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Grosses
Theater
Mit den Diskussionen um den Oxer sind in den letzten
Jahren im Bereich der darstellenden Künste innova­
tive Projekte entstanden. Spätestens seit der Sommer­
bespielung in der Alten Reithalle 2012 hat sich mit
dem Gemeinschaftswerk «Aarauer Nachtwachen» ein
viel versprechendes und viel verzweigtes Netzwerk von
Theaterleuten, Tanzperformern, Figurenspielerinnen
und innovativen Zirkusartisten gebildet. Neben neuen
Formen und Kooperationen zeitigen auch Förderinitiati­
ven Wirkung. Die Künstler/innen kommen – mindes­
tens für Gastspiele – vermehrt in den Aargau zurück,
denn hier gibts wieder Austausch, Auftrittsmöglich­
keiten, Publikum, Geld, Wertschätzung, Resonanz –
alles hart umkämpft und gefährdet angesichts der
grassierenden Sparübungen von Kanton und Städten
und eines vielleicht auch etwas kulturgesättigten
Publikums. Lange Zeit sind die Akteure dem Aargau
mehrheitlich ferngeblieben, denn das urbane und
international ausgerichtete Umfeld, die Ausbildungs­
stätten, Auftrittsorte, risikofreudige Investoren, neu­
gierige Zuschauer/innen fehlten der jüngeren
Theatergeneration.
Nach dem fulminanten Auftritt der freien Aargauer
Theaterszene in den 1970er-Jahren wurde es daher
allmählich etwas still im Kanton. Sicher: Immer wieder
gab es zwischenzeitlich kleine, feine, manchmal auch
grössere spannende Projekte – und in den letzten Jahren
auch Scharen von Besuchenden bei Vorstellungen von
Landschaftstheatern. Das Geld ist heute rar, die Ideen
gross. Wird tatsächlich mit den jüngsten Vorkommnissen
im Theaterbereich eine neue Kulturachse zwischen
Baden und Aarau entstehen? Wie wird sich das ThiK
unter neuer Leitung verändern – wie das von Einspra­
chen geplagte und vor dem Umbau stehende Kurtheater
in Baden? Und wie können kleinere, hochverdiente
Institutionen wie beispielsweise der Fabrikpalast über­
leben, wenn ein Grossteil der Gelder des Kuratoriums
an feste Häuser gebunden ist und die Giesskannen leer
sind? Wird cirqu’Aarau, der poetische, bildstarke
Zirkus, tatsächlich in Aarau Einzug halten? Fragen über
Fragen, die länger beschäftigen werden und die Disku­
tanten und Anspruchsgruppen noch eine Weile in Atem
halten: Zahlenakrobatik, hypnotische Gesten, Prophe­
zeiungen und Gemurmel auf und neben den Bühnen.
THEATERKANTON
AARGAU REVISITED
In der Alten Reithalle hat eine erfindungsreiche
Künstlerszene Schub bekommen. Ein Umbau könnte
das K
­ ulturschaffen nachhaltig prägen.
von Peter-Jakob Kelting
Seite 24 –25
BILDER
Nouveau Cirque
Augenweiden, Poesie und Akrobatik
Seite 24, 26
ATEMBERAUBENDE
KÖRPER
Der zeitgenössische Zirkus präsentiert sich in Aarau
von Ursula Huber
Seite 27–28
NR
56
PIONIERARBEIT
FÜR DAS
FIGURENTHEATER
Quo vadis Fabrikpalast?
von Tine Beutel
Seite 34 – 36
BILDSCHIRM
Nesa Gschwend
Seite 29– 31
FEDERLESEN
Nadine Tobler und Mark Wetter
über Veränderungen im ­
Aargauer Theaterschaffen
Madeleine Rey, Andrina Jörg, Redaktion
von Jacqueline Beck
Seite 32– 33
SPRACHTRAPEZ
Wir sitzen alle im selben Boot.
Aber nicht alle r­ udern.
von Beat Gloor
Seite 37
23
Theaterkanton
Aargau revisited
Alte Reithalle
als Taktgeberin
für junges
Theaterschaffen
von Peter-Jakob Kelting
Die Theaterlandschaft im Aargau ist in zweifacher
Hinsicht im Umbruch. Zum einen befindet sich die Szene
in einem deutlichen Verjüngungsprozess. Und zum
anderen entwickelt sich das Projekt Alte Reithalle Aarau
dynamisch. Beide Entwicklungen sind nicht voneinan­
der zu trennen, sondern sie bedingen und befruchten
sich gegenseitig.
Die Produktion «Aarauer Nachtwachen», die im
August 2012 ihre Uraufführung in der Alten Reithalle
erlebte, wirkte als Initialzündung: Über 30 Aargauer
Theaterschaffende verschiedener Generationen fanden
zusammen, um gemeinsam die «Nachtwachen des
Bonaventura» für die Weite der Alten Reithalle zu adap­
tieren. Viele der Mitwirkenden kooperieren mittler­
weile in unterschiedlichen Konstellationen neu und
erfolgreich: Die Tänzerin und Mimin Cornelia Hansel­
mann hat sich mit ihrer Gruppe Lowtech Magic dem
Kindertheater zugewendet und arbeitet neu mit der
Regisseurin und Performerin Ruth Huber von Szenart
zusammen; die Tänzerin und Performerin Irene Wernli
macht mit einer Choreografie für «Die Geschichte
eines Nachtpianisten» auf sich aufmerksam, die Figuren­
spielerin Tine Beutel arbeitet nicht mehr ausschliess­
lich für Kinder, sondern erprobt die Möglichkeiten
ihres Genres für ein erwachsenes Publikum. Sie alle
haben sich bei den «Nachtwachen» kennengelernt.
Hinzu kommen Absolventinnen und Absolventen der
Kunsthochschulen, die ihre ersten Gehversuche in
der freien Szene machen. Beispielsweise der Theater­
pädagoge und Schauspieler Jonas Egloff mit seiner
Gruppe Gee Gee Express, die Regisseurin Alexa Gruber
und die Schauspielerin Anna Blumer oder die Forma­
tion Reich und Schön: Nachwuchskräfte beginnen, das
regionale Theaterleben zu prägen. Aus dem Raum
Baden ist es die Bühnen- und Kostümbildnerin Maude
Vuilleumier, die mit ihrer Gruppe HotAir Produktionen
erste Arbeiten in Zürich und Berlin realisieren
konnte. In diesem Zusammenhang ist auch die «Junge
Marie» zu nennen, ein Spin-off des Theaters Marie,
der eine Neudefinition des Jugendtheaters im Aargau
be­inhaltet: Besonders begabte Jugendliche erproben seit
eineinhalb Jahren unter professioneller Leitung und
in einem gemischten Ensemble aus Laien und Profis
innovative Formen des Theaters für ein junges Publikum.
24
Die Jungen machen voran!
Kinder- und Jugendtheater und kleinere Produktionen
vorsieht, beibehalten wird. Eine intensivere Kooperation
als bis anhin wird dadurch mit anderen Veranstaltern
im Kanton denkbar. Vor allem auf der Achse Aarau –
Baden, wo nicht nur Markus Lerch und Nadine Tobler
ihre Arbeit im ThiK aufnehmen, sondern überdies die
Sanierung des Kurtheaters ansteht, könnte zum Nutzen
der regionalen Theaterschaffenden ein reger Austausch
von Inszenierungen lanciert werden.
Zwei wichtige Katalysatoren für diesen frischen Wind
sind die Politik der integrierten Nachwuchsförderung
des Aargauer Kuratoriums und das Projekt First Steps/
AG, mit dem das Theater Tuchlaube Aarau jüngeren
Theaterschaffenden eine Produktionsplattform bietet.
Mit der neuen Leitung des Theaters im Kornhaus ThiK
mit Markus Lerch und Nadine Tobler an der Spitze
gibt es nun auch in Baden Ansprechpartner, die an
Kooperationen mit kantonalen Nachwuchskräften inter­
essiert sind. Das ThiK verantwortet die erste Ausgabe
des Projekts Szenotop, mit dem das Kuratorium junge
einheimische Compagnien über einen längeren Zeit­
raum strukturell fördert. Auffallend ist die stilistische
Vielfalt, die in den Inszenierungen junger Theater­
künstlerinnen und -künstler zum Ausdruck kommt, und
der Versuch, das Publikum jenseits der gewohnten
Pfade anzusprechen. Ein Ort wie die Alte Reithalle mit
seinen schier unbegrenzten räumlichen Möglichkeiten
bietet für solche innovativen, oft interdisziplinären
Ansätze ideale Voraussetzungen.
Die Belebung einer erfindungsreichen Aargauer
Theaterszene wäre also nicht denkbar ohne die Perspek­
tive, die mit dem Projekt Alte Reithalle als kantonales
(Ko-)Produktions- und Gastspielhaus verbunden ist.
Der Erfolg der Sommerbespielung sowohl im Hinblick
auf die künstlerischen Ergebnisse als auch beim Pu­
blikum – 2014 besuchten nahezu 5000 Zuschauerinnen
und Zuschauer die 40 Veranstaltungen in der Alten
Reithalle – macht deutlich, dass der Bedarf für ein derart
offenes Gefäss mehr denn je vorhanden ist.
Peter-Jakob Kelting ist Leiter des Theaters Tuchlaube Aarau
Fotos
S. 24: c/o, Foto: Mario Röhrle
S. 26 oben: Face Nord, Foto: Milan Szypura
S. 26 unten: Mobile, Foto: Ian Winters
Podiumsgespräch
zum Theater im
Aargau
In den 70er-Jahren war die freie Theaterszene
­Aargau weit über die Grenzen des Kantons für innovative Theaterarbeit bekannt. Zwischenzeitlich
ist es stiller geworden, aber seit geraumer Zeit
zeichnet sich erneute Unruhe ab, deren Epizentrum in der Alten Reithalle in Aarau zu verorten ist.
Soll die freie Szene mit dem Oxer eine mittlere
Bühne bekommen oder zum Mittelpunkt für den
schweizerischen Nouveau Cirque werden? Was bedeuten die Zukunftsszenarien und die mit ihnen
verbundenen Ansprüche und Verschiebungen für
die Kulturszene? Pro Argovia initiiert ein Podiumsgespräch rund um die Diskussionen eines (un)möglichen Theaters.
Die Alte Reithalle als Labor und Zentrum
Die Ausgangslage für eine Realisierung des Umbaus zu
einem spartenübergreifenden Theater- und Tanzhaus
wäre perfekt: Die Stadt Aarau hat die Chancen, die die
Alte Reithalle bietet, erkannt. Der neue Stadtrat be­
kennt sich im vor Kurzem veröffentlichten Kulturkonzept
nach Jahren des Zögerns klar zum Projekt und kün­
digt an, es innerhalb der kommenden Monate zur
Abstimmungsreife zu bringen.
Die Erfahrungen, die im Rahmen der Sommerbespie­
l­ung mit Projekten gemacht wurden, die den ganzen
Raum in ihr künstlerisches Konzept einbeziehen, legen
nahe, die Alte Reithalle auch in Zukunft als Gesamt­
raum zu erhalten «Jakob von Gunten» von Astride
Schlaefli und Christian Kuntner, «siesta» von Flamencos
en route und die Installation «Argentinien» des Thea­
ters Marie haben eindrucksvoll gezeigt, welche überra­
schenden, ja überwältigenden Raumwirkungen die
Halle zu entfalten vermag. Dies eröffnet neue Möglich­
keiten für interdisziplinäre Kooperationen wie mit
argovia philharmonic oder Cirque’Aarau, einem Verein,
der sich der Förderung des zeitgenössischen Zirkus
verschrieben hat. Voraussetzung ist allerdings, dass das
ursprüngliche Raumprogramm, das neben einer grossen
Bühne mit einem Fassungsvermögen von 250 Plätzen,
in Einzelfällen gar 400 Plätzen, eine Studiobühne für
SA 27. Juni 18.30, Alte Reithalle Aarau
«Mittlere Bühne, OXER – Theater Aargau?»
Programm
Impulsreferat von Peter-Jakob Kelting, Leiter
Theater Tuchlaube Aarau. Podiumsdiskussion
mit Hanspeter Hilfiker, Stadtrat Aarau,
Walter Küng, Mitglied Aargauer Kuratorium,
­Roman Müller, Artist und künstlerischer Leiter
­cirqu’4, Thomas Pauli, Leiter Abteilung K
­ ultur,
und Barbara Riecke, künstlerische ­Leiterin
Kurtheater Baden
Leitung: Katia Röthlin
Anschliessend Vorstellung «nouveau cirque»
Eintritt CHF 40.– inkl. Apéro,
Podium: Eintritt frei
Anmeldung erwünscht:
[email protected]
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Atemberaubende Körper
Der Zeitgenössische
­Zirkus präsentiert
sich in Aarau
von Ursula Huber
Muskelkraft, Geschicklichkeit. Präsenz. Präzision.
Akrobatische Fertigkeiten sind faszinierend. Man sieht
Menschen zu, die ihren Körper völlig zu beherrschen
scheinen und mit Leichtigkeit Dinge tun, bei denen
einem das Hören und Sehen vergeht. Ein archaisches
Vergnügen. Der Körper. Was er alles kann.
Normalerweise sieht man das in der Manege. Seit
einiger Zeit – seit ungefähr den 1970er-Jahren – aber
findet man die Zirkuskunst auch an anderen Orten, auf
Theaterbühnen zum Beispiel. Noch immer geht es um
den Körper und dessen Möglichkeiten. Aber es kommen
neue Elemente dazu, und Althergebrachtes wird weg­
gelassen. Verschwunden sind die vorhersehbaren
Abläufe und der (vorgegaukelte) Glamour des traditio­
nellen Zirkus, keine Glitzerkostüme gibts und auch
keine dicke Schminke: Die Artistinnen und Artisten,
die sich dem Nouveau Cirque, dem zeitgenössischen
Zirkus, widmen, haben anderes im Sinn.
Sie erarbeiten Inszenierungen mit Elementen aus
Theater und Tanz, beziehen Objekte mit ein, Musik,
Licht, kreieren Bilder. Die einst siebenminütige Zirkus­
nummer kann abendfüllend werden. Wichtigste Neu­
erung: Es gibt einen unterirdischen Fluss, der unter dem
Ganzen fliesst; Inhalte. Zusammenhängende Szenen
fehlen. Sprache fehlt. Aber die Stücke folgen einem
Thema. Artistik wird mit einem kreativen Prozess ver­
bunden. Es werden Geschichten erzählt – im besten Fall
sogar solche, die einem bleiben.
Ausserdem ist die Schweizer Szene recht überschaubar;
die Künstler/innen, die sich für die zirzensischen
Künste interessieren und eine entsprechende Ausbil­
dung machen, orientieren sich international.
Also bisher: Kaum Räume und kaum Kunstschaf­
fende, die sich engagierten. Das soll sich ändern. Dem
zeitgenössischen Zirkus in der Schweiz wird auf die
Sprünge geholfen. Publikumswirksam wäre er ja durch­
aus, wenn das Publikum von ihm wüsste. Das Aus­land
beweist es. Da müsste doch was zu machen sein …
Hier hat es Raum und Leute
Ein geeigneter Ort für Vorstellungen des zeitgenössi­
schen Zirkus ist vorerst gefunden: die Alte Reithalle in
Aarau. Genug Platz, viel Gestaltungsspielraum, ein­
malige Atmosphäre. Leute, die sich des Genres ange­
nommen haben und es fördern wollen, gibt es auch:
Roman Müller, der aus dem Aargau stammende Jongleur
und Nouveau-Cirque-Kreateur mit den nötigen inter­
nationalen Beziehungen, der 2014 mit dem Schweizer
Innovationspreis des KTV ausgezeichnet wurde, und
Peter-Jakob Kelting, der Leiter des für die Sommerbe­
spielung der Reithalle zuständigen Theaters Tuch­
laube. Gegründet wurde ein Verein, cirqu’Aarau, der
es sich zum Ziel gemacht hat, dem zeitgenössischen
Zirkus in der Deutschschweiz Platz zu schaffen.
Ende Juni 2015 hat das erste Aarauer Minifestival
für Zeitgenössischen Zirkus Premiere: Es nennt sich
cirqu’4 – weil es in den letzten Jahren bereits drei
Aufführungen in der Reithalle gab – und fasst drei Pro­
duktionen zu einem abendfüllenden Programm zu­
sammen: zwei kürzere und eine längere. Den Hauptteil
bestreitet die französische Compagnie Un loup pour
l’homme mit «Face Nord»; die zwei kürzeren Darbie­
tungen sind Kreationen des ursprünglich aus Deutsch­
land stammenden und nun in Frankreich lebenden
Jörg Müller: «Mobile» und «c/o». (Daten siehe Agenda)
Bei uns noch beinahe unbekannt
Der zeitgenössische Zirkus ist vor allem im frankofonen
Raum und in Skandinavien fester Bestandteil des
kulturellen Lebens. Es gibt mehrwöchige Festivals mit
Tausenden Zuschauerinnen und Zuschauern, im fran­
zösischen Dörfchen Nexon zum Beispiel. In der Schweiz
hingegen kennt man dieses Genre bislang wenig.
Das Zürcher Theaterspektakel zeigt zwar regelmässig –
jeweils ausverkaufte – Stücke; im Allgemeinen aber
fehlen ganz grundsätzlich und einfach geeignete
Veranstaltungsorte. Zeitgenössischer Zirkus braucht
meist viel Platz.
27
Zirkusakrobaten kommen nicht von der Schauspiele­
rei her; ihr Zugang zu Regie und Dramaturgie ist
a­ narchischer. Sie wagen es, ihren eigenen künstleri­
schen Visionen auf nicht kopflastig wirkende Weise
Ausdruck zu verleihen. Das Resultat ist, wenn es
glückt, tiefsinnige Unterhaltung, unterhaltender Tief­
sinn, ernsthaftes Spiel, spielerischer Ernst.
Kunst kommt von Können
Un loup pour l’homme: Vier Männer in Trainerhosen,
T-Shirts, in einer Art Boxring. Die Männer sind Akroba­
ten; sie messen sich, spielerisch. Wenn ich zwei Zenti­
meter weiter wegrücke, wagst du zu folgen? Sie fordern
sich heraus – und noch einen Schritt. Plötzlich fallen
menschliche Pyramiden auseinander, eine Übung wird
abgebrochen – Mann geht so weit, bis es wirklich nicht
mehr geht. Das Auseinanderfallen geschieht nebenbei
mit Leichtigkeit, die Akteure retten sich mit selbstver­
ständlichen Bewegungen; der Übungsabbruch wirkt
elegant, geschickt. Alles einberechnet. Körperbeherr­
schung. Faszinierend.
Und nebenher geht
es auch um Kulturpolitik
Das Festival hat in der Alten Reithalle Platz gefunden;
ein Glücksfall für den organisierenden Verein, ohne
diesen Ort gäbe es cirqu’4 nicht. Die Halle ist nach wie
vor Gegenstand kulturpolitischer Diskussionen, deren
Resultate nicht abzusehen sind.
Geplant ist, das Festival auf zehn Tage auszubauen
und ab 2017 im Zweijahresrhythmus durchzuführen.
Aarau soll zum Zentrum für zeitgenössischen Zirkus
werden – mit Ausstrahlung weit über die Region hinaus.
Für cirqu’Aarau ist die Reithalle in ihrer jetzigen
Form fast ideal. Einerseits bietet sie die nötigen Gestal­
tungsmöglichkeiten, die für zeitgenössischen Zirkus
unabdingbar sind – man kann verschiedenste Gradins,
Tribünen, Bühnen, Gerüste, Rampen und was auch
immer hineinbauen – und andererseits hat sie einen
rohen und gleichzeitig warmen Charme, der ausge­
zeichnet zu den der Zirkusmanege entwachsenen Artis­
tinnen und Artisten passt.
Der zeitgenössische Zirkus mag in der Hochkultur
angekommen sein; ein wenig «Duft von Freiheit und
Abenteuer» passt dennoch nach wie vor ausgezeichnet.
Und dazu:
Überraschende Verhaltensweisen
Eben: Menschen mit Muskeln zuzuschauen, hat was
– sich spielerisch messende Männer zu beobachten,
ist spannend. Der unterirdische Fluss? Überraschend
einfach, bestechend: Den vier Artisten geht es nicht
darum, zu gewinnen. Sei es, weil kein Königreich zu
er­r ingen ist; sei es, weil keine Frau in Sicht ist, um
die gekämpft werden müsste; sei es aus bislang unbe­
kannten Gründen. Diese Mannsbilder kümmern sich
nicht um den Sieg. Wenn einer der Geschickteste, der
Stärkste, der Vorderste ist, geht man zu etwas ande­
rem über.
Oft werden die Rollen auch gewechselt: Aus Wett­
kampf wird Teamarbeit; genaustes Achten aufeinander
und volle Präsenz machen eine Zusammenarbeit
möglich, aus der wundersame menschliche Formationen
entstehen, die als höchst poetische Bilder in Erinne­
rung bleiben.
Un loup pour l’homme versteht den menschlichen
Körper als Instrument, mit dem es zu experimentie­
ren gilt: Was ist alles möglich, umsetzbar; wie weit kann
man gehen, wie lange reicht die Kraft – wann muss
man sich den physikalischen Gesetzen beugen?
Bei Jörg Müller, der die zwei kürzeren Inszenierungen
zeigt, geht es um einen Einfall – einen Einfall, skurril,
der die Dimensionen des Normalen sprengt und dem
Zuschauenden neue Perspektiven aufzwingt. In «Mobile»
macht sich der Artist zum Teil eines Mobiles, dessen
Meister er ist, er bewegt in sechs Metern Höhe aufge­
hängte grosse Aluminiumröhren, lässt sie sich bewegen,
tanzt mit ihnen. In «c/o» verwandelt er sich in einen
Wassermenschen, der in einem übermannsgrossen
Wasserzylinder taucht – ungewöhnliche Bilder kre­ie­
rend, verzerrte Wahrnehmungen generierend.
Die drei Teile des Abends zeigen die Bandbreite des
zeitgenössischen Zirkus: Un loup pour l’homme kommt
von der traditionellen Zirkusnummernform her,
gibt ihr ein neues Gesicht und erzählt eine Geschichte;
Jörg Müller erfindet althergebrachte Instrumente
der Artistik neu, interpretiert sie auf eigene Weise und
bricht mit gewohnten Sehweisen. Die drei Inszenie­
rungen versprechen eine angenehme Erweiterung
des Horizonts.
Ursula Huber gehört zum Team von cirqu’Aarau
und ist für die Pressearbeit zuständig.
28
Bildschirm
Stoffe als Speicher
Der rote Faden: Er zieht sich als sinnliche und sinnbild­
liche Spur durch das künstlerische Schaffen von Nesa
Gschwend. Schlängelt sich unter ihrer Regie als Linie
durch ihre Werke, wird zur Hülle, zum Körper, wird Ob­
jekt, knäuelt und schlingt. Mit Fäden wirkt, ver-wirklicht
und vernetzt die Künstlerin Orte, Dinge oder Gedanken.
Seit Jahren verstätigt sie gleichsam mit der uralten
Grundfaser unserer Kultur archaisch anmutende Gefüge
und Behausungen für Ideen, inspiriert von Ritualen aus
dem Land des Ganges und dem Rheintal, in dem seit al­
ters schon – wie fast überall auf der Welt – gestickt, ge­
näht und im weiteren Sinn genährt wurde. (Lebens-)Fä­
den speichern Geschichten: Die Künstlerin versucht, die
Erinnerungen – sozusagen die Stoffe in den Stoffen – frei­
zusetzten, die Texte in den Textilien zu finden, mit ihnen
neue Texturen und Kontexte zu schaffen. Sie verstrickt
nach Möglichkeit sich und andere dabei. Für die gelernte
Textilgestalterin, die auch Ausbildungen und Erfahrun­
gen im Bereich des Theaters hat, ist der Körper, seine
Ausformung, seine Wahrnehmung der wichtigste Bezugs­
ort. So sind Installationen, Performances und Objekte
stets sinnlich – und vor allem auch haptisch ausgelegt.
Wachs als fliessendes, aufnehmendes, oft hautähnliches
Material fasziniert die Künstlerin genauso wie Haare, die
sie seit Jahren sammelt und als Gestaltungselement ein­
setzt. Die Dominanz von Rot – in den meisten Kulturen
als Symbol für Blut und Erotik eng an das Körperliche
gebunden – zeugt ebenfalls von der vertieften Auseinan­
dersetzung mit dem Leib. Da liegt auch der umhüllende
Stoff nah, der uns quasi von Geburt bis zum Tod beglei­
tet, der Unterschlupf bietet, ein starkes, aber auch durch­
lässiges Gerüst sein kann; im übertragenen Sinn eine
Wirbelsäule, ein Knochen, wie die Arbeit «Unterschlupf»
aus der Serie «Stoffe als Speicher» nahelegt. Wie auch
die Arbeit «Körper» ist das Werk aus gebrauchten Stoffen
und herausgelösten Fäden aus der eigenen Familienge­
schichte der Künstlerin gefertigt. Nebst den haptischen
Medien arbeitet Nesa Gschwend aber auch immer wieder
mit Video. Dieses verbindet Gegenden und Geschichten
in räumlichen Installationen, aber auch im www. Alles
und immer wieder neu vernetzt: ein Knäuel, weltweit.
SA 13. Juni bis SO 4. Oktober 2015
Vernissage: FR 12. Juni 2015
Aus der Werkgruppe «Stoffe als Speicher»:
S. 29, Abschnitte, 2014
Gebrauchte Stoffe aus meiner Kindheit
Schnur, Garn, Draht, Bambus, Wachs
je 170 – 240 × 20 × 20 cm
«Nesa Gschwend -c-o-n-n-e-c-t-e-dDialog mit der Sammlung»
www.sankturbanhof.ch
www.nesagschwend.ch
S. 30, Körper 2014
Aufgelöste Stoffe aus der Kindheit, eigene Haare,
Acryllack hinter Glas, 70 × 50 cm
S. 31, Unterschlupf 2014
Gebrauchte Stoffe von der Mutter der Künstlerin, Schnur,
Draht, Metall, Bambus, Wachs, 60 × 90 × 75 cm
29
FEDERLESEN
Nadine, du übernimmst im Juli
gemeinsam mit Markus Lerch
die Leitung des Theaters im
Kornhaus Baden, die 25 Jahre
lang in den Händen von Anita
Rösch und Simon Egli lag.
Wie möchtet ihr den Betrieb
weiterführen?
Nadine Tobler und Mark Wetter
über Veränderungen
im Aargauer Theaterschaffen
Nachgefragt und aufgezeichnet
von Jacqueline Beck
Nadine Tobler Jeder Ort ist geprägt von
den Menschen, die ihn führen. Wir
wollen nicht von Grund auf alles neu
machen, aber es wird sicherlich kleine
Veränderungen geben. Es ist uns
wichtig, dasjenige Theater zu zeigen,
das uns selbst gefällt. Das ThiK hat
ein sehr breites Profil – und das wird
auch so bleiben: Es umfasst Sprechund Musiktheater genauso wie Kaba­
rett, literarische Abende oder Tanz.
Im Theater geht es um Momente, die
einen berühren. Welche Momente dies
sein werden, kann man im Vornher­
ein nur erahnen.
Du bist Seiltänzerin, Markus
gründete einst den Zirkus
Chnopf – wird es auch ver­
mehrt artistische Programme
zu sehen geben?
Nadine Tobler Zeitgenössischer Zirkus
ist uns beiden ein Anliegen, wobei die
Bühnengrösse des ThiK unsere Mög­
lichkeiten einschränkt. Wir denken
deshalb auch über Vorstellungen im
Freien nach. In der Alten Reithalle
Aarau lanciert Roman Müller diesen
Sommer ebenfalls ein NouveauCirque-Programm. Die Menschen ha­
ben ein sehr traditionelles Bild davon,
was Zirkus ist. Dies möchten wir auf­
brechen. Überhaupt ist es uns wichtig,
nicht immer in gefestigten Sparten zu
denken.
Mark, welchen Projekten wid­
met sich Theaterschöneswetter
aktuell?
Mark Wetter Aktuell sind die 18. Thea­-
t­ ertage Lenzburg, die wir im Juni ver­
anstalten. Zusammen mit der Equipe
Wiss entwickeln wir zudem eine
­P roduktion für ganz kleine Men­
schen. «Wo ist Mo» feiert Mitte Okto­
ber im Theater Tuchlaube ­Premiere.
­ leichenorts zeigen wir ab Dezem­
G
ber das Stück «Lotus». Es wird die
letzte Produktion sein, in der ich
selbst spiele.
Welche Rolle hat die Förderung
in deiner Tätigkeit als freier
Theaterschaffender gespielt?
Mark Wetter Neue Produktionen wer­
den durch öffentliche Mittel, die För­
derung des Kuratoriums, Gelder von
Gönnerinnen und Gönnern, Sponso­
ren sowie durch Eigenmittel finan­
ziert. Theaterschöneswetter hat das
Kuratorium stets als Vertrauenspart­
ner erlebt. In den vielen Jahren mei­
ner Produktionstätigkeit gab es gute
und weniger gute Zeiten. Die Bezie­
hungen haben sich immer dann
32
­ ntspannt, wenn der Kanton mehr
e
Geld zur Verfügung hatte. Heute
zwingt die Sparwut der Regierung För­
derer und Produzierende zu gemein­
samen Gesprächen und Lösungen.
Nadine Tobler Die Familie der Thea­
terschaffenden ist klein, nicht nur im
Aargau, sondern in der ganzen
Deutsch­schweiz. Man kennt sich, aber
es gibt noch grosses Potenzial in Be­
zug auf die Zusammenarbeit zwischen
Theaterhäusern, Produzenten und
Geldgebern. Partnerschaften sind
wichtig, denn wer ein Fördergesuch
einreicht, ist auf Kooperationen an­
gewiesen. Es ist brutal, plötzlich auf
sich selbst zurückgeworfen zu sein,
wenn etwas nicht klappt. Ich finde es
schade, dass sich die T
­ heaterlobby
FEDERLESEN
manchmal kannibalisiert, statt sich
zu assoziieren. Ab und zu herrscht
Futterneid, weil der Kuchen nicht
grösser wird.
Woher kommen im Theater­
bereich momentan die
­spannendsten Impulse?
Mark Wetter Mark Wetter Ich denke, dass es weni­
ger ums Geld als um Auftrittsmög­
lichkeiten geht. Wenn du als Frei­
schaffender überleben willst, musst
du deine Produktionen möglichst
häufig zeigen. Du brauchst Koproduk­
tionspartner/innen, die einen Vor­
schuss leisten und Räumlichkeiten
für Proben zur Verfügung stellen. Ich
finde es zwar blöd, von früher zu spre­
chen, aber es ist wirklich so: Vor 20
Jahren hatte man als Schauspieler
noch seine Heimstätte. St. Gallen,
Chur oder Luzern waren Heimat für
mich. Das hing stark mit Veranstal­
tungsorten und Menschen zusam­
men, die eine Position jahrelang in­
nehatten. Du hast dein Dossier ge­
schickt und sofort eine Einladung
erhalten. Heute empfängt man mich
nicht einmal zum Kaffee!
Womit erklärst du dir das?
Mark Wetter Die einzelnen Theater be­
rücksichtigen heute vor allem regio­
nale Produktionen und besinnen sich
auf Bewährtes. Die Neugier hat abge­
nommen, die Erwachsenen gehen am
ehesten ins Theater, wenn sie wissen,
was sie erwartet und von wem – Kin­
der funktionieren da anders. Erschwe­
rend ist bestimmt auch die Tatsache,
dass es in den Theaterleitungen
schneller Wechsel gibt, viel mehr Kul­
turmanagement und Theaterpädago­
gik einfliesst und dem Künstlerischen
weniger Beachtung geschenkt wird.
Nadine Tobler Aus
Veranstaltersicht
ist es schwierig, ein Gleichgewicht zu
finden: Einerseits hat man eine Ver­
antwortung gegenüber den Theater­
schaffenden aus der Region, anderer­
seits gegenüber den Truppen, die
schon lange bestehen. Ganz wichtig
ist es auch, jungen Theaterschaffen­
den eine Chance zu geben, damit sie
Auftrittspraxis erhalten. Und schliess­
lich möchte man dem Publikum ein
attraktives Programm bieten. Das ist
ein Seiltanz!
Ich bin in einer Zeit gross
geworden, in der man sich gegen
­Bildungseinflüsse wehrte und das
Theater Teil des gesellschaftlichen
­Lebens war. Das ist heute nicht mehr
der Fall. Einen politischen Anspruch
haben noch die Kabarettisten – doch
es gibt nicht viele in der Schweiz, ab­
gesehen von Urgesteinen wie Joachim
Rittmeyer. Kleine innovative Zellen
haben sich im Bereich des literari­
schen Theaters gebildet, etwa das So­
gar-Theater in Zürich. Das Geschich­
tenerzählen hat bei uns eine grosse
Tradition. Im klassischen Bereich
kommen die Innovationen eher aus
dem Ausland oder der französisch­
sprachigen Schweiz.
Nadine Tobler Ich finde es verrückt,
wie schlecht wir Bescheid darüber
wissen, was in der Westschweiz und
im Tessin passiert! Das fällt mir im­
mer mehr auf.
Mark Wetter Die Vulgarität und Frech­
heit einer Eugénie Rebetez geht uns
Deutschschweizern völlig ab. Es gibt
aber einige junge innovative Men­
schen im Aargau. Ihnen muss man
eine Chance geben. Cornelia Hansel­
mann etwa hat im Tanztheater Inno­
vatives getan, indem sie sich auf Poe­
sie zurückbesann. Hanselmann hat
eine Tanzschule in Holland besucht.
Jetzt ist sie mit ihrer Truppe in die
Schweiz zurückgekehrt. Das ist ein
Pflänzchen, das man meiner Meinung
nach hegen muss. Dazu braucht es
langfristige Finanzierungskonzepte.
Das Kuratorium ist aber nicht alleine
für das kulturelle Leben im Aargau
verantwortlich. Sondern vor allem die
Bevölkerung! Sie muss dafür sensibi­
lisiert werden, dass Theater etwas Fei­
nes ist. Den grossen Freilichtproduk­
tionen mit Laien und Profis gelingt
dies gut. Sie boomen im Aargau!
Nadine Tobler Je stärker man selbst
eine Verbindung zu einer Theaterpro­
duktion hat, desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit, dass man auch
33
sonst mal ins Theater geht. Es ist zen­
tral, dass die Menschen das Theater
entdecken als einen Ort, an dem sie
etwas erleben. Sie müssen gar nicht
begeistert aus jeder Vorstellung gehen.
Es geht um Erlebnisse, die etwas aus­
lösen in einem. Wenn ich ins Kino
gehe, weiss ich auch nicht, ob mir der
Film gefallen wird – er ist einfach Be­
standteil des Abendprogramms. Das
Theater könnte beim jüngeren Publi­
kum einen vergleichbaren Stellenwert
erhalten. Es existiert ja nicht nur für
Theaterschaffende – doch manchmal
scheint es mir fast ein wenig inzestuös
zu sein.
Wie könnte es dem ThiK
­gelingen, ein neues Publikum
anzusprechen?
Nadine Tobler Indem wir etwa neue
Formate entwickeln: Wir haben zum
Beispiel eine Zusammenarbeit mit
zwei Philosophielehrern der Kantons­
schule Baden angedacht. Es soll ein
Abendprogramm mit Diskussionen
entstehen, an dem auch Kantons­
schüler beteiligt sind. Davon erhoffen
wir uns eine Durchmischung des Pu­
blikums. Darüber hinaus haben wir
zusammen mit dem Aargauer Kura­
torium das Projekt «Szenotop» ge­
plant. Es sieht die Auswahl jeweils ei­
ner jungen Truppe vor, die während
dreier Jahre in Zusammenarbeit mit
einem Theaterhaus produzieren
kann. Das ThiK wird die erste Bühne
sein, die eine solche Partnerschaft an­
bieten darf.
Nadine Tobler ist Seiltänzerin und ab
Juli 2015 Koleiterin des ThiK – Thea­
ter im Kornhaus Baden. www.thik.ch
Mark Wetter ist freier Theaterschaffen­
der und Koleiter der Theatertage Lenz­
burg. www.theaterschoeneswetter.ch
Jacqueline Beck ist freie Kulturjourna­
listin und lebt in Basel.
MI 17. bis SO 21. Juni 2015,
­Theatertage Lenzburg
Alter Gemeindesaal, Metzgplatz und
geheime Gärten in Lenzburg
FR 11. September 2015, ThiK Baden
Eröffnungsfest mit «Galgenbruders
Erben» und dem Duo MeierMoser und
der Huber.
Pionierarbeit für
das Figurentheater
Wer will schon Theaterleiter in einem Theater werden,
in dem es keinen Lohn gibt? Die Stadt Aarau hat
unseren Antrag mehrfach abgelehnt, und das Kurato­
rium hat im Zuge seiner Prioritätenverschiebungen
ein Sechstel der bisher uns zugesprochenen Gelder
gekürzt. In Zukunft soll Kultur von Aarau nach Baden
umgelagert werden, die Unterstützung der Theater
durch Betriebsgelder wird grundsätzlich infrage ge­stellt
(Interview mit Walter Küng in der AZ vom 27. März
2015, «Es gibt keine Verpflichtungen mehr.»). Nach
einem Besuch der Fragestunde des Kuratoriums fühlten
wir uns vor den Kopf gestossen. Man hat uns dort er­
klärt, der Aargau sei zu klein für zwei Figurentheater,
und selbst Aarau sei zu klein für zwei Theater, wir
müssten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass
auch mal ein Theater verschwinden könnte. Mehr noch,
man wolle das Figurentheater Wettingen aufbauen,
die Unterstützung für den Fabrikpalast gleichzeitig
kürzen, man wolle künftig ausserdem in grosse Projekte
investieren und daher könne man kleinere Institutio­
nen nicht mehr so stark wie bis anhin subventionieren.
Ein bestehendes funktionierendes Theater, das in den
letzten 15 Jahren mit Erfolg aufgebaut wurde, nun
derart infrage zu stellen, empört mich zutiefst! Warum
Produktionen erst fördern, wenn man ihnen anschlies­
send die Unterstützung in Form von Auftrittsmöglich­
keiten zusammenstreicht? Ich muss schon sagen, dass
mich die Kursänderung des Kuratoriums irritiert. Mag
sein, dass es heute «üblich» ist, dass Theater fusionieren
oder sogar über Städtegrenzen hinaus zusammengelegt
werden, ob sie wollen oder nicht. Der Wind weht je­
denfalls für alle kälter; wir ziehen uns warm an, suchen
gute Wege, das Gespräch mit anderen Institutionen und
machen weiter. «Denn Kultur ist kein Luxus, den wir
uns entweder leisten oder nach Belieben auch streichen
können, sondern der geistige Boden, der unsere innere
Überlebensfähigkeit sichert.» (R. v. Weizsäcker, 1991)
Aarau hat mittlerweile eine lebendige Tanz- und Thea­
terszene, in der es zu spannenden Synergien kommt.
Dies ist unter anderem auch Peter-Jakob Kelting zu
verdanken. Als er die Tuchlaube übernahm, hat er sich
die Mühe gemacht, die einzelnen Mitglieder der hiesi­
gen Theaterszene zu finden, anzuschreiben und schliess­
lich mit ihnen das grosse Theaterprojekt «Aarauer
Nachtwachen» zu realisieren. Ich weiss, dass aus ver­
schiedenen Gründen nicht alle dabei sein konnten,
aber das Positive an dem Stück war, dass Künstler/innen
sich kennenlernen konnten und bis heute immer
­wieder Produktionen aus diesem Zusammenschluss
hervorgehen. Wir sind ebenfalls ein fester Bestandteil
der Aargauer Kulturszene und werden es auch in Zu­
kunft bleiben.
Quo vadis
Fabrikpalast?
Von Tine Beutel
Der Fabrikpalast Aarau entstand Ende 1999 als private
Initiative in den Räumlichkeiten des KiFFs. Er ist mitt­
lerweile zu einem international anerkannten Haus für
innovatives und qualitativ hochstehendes Figuren­
theater gewachsen. Auf dem Spielplan stehen professio­
nelle Stücke für Kinder und Erwachsene aus dem
Aargau, der Schweiz und der ganzen Welt. Gründer und
Theaterleiter ist Hansueli Trüb. Er hat den Fabrikpalast
mit unendlich viel Enthusiasmus aufgebaut, zu einer
Zeit, als es noch kein einziges professionelles Figuren­
theater im Kanton Aargau gab.
Ich kenne den Fabrikpalast seit seiner Entstehung.
1998 kam Hansueli als Dozent an die Figurentheater­
schule Stuttgart. Ich erinnere mich mit Vergnügen
an die Einweihung in die Geheimnisse des Schatten­
theaters, an nächtelanges Löten von Draht­figuren und
an den verzweifelten Versuch von uns Nichtschweizer
Studierenden, seinen Namen richtig auszusprechen.
Zwei Jahre später übernahm er die Regie meiner Dip­
lomarbeit, die mich zum ersten Mal in den Fabrik­
palast führte. Zu dieser Zeit hat es mich dann ganz in
die Schweiz verschlagen. Seit 2003 lebe ich nun in
Kölliken, und 2006 gründete ich meine eigene Bühne.
Figurenspieler/innen im Gegenwind
Die Figurentheaterszene ist eine kleine Szene, in der
jede jeden kennt und in der man schon früh lernt, sich
gegenseitig zu misstrauen. Jeder von uns ist ein Einzel­
kämpfer. Für mich war es jedoch schon immer wichtiger,
sich gegenseitig zu inspirieren und interdisziplinäre
Grenzen zu überschreiten. Hansueli hat mit dem Fabrik­
palast eine Plattform geschaffen, die dies möglich
macht: einen Ort, an dem ich gerne bin, ein Haus, für das
ich mich gerne einsetze, eine Idee, hinter der ich stehe,
eine Perle, für die ich kämpfe. Seit ein paar Jahren bin
ich im Vorstand des Theaters und habe die letzten
Jahre an all den Neuerungen mitgearbeitet. So haben
wir ein neues, publikumsfreundliches Foyer gebaut,
wir haben den Verein von der Person Hansueli Trüb
getrennt, haben Werbeaktionen in der Aarauer Innen­
stadt durchgeführt, ein neues Logo eingeführt, Kinder­
kurse angezettelt, einen Kinderclub gegründet, um
Gelder gekämpft und vieles mehr. Die Geschichte des
Fabrikpalastes ist eng mit der Person Hansueli Trüb
verwoben. Aber auch er wird eines Tages die Theater­
leitung abgeben müssen. So haben wir versucht, unser
Theater in die Zukunft zu retten, und bei der Stadt
und dem Kanton um einige Stellenprozente gekämpft.
Tine Beutel, geb. in Reutlingen (D), lebt und arbeitet
seit 2003 als freischaffende Figurenspielerin, Regisseurin
und Illustratorin in Kölliken.
Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Suche nach interdiszipli­
nären Formen des Theaters, vor allem die Mischung
aus Malerei, Trickfilm und Theater. 2014 wurde sie mit
dem Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums ausgezeichnet.
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Herzkaspar, 2009 im Fabrikpalast
Foto: Giorgio Cossu
Figurentheater Wilde & Vogel, Leipzig, Spleen von Charles
Baudelaire, Gedichte in Prosa, 2014 im Fabrikpalast.
Cie. Freaks und Fremde, Dresden,
Das Schweigen der Welt, 2013 im Fabrikpalast
SPRACHTRAPEZ
Wir sitzen alle im selben Boot.
Aber nicht alle ­rudern.
Das Buch ist leicht, startet sofort auf,
der Bildschirm ist extrem scharf,
es gibt keine Datenverluste, keine Pro­
bleme mit der Energieversorgung, die
­Systemkompatibilität ist über Jahrtau­
sende g­ arantiert – und das Ding hat
­Human Touch.
Die Sprache zieht eine Parallele zur stum­
men Wirklichkeit.
Seit Bestechung zu Lobbying umbenannt
wurde, ist politische Korruption legal.
Wir sind langsam zu schnell. Aber wir
sind auch schnell zu langsam.
Wer Swissness liest, weiss gleich, da geht
es nicht um die Schweiz. Genau wie
bei sexy – da geht es auch nicht um Sex.
­Sondern um Geld.
Politisch korrekte Ausdrücke sind meist
länger. So verteilt sich das Gewicht
­dessen, was man ohnehin lieber nicht
gesagt hätte, auf mehr Buchstaben.
Wichtig klingt wie das Adjektiv zu Wicht.
Wichtig wäre also etwas ganz Kleines.
Eigenartig, wenn man den Patienten mit
der Geduld kommt.
Es ist Selbstbedienung – und das Selbst
bedient sich.
99 Prozent der Literatur besteht darin,
nicht zur Sache zu kommen.
Heimat? Standort heisst das heute. Und
ja: Ich bin standortmüde.
Es gibt nichts Dauerhafteres als das Pro­
visorium. Das Wort dafür ist vorüber­bleibend.
Lügen haben kurze Beine? Nicht immer.
Kinder und Narren sagen die Wahrheit?
Mit Vorbehalt. Sicher ist: Kinder haben
kurze Beine.
Die Engländer haben drei Wörter für den
Nebel, haze, mist und fog. Wir haben
nur zwei, Dunst und eben den Nebel. Aber
die Engländer haben auch mehr Nebel
als wir.
Weil bei mir am meisten Tassen im
Schrank waren, habe ich einen Blumen­
topf gewonnen!
Und endlich den Dingen den Namen ge­
ben, den sie verdienen.
Heute ein Held, morgen ein Hundename.
My name is nobody. And nobody’s perfect.
Beat Gloor geniesst 2015 Gastrecht am Sprachtrapez.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem gleichnamigen ­Aphorismenband,
der noch dieses Jahr herauskommen soll.
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