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ÖSTERREICH
report 2015
GEMEINSAM AN ZUKUNFT ARBEITEN
Foto: MBJ/Elia Zilberberg
Der Justizminister möchte
Jugendlichen das Gefängnis
ersparen. Seine Vorhaben:
gezielt betreuen, deradikalisieren und das System qualitativ
verbessern.
Justizminister o. Univ.-Prof. Dr.
Wolfgang Brandstetter im Interview mit NEUSTART Redakteurin Dorit Bruckdorfer.
NEUSTART: Wie sehen Ihre
Überlegungen zur Radikalisie-
rung Jugendlicher (Stichwort
Dschihadismus) innerhalb und
außerhalb von Haft aus? Wie
soll man damit umgehen? Ist
das ein wichtiges Handlungsfeld für die Justiz?
Wolfgang Brandstetter: Unser
Ziel ist es, inhaftierte radikalisierte Insassinnen und Insassen
soweit wie möglich zu deradikalisieren – egal um welche
Form der Radikalisierung es
sich handelt. Dabei brauchen
gerade Jugendliche besondere Betreuung. Das Gute ist,
dass bei dieser Zielgruppe die
Chancen groß sind, auf ihre
INHALT
Opferorientierung
Seite 3
Jung, schwierig, radikal
Seite 4
40.497 Klientinnen und
Klienten Seite 8
Zivilgesellschaftlich engagieren Seite 10
Reformen im Maßnahmevollzug Seite 11
Beste Praxis Tatausgleich
Seite 12
Profis der Bewährungshilfe
Seite 14
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report 2015
Persönlichkeitsentwicklung positiven Einfluss zu
nehmen. Mittels spezieller Deradikalisierungsprogramme sollen sie dabei individuell auf ihre
Haftentlassung vorbereitet werden. So sollen
beispielsweise mittels Bildungsarbeit die Toleranz
gegenüber anderen Kulturen und Religionen erzeugt und die für die Wahrnehmung der Bürgerpflichten nötigen Kenntnisse und Kompetenzen
vermittelt werden. Zusätzlich setzen wir auf eine
enge Betreuung durch ausgewählte muslimische
Seelsorger, die auch als Multiplikatoren zur Verfügung stehen und andere Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter beratend unterstützen.
Was hat sich nach der Task Force
Jugendliche getan?
Die Task Force hat tolle Arbeit geleistet. Mit
den von uns gesetzten Maßnahmen haben wir
bereits erste Erfolge erzielt und die Zahl inhaftierter Jugendlicher deutlich gesenkt. Grundsätzlich
ist es unser oberstes Ziel, zu vermeiden, dass
Jugendliche in Untersuchungshaft kommen.
Das wollen wir einerseits durch die bundesweiten Sozialnetz-Konferenzen erreichen. Andererseits können Jugendliche seit Jahresbeginn in
Wohngemeinschaften als Alternative zur Untersuchungshaft untergebracht werden. Zusätzlich
wollen wir mit der Einführung einer österreichweiten Jugendgerichtshilfe die gegenwärtige
Situation verbessern. Seit Jänner 2015 haben
wir hier den Probebetrieb in Graz aufgenommen. Im Laufe des Jahres soll die bundesweite
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Ausrollung erfolgen. Abseits davon werden wir
die Qualität des Personals steigern, indem wir
beispielsweise Sozialpädagogen einstellen.
Damit ist die Arbeit der Task Force jedoch nicht
beendet: Die weiteren Entwicklungen im Bereich
Jugendkriminalität und Jugendvollzug werden
in einem „Netzwerk Jugendvollzug“ weiterverfolgt. Dieses trifft sich zweimal jährlich, setzt den
Dialog fort und leistet damit einen Beitrag zur
Qualitätssicherung im Jugendstrafvollzug.
Thema Maßnahmevollzug: Welche Erwartungen
haben Sie bezüglich der Mitwirkung von
NEUSTART?
Das Bundesministerium für Justiz hat
NEUSTART damit beauftragt, das Modell Sozialnetz-Konferenz im Maßnahmevollzug für die
Dauer von 16 Monaten zu erproben. Damit wollen wir die Zahl der Entlassungen steigern, bedingte Maßnahmen fördern und die Anhaltedauer verkürzen. Aufgabe der Sozialnetz-Konferenz
ist es dabei, einen Zukunftsplan mit der Klientin
oder dem Klienten und ihrem oder seinem sozialen Umfeld zu erarbeiten. Das erfolgt gemeinsam
mit professionellen Institutionen. Mit dem Plan
sollen Justizanstalten und Gerichte in weiterer
Folge bessere Entscheidungen treffen können –
sei es für eine bedingte Nachsicht der Maßnahme oder eine bedingte Entlassung. Parallel zum
Probebetrieb in Graz wird eine Begleitforschung
durch die Universität Wien durchgeführt, die mit
April des Jahres 2015 startet.
www.neustart.at
KONKRET HELFEN
BEI HÄUSLICHER GEWALT
Das gemeinsame Anliegen von Opferschutzeinrichtungen und NEUSTART ist es, Gericht und
Staatsanwaltschaft zu sensibilisieren, verstärkt
und frühzeitig Betreuungs- und Therapiemaßnahmen für Täter anzuordnen.
DIE BEDÜRFNISSE
DES OPFERS
WAHREN
Für Opfer muss es flächendeckende Unterstützung geben.
NEUSTART betreibt Opferschutz durch Täterarbeit. Mit
Bewährungshilfe, Tatausgleich,
Anti-Gewalt-Training und anderen Initiativen.
BEWÄHRUNGSHILFE KOOPERIERT
MIT FRAUENORGANISATIONEN
Für Delikte häuslicher Gewalt gibt es seit Dezember 2014 österreichweit Kooperationsvereinbarungen mit den Opferschutzeinrichtungen,
die im Bereich von Gewalt an Frauen tätig sind
(Gewaltschutzzentren, Interventionsstellen,
Frauenhäuser). Ziel dieser Kooperation ist eine
gemeinsame Gefährlichkeitseinschätzung und
Sicherheitsplanung, um wirksame und abgestimmte Maßnahmen der Rückfallsprävention zu
setzen. Dazu gehört auch die laufende Abstimmung der Betreuungsmaßnahmen.
TATAUSGLEICH WIRD
VON OPFERN GENUTZT
Der Bereich Tatausgleich entspricht per se dem
Prinzip der Opferorientierung, da er die einzige
Diversionsmaßnahme darstellt, bei der die Interessen des Opfers im Sinne des § 206 Strafprozessordnung explizit erkundet und berücksichtigt
werden. Im Wesentlichen ist ein gelungener
Tatausgleich nur möglich, wenn die Zustimmung
des Opfers vorliegt. Besondere Vorsichtsmaßnahmen in Bezug auf Opferschutz werden bei
Gewalt in Partnerbeziehungen sowie bei Stalking
getroffen (bei letzterem wird ausschließlich
getrennt bearbeitet). Standards sind in diesen
Fällen: Spezielles Augenmerk auf Gewaltdynamik, Nachhaltigkeit, Beobachtungszeiträume,
flankierende, über den Tatausgleich hinausgehende Unterstützungsangebote wie verbindliche
Vermittlung zu Therapien oder Anti-Gewalt-Trainings und systematische Risikoeinschätzung.
Darüber hinaus arbeiten in diesen Fällen grundsätzlich eine Konfliktreglerin und ein Konfliktregler, um jedenfalls eine weibliche Ansprechpartne-
Ein Einstellung des Verfahrens nach §191 Strafprozessordnung, Geldstrafe oder bedingte Verurteilungen ohne Weisungen und Auflagen sind
keine ausreichende Reaktionsform auf häusliche
Gewalt. Eine flächendeckende Unterstützung
für Opfer muss gewährleistet sein. Im gesamten
Strafverfahren ist den Interessen und Bedürfnissen von Opfern in größtmöglichem Ausmaß
zu entsprechen, insbesondere dem Bedürfnis,
wahrgenommen und in ihren Interessen ernst
genommen zu werden.
In der Entwicklung sozialarbeiterischer Angebote orientieren wir uns grundsätzlich an der
Verknüpfung von täterorientierten, rehabilitativen
und opferorientierten, wiedergutmachenden
Grundsätzen. Bei den Deliktgruppen häusliche
Gewalt und sexuell motivierte Übergriffe steht
der Schutz der Opfer im Vordergrund. Daher
sprechen wir in diesen Bereichen von „opferschutzorientierter Täterarbeit“ mit folgenden
Prinzipien: Die Bedürfnisse der Opfer werden
ernst genommen; Stopp der Gewalt ist Voraussetzung für einen Dialog; der Täter ist konsequent gefordert, sich zu seiner Tat zu bekennen
und Verantwortung zu übernehmen; wenn das
Opfer es wünscht, wird materielle und emotionale Wiedergutmachung thematisiert; mit dem
Täter wird das Delikt bearbeitet und konstruktive
Handlungsalternativen werden entwickelt.
[email protected] | Leiterin NEUSTART Steiermark
[email protected] | Leiterin Zentralbereich Sozialarbeit
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ÖSTERREICH
report 2015
rin für die meist weiblichen Opfer zu haben. Der
Tatausgleich ist nur möglich, wenn das Verhalten
des Beschuldigten (Nachstellung, Drohungen,
Gewalt) sofort beendet wird. Forschungsergebnisse belegen nicht
nur, dass Opfer
„Opfer werden gestärkt,
im Tatausgleich in
großem Ausmaß zuTäter bekommen Impulse,
frieden sind und sich
sich anders zu verhalten.“
gestärkt fühlen (insbesondere auch in
Fällen von Gewalt in Partnerbeziehungen), sondern dass die Beschuldigten auch Impulse für
positive Verhaltensänderungen aufnehmen und
integrieren. Der Tatausgleich hat die geringste
Rückfallsquote (unter zehn Prozent) im Vergleich
zu allen anderen Sanktionsmaßnahmen.
ANTI-GEWALT-TRAINING
REKONSTRUIERT DIE TAT
Das intensive Gruppentraining wird von zwei
Personen (Trainerin und Trainer) durchgeführt,
umfasst 60 Einheiten und dauert rund neun
Monate. In allen Anti-Gewalt-Trainings ist eine
exakte Tatrekonstruktion, Verantwortungsübernahme, Auflösung von Neutralisierungstechniken
und die Konfrontation mit der Opferperspektive
Inhalt des Trainings.
ELEKTRONISCH ÜBERWACHTER
HAUSARREST
Ein elektronisch überwachter Hausarrest ist
ohne Zustimmung der Mitbewohnerinnen und
Mitbewohner nicht möglich. Daher werden die
Angehörigen bereits in der Erhebungsphase sensibilisiert, welche Auswirkungen es haben kann,
wenn eine Mitbewohnerin oder ein Mitbewohner
die Fußfessel bekommt. Das hat unter anderem
zur Folge, dass sie oder er im Konfliktfall nicht
spontan die Wohnung verlassen kann. Kam es in
der Vergangenheit bereits zu häuslicher Gewalt,
wird mit Opferschutzeinrichtungen kooperiert.
WAS TUN MIT SCHWIERIGEN
JUGENDLICHEN?
Jugendliche in der Pubertät
suchen: Sinn, Werte, Orientierung. Abweichendes Verhalten,
Kriminalität, extreme Entwicklungen kann es da auch geben.
Altersbedingt endet diese Phase meist von selbst.
Wie lange ist man jugendlich und wie soll auf
Jugendkriminalität reagiert werden? Ob Graffiti
Kunst oder Schaden sind hängt teilweise davon
ab, wo gesprayt wird. Wenn Graffiti unerwünscht
sind und als Sachbeschädigung gelten, kann
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das bei einem Schaden von über 50.000,- Euro
gravierende Folgen für junge Menschen haben.
Der mögliche Strafrahmen beträgt bei 14- bis
18-Jährigen zwischen null und 30 Monaten Haft;
war man zum Zeitpunkt der Tatbegehung schon
18 Jahre alt und unter 21 könnte man zwischen
null und fünf Jahren Haft ausfassen. Ab dem 21.
Lebensjahr gibt es ein Mindestmaß von sechs
Monaten, maximal sind fünf Jahre Haft drin.
Ist man mit der Volljährigkeit tatsächlich schon
so reif, dass unterschiedlichen Reaktionen auf
ein- und dasselbe straffällige Verhalten passend
sind? In Österreich gelten 14- bis 17-jährige
Menschen als Jugendliche, 18- bis 21-Jährige
sind „junge Erwachsene“. NEUSTART spricht
sich in seinen kriminalpolitischen Positionen für
www.neustart.at
den Ausbau bereits bestehender Spezialnormen
von Jugendlichen auch auf junge Erwachsene
aus. Damit soll die Inhaftierung von Jugendlichen
und jungen Erwachsenen verringert werden.
Würde die Sozialnetz-Konferenz gesetzlich verankert und gälte sie auch für junge Erwachsene
(derzeit nur für Jugendliche), gäbe es weniger
Untersuchungshaft. Ein Ergebnis der Task Force
Jugendliche (die nach dem Missbrauch eines
Jugendlichen in Untersuchungshaft vom Justizminister einberufen wurde) ist der Einsatz von
Sozialnetz-Konferenzen. Seit Oktober 2014 gibt
es sie flächendeckend in ganz Österreich.
„Die Erfolge können sich sehen lassen. Immerhin
sind die Inhaftierungen bei Jugendlichen sowohl
in Untersuchungshaft als auch in Strafhaft in den
letzten beiden Jahren um ein Drittel zurückgegangen“ weiß Dr. Christoph Koss, Geschäftsführer von NEUSTART. Ein wesentlicher
Erfolgsfaktor dabei ist die Kooperation mit den
Jugendrichterinnen und Jugendrichtern. Sozialnetz-Konferenzen aktivieren die Ressourcen von
SozialMarie – erster Platz für die Sozialnetz-Konferenz von NEUSTART
Jugendlichen. Hochfrequente Bewährungshilfe
ist der erste Schritt, um die Haft zu vermeiden.
In Kombination mit einer Sozialnetz-Konferenz
konnten zwischen August 2013 und November
2014 zwei Drittel der Jugendlichen entlassen
werden.
Bei hochgefährdeten Jugendlichen wird ein
Maßnahmenplan erstellt – funktioniert er nicht,
müssen sie wieder in Untersuchungshaft. Bei 87
Jugendlichen war die Entlassung erfolgreich.
– [email protected] (db) –
MIT 22 SCHON ERWACHSEN?
Die Phase „Emerging Adult“, ein Begriff aus der
Jugendentwicklungspsychologie, ist laut Werner
Leixnering gleichzusetzen mit dem Begriff der
Spätadoleszenz, von der man glaubt, dass sie
frühestens mit 22 Jahren abgeschlossen ist –
wenn nicht noch später.
Für die Haftsituation bedeutet das, dass junge
Erwachsene bis zum 21. Lebensjahr nicht anders als Jugendliche angesehen werden sollten,
Dr. Werner Leixnering, Kinder- und Jugendpsychiater,
Sachverständiger
weil sie genauso wie Jugendliche noch nicht
die Reife haben, die man einem Erwachsenen
zumessen würde. Sozialarbeiterische und therapeutische Angebote bieten, meint Leixnering,
im Gegensatz zur Haft Gelegenheit, Fähigkeiten
weiter voranzutreiben. Er findet es „kontraproduktiv, wenn jemand lange in Haft ist, weil er
hier genau in der Phase ist, wo er sich weiterentwickeln muss“. Etwa um eine angemessene
soziale Gruppe zu finden, Verantwortung als
Staatsbürger auszuüben, in den Beruf einzusteigen, den eigenen Haushalt zu organisieren und
vieles mehr bis zur Familiengründung.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es im
Jugendgerichtsgesetz seit langem den Begriff
„Heranwachsender“ (in der Jugend-Forensik
geht man bei der Strafrechtsbemessung von
diesem Begriff aus). Statt dem in Österreich
geltenden Terminus „junge Erwachsene“ hielte
es Leixnering für sinnvoller „nicht von jungen
Erwachsenen, sondern von Heranwachsenden
zu sprechen“.
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ÖSTERREICH
report 2015
NETZWERKE
FÜR JUNGE
DSCHIHADISTEN
Bisher sollen etwa 200 Personen aus Österreich
nach Syrien ausgereist sein, um in den sogenannten Dschihad zu ziehen. 70 Personen sollen
zurückgekehrt sein. Rund 30 Dschihadisten sind
in Haft. In letzter Zeit wurden einige Jugendliche,
die Richtung Syrien aus Österreich ausreisen
wollten, noch in Österreich gestoppt und teilweise in Untersuchungshaft genommen. Besonders junge Menschen, die mit dem Dschihad
sympathisieren, werden als gefährdet eingestuft,
sich im Gefängnis zu radikalisieren. In Österreich
gibt es für etwa 1.700 Gefangene muslimischen
Glaubens 46 islamische Gefängnisseelsorger.
Die meisten arbeiten hauptberuflich als Religionslehrer und ehrenamtlich als Seelsorger im
Gefängnis. Das nötige Vertrauen, um Aufklärung
und Information zu akzeptieren, erlangen am
ehesten diese Imame – allerdings manchmal erst
nach vielen Monaten Kontakt- und Gesprächsangebot. Deshalb ist es wichtig, zusätzliche
Angebote zu haben, die früher greifen.
Bei NEUSTART differenziert man zwischen
Sympathie für den Dschihad und tatsächlichen
Dschihadisten. Bisher habe man es, so Jürgen
Kaiser MBA, der den Zentralbereich Sozialarbeit
leitet, vorrangig mit
Sympathisantinnen
„Meist merken die Eltern
und Sympathisanten
viel zu spät, was mit ihrem
zu tun gehabt. Bei
der Betreuung dieser
Kind los ist.“
Jugendlichen gehe
man so vor wie bei
jeder Form von Radikalisierung. „Wie bei allen
extremen Formen schauen wir uns einmal den
Hintergrund an. Meist zeigen sich Defizite und
Perspektivlosigkeit. Radikalisierung zeigt sich oft
in einem Schwarz-Weiß-Denken, in der Polarisierung von Gut und Böse. Radikalisierte Jugendliche bekommen vermittelt, dass sie erleuchtet
sind und zu den Guten gehören. Da rutschen
auch Jugendliche rein, die kein religiöses Vorleben haben.“
Meist sind die Eltern ahnungslos und ratlos, wo
und wie ihr Kind radikalisiert wurde. Der Kinderund Jugendanwalt Mag. Ercan Nik Nafs hält das
für glaubwürdig. Man müsse davon ausgehen,
dass salafistische Gruppen in höchstem Maß
professionell vorgehen und dass diese den Jugendlichen einschärfen, die Eltern nichts merken
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zu lassen, bis sie sich selbst outen. Vor allem
bei Konvertiten und besonders bei Mädchen
zeige sich, dass sie bis zu einem gewissen
Zeitpunkt alles geheim halten – etwa bis sie
durch Heirat einen neuen Namen annehmen.
Dann erst erführen die Eltern etwas davon oder
erst, wenn die Polizei sie an EU-Außengrenzen
aufhalte. Nik Nafs: „Wir kennen auch Fälle von
jungen Burschen, wo die Eltern das sehen – sie
ändern ihre Essgewohnheiten und ihr Outfit, der
Freundeskreis verändert sich, sie hören andere
Musik – es gibt da viele auch sichtbare Zeichen.
Es ist nur die Frage, ob die Eltern das erkennen
und verstehen.“ Anders als bei radikalisierten
Neonazis, wo es langjährige Erfahrungen mit
dieser Form der Radikalisierung gibt, gibt es in
Österreich mit dem Dschihadismus noch keine
Erfahrungen. Rund 50 Kolleginnen und Kollegen
von NEUSTART Wien haben deshalb ein Seminar initiiert, um sich Grundkenntnisse über den
Islam anzueignen. Dr. Almir Ibric von der Wiener
Magistratsabteilung 17 (Diversity Management)
schulte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Tag lang. In weiteren Veranstaltungen sollen
so viele Kolleginnen und Kollegen wie möglich
ihr Wissen multiplizieren.
Ercan Nik Nafs berichtet, dass in Wien alle Stellen, die mit Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen arbeiten (Magistratsabteilungen
10, 11, 13, 17, Stadtschulrat für Wien, AMS
Wien Jugendliche, Waff, NEUSTART, Beratungsstelle Extremismus und Polizei), im Wiener
Netzwerk für Deradikalisierung und Prävention
zusammengebracht wurden „mit den Zielen,
sowohl im Einzelfall die betroffenen Jugendlichen
und ihre Familien bestmöglich zu unterstützen,
als auch umfassende Fortbildungsangebote für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichsten Berufsgruppen anzubieten.“
– db –
www.neustart.at
ALLES ANDERE GILT ALS FEINDLICH
NEUSTART Redakteurin Dorit
Bruckdorfer fragte den Kinderund Jugendanwalt Ercan Nik
Nafs nach seinen Erfahrungen
mit dschihadistisch radikalisierten Jugendlichen
gung angehört. Den Jugendlichen wird die Möglichkeit, ein neues Leben mit „utopischen“ Zielen,
ein Kalifat zu gründen und zu vergrößern, in
Aussicht gestellt. Es wird ihnen vermittelt, dass
sie die Welt verändern und die völkerrechtlichen
Grenzen im Nahen Osten verschieben können,
die sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges
kaum verändert haben.
Welche Angebote brauchen Jugendliche,
welches Handlungsrepertoire muss man
ihnen anbieten?
Mag. Ercan Nik Nafs,
Kinder- und Jugendanwalt,
hat 20 Jahre Erfahrung in
der offenen Jugendarbeit
und gilt als Experte in
Kinder- und Jugendangelegenheiten.
NEUSTART: Wie kommt es Ihrer Erfahrung nach
zur Radikalisierung Jugendlicher?
Nik Nafs: Nach meinen Beobachtungen spielen
die unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle.
Wesentlich ist die Biografie der Jugendlichen.
Jugendliche, die ein besonders krisenhaftes
Leben oder eine besonders krisenhafte Phase
durchmachen, sind für abwertende Haltungen
anderen gegenüber zugänglicher. Der sogenannte Radikalisierungsprozess beginnt nach meiner
Beobachtung immer
eine erste
„Hoch traumatisierte jugendli- durch
persönliche Kontaktche Menschen dürfen nicht ins aufnahme in Bezug
auf neosalafistiGefängnis gesteckt werden.“
sche Gruppen, die
dann sowohl durch
Gruppengespräche (sogenannte DERS) als auch
durch Internetauftritte verstärkt wird. Neosalafistische Gruppen erklären die komplizierte Welt
mit einfachen Worten, beschreiben zum Beispiel
die Welt in „gut“ und „böse“, in „gläubig“ und
„ungläubig“. „Gläubig“ definiert sich nach diesen
neosalafistischen Gruppen entsprechend ihrer
Auslegung des Islam, alles andere gilt als kategorisch feindlich und abtrünnig. Die gewaltsame
Bekämpfung anders denkender oder anders
lebender Menschen wird theologisch begründet.
Tritt eine Jugendliche oder ein Jugendlicher mit
solchen Gruppen in näheren Kontakt, erfährt
sie oder er einerseits persönliche Anerkennung,
andererseits Aufwertung der eigenen Person,
indem sie oder er einer global politischen Bewe-
Im Grunde benötigen die Jugendlichen erwachsene Bezugspersonen, die sich für sie interessieren, die sie ernst nehmen, die ihre Fragen
authentisch beantworten können. Zudem muss
sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche gewaltfrei heranwachsen können. Die
Einhaltung der Kinder- und Jugendrechte, die
verfassungsrechtlich verankert sind, zum Beispiel
Recht auf Bildung, Schutz vor Rassismus und
Sexismus et cetera, sind die Grundvoraussetzung. Die Gleichwertigkeit frei von Geschlecht,
ethnischer und religiöser Zugehörigkeit darf
nicht nur Schlagwort sein, sondern muss gelebt
werden. Den Kindern und Jugendlichen müssen
alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt
werden, damit zum Beispiel ein Jugendlicher, der
Abwertung und Gewalt erfahren hat, nicht selbst
in Konfliktsituationen Gewalt anwendet und sich
aus diesem Kreislauf befreien kann.
Wie soll man mit Rückkehrern
aus Syrien umgehen?
Bis dato gibt es wenige Erfahrungswerte in Bezug auf rückkehrende Personen aus dem Kriegsgebiet. Ich bin grundsätzlich davon überzeugt,
dass jede Person eine zweite Chance verdient,
insbesondere wenn es sich um Jugendliche
handelt. Jugendliche sind selbst die Leidtragenden von islamistisch-dschihadistischen Gruppen.
Sie benötigen besondere Programme, aber auch
professionell ausgebildete Menschen, die in der
Lage sind, festzuhalten, ob von den rückkehrenden Personen zum einen für ihre Umwelt, zum
anderen für sie selbst Gefahr besteht. Weder
dürfen hoch traumatisierte junge Menschen in
die Gefängnisse gesteckt werden, wo sie sich
noch mehr radikalisieren, noch darf zugelassen
werden, dass „Hardcore-Dschihadisten“ verharmlost werden. Jeder Einzelfall muss gründlich
geprüft werden. Ein weiterer Grundsatz für mich
ist, wenn jemandem die Freiheit entzogen wird,
sollte eine menschenwürdige Unterbringung
gewährleistet sein.
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ÖSTERREICH
report 2015
2014
40.497 KLIENTINNEN UND KLIENTEN
... Bewährungshilfe
14.784 Klientinnen und Klienten wurden bei
ihren Bemühungen unterstützt, straffrei zu
leben.
Bei angeordneter Bewährungshilfe gab es
eine Widerrufsquote von 9,28 Prozent.
Die Quote rechtskräftiger Verurteilungen
betrug 32,24 Prozent.
... elektronisch überwachter Hausarrest
1.079 Mal wurde erhoben, ob eine Fußfessel
in Frage kommt. 767 Klientinnen und Klienten
erhielten eine Fußfessel. 625 Mal wurde die
Fußfessel vor Antritt der Haft angelegt.
129 Personen kamen aus der Haft und
13 Personen erhielten die Fußfessel statt
Untersuchungshaft.
Durch die Vergabe von Fußfesseln wurden
98.049 stationäre Hafttage vermieden.
Es gab 9,34 Prozent Abbrüche bei der
Betreuung im elektronisch überwachten
Hausarrest. Den Vorschlägen von
NEUSTART folgten die Justizanstalten
in 83,49 Prozent der Fälle.
... Haftentlassenenhilfe
3.483 verschiedene Klientinnen und Klienten
nahmen vor oder nach ihrer Haftentlassung
freiwillig Hilfe in Anspruch. Dabei konnte
beispielsweise 778 Mal Unterkunft oder
Wohnung vermittelt werden.
... Tatausgleich
14.034 Beschuldigte und Opfer wurden bei
der Konfliktregelung betreut. Davon waren
5.829 Personen Opfer. 5.956 Mal wurde vom
Gericht oder der Staatsanwaltschaft ein Tat ausgleich angeregt. Die Einstellung des Straf verfahrens betrug bei Jugendlichen 85,8 Pro zent, bei Erwachsenen 68,99 Prozent.
Die Zufriedenheit der Opfer mit dem Tataus gleich lag bei 95,6 Prozent. In 70,92 Prozent
der Fälle gab es bei den Beschuldigten einen
positiven Abschluss.
... Prozessbegleitung
2014 wurden 131 Opfer von Straftaten von
NEUSTART durch den Gerichtsprozess
begleitet.
... arbeiten für das Gemeinwohl
9.140 Menschen arbeiteten für das Gemein wohl – mit gemeinnützigen Leistungen
entweder als diversionelle Maßnahme
(4.152 Personen) oder anstelle einer Ersatz freiheitsstrafe (5.023 Personen).
Bei der Vermittlung gemeinnütziger Leistungen als diversionelle Maßnahme kam es in
76,70 Prozent zu einem positiven Abschluss.
Durch die Vermittlung gemeinnütziger Leistung statt Ersatzfreiheitsstrafe wurden 65.136
Hafttage vermieden. Durch die Vermittlung
gemeinnütziger Leistung statt Ersatzfreiheitsstrafe im verwaltungsbehördlichen Finanz-
... Hilfe für Opfer
Insgesamt wurden 5.960 Personen im Opferbereich betreut: 5.829 im Tatausgleich und
131 Personen durch Prozessbegleitung.
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www.neustart.at
645 Anfragen 2014
800 Anfragen 2013
Online-Beratung
608 Jugendliche 2014
613 Jugendliche 2013
Prävention
9.140 Personen 2014
davon 6.275 Opfer 2013
gesamt 14.034 Personen 2014
gesamt 15.033 Personen 2013
Tatausgleich
3.483 Personen 2014
3.297 Personen 2013
Die Anzahl der Besuche pro Öffnungstag
betrug durchschnittlich 110,87.
Haftentlassenenhilfe
14.784 Personen 2014
14.525 Personen 2013
Bewährungshilfe
... Online-Beratung
An die auf der Website von NEUSTART
angebotene Online-Beratung wurden 645
Anfragen gerichtet. Anonym und unkompli ziert: Anfrageformular auf: www.neustart.at
8.818 Personen 2013
... weitere Hilfen
462 Klientinnen und Klienten wurden in
Wohn- und Kriseneinrichtungen von
NEUSTART untergebracht. Der SAFTLADEN
in Salzburg (Kommunikationszentrum) wurde
26.387 Mal besucht.
... Prävention
1.611 Stunden wurden in der Schulsozial arbeit aufgewendet, um Jugendlichen bei der
Lösung ihrer Konflikte zu helfen. Weitere
351 Jugendliche wurden in Vorarlberg von
der Jugendhilfe betreut. Außerdem gab es
257 Betreuungen in der Suchtprävention.
Arbeiten für das Gemeinwohl
strafverfahren wurden 6.322 Hafttage vermieden. In Summe macht das 71.458 vermiedene Hafttage.
davon 5.829 Opfer 2014
Von 1957 bis 2014 hat NEUSTART rund 540.000 Menschen betreut.
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ÖSTERREICH
report 2015
ZIVILGESELLSCHAFTLICH
ENGAGIEREN
Die Gründung des Vereins
NEUSTART erfolgte in den
1950er-Jahren, weil engagierte Bürgerinnen und Bürger
die Verwahrungsumstände für
straffällig gewordene Jugendliche nicht mehr länger akzeptieren wollten.
Zivilgesellschaftliches Engagement hat also bei
NEUSTART eine lange Tradition. Die ersten
Bewährungshelferinnen und -helfer waren
ehrenamtlich tätig. Die Professionalisierung der
Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen hat
in Österreich erst später eingesetzt. Trotzdem
blieb und bleibt das
Engagement von
„Sozialpolitik ist die beste
Laien ein wesentliches Standbein von
Kriminalitätspolitik.“
NEUSTART. Die
Mag. Martin Schenk, Diakonie Österreich
Gesellschaft und die
politisch Verantwortlichen dieses Landes sollen davon überzeugt
werden, dass es in erster Linie klare Reaktionen
auf abweichendes Verhalten braucht, um Straffälligkeit zu vermeiden; und damit auch Alternativen zur Strafe.
NEUSTART Geschäftsführer Alfred Kohlberger
ist überzeugt: „Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringen für ihre Tätigkeit
bei uns spezielle Fähigkeiten und ihre jeweiligen
Netzwerke mit. Diese Netzwerke helfen mit, im
heiklen Feld der Straffälligenhilfe auch Verständnis dafür zu schaffen, dass zu helfen besser ist
als nur zu strafen.“ Am 31.12.2014 waren beim
Verein NEUSTART 1.004 ehrenamtliche Bewährungshelferinnen und -helfer aktiv. Darüber
hinaus engagieren sich sechs Aufsichtsrätinnen
und Aufsichtsräte zum Teil schon seit vielen Jahren im Kontrollorgan von NEUSTART und helfen
mit, dass unser Verein eine wirtschaftlich und
inhaltlich gut geführte Organisation ist.
10
v.l.n.r.: Univ.-Prof. Dr. Alois BIrklbauer (Kuratorium),
Dr. Christoph Koss (Geschäftsführer), Dr. Astrid Zimmermann
(Kuratorium), Mag. Martin Schenk (Kuratorium), Alfred Kohlberger
MAS (Geschäftsführer), o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter
(Bundesminister für Justiz), Prof. Dr. Roland Miklau (Aufsichtsrat),
HR Dr. Werner Leixnering (Kuratorium), Mag. Dr. Heide Schmidt
(Kuratorium). Nicht im Bild: Kuratoriumsmitglieder Dipl.-Ing. Josef
Pröll und Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka
Seit Ende 2014 hat NEUSTART noch ein
weiteres Gremium, in dem zivilgesellschaftliches Engagement seinen Ausdruck findet. Am
1. Dezember 2014 hat sich das NEUSTART
Kuratorium der Öffentlichkeit präsentiert. Sieben
Personen des öffentlichen Lebens haben sich
vorgenommen, ihre persönliche Expertise und
auch Netzwerke zur Verfügung zu stellen, damit
notwendige Entwicklungen in der Straffälligenhilfe eine Stimme bekommen. Ihre Motivation
ist von der Überzeugung geprägt, dass es
auf abweichendes Verhalten eine Vielzahl von
Reaktionsmöglichkeiten – außer dem Gefängnis – gibt, besonders bei Jugendlichen. „Härte
und rigide Strafenpolitik haben keine Wirkung
auf die Reduzierung von Jugendgewalt“ meint
etwa Univ.-Prof. Dr. Alois Birklbauer vom Institut
für Strafrecht der Universität Linz. „Jugendliche
gehören nicht ins Gefängnis“, sagt Mag. Dr.
Heide Schmidt, ehemalige dritte Präsidentin
des Nationalrats. Und Dr. Werner Leixnering,
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
verlangt: „Projekte auf Initiative der Kinder- und
Jugendhilfe zur intensiven und frühen Betreuung
und Stützung von gefährdeten Familien sind zu
fördern, zum Beispiel Familienkonferenzen.“
– db –
Alfred Kohlberger MAS,
NEUSTART Geschäftsführer für wirtschaftliche Angelegenheiten
www.neustart.at
REFORMEN FÜR DEN
MASSNAHMEVOLLZUG
In Umsetzung des Regierungsprogramms, aber auch als Reaktion auf einen verwahrlosten
Maßnahmepatienten, setzte
der Bundesminister für Justiz
im Juni 2014 eine Arbeitsgruppe zur Reform des Maßnahmevollzugs ein.
Expertinnen und Experten wurden eingebunden
und gaben Empfehlungen ab. Diese sollen
nun von der Justizpolitik bewertet und je nach
Entscheidungsergebnis umgesetzt werden. Das
Ganze ist ein mehrjähriger Prozess unter Leitung
des Bundesministeriums für Justiz. In nur einem
halben Jahr hat die Arbeitsgruppe einen umfassenden Befund erstellt und in ihrem Abschlussbericht in 92 Punkten konkrete Empfehlungen
für notwendige Änderungen gemacht.
Die erforderlichen Anstrengungen für den
Maßnahmevollzug werden groß sein müssen.
Komplexität, finanzieller Umfang, negative
Einstellungen
gegenüber Maßnah„Derzeit sind in Österreich
meuntergebrachten
Straf- und Maßnahmevollzug sowie Ängste lasten
schwer auf diesem
unklar getrennt.“
Thema. Umgekehrt
läuft Österreich ohne
Reformen Gefahr, vom Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) wegen Nichteinhaltung der Menschenrechtskonvention verurteilt
zu werden. Der Grund ist, dass Maßnahmeunterbringungen nicht als Strafe, sondern wegen
krankheitsbedingter Gefährlichkeit erfolgen.
Für vorbeugende Freiheitsentziehungen, die
keine Strafe sind, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht als Reaktion auf die Rechtssprechung des EGMR bereits im Jahr 2011
festgestellt, dass sie „in deutlichem Abstand
zum Strafvollzug so auszugestalten sind, dass
die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit
sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt“.
Es besteht kein Zweifel, dass dieser Maßstab
auch für den österreichischen Maßnahmevollzug gilt. Gleichzeitig ist klar, dass die derzeitige
Realität des Maßnahmevollzugs diesem Maßstab
widerspricht. Die Überführung aller zurechnungsunfähigen Insassinnen oder Insassen als Patientin oder Patient in die Psychiatrie wäre ein großer
Veränderungsschritt. Davon abgesehen gibt es
nicht „die eine große Maßnahme“ sondern viele
kleine Schritte, die den Maßnahmevollzug insgesamt nachhaltig verändern würden. Benötigt
werden Reformwille, Ausdauer, Beharrlichkeit,
Energie, Steuerung und die Zusammenarbeit
sowie Vernetzung der beteiligten Akteure. Ziel
muss sein, die Zahl der Untergebrachten wieder
dorthin zu senken, wo wir im Jahr 2000 schon
einmal waren. Das würde eine Halbierung
bedeuten. Aufgrund der menschenrechtlichen
Sensibilität durch die Möglichkeit einer zeitlich
unbegrenzten Anhaltung und damit einer Maßnahmeunterbringung bis zum Tod sind Sachorientierung und verantwortungsvolle Mitarbeit eine
wünschenswerte Grundhaltung.
– [email protected] –
Dr. Christoph Koss, NEUSTART Geschäftsführer Sozialarbeit und
Organisation der Einrichtungen
ENTWICKLUNG DER MASSNAHMEUNTERBRINGUNG
Seit dem Jahr 2000 hat sich die Anzahl jener
Personen, die in einer Maßnahme nach § 21
StGB untergebracht sind, ungefähr verdoppelt
(zum Stichtag 1.1.2015 waren insgesamt 851
Personen im Maßnahmevollzug untergebracht
oder nach § 429 Abs. 4 StPO vorläufig angehalten). Das ist sowohl auf die steigende Zahl
eingewiesener Personen als auch auf die längere
Anhaltedauer zurückzuführen. In den vergangenen zehn Jahren wurden überdies zunehmend
Personen wegen minderschwerer Kriminalität in
einer Maßnahme untergebracht. Rund die Hälfte
aller nach § 21 Abs. 1 StGB untergebrachten
Personen befindet sich in öffentlichen Krankenanstalten; dafür muss das Bundesministerium für
Justiz den Privatpatiententarif bezahlen. Rund
zwei Drittel aller nach § 21 Abs. 2 StGB
untergebrachten Personen befinden sich in
Justizanstalten.
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ÖSTERREICH
report 2015
LERNEN,
ES BESSER
ZU MACHEN
30 Jahre gibt es in Österreich
den Tatausgleich. Seit 1985
haben 170.000 Konfliktregelungen mit rund 300.000 Opfern
stattgefunden. 2014 gab es fast
6.000 Zuweisungen.
Vorbildfunktion. Die Teilnahme an dieser Art der
Konfliktregelung ist immer freiwillig und setzt die
Zustimmung des Opfers voraus. Meist weisen
die Staatsanwaltschaften nach Körperverletzungen, Drohungen, Raufhandel, Nötigungen
oder Sachbeschädigungen zum Tatausgleich zu.
Dass die oder der Beschuldigte Verantwortung
übernimmt, Schaden wiedergutmacht und sich
entschuldigt sind die bekanntesten Eckpunkte
bei dieser Form der Konfliktregelung.
„Im Tatausgleich können Jugendliche anhand
eines negativen Beispiels, wo eine Auseinandersetzung eskaliert ist, lernen, wie sie künftig
besser mit Konflikten umgehen: erkennen, wann
sie heißlaufen und wie sie die Notbremse ziehen.
Im Tatausgleich haben sie im Gespräch das
direkte Feedback
des Opfers und
„Opfer werden gehört,
erleben, wie es sich
anfühlt, Opfer zu
ihre Interessen werden
sein. Das wirkt, weil
berücksichtigt.“
sie dadurch oft auch
an eigene Opfererlebnisse andocken können. Dieser Lerneffekt
ist – neben anderen – sehr eindringlich.“
(Mag. Bernhard Glaeser, Leiter Sozialarbeit).
Die Rückfallsrate nach einem Tatausgleich ist mit
unter 15 Prozent bei keiner anderen Reaktionsform so niedrig; bei einem erfolgreichen Tatausgleich nach häuslicher Gewalt liegt die Rückfallquote nach drei Jahren sogar bei unter zehn
Prozent, wie ein Forschungsbericht des Instituts
für Rechts- und Kriminalsoziologie aus 2008
zeigt. Auch die Zufriedenheit wurde von über 83
Prozent mit sehr gut und gut bewertet.
Österreich gilt als Motor in der Entwicklung
wiedergutmachender Modelle. Vom Modellversuch für Jugendliche ausgehend hat sich der
Tatausgleich auch für Erwachsene etabliert. Die
von NEUSTART entwickelte und standardisierte
Vorgangsweise im Tatausgleich hat europaweit
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Ein Spezialgebiet von NEUSTART ist der Tatausgleich bei häuslicher Gewalt. Mit seinem auf diesen Gewaltbereich angepassten methodischen
Vorgehen schafft es der Tatausgleich, gegenüber
herkömmlichen Gerichtsverfahren mehr Zufriedenheit gerade bei den Opfern herzustellen. Die
Interessen der Opfer werden dadurch gewahrt,
dass ein Tatausgleich nur in jenen Fällen möglich
ist, in denen der oder die Beschuldigte (25 Prozent der Beschuldigten sind weiblich) einsichtig
ist und bereit, die Verantwortung für seine oder
ihre Gewalttätigkeit zu übernehmen. Besonders
weibliche Opfer fühlen sich nach einem Tataus-
gleich gestärkt und unterstützt. In vielen Fällen
geht es nicht nur darum, Gewalt nachhaltig zu
stoppen und an einer gemeinsamen gewaltfreien Zukunft zu arbeiten; oft ist es Aufgabe der
Konfliktreglerin und des Konfliktreglers, die bei
häuslicher Gewalt in Co-Mediation zur Seite
stehen, den Rahmen für eine eskalationsfreie
Trennung gestalten zu helfen.
Gewaltopfer haben jedenfalls Anspruch auf
Prozessbegleitung und können von bis zu drei
Personen begleitet werden (Rechtsanwältin, Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums, Vertrauensperson). Zusätzliche Verbindlichkeit entsteht
durch festgelegte Beobachtungszeiträume, in
denen die beim Tatausgleich getroffenen Vereinbarungen überprüft werden.
– db –
SO FUNKTIONIERT DER TATAUSGLEICH
Im Tatausgleich werden die Beteiligten ausführlich über ihre Möglichkeiten informiert. Wenn sie
bereit sind, sich auf das Verfahren einzulassen,
werden mit Beschuldigten und Opfern zuerst
in Einzelgesprächen der Vorfall, dessen Hintergründe, dessen Auswirkungen und schließlich
Möglichkeiten der Bereinigung besprochen.
Wenn alle offenen Fragen geklärt sind und die
Beteiligten über ihre Möglichkeiten und Ansprüche informiert sind, sind die Voraussetzungen für
ein gemeinsames Mediationsgespräch gegeben.
Hier werden unter Anleitung von Konfliktreglerinnen und Konfliktreglern gemeinsam der Vorfall
und dessen Bereinigung erörtert.
In den meisten Fällen kommt es auch zu einer
finanziellen Schadenswiedergutmachung. Bleibenden Eindruck jedoch hinterlassen regelmäßig
die persönlichen Gespräche der Beteiligten über
Motivation und Gefühle. Opfer wollen wissen,
warum gerade sie Opfer geworden sind und
möchten erleben, dass der Beschuldigte ehrlich
seinen Fehler einsieht. Klare Verantwortungs-
übernahme beim Beschuldigten ist die Voraussetzung für einen gelungenen Tatausgleich.
Eine ehrliche Entschuldigung und die persönliche Bereinigung des Vorfalls ermöglichen allen
Beteiligten, einen Schlussstrich unter den Vorfall
ziehen zu können.
In über 70 Prozent der Fälle kann nach gelungenem Tatausgleich das Strafverfahren eingestellt
werden.
[email protected] | Leiter Zentralbereich Sozialarbeit
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ÖSTERREICH
report 2015
ANGEBOT AN
BEDÜRFNISSE
ANPASSEN
Von der Bewährungshilfe hat man
ein bestimmtes Bild – meist eines
aus amerikanischen Filmen. In
Österreich hat die Bewährungshilfe eine Tradition ursprünglich
aus ehrenamtlicher Arbeit, die in
fast 60 Jahren professionalisiert
und methodisch weitläufig verfeinert wurde.
Ein 23-Jähriger, der betrunken nach erlittenen
Faustschlägen seinen Gegner mit dem Messer
bedrohte und zusätzlich dessen Auto zerkratzte: Da vorbestraft, erhielt er wegen gefährlicher
Drohung und Sachbeschädigung ein Jahr
bedingte Verurteilung, eine Geldstrafe,
„Bewährungshilfe hat verBewährungshilfe
schiedene Herangehenswei- und Anti-Gewaltverordnet.
sen und ein breites Angebot.“ Training
Ein 29-Jähriger, der
Drogen schmuggelte
und eine Indoor-Plantage betrieb: zehn Monate
bedingt, Bewährungshilfe, Psychotherapie. Ein
49-Jähriger, der Cannabis anbaute und sich vor
Gericht wegen Suchtgifthandels verantworten
musste: sechs Monate Haft und Bewährungshilfe. Das sind einige Urteile, über die an einem
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einzigen Tag in Tageszeitungen berichtet wurde.
Sie zeigen einen kleinen Ausschnitt der Bandbreite an Delikten und Altersgruppen, mit denen
es die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von
NEUSTART zu tun bekommen.
Jugendliche, Erwachsene, Männer und Frauen,
Kurzstrafige und Lebenslange gehören zu den
Betreuten. Von Vermögensdelikten, Körperverletzung über Gewalt- bis Sexualstraftaten reicht die
Bandbreite der Delikte. Das zeigt schon, dass
man nicht alle über einen Kamm scheren kann
und dass auch die Bandbreite in der Betreuung
groß sein muss. Mit fast 60-jähriger Erfahrung
hat die österreichische Bewährungshilfe einen
speziellen Weg und ein komplexes Methodenrepertoire entwickelt, um die vielfältigen Bedürfnisse ihrer Klientel abzudecken.
www.neustart.at
Bewährungshilfe kann statt einer Haftstrafe oder
bei einer bedingten Entlassung aus der Haft angeordnet werden. Sie kann aber auch als vorläufige Bewährungshilfe
„Bewährungshelferinnen und angeordnet werden;
dadurch kann
-helfer sind zur VerschwieUntersuchungshaft
vermieden werden.
genheit verpflichtet.“
Auch als diversionelle Maßnahme kann
Bewährungshilfe verhängt werden, wenn sich
Beschuldigte während einer Probezeit zwischen
einem und zwei Jahren von der Bewährungshilfe
betreuen lassen.
Die Professionalität der Bewährungshelferinnen
und Bewährungshelfer liegt darin, anhand eines
strukturierten Prozesses nicht nur auf die Risiken
zu schauen, die von den von ihnen betreuten
Menschen ausgehen. Besonders wichtig ist es,
auch die Ressourcen zu identifizieren und zu fördern, also die Möglichkeiten, die jemand hat, um
auf einen straffreien Weg zu kommen und dort
zu bleiben. Je nachdem, wie gefährdet jemand
ist, wird mit Einzelkontakten intensiv betreut oder
es werden größere Kontaktintervalle angeboten.
Wenn sich Defizite im sozialen Bereich zeigen
werden spezielle Programme wie Anti-GewaltTrainings oder Gruppenarbeit eingesetzt. Bei der
Wohnbetreuung wird dabei geholfen, zu lernen,
wie man eigenständig und selbstverantwortlich
wohnt. Eine erfolgreiche Methode ist auch die
Sozialnetz-Konferenz, die das Umfeld der Betreuten mit einbezieht.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von
NEUSTART sind besonders geschult, Probleme
zu lösen und Menschen in schwierigen Situationen zu unterstützen: bei der Wohnungs- und
Arbeitssuche, beim Kontakt mit Ämtern und
Behörden und vor allem bei der persönlichen
Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das Delikt zu thematisieren ist wichtige Voraussetzung
dafür, dass daran gearbeitet werden kann, aus
der eigenen Endlosschleife Kriminalität auszusteigen, weil man andere Reaktionsmöglichkeiten für Krisensituationen gelernt hat.
Oft verlieren Menschen wegen ihrer Straftat den
Kontakt zur Familie oder Freunden, ihre Arbeit
und ihre Wohnung. Die Bewährungshelferinnen
und -helfer bieten Vertrauen, Halt und Unterstützung an. Durch menschliche Anerkennung
geben sie emotionalen und sozialen Rückhalt.
Mit dieser Hilfe kann das neue Leben geplant
und begonnen werden. Die Klientinnen und
Klienten müssen dabei allerdings mitarbeiten:
Termine einzuhalten, sich mit dem eigenen straffälligen Verhalten auseinanderzusetzen und sich
an verhängte Auflagen zu halten, gehört dazu.
Schließlich muss jeweils nach sechs Monaten
und am Ende der Betreuung an das Gericht
berichtet werden, ob alle Bedingungen eingehalten wurden. Mit Unterstützung von NEUSTART
bleiben während der Betreuung bei (teil)bedingter Strafnachsicht 55 Prozent straffrei; nach Betreuungsabschluss bei bedingter Entlassung aus
einer Freiheitsstrafe sind es sogar 62 Prozent.
Dass neben den hauptamtlichen über 1.000 ehrenamtliche Bewährungshelferinnen und -helfer
die Integration in die Gesellschaft unterstützen,
ist für NEUSTART wichtig, weil dieses zivilgesellschaftliche Engagement zeigt, dass Kriminalität
alle etwas angeht und jede und jeder eine zweite
Chance bekommen soll.
– db –
SO FUNKTIONIERT DIE BEWÄHRUNGSHILFE
Bei der Bewährungshilfe wird konzentriert daran
gearbeitet, Rückfälle zu vermeiden. Täterinnen
und Täter müssen sich intensiv mit ihrer Straftat
auseinandersetzen.
Alternatives und konstruktives Verhalten kann
gelernt und trainiert werden. Es ist entscheidend,
dass jede Klientin und jeder Klient ein maßgeschneidertes Betreuungsangebot bekommt.
Dieses fördert die Ressourcen der Person und
minimiert die jeweiligen Risikofaktoren.
[email protected] | Leiter Zentralbereich Sozialarbeit
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PARAGRAFENKIPFERL
v.l.n.r.: Justizminister o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter,
NEUSTART Geschäftsführer Alfred Kohlberger MAS,
Ankerbrot-Vorstand Peter Ostendorf,
NEUSTART Geschäftsführer Dr. Christoph Koss
Bis Ende November 2014 konnte das ANKER Paragrafenkipferl
in allen ANKER Filialen um 1,29
Euro gekauft werden. Bei durchschnittlich 500 verkauften Stück
pro Tag erhielt NEUSTART zehn
Cent von jedem verkauften
Stück.
Die Initiative nach einer Idee von Justizminister
Brandstetter unterstützt straffällige Jugendliche in
Notlagen. Anlässlich der Pressekonferenz am 18.
September 2014, bei der die Aktion vorgestellt
wurde, rief Justizminister Brandstetter zur Beteiligung auf: „Mit dem Kauf eines Paragrafenkipferls kann jede und jeder von uns einen kleinen
Beitrag leisten, damit Jugendliche den Absprung
aus der Kriminalität schaffen.“
Die Firma Ankerbrot formte und produzierte die
Kipferln und verkaufte sie in ihren rund 120 Filialen mit Schwerpunkt in Wien. Das Paragrafenkipferl wurde mit einem Theken-Aufsteller und einem
kleinen Informationsblatt beworben. AnkerbrotVorstand Peter Ostendorf über die Motivation von
Ankerbrot: „Als Lehrlingsausbildner investieren
wir bewusst in die Zukunft junger Menschen.
Deshalb waren wir sofort ganz Ohr, das Projekt
NEUSTART, das jungen Menschen tatkräftig
beim Wiedereinstieg in die Gesellschaft unter die
Arme greift, zu unterstützen“.
NEUSTART Geschäftsführer Christoph Koss
erzählt aus der Praxis: „Jugendkriminalität schafft
man nicht durch Drohgebärden und Wehklagen
aus der Welt. Hier braucht es Einfallsreichtum,
Entschlossenheit und Tatkraft. NEUSTART ist
überall dort aktiv, wo die Justiz die Umsetzung
neuer Wege erprobt. Die Erfolge bestätigen diese
gemeinsamen Initiativen.“
Von Mitte September bis Ende November 2014
wurden rund 50.000 Stück verkauft – das bedeutete bei zehn Cent des Verkaufspreises pro
verkauftem Kipferl einen Spendenscheck von
5.000,- Euro für straffällige Jugendliche. Bisher
erhielten rund 20 Jugendliche Unterstützung in
Form von Lebensmittelgutscheinen, Fahrtkosten,
Winterbekleidung, für medizinische Untersuchungen, Dokumente oder Haushaltsgeräte. Für jede
und jeden Einzelnen war es motivierend, zu erleben, dass es Menschen gibt, die an sie glauben
und ihnen helfen.
– db –
1.567 MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER
Bei NEUSTART arbeiteten 2014 hauptberuflich
563 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Rund 62
Prozent davon sind Frauen. Von gesamt 1.004
Ehrenamtlichen sind 610 Frauen, das sind rund
61 Prozent. Diese Vielfalt ist für die Qualität der
Betreuungsarbeit wichtig, wenngleich bei unserer
Klientel die Männer überwiegen. Wo es möglich
ist, ohne den Lesefluss zu sehr zu behindern,
werden in den Texten beide Geschlechter berücksichtigt. Ansonsten werden geschlechtsneutrale Bezeichnungen gewählt.
– db –
Impressum
Medieninhaber, Hersteller: NEUSTART, Castelligasse 17 I 1050 Wien Redaktion und Produktion: Mag. Dorit Bruckdorfer (db) I [email protected] Fotos: Sissi Furgler, Felicitas Matern,
NEUSTART, Johannes Puch Layout: Werbeagentur Rubikon I 8010 Graz Grafische Gestaltung: Wolfgang Grollnigg I 1210 Wien Druck: GröbnerDruck I 7400 Oberwart
report 2015
© BKA / Georg Stefanik
ÖSTERREICH