahmen beträgt bei 14- bis 18-Jährigen zwischen null und 30 Monaten Haft; war man zum Zeitpunkt der Tatbegehung schon 18 Jahre alt und unter 21 könnte man zwischen null und fünf Jahren Haft ausfassen. Ab dem 21. Lebensjahr gibt es ein Mindestmaß von sechs Monaten, maximal sind fünf Jahre Haft drin. Ist man mit der Volljährigkeit tatsächlich schon so reif, dass unterschiedlichen Reaktionen auf ein- und dasselbe straffällige Verhalten passend sind? In Österreich gelten 14- bis 17-jährige Menschen als Jugendliche, 18- bis 21-Jährige sind „junge Erwachsene“. NEUSTART spricht sich in seinen kriminalpolitischen Positionen für www.neustart.at den Ausbau bereits bestehender Spezialnormen von Jugendlichen auch auf junge Erwachsene aus. Damit soll die Inhaftierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verringert werden. Würde die Sozialnetz-Konferenz gesetzlich verankert und gälte sie auch für junge Erwachsene (derzeit nur für Jugendliche), gäbe es weniger Untersuchungshaft. Ein Ergebnis der Task Force Jugendliche (die nach dem Missbrauch eines Jugendlichen in Untersuchungshaft vom Justizminister einberufen wurde) ist der Einsatz von Sozialnetz-Konferenzen. Seit Oktober 2014 gibt es sie flächendeckend in ganz Österreich. „Die Erfolge können sich sehen lassen. Immerhin sind die Inhaftierungen bei Jugendlichen sowohl in Untersuchungshaft als auch in Strafhaft in den letzten beiden Jahren um ein Drittel zurückgegangen“ weiß Dr. Christoph Koss, Geschäftsführer von NEUSTART. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist die Kooperation mit den Jugendrichterinnen und Jugendrichtern. Sozialnetz-Konferenzen aktivieren die Ressourcen von SozialMarie – erster Platz für die Sozialnetz-Konferenz von NEUSTART Jugendlichen. Hochfrequente Bewährungshilfe ist der erste Schritt, um die Haft zu vermeiden. In Kombination mit einer Sozialnetz-Konferenz konnten zwischen August 2013 und November 2014 zwei Drittel der Jugendlichen entlassen werden. Bei hochgefährdeten Jugendlichen wird ein Maßnahmenplan erstellt – funktioniert er nicht, müssen sie wieder in Untersuchungshaft. Bei 87 Jugendlichen war die Entlassung erfolgreich. – [email protected] (db) – MIT 22 SCHON ERWACHSEN? Die Phase „Emerging Adult“, ein Begriff aus der Jugendentwicklungspsychologie, ist laut Werner Leixnering gleichzusetzen mit dem Begriff der Spätadoleszenz, von der man glaubt, dass sie frühestens mit 22 Jahren abgeschlossen ist – wenn nicht noch später. Für die Haftsituation bedeutet das, dass junge Erwachsene bis zum 21. Lebensjahr nicht anders als Jugendliche angesehen werden sollten, Dr. Werner Leixnering, Kinder- und Jugendpsychiater, Sachverständiger weil sie genauso wie Jugendliche noch nicht die Reife haben, die man einem Erwachsenen zumessen würde. Sozialarbeiterische und therapeutische Angebote bieten, meint Leixnering, im Gegensatz zur Haft Gelegenheit, Fähigkeiten weiter voranzutreiben. Er findet es „kontraproduktiv, wenn jemand lange in Haft ist, weil er hier genau in der Phase ist, wo er sich weiterentwickeln muss“. Etwa um eine angemessene soziale Gruppe zu finden, Verantwortung als Staatsbürger auszuüben, in den Beruf einzusteigen, den eigenen Haushalt zu organisieren und vieles mehr bis zur Familiengründung. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es im Jugendgerichtsgesetz seit langem den Begriff „Heranwachsender“ (in der Jugend-Forensik geht man bei der Strafrechtsbemessung von diesem Begriff aus). Statt dem in Österreich geltenden Terminus „junge Erwachsene“ hielte es Leixnering für sinnvoller „nicht von jungen Erwachsenen, sondern von Heranwachsenden zu sprechen“. 5 ÖSTERREICH report 2015 NETZWERKE FÜR JUNGE DSCHIHADISTEN Bisher sollen etwa 200 Personen aus Österreich nach Syrien ausgereist sein, um in den sogenannten Dschihad zu ziehen. 70 Personen sollen zurückgekehrt sein. Rund 30 Dschihadisten sind in Haft. In letzter Zeit wurden einige Jugendliche, die Richtung Syrien aus Österreich ausreisen wollten, noch in Österreich gestoppt und teilweise in Untersuchungshaft genommen. Besonders junge Menschen, die mit dem Dschihad sympathisieren, werden als gefährdet eingestuft, sich im Gefängnis zu radikalisieren. In Österreich gibt es für etwa 1.700 Gefangene muslimischen Glaubens 46 islamische Gefängnisseelsorger. Die meisten arbeiten hauptberuflich als Religionslehrer und ehrenamtlich als Seelsorger im Gefängnis. Das nötige Vertrauen, um Aufklärung und Information zu akzeptieren, erlangen am ehesten diese Imame – allerdings manchmal erst nach vielen Monaten Kontakt- und Gesprächsangebot. Deshalb ist es wichtig, zusätzliche Angebote zu haben, die früher greifen. Bei NEUSTART differenziert man zwischen Sympathie für den Dschihad und tatsächlichen Dschihadisten. Bisher habe man es, so Jürgen Kaiser MBA, der den Zentralbereich Sozialarbeit leitet, vorrangig mit Sympathisantinnen „Meist merken die Eltern und Sympathisanten viel zu spät, was mit ihrem zu tun gehabt. Bei der Betreuung dieser Kind los ist.“ Jugendlichen gehe man so vor wie bei jeder Form von Radikalisierung. „Wie bei allen extremen Formen schauen wir uns einmal den Hintergrund an. Meist zeigen sich Defizite und Perspektivlosigkeit. Radikalisierung zeigt sich oft in einem Schwarz-Weiß-Denken, in der Polarisierung von Gut und Böse. Radikalisierte Jugendliche bekommen vermittelt, dass sie erleuchtet sind und zu den Guten gehören. Da rutschen auch Jugendliche rein, die kein religiöses Vorleben haben.“ Meist sind die Eltern ahnungslos und ratlos, wo und wie ihr Kind radikalisiert wurde. Der Kinderund Jugendanwalt Mag. Ercan Nik Nafs hält das für glaubwürdig. Man müsse davon ausgehen, dass salafistische Gruppen in höchstem Maß professionell vorgehen und dass diese den Jugendlichen einschärfen, die Eltern nichts merken 6 zu lassen, bis sie sich selbst outen. Vor allem bei Konvertiten und besonders bei Mädchen zeige sich, dass sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt alles geheim halten – etwa bis sie durch Heirat einen neuen Namen annehmen. Dann erst erführen die Eltern etwas davon oder erst, wenn die Polizei sie an EU-Außengrenzen aufhalte. Nik Nafs: „Wir kennen auch Fälle von jungen Burschen, wo die Eltern das sehen – sie ändern ihre Essgewohnheiten und ihr Outfit, der Freundeskreis verändert sich, sie hören andere Musik – es gibt da viele auch sichtbare Zeichen. Es ist nur die Frage, ob die Eltern das erkennen und verstehen.“ Anders als bei radikalisierten Neonazis, wo es langjährige Erfahrungen mit dieser Form der Radikalisierung gibt, gibt es in Österreich mit dem Dschihadismus noch keine Erfahrungen. Rund 50 Kolleginnen und Kollegen von NEUSTART Wien haben deshalb ein Seminar initiiert, um sich Grundkenntnisse über den Islam anzueignen. Dr. Almir Ibric von der Wiener Magistratsabteilung 17 (Diversity Management) schulte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Tag lang. In weiteren Veranstaltungen sollen so viele Kolleginnen und Kollegen wie möglich ihr Wissen multiplizieren. Ercan Nik Nafs berichtet, dass in Wien alle Stellen, die mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten (Magistratsabteilungen 10, 11, 13, 17, Stadtschulrat für Wien, AMS Wien Jugendliche, Waff, NEUSTART, Beratungsstelle Extremismus und Polizei), im Wiener Netzwerk für Deradikalisierung und Prävention zusammengebracht wurden „mit den Zielen, sowohl im Einzelfall die betroffenen Jugendlichen und ihre Familien bestmöglich zu unterstützen, als auch umfassende Fortbildungsangebote für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichsten Berufsgruppen anzubieten.“ – db – www.neustart.at ALLES ANDERE GILT ALS FEINDLICH NEUSTART Redakteurin Dorit Bruckdorfer fragte den Kinderund Jugendanwalt Ercan Nik Nafs nach seinen Erfahrungen mit dschihadistisch radikalisierten Jugendlichen gung angehört. Den Jugendlichen wird die Möglichkeit, ein neues Leben mit „utopischen“ Zielen, ein Kalifat zu gründen und zu vergrößern, in Aussicht gestellt. Es wird ihnen vermittelt, dass sie die Welt verändern und die völkerrechtlichen Grenzen im Nahen Osten verschieben können, die sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges kaum verändert haben. Welche Angebote brauchen Jugendliche, welches Handlungsrepertoire muss man ihnen anbieten? Mag. Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt, hat 20 Jahre Erfahrung in der offenen Jugendarbeit und gilt als Experte in Kinder- und Jugendangelegenheiten. NEUSTART: Wie kommt es Ihrer Erfahrung nach zur Radikalisierung Jugendlicher? Nik Nafs: Nach meinen Beobachtungen spielen die unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle. Wesentlich ist die Biografie der Jugendlichen. Jugendliche, die ein besonders krisenhaftes Leben oder eine besonders krisenhafte Phase durchmachen, sind für abwertende Haltungen anderen gegenüber zugänglicher. Der sogenannte Radikalisierungsprozess beginnt nach meiner Beobachtung immer eine erste „Hoch traumatisierte jugendli- durch persönliche Kontaktche Menschen dürfen nicht ins aufnahme in Bezug auf neosalafistiGefängnis gesteckt werden.“ sche Gruppen, die dann sowohl durch Gruppengespräche (sogenannte DERS) als auch durch Internetauftritte verstärkt wird. Neosalafistische Gruppen erklären die komplizierte Welt mit einfachen Worten, beschreiben zum Beispiel die Welt in „gut“ und „böse“, in „gläubig“ und „ungläubig“. „Gläubig“ definiert sich nach diesen neosalafistischen Gruppen entsprechend ihrer Auslegung des Islam, alles andere gilt als kategorisch feindlich und abtrünnig. Die gewaltsame Bekämpfung anders denkender oder anders lebender Menschen wird theologisch begründet. Tritt eine Jugendliche oder ein Jugendlicher mit solchen Gruppen in näheren Kontakt, erfährt sie oder er einerseits persönliche Anerkennung, andererseits Aufwertung der eigenen Person, indem sie oder er einer global politischen Bewe- Im Grunde benötigen die Jugendlichen erwachsene Bezugspersonen, die sich für sie interessieren, die sie ernst nehmen, die ihre Fragen authentisch beantworten können. Zudem muss sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche gewaltfrei heranwachsen können. Die Einhaltung der Kinder- und Jugendrechte, die verfassungsrechtlich verankert sind, zum Beispiel Recht auf Bildung, Schutz vor Rassismus und Sexismus et cetera, sind die Grundvoraussetzung. Die Gleichwertigkeit frei von Geschlecht, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit darf nicht nur Schlagwort sein, sondern muss gelebt werden. Den Kindern und Jugendlichen müssen alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, damit zum Beispiel ein Jugendlicher, der Abwertung und Gewalt erfahren hat, nicht selbst in Konfliktsituationen Gewalt anwendet und sich aus diesem Kreislauf befreien kann. Wie soll man mit Rückkehrern aus Syrien umgehen? Bis dato gibt es wenige Erfahrungswerte in Bezug auf rückkehrende Personen aus dem Kriegsgebiet. Ich bin grundsätzlich davon überzeugt, dass jede Person eine zweite Chance verdient, insbesondere wenn es sich um Jugendliche handelt. Jugendliche sind selbst die Leidtragenden von islamistisch-dschihadistischen Gruppen. Sie benötigen besondere Programme, aber auch professionell ausgebildete Menschen, die in der Lage sind, festzuhalten, ob von den rückkehrenden Personen zum einen für ihre Umwelt, zum anderen für sie selbst Gefahr besteht. Weder dürfen hoch traumatisierte junge Menschen in die Gefängnisse gesteckt werden, wo sie sich noch mehr radikalisieren, noch darf zugelassen werden, dass „Hardcore-Dschihadisten“ verharmlost werden. Jeder Einzelfall muss gründlich geprüft werden. Ein weiterer Grundsatz für mich ist, wenn jemandem die Freiheit entzogen wird, sollte eine menschenwürdige Unterbringung gewährleistet sein. 7 ÖSTERREICH report 2015 2014 40.497 KLIENTINNEN UND KLIENTEN ... Bewährungshilfe 14.784 Klientinnen und Klienten wurden bei ihren Bemühungen unterstützt, straffrei zu leben. Bei angeordneter Bewährungshilfe gab es eine Widerrufsquote von 9,28 Prozent. Die Quote rechtskräftiger Verurteilungen betrug 32,24 Prozent. ... elektronisch überwachter Hausarrest 1.079 Mal wurde erhoben, ob eine Fußfessel in Frage kommt. 767 Klientinnen und Klienten erhielten eine Fußfessel. 625 Mal wurde die Fußfessel vor Antritt der Haft angelegt. 129 Personen kamen aus der Haft und 13 Personen erhielten die Fußfessel statt Untersuchungshaft. Durch die Vergabe von Fußfesseln wurden 98.049 stationäre Hafttage vermieden. Es gab 9,34 Prozent Abbrüche bei der Betreuung im elektronisch überwachten Hausarrest. Den Vorschlägen von NEUSTART folgten die Justizanstalten in 83,49 Prozent der Fälle. ... Haftentlassenenhilfe 3.483 verschiedene Klientinnen und Klienten nahmen vor oder nach ihrer Haftentlassung freiwillig Hilfe in Anspruch. Dabei konnte beispielsweise 778 Mal Unterkunft oder Wohnung vermittelt werden. ... Tatausgleich 14.034 Beschuldigte und Opfer wurden bei der Konfliktregelung betreut. Davon waren 5.829 Personen Opfer. 5.956 Mal wurde vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft ein Tat ausgleich angeregt. Die Einstellung des Straf verfahrens betrug bei Jugendlichen 85,8 Pro zent, bei Erwachsenen 68,99 Prozent. Die Zufriedenheit der Opfer mit dem Tataus gleich lag bei 95,6 Prozent. In 70,92 Prozent der Fälle gab es bei den Beschuldigten einen positiven Abschluss. ... Prozessbegleitung 2014 wurden 131 Opfer von Straftaten von NEUSTART durch den Gerichtsprozess begleitet. ... arbeiten für das Gemeinwohl 9.140 Menschen arbeiteten für das Gemein wohl – mit gemeinnützigen Leistungen entweder als diversionelle Maßnahme (4.152 Personen) oder anstelle einer Ersatz freiheitsstrafe (5.023 Personen). Bei der Vermittlung gemeinnütziger Leistungen als diversionelle Maßnahme kam es in 76,70 Prozent zu einem positiven Abschluss. Durch die Vermittlung gemeinnütziger Leistung statt Ersatzfreiheitsstrafe wurden 65.136 Hafttage vermieden. Durch die Vermittlung gemeinnütziger Leistung statt Ersatzfreiheitsstrafe im verwaltungsbehördlichen Finanz- ... Hilfe für Opfer Insgesamt wurden 5.960 Personen im Opferbereich betreut: 5.829 im Tatausgleich und 131 Personen durch Prozessbegleitung. 8 www.neustart.at 645 Anfragen 2014 800 Anfragen 2013 Online-Beratung 608 Jugendliche 2014 613 Jugendliche 2013 Prävention 9.140 Personen 2014 davon 6.275 Opfer 2013 gesamt 14.034 Personen 2014 gesamt 15.033 Personen 2013 Tatausgleich 3.483 Personen 2014 3.297 Personen 2013 Die Anzahl der Besuche pro Öffnungstag betrug durchschnittlich 110,87. Haftentlassenenhilfe 14.784 Personen 2014 14.525 Personen 2013 Bewährungshilfe ... Online-Beratung An die auf der Website von NEUSTART angebotene Online-Beratung wurden 645 Anfragen gerichtet. Anonym und unkompli ziert: Anfrageformular auf: www.neustart.at 8.818 Personen 2013 ... weitere Hilfen 462 Klientinnen und Klienten wurden in Wohn- und Kriseneinrichtungen von NEUSTART untergebracht. Der SAFTLADEN in Salzburg (Kommunikationszentrum) wurde 26.387 Mal besucht. ... Prävention 1.611 Stunden wurden in der Schulsozial arbeit aufgewendet, um Jugendlichen bei der Lösung ihrer Konflikte zu helfen. Weitere 351 Jugendliche wurden in Vorarlberg von der Jugendhilfe betreut. Außerdem gab es 257 Betreuungen in der Suchtprävention. Arbeiten für das Gemeinwohl strafverfahren wurden 6.322 Hafttage vermieden. In Summe macht das 71.458 vermiedene Hafttage. davon 5.829 Opfer 2014 Von 1957 bis 2014 hat NEUSTART rund 540.000 Menschen betreut. 9 ÖSTERREICH report 2015 ZIVILGESELLSCHAFTLICH ENGAGIEREN Die Gründung des Vereins NEUSTART erfolgte in den 1950er-Jahren, weil engagierte Bürgerinnen und Bürger die Verwahrungsumstände für straffällig gewordene Jugendliche nicht mehr länger akzeptieren wollten. Zivilgesellschaftliches Engagement hat also bei NEUSTART eine lange Tradition. Die ersten Bewährungshelferinnen und -helfer waren ehrenamtlich tätig. Die Professionalisierung der Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen hat in Österreich erst später eingesetzt. Trotzdem blieb und bleibt das Engagement von „Sozialpolitik ist die beste Laien ein wesentliches Standbein von Kriminalitätspolitik.“ NEUSTART. Die Mag. Martin Schenk, Diakonie Österreich Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen dieses Landes sollen davon überzeugt werden, dass es in erster Linie klare Reaktionen auf abweichendes Verhalten braucht, um Straffälligkeit zu vermeiden; und damit auch Alternativen zur Strafe. NEUSTART Geschäftsführer Alfred Kohlberger ist überzeugt: „Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringen für ihre Tätigkeit bei uns spezielle Fähigkeiten und ihre jeweiligen Netzwerke mit. Diese Netzwerke helfen mit, im heiklen Feld der Straffälligenhilfe auch Verständnis dafür zu schaffen, dass zu helfen besser ist als nur zu strafen.“ Am 31.12.2014 waren beim Verein NEUSTART 1.004 ehrenamtliche Bewährungshelferinnen und -helfer aktiv. Darüber hinaus engagieren sich sechs Aufsichtsrätinnen und Aufsichtsräte zum Teil schon seit vielen Jahren im Kontrollorgan von NEUSTART und helfen mit, dass unser Verein eine wirtschaftlich und inhaltlich gut geführte Organisation ist. 10 v.l.n.r.: Univ.-Prof. Dr. Alois BIrklbauer (Kuratorium), Dr. Christoph Koss (Geschäftsführer), Dr. Astrid Zimmermann (Kuratorium), Mag. Martin Schenk (Kuratorium), Alfred Kohlberger MAS (Geschäftsführer), o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter (Bundesminister für Justiz), Prof. Dr. Roland Miklau (Aufsichtsrat), HR Dr. Werner Leixnering (Kuratorium), Mag. Dr. Heide Schmidt (Kuratorium). Nicht im Bild: Kuratoriumsmitglieder Dipl.-Ing. Josef Pröll und Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka Seit Ende 2014 hat NEUSTART noch ein weiteres Gremium, in dem zivilgesellschaftliches Engagement seinen Ausdruck findet. Am 1. Dezember 2014 hat sich das NEUSTART Kuratorium der Öffentlichkeit präsentiert. Sieben Personen des öffentlichen Lebens haben sich vorgenommen, ihre persönliche Expertise und auch Netzwerke zur Verfügung zu stellen, damit notwendige Entwicklungen in der Straffälligenhilfe eine Stimme bekommen. Ihre Motivation ist von der Überzeugung geprägt, dass es auf abweichendes Verhalten eine Vielzahl von Reaktionsmöglichkeiten – außer dem Gefängnis – gibt, besonders bei Jugendlichen. „Härte und rigide Strafenpolitik haben keine Wirkung auf die Reduzierung von Jugendgewalt“ meint etwa Univ.-Prof. Dr. Alois Birklbauer vom Institut für Strafrecht der Universität Linz. „Jugendliche gehören nicht ins Gefängnis“, sagt Mag. Dr. Heide Schmidt, ehemalige dritte Präsidentin des Nationalrats. Und Dr. Werner Leixnering, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, verlangt: „Projekte auf Initiative der Kinder- und Jugendhilfe zur intensiven und frühen Betreuung und Stützung von gefährdeten Familien sind zu fördern, zum Beispiel Familienkonferenzen.“ – db – Alfred Kohlberger MAS, NEUSTART Geschäftsführer für wirtschaftliche Angelegenheiten www.neustart.at REFORMEN FÜR DEN MASSNAHMEVOLLZUG In Umsetzung des Regierungsprogramms, aber auch als Reaktion auf einen verwahrlosten Maßnahmepatienten, setzte der Bundesminister für Justiz im Juni 2014 eine Arbeitsgruppe zur Reform des Maßnahmevollzugs ein. Expertinnen und Experten wurden eingebunden und gaben Empfehlungen ab. Diese sollen nun von der Justizpolitik bewertet und je nach Entscheidungsergebnis umgesetzt werden. Das Ganze ist ein mehrjähriger Prozess unter Leitung des Bundesministeriums für Justiz. In nur einem halben Jahr hat die Arbeitsgruppe einen umfassenden Befund erstellt und in ihrem Abschlussbericht in 92 Punkten konkrete Empfehlungen für notwendige Änderungen gemacht. Die erforderlichen Anstrengungen für den Maßnahmevollzug werden groß sein müssen. Komplexität, finanzieller Umfang, negative Einstellungen gegenüber Maßnah„Derzeit sind in Österreich meuntergebrachten Straf- und Maßnahmevollzug sowie Ängste lasten schwer auf diesem unklar getrennt.“ Thema. Umgekehrt läuft Österreich ohne Reformen Gefahr, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Nichteinhaltung der Menschenrechtskonvention verurteilt zu werden. Der Grund ist, dass Maßnahmeunterbringungen nicht als Strafe, sondern wegen krankheitsbedingter Gefährlichkeit erfolgen. Für vorbeugende Freiheitsentziehungen, die keine Strafe sind, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht als Reaktion auf die Rechtssprechung des EGMR bereits im Jahr 2011 festgestellt, dass sie „in deutlichem Abstand zum Strafvollzug so auszugestalten sind, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt“. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Maßstab auch für den österreichischen Maßnahmevollzug gilt. Gleichzeitig ist klar, dass die derzeitige Realität des Maßnahmevollzugs diesem Maßstab widerspricht. Die Überführung aller zurechnungsunfähigen Insassinnen oder Insassen als Patientin oder Patient in die Psychiatrie wäre ein großer Veränderungsschritt. Davon abgesehen gibt es nicht „die eine große Maßnahme“ sondern viele kleine Schritte, die den Maßnahmevollzug insgesamt nachhaltig verändern würden. Benötigt werden Reformwille, Ausdauer, Beharrlichkeit, Energie, Steuerung und die Zusammenarbeit sowie Vernetzung der beteiligten Akteure. Ziel muss sein, die Zahl der Untergebrachten wieder dorthin zu senken, wo wir im Jahr 2000 schon einmal waren. Das würde eine Halbierung bedeuten. Aufgrund der menschenrechtlichen Sensibilität durch die Möglichkeit einer zeitlich unbegrenzten Anhaltung und damit einer Maßnahmeunterbringung bis zum Tod sind Sachorientierung und verantwortungsvolle Mitarbeit eine wünschenswerte Grundhaltung. – [email protected] – Dr. Christoph Koss, NEUSTART Geschäftsführer Sozialarbeit und Organisation der Einrichtungen ENTWICKLUNG DER MASSNAHMEUNTERBRINGUNG Seit dem Jahr 2000 hat sich die Anzahl jener Personen, die in einer Maßnahme nach § 21 StGB untergebracht sind, ungefähr verdoppelt (zum Stichtag 1.1.2015 waren insgesamt 851 Personen im Maßnahmevollzug untergebracht oder nach § 429 Abs. 4 StPO vorläufig angehalten). Das ist sowohl auf die steigende Zahl eingewiesener Personen als auch auf die längere Anhaltedauer zurückzuführen. In den vergangenen zehn Jahren wurden überdies zunehmend Personen wegen minderschwerer Kriminalität in einer Maßnahme untergebracht. Rund die Hälfte aller nach § 21 Abs. 1 StGB untergebrachten Personen befindet sich in öffentlichen Krankenanstalten; dafür muss das Bundesministerium für Justiz den Privatpatiententarif bezahlen. Rund zwei Drittel aller nach § 21 Abs. 2 StGB untergebrachten Personen befinden sich in Justizanstalten. 11 ÖSTERREICH report 2015 LERNEN, ES BESSER ZU MACHEN 30 Jahre gibt es in Österreich den Tatausgleich. Seit 1985 haben 170.000 Konfliktregelungen mit rund 300.000 Opfern stattgefunden. 2014 gab es fast 6.000 Zuweisungen. Vorbildfunktion. Die Teilnahme an dieser Art der Konfliktregelung ist immer freiwillig und setzt die Zustimmung des Opfers voraus. Meist weisen die Staatsanwaltschaften nach Körperverletzungen, Drohungen, Raufhandel, Nötigungen oder Sachbeschädigungen zum Tatausgleich zu. Dass die oder der Beschuldigte Verantwortung übernimmt, Schaden wiedergutmacht und sich entschuldigt sind die bekanntesten Eckpunkte bei dieser Form der Konfliktregelung. „Im Tatausgleich können Jugendliche anhand eines negativen Beispiels, wo eine Auseinandersetzung eskaliert ist, lernen, wie sie künftig besser mit Konflikten umgehen: erkennen, wann sie heißlaufen und wie sie die Notbremse ziehen. Im Tatausgleich haben sie im Gespräch das direkte Feedback des Opfers und „Opfer werden gehört, erleben, wie es sich anfühlt, Opfer zu ihre Interessen werden sein. Das wirkt, weil berücksichtigt.“ sie dadurch oft auch an eigene Opfererlebnisse andocken können. Dieser Lerneffekt ist – neben anderen – sehr eindringlich.“ (Mag. Bernhard Glaeser, Leiter Sozialarbeit). Die Rückfallsrate nach einem Tatausgleich ist mit unter 15 Prozent bei keiner anderen Reaktionsform so niedrig; bei einem erfolgreichen Tatausgleich nach häuslicher Gewalt liegt die Rückfallquote nach drei Jahren sogar bei unter zehn Prozent, wie ein Forschungsbericht des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie aus 2008 zeigt. Auch die Zufriedenheit wurde von über 83 Prozent mit sehr gut und gut bewertet. Österreich gilt als Motor in der Entwicklung wiedergutmachender Modelle. Vom Modellversuch für Jugendliche ausgehend hat sich der Tatausgleich auch für Erwachsene etabliert. Die von NEUSTART entwickelte und standardisierte Vorgangsweise im Tatausgleich hat europaweit 12 Ein Spezialgebiet von NEUSTART ist der Tatausgleich bei häuslicher Gewalt. Mit seinem auf diesen Gewaltbereich angepassten methodischen Vorgehen schafft es der Tatausgleich, gegenüber herkömmlichen Gerichtsverfahren mehr Zufriedenheit gerade bei den Opfern herzustellen. Die Interessen der Opfer werden dadurch gewahrt, dass ein Tatausgleich nur in jenen Fällen möglich ist, in denen der oder die Beschuldigte (25 Prozent der Beschuldigten sind weiblich) einsichtig ist und bereit, die Verantwortung für seine oder ihre Gewalttätigkeit zu übernehmen. Besonders weibliche Opfer fühlen sich nach einem Tataus- gleich gestärkt und unterstützt. In vielen Fällen geht es nicht nur darum, Gewalt nachhaltig zu stoppen und an einer gemeinsamen gewaltfreien Zukunft zu arbeiten; oft ist es Aufgabe der Konfliktreglerin und des Konfliktreglers, die bei häuslicher Gewalt in Co-Mediation zur Seite stehen, den Rahmen für eine eskalationsfreie Trennung gestalten zu helfen. Gewaltopfer haben jedenfalls Anspruch auf Prozessbegleitung und können von bis zu drei Personen begleitet werden (Rechtsanwältin, Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums, Vertrauensperson). Zusätzliche Verbindlichkeit entsteht durch festgelegte Beobachtungszeiträume, in denen die beim Tatausgleich getroffenen Vereinbarungen überprüft werden. – db – SO FUNKTIONIERT DER TATAUSGLEICH Im Tatausgleich werden die Beteiligten ausführlich über ihre Möglichkeiten informiert. Wenn sie bereit sind, sich auf das Verfahren einzulassen, werden mit Beschuldigten und Opfern zuerst in Einzelgesprächen der Vorfall, dessen Hintergründe, dessen Auswirkungen und schließlich Möglichkeiten der Bereinigung besprochen. Wenn alle offenen Fragen geklärt sind und die Beteiligten über ihre Möglichkeiten und Ansprüche informiert sind, sind die Voraussetzungen für ein gemeinsames Mediationsgespräch gegeben. Hier werden unter Anleitung von Konfliktreglerinnen und Konfliktreglern gemeinsam der Vorfall und dessen Bereinigung erörtert. In den meisten Fällen kommt es auch zu einer finanziellen Schadenswiedergutmachung. Bleibenden Eindruck jedoch hinterlassen regelmäßig die persönlichen Gespräche der Beteiligten über Motivation und Gefühle. Opfer wollen wissen, warum gerade sie Opfer geworden sind und möchten erleben, dass der Beschuldigte ehrlich seinen Fehler einsieht. Klare Verantwortungs- übernahme beim Beschuldigten ist die Voraussetzung für einen gelungenen Tatausgleich. Eine ehrliche Entschuldigung und die persönliche Bereinigung des Vorfalls ermöglichen allen Beteiligten, einen Schlussstrich unter den Vorfall ziehen zu können. In über 70 Prozent der Fälle kann nach gelungenem Tatausgleich das Strafverfahren eingestellt werden. [email protected] | Leiter Zentralbereich Sozialarbeit 13 ÖSTERREICH report 2015 ANGEBOT AN BEDÜRFNISSE ANPASSEN Von der Bewährungshilfe hat man ein bestimmtes Bild – meist eines aus amerikanischen Filmen. In Österreich hat die Bewährungshilfe eine Tradition ursprünglich aus ehrenamtlicher Arbeit, die in fast 60 Jahren professionalisiert und methodisch weitläufig verfeinert wurde. Ein 23-Jähriger, der betrunken nach erlittenen Faustschlägen seinen Gegner mit dem Messer bedrohte und zusätzlich dessen Auto zerkratzte: Da vorbestraft, erhielt er wegen gefährlicher Drohung und Sachbeschädigung ein Jahr bedingte Verurteilung, eine Geldstrafe, „Bewährungshilfe hat verBewährungshilfe schiedene Herangehenswei- und Anti-Gewaltverordnet. sen und ein breites Angebot.“ Training Ein 29-Jähriger, der Drogen schmuggelte und eine Indoor-Plantage betrieb: zehn Monate bedingt, Bewährungshilfe, Psychotherapie. Ein 49-Jähriger, der Cannabis anbaute und sich vor Gericht wegen Suchtgifthandels verantworten musste: sechs Monate Haft und Bewährungshilfe. Das sind einige Urteile, über die an einem 14 einzigen Tag in Tageszeitungen berichtet wurde. Sie zeigen einen kleinen Ausschnitt der Bandbreite an Delikten und Altersgruppen, mit denen es die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von NEUSTART zu tun bekommen. Jugendliche, Erwachsene, Männer und Frauen, Kurzstrafige und Lebenslange gehören zu den Betreuten. Von Vermögensdelikten, Körperverletzung über Gewalt- bis Sexualstraftaten reicht die Bandbreite der Delikte. Das zeigt schon, dass man nicht alle über einen Kamm scheren kann und dass auch die Bandbreite in der Betreuung groß sein muss. Mit fast 60-jähriger Erfahrung hat die österreichische Bewährungshilfe einen speziellen Weg und ein komplexes Methodenrepertoire entwickelt, um die vielfältigen Bedürfnisse ihrer Klientel abzudecken. www.neustart.at Bewährungshilfe kann statt einer Haftstrafe oder bei einer bedingten Entlassung aus der Haft angeordnet werden. Sie kann aber auch als vorläufige Bewährungshilfe „Bewährungshelferinnen und angeordnet werden; dadurch kann -helfer sind zur VerschwieUntersuchungshaft vermieden werden. genheit verpflichtet.“ Auch als diversionelle Maßnahme kann Bewährungshilfe verhängt werden, wenn sich Beschuldigte während einer Probezeit zwischen einem und zwei Jahren von der Bewährungshilfe betreuen lassen. Die Professionalität der Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer liegt darin, anhand eines strukturierten Prozesses nicht nur auf die Risiken zu schauen, die von den von ihnen betreuten Menschen ausgehen. Besonders wichtig ist es, auch die Ressourcen zu identifizieren und zu fördern, also die Möglichkeiten, die jemand hat, um auf einen straffreien Weg zu kommen und dort zu bleiben. Je nachdem, wie gefährdet jemand ist, wird mit Einzelkontakten intensiv betreut oder es werden größere Kontaktintervalle angeboten. Wenn sich Defizite im sozialen Bereich zeigen werden spezielle Programme wie Anti-GewaltTrainings oder Gruppenarbeit eingesetzt. Bei der Wohnbetreuung wird dabei geholfen, zu lernen, wie man eigenständig und selbstverantwortlich wohnt. Eine erfolgreiche Methode ist auch die Sozialnetz-Konferenz, die das Umfeld der Betreuten mit einbezieht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NEUSTART sind besonders geschult, Probleme zu lösen und Menschen in schwierigen Situationen zu unterstützen: bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, beim Kontakt mit Ämtern und Behörden und vor allem bei der persönlichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das Delikt zu thematisieren ist wichtige Voraussetzung dafür, dass daran gearbeitet werden kann, aus der eigenen Endlosschleife Kriminalität auszusteigen, weil man andere Reaktionsmöglichkeiten für Krisensituationen gelernt hat. Oft verlieren Menschen wegen ihrer Straftat den Kontakt zur Familie oder Freunden, ihre Arbeit und ihre Wohnung. Die Bewährungshelferinnen und -helfer bieten Vertrauen, Halt und Unterstützung an. Durch menschliche Anerkennung geben sie emotionalen und sozialen Rückhalt. Mit dieser Hilfe kann das neue Leben geplant und begonnen werden. Die Klientinnen und Klienten müssen dabei allerdings mitarbeiten: Termine einzuhalten, sich mit dem eigenen straffälligen Verhalten auseinanderzusetzen und sich an verhängte Auflagen zu halten, gehört dazu. Schließlich muss jeweils nach sechs Monaten und am Ende der Betreuung an das Gericht berichtet werden, ob alle Bedingungen eingehalten wurden. Mit Unterstützung von NEUSTART bleiben während der Betreuung bei (teil)bedingter Strafnachsicht 55 Prozent straffrei; nach Betreuungsabschluss bei bedingter Entlassung aus einer Freiheitsstrafe sind es sogar 62 Prozent. Dass neben den hauptamtlichen über 1.000 ehrenamtliche Bewährungshelferinnen und -helfer die Integration in die Gesellschaft unterstützen, ist für NEUSTART wichtig, weil dieses zivilgesellschaftliche Engagement zeigt, dass Kriminalität alle etwas angeht und jede und jeder eine zweite Chance bekommen soll. – db – SO FUNKTIONIERT DIE BEWÄHRUNGSHILFE Bei der Bewährungshilfe wird konzentriert daran gearbeitet, Rückfälle zu vermeiden. Täterinnen und Täter müssen sich intensiv mit ihrer Straftat auseinandersetzen. Alternatives und konstruktives Verhalten kann gelernt und trainiert werden. Es ist entscheidend, dass jede Klientin und jeder Klient ein maßgeschneidertes Betreuungsangebot bekommt. Dieses fördert die Ressourcen der Person und minimiert die jeweiligen Risikofaktoren. [email protected] | Leiter Zentralbereich Sozialarbeit 15 PARAGRAFENKIPFERL v.l.n.r.: Justizminister o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter, NEUSTART Geschäftsführer Alfred Kohlberger MAS, Ankerbrot-Vorstand Peter Ostendorf, NEUSTART Geschäftsführer Dr. Christoph Koss Bis Ende November 2014 konnte das ANKER Paragrafenkipferl in allen ANKER Filialen um 1,29 Euro gekauft werden. Bei durchschnittlich 500 verkauften Stück pro Tag erhielt NEUSTART zehn Cent von jedem verkauften Stück. Die Initiative nach einer Idee von Justizminister Brandstetter unterstützt straffällige Jugendliche in Notlagen. Anlässlich der Pressekonferenz am 18. September 2014, bei der die Aktion vorgestellt wurde, rief Justizminister Brandstetter zur Beteiligung auf: „Mit dem Kauf eines Paragrafenkipferls kann jede und jeder von uns einen kleinen Beitrag leisten, damit Jugendliche den Absprung aus der Kriminalität schaffen.“ Die Firma Ankerbrot formte und produzierte die Kipferln und verkaufte sie in ihren rund 120 Filialen mit Schwerpunkt in Wien. Das Paragrafenkipferl wurde mit einem Theken-Aufsteller und einem kleinen Informationsblatt beworben. AnkerbrotVorstand Peter Ostendorf über die Motivation von Ankerbrot: „Als Lehrlingsausbildner investieren wir bewusst in die Zukunft junger Menschen. Deshalb waren wir sofort ganz Ohr, das Projekt NEUSTART, das jungen Menschen tatkräftig beim Wiedereinstieg in die Gesellschaft unter die Arme greift, zu unterstützen“. NEUSTART Geschäftsführer Christoph Koss erzählt aus der Praxis: „Jugendkriminalität schafft man nicht durch Drohgebärden und Wehklagen aus der Welt. Hier braucht es Einfallsreichtum, Entschlossenheit und Tatkraft. NEUSTART ist überall dort aktiv, wo die Justiz die Umsetzung neuer Wege erprobt. Die Erfolge bestätigen diese gemeinsamen Initiativen.“ Von Mitte September bis Ende November 2014 wurden rund 50.000 Stück verkauft – das bedeutete bei zehn Cent des Verkaufspreises pro verkauftem Kipferl einen Spendenscheck von 5.000,- Euro für straffällige Jugendliche. Bisher erhielten rund 20 Jugendliche Unterstützung in Form von Lebensmittelgutscheinen, Fahrtkosten, Winterbekleidung, für medizinische Untersuchungen, Dokumente oder Haushaltsgeräte. Für jede und jeden Einzelnen war es motivierend, zu erleben, dass es Menschen gibt, die an sie glauben und ihnen helfen. – db – 1.567 MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER Bei NEUSTART arbeiteten 2014 hauptberuflich 563 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Rund 62 Prozent davon sind Frauen. Von gesamt 1.004 Ehrenamtlichen sind 610 Frauen, das sind rund 61 Prozent. Diese Vielfalt ist für die Qualität der Betreuungsarbeit wichtig, wenngleich bei unserer Klientel die Männer überwiegen. Wo es möglich ist, ohne den Lesefluss zu sehr zu behindern, werden in den Texten beide Geschlechter berücksichtigt. Ansonsten werden geschlechtsneutrale Bezeichnungen gewählt. – db – Impressum Medieninhaber, Hersteller: NEUSTART, Castelligasse 17 I 1050 Wien Redaktion und Produktion: Mag. Dorit Bruckdorfer (db) I [email protected] Fotos: Sissi Furgler, Felicitas Matern, NEUSTART, Johannes Puch Layout: Werbeagentur Rubikon I 8010 Graz Grafische Gestaltung: Wolfgang Grollnigg I 1210 Wien Druck: GröbnerDruck I 7400 Oberwart report 2015 © BKA / Georg Stefanik ÖSTERREICH
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