2 0 15 / N r. 2
CLASS : aktuell
Association of Classical Independents in Germany
„Memories“
Kirill Troussov und
Alexandra Troussova
Views from Ararat Armenische und türkische Klassik | Gipfeltreffen der Königinnen!
Christoph Schoener registriert Bachs Orgel-Toccaten mit allen vier Orgeln von St. Michaelis
Hamburg |
30 Jahre Philharmonia Quartett Berlin Ein besonderes Jubiläum | Musik von
W.A. Mozart & Antonio Salieri Sen Guo, Kenneth Tarver und das Musikkollegium Winterthur
AR ABELL A STEINBACHER
Violinkonzerte von Mendelssohn
und Tschaikowsky
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„ … so zart und rein, und trotzdem so
ausdrucksstark, dass man fast den Atem
anhalten möchte, um nur ja keine
Nuance zu verpassen.“
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CLASS : aktuell
Class: aktuell 2 / 2015
Inhalt
5 Memories
Kirill Troussov und Alexandra Troussova
6 Geheime Botschaften
Robert Schumanns Myrten op. 25 mit
Damrau, Paley und Lademann
Vor einigen Jahren hat man damit begonnen, die Nationalhymne bei großen Sportereignissen von Opernsängern singen zu lassen. Joseph Haydn, dem Komponisten
unserer Hymne, hätte so etwas vielleicht auch gefallen. Eines jedoch hätte ihn
sehr gewundert: „Was fällt den Preußen ein! Dass die meine Kaisermelodie angreifen!
Da möcht’ ich mich doch gleich an meiner Eierspeis’ verkutzen! Infames Pack!“
Dazu muss man wissen: Haydn konnte manchmal etwas gallig werden.
8 Views from Ararat
Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan
spielen armenische und türkische Klassik
Nationale Wirren
9 Ernst Rudorff – Naturfreund,
Philosoph, Genießer
entdeckt vom Berolina Ensemble
Haydns Reaktion ist aber verständlich. Immerhin komponierte er seine Melodie
1797 im Auftrag des kaiserlichen Hofs in Wien. Der Lyriker L.L. Haschka hatte den
Text geschrieben, den Haydn vertonen sollte: „Gott erhalte Franz, den Kaiser,
unsern guten Kaiser Franz!“ Eine Hymne tat damals not, Napoleons Heere bedrohten
das Heilige Römische Reich. Doch nicht alle folgenden österreichischen Kaiser
trugen den Namen Franz, daher musste der Text später mehrfach geändert werden.
Erst 1854 entstand eine namensneutrale Version: „Gott erhalte, Gott beschütze
unsern Kaiser, unser Land!“
Dass ausgerechnet die Melodie der österreichischen Kaiserhymne zur Melodie der
bundesdeutschen Demokratiehymne wurde, gehört zu den besten Treppenwitzen
der politischen Geschichte. Beim deutschen Bürgertum war die Kaiserhymne im
19. Jahrhundert nämlich geradezu verhasst. Die demokratische Vormärz-Bewegung
sah in ihr das Symbol für Monarchie und Unfreiheit. Der Dichter A.H. Hoffmann
von Fallersleben machte sich sogar einen Spaß daraus, den Text dieser Hymne
immer wieder zu parodieren – mit Zeilen wie „Gott erhalte den Tyrannen“. Auch sein
„Lied der Deutschen“ von 1841 wollte er auf Haydns Kaisermelodie gesungen
wissen – eine rebellische Provokation!
Als der Kaiser in Wien 1918 abdankte, mochten die Österreicher ihre Haydnhymne
nicht mehr haben. Nur die unverbesserlichen Monarchisten sangen sie noch, gemünzt
auf den einstigen Kronprinzen, der nun im Exil lebte: „In Verbannung, fern den
Landen, weilst Du, Hoffnung Österreichs“. Also schnappte sich Friedrich Ebert,
erster Reichspräsident der Weimarer Republik, die verwaiste Hymnenmelodie der
Österreicher und erklärte das „Lied der Deutschen“ mit Haydns Kaisermusik
zur Nationalhymne der deutschen Demokratie. So, als wäre an dieser Kombination
überhaupt nichts irritierend oder provokant.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlangten die Österreicher die Hymne nicht zurück.
Die Melodie schien ihnen durch die Nazi-Herrschaft entwertet und international
verhasst. Konrad Adenauer kannte solche Skrupel nicht. Die Textstrophe wurde zwar
ausgetauscht, aber die Melodie blieb dieselbe. Und die Österreicher? Die haben
ja zum Glück neben einem Haydn auch noch einen Mozart. Die österreichische
Bundeshymne ist Mozarts Freimaurerkantate entnommen, soll aber gar nicht von
Mozart sein. Wussten Sie übrigens, dass die deutsche Nationalhymne bis 1918 genau
wie die britische klang?
7 Tausendsassa Nicolaus Bruhns
Ingo Duwensee spielt auf der
Klapmeyer-Orgel St. Nicolai Altenbruch
10 Antonio Salieris „Les Danaides“
Ein spannendes und mitreißendes
Opernerlebnis
11 Farbenreicher Kosmos
Vierhändige Klavierwerke Schumanns
vom Amsterdamer Piano Duo
12 30 Jahre Philharmonia Quartett Berlin
Ein besonderes Jubiläum
13 Gipfeltreffen der Königinnen!
Christoph Schoener registriert Bachs
Orgel-Toccaten in St. Michaelis Hamburg
14 Klangstark und keine Note zuviel…
Ein Gerald-Finzi-Portrait der
Kölner Kammersolisten
15 Les Martyrs
Eine willkommene Donizetti-Premiere
16 Unerhört – exotisch – farbig
Japanische Gitarrenkonzerte gespielt
von Masao Tanibe
17 Johann Ritter von Herbecks
„Große Messe e-Moll für Chor, Orgel
und Orchester“ wiederentdeckt
18 Sängerhochburg Magdeburg
Europas beste Laienchöre messen sich
19 W.A. Mozart – Antonio Salieri
Habsburgische Operngala mit dem
Musikkollegium Winterthur
21 Dreidimensionale Kopf-Hör-er-lebnisse
22 Und immer wieder Sinfonien…
Neues von einem unverwüstlichen Genre
27 Im Blickpunkt
Neuheiten vorgestellt von CLASS
Impressum
Herausgeber/Verlag:
CLASS e.V.
Association of Classical Independents in Germany
Bachstraße 35, 32756 Detmold
Tel. 05231- 938922
[email protected]
Redakteur (v.i.S.d.P): Dr. Rainer Kahleyss
Anzeigen: Gabriele Niederreiter
Grafische Gestaltung: Ottilie Gaigl
Druck: Westermann Druck, Braunschweig
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben
die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die
Meinung der Redaktion wieder.
Einen hymnenarmen, aber sonnenreichen Sommer
wünscht Ihnen
Druckauflage: 113.000
1. Quartal 2015
ISSN: 2195-0172
Ihr
Hans-Jürgen Schaal
geprüfte Auflage
Titel-Foto: © Marco Borggreve
Alle Tonträger dieser Ausgabe finden Sie auch unter
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AUSGABE 2015/2
3
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CLASS : aktuell
Mit Weitblick, mit Liebe,
mit Bravour
Das neue Album von Kirill Troussov und Alexandra Troussova
K
irill Troussov gehört heute zu den welt­
weit gefragtesten Geigern, und warum
das so ist, zeigt sein neues Album mit
Werken russischer Komponisten, das
er gemeinsam mit seiner Schwester Alexandra
Troussova jetzt als sein Debüt bei MDG vor­
gelegt hat: Perfekte Technik – natürlich – dazu
eine selten gehörte Eleganz im Spiel und eine
Klangfarbenpalette, die ihresgleichen sucht. Der
intelligente Künstler blickt dabei weit über das
übliche Violinrepertoire hinaus und wagt sich
gerne auch an wenig bekannte Werke.
So finden sich auf seiner Recital-CD neben
Publikumsrennern wie Khatchaturjans „Säbeltanz“ und Rachmaninoffs „Vocalise“ auch die
wunderbare „Suite im alten Stil“ von Alfred
Schnittke – ebenso wie Prokofievs 2. Sonate –
eine liebevolle Hommage an längst vergangene
Zeiten. Das Werk entstand 1943 zunächst als
Flötensonate, wurde dann in Zusammenarbeit
mit David Oistrach auch für Violine umgearbeitet
und gehört in beiden Versionen heute zu den
ganz wichtigen Werken des 20. Jahrhunderts.
Bruder und Schwester standen schon in
Kindertagen auf der Bühne – kein Wunder, dass
die beiden sich blind verstehen. Da sitzt jede
Geste, da stimmt jedes Detail, und die schein­
bare Mühelosigkeit beim Musizieren erlaubt
auch spontane Freiheiten, die der Musik eine
ganz neue Dimension verleihen.
Troussov spielt eines der bedeutendsten Ins­
trumente überhaupt: Mit der „Brodsky“- Stradivari
von 1702 wurde schon Tschaikowskys Violin­
konzert aus der Taufe gehoben – von eben je­
nem Adolf Brodsky, dessen legitimen Erbes sich
Troussov als in jeder Hinsicht würdig erweist.
Von Tschaikowsky sind die „Meditation“, die
eigentlich als Mittelsatz des grandiosen Violin­
„Memories“
Werke für Violine und Klavier von
Prokofiev, Schnittke, Shchedrin, Shostakovich,
Rachmaninoff, Khachaturian und Tchaikovsky
Kirill Troussov, Violine
Alexandra Troussova, Klavier
MDG 603 1903-2
konzerts gedacht war, und das „Valse-Scherzo“
auf der sehr persönlichen Zusammenstellung
zu hören. Hier zeigt sich Troussov ganz in bester
russischer Geigentradition: Aberwitzig virtuos,
dabei immer mit Esprit und einer Eleganz, die
das Zuhören zum reinsten Vergnügen macht.
Lisa Eranos
Foto: © Marco Borggreve
„Diese musikalische Zeitreise
ist zugleich eine Reise
durch unsere persönliche Geschichte“
www.troussov.com
Ausgabe 2015/2
5
CLASS : aktuell
Robert Schumann (1810-1856)
Myrten op. 25
Diana Damrau, Sopran
Iván Paley, Bariton
Stephan Matthias Lademann, Klavier
Profil Edition Günter Hänssler
PH14048
Geheime Botschaften
Robert Schumanns Myrten op. 25 mit Diana Damrau, Iván Paley
und Stephan Matthias Lademann
R
obert Schumanns Kompositionspläne im
Jahr 1840 bezogen sich nicht nur auf
Klavierstücke oder – wie allgemein angenommen wird – auf Lieder, sondern reichten sogar bis zu einem Opernprojekt, dessen Libretto
fast fertig gestellt war. Doch den in seinem Leben
als erwachsener Mann vielleicht am meisten
herbeigesehnten Moment – den Hochzeitstag,
an dem er mit seiner geliebten Braut Clara
Wieck nach so viel Leid und schmerzhaften
Auseinandersetzungen endlich vereint war –
wollte er mit einem Liederzyklus feiern und diesen
seiner Angebeteten schenken. Lieder als Perlen
– nicht zwölf wie beim Eichendorff-Liederzyklus
oder neun wie bei Heines „Liederkreis“, sondern
gleich 26 als eine lange Schmuckkette.
Diese Lieder sollten ein Spiegel der Beziehung sein, sie sollten die Vergangenheit präsent
halten und der Gegenwart Ehre machen, waren
aber auch dazu angetan, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Ein solches Geschenk muss
eine unglaubliche Überraschung für Clara gewesen sein, obwohl sie einige Lieder und Gedichte
aus dem Zyklus bereits kannte, da Robert ihr
beispielsweise den „Nussbaum“ oder das Gedicht
„Suleika“ früheren Briefen beigelegt hatte. Die
sieben Dichter, die Schumann für den Zyklus ausgewählt hatte, greifen unterschiedliche Themen
auf, die der Komponist in seinem Werk vereint
sehen wollte. Die „Myrten“ sind ein Universum
von Gefühlen und Situationen, gleichsam ein ABC
der Liebe („Du bist wie eine Blume“, „Der Nussbaum“, Aus den östlichen Rosen“, „Widmung“).
Sie sind auch ein musikalisches Reisebuch, in
welchem viele Länder in ihren verschiedenen
Stimmungen gezeichnet werden (z. B. die beiden
6
„Venetianischen Lieder“). Es gibt Lieder über
die Familie und Kinder – ein Thema, das Schumann unbedingt integrieren wollte („Lied der
Braut I und II“), „Hochländisches Wiegenlied“,
„Im Westen“). Auch Scherz und Humor sollten in
seiner Beziehung zu Clara nicht fehlen („Rätsel“,
Lieder aus dem Schenkenbuch im Divan No. 1“).
Sogar erotische Aspekte und die zukünftige sexuelle Beziehung fanden ihren Widerhall („Die
Lotusblume“), ebenso die religiöse Komponente,
die in „Talismane“ und „Zum Schluß“ vertreten
ist. Die „Myrten“ repräsentieren Schumanns Persönlichkeit und offenbaren sie deutlicher als
jedes andere Werk des Komponisten – die Sorgen
und schmerzhaften Erinnerungen an den schweren Kampf um Clara, seine Wünsche für ein
harmonisches Leben und seine Visionen eines
gemeinsamen Glückes.
Kerstin Hänßler
Ebenso bei Profil erschienen:
Gustav Mahler (1860-1911)
Des Knaben Wunderhorn
Diana Damrau, Sopran; Iván Paley, Bariton
Stephan Matthias Lademann, Klavier
Profil Edition Günter Hänssler PH14018 (2 CDs)
Ausgabe 2015/2
Fotos: © MDG
CLASS : aktuell
Ingo Duwensee
Klapmeyer-Orgel
St. Nicolai Altenbruch
Alleinunterhalter, Alleskönner, Himmelsstürmer!
Nicolaus Bruhns Orgelwerke im fein austarierten Orgelkang
E
in wahrer Tausendsassa muss Nicolaus
Bruhns gewesen sein: Als Violinvirtuose
hat er sich gelegentlich selbst auf dem
Orgelpedal begleitet; Überlieferungen
zufolge soll er dazu auch noch gesungen
haben! Zuzutrauen wäre ihm das durchaus: Seine wenigen überlieferten Orgelwerke, die Ingo Duwensee jetzt an der
historischen Orgel in Altenbruch eingespielt hat, zeigen einen originellen Geist
mit einer Vorliebe für bizarre Überraschungen. Die außerordent­li­che Qualität
seiner Kompositionen wussten auch andere zu schätzen: Kein Geringerer als
Johann Sebastian Bach besorgte sich eine
Abschrift des großen e-Moll-Präludiums
– als herausragendes Beispiel des „Stylus
phantasticus“.
Und „phantastisch“ ist Bruhns´ Orgelmusik in der Tat: Ein tonales Furioso
überwältigt den Zuhörer des großen e-MollPräludiums; Metrum und Tempo wechseln
ständig und erzeugen den Eindruck einer
aus dem Augenblick inspirierten Improvisation.
Dabei ist die Überraschung klug kalkuliert:
Symmetrischer Aufbau und mehrere streng
fugierte Abschnitte offenbaren eine sorgfältig
durchdachte Komposition fern jeder ausufernden Beliebigkeit.
Überraschend auch die Textausdeutung in der
Choralfantasie „Nun komm, der Heiden Heiland“:
Nicolaus Bruhns (1665-1697)
Sämtliche Orgelwerke
Ingo Duwensee,
Klapmeyer-Orgel St. Nicolai Altenbruch
MDG 906 1878-6 (Hybrid-SACD)
Ausgabe 2015/2
7
Bruhns erlaubt sich, das Mysterium der Jungfrauengeburt als Herausforderung an den menschlichen Geist zu vertonen. Zweifelnd tastet sich
der Satz um die Zeile „der Jungfrauen Kind
erkannt“ – bis sich am Ende dann doch
die Glaubensgewissheit durchsetzt. Wie
aus dem Himmel meint man ein Engelskonzert zu hören – nicht zuletzt dank der
dreidimensionalen Wiedergabe der perfekt balancierten Super Audio CD.
Den wenigen überlieferten Orgelwerken aus Nicolaus Bruhns´ Feder stellt
Ingo Duwensee einige Stücke aus dessen
Husumer Umfeld zur Seite. Damit präsentiert er die nach wechselvoller Geschichte
erst vor wenigen Jahren liebevoll res­
taurierte Altenbrucher Orgel von ihrer
schönsten Seite. Ebenso wie Bruhns´ Husumer Instrument stammen wesentliche
Teile aus der Werkstatt Fritzsche – eine
Idealbesetzung! Die als Bonus dieser im
fein austarierten 2+2+2 Raumklang
produzierten SACD angefügte Register­
vorführung gibt erhellende Ein­
blicke in die
klanglichen Geheimnisse großer barocker Or­
gelkunst. Spannend.
Klaus Friedrich
Fotos: © Christine Schneider
CLASS : aktuell
Views from Ararat
Meisterwerke großer Komponisten
aus Armenien und der Türkei
Rebekka Hartmann, Violine
Margarita Oganesjan, Klavier
FARAO classics Best.-Nr. B 108086
(2 CDs in Brillantbox)
Views from Ararat
nennen Margarita Oganesjan (Klavier) und die ECHO-KlassikPreisträgerin Rebekka Hartmann (Violine) ihre neue CD.
M
it Werken von Babadschanjan, Baghdassarian und Saygun stellen sie armenische
und türkische klassische Musik nebeneinander. Margarita Oganesjan: „In diesem Jahr
erinnern wir an den 100. Jahrestag des Genozids. Unsere CD verstehen wir als ein
Zeichen, welches über das Verhältnis der beiden Völker hinaus weisen soll“.
Virginia Tutila sprach mit den beiden Musikerinnen über ihre erste gemeinsame Einspielung.
Dass Sie als Armenierin die großen
Komponisten Ihrer Heimat präsentieren,
ist selbstverständlich. Wie sind Sie auf
die Verbindung mit klassischer türkischer
Musik gekommen?
M.O.: Für mich war es ein Kindheitstraum,
einmal auf dem Berg Ararat zu stehen und in
beide Richtungen – Türkei und Armenien – zu
blicken. Und weil ich mir diesen Wunsch nicht
erfüllen konnte, wollte ich das musi­kalisch realisieren. Ich bin mit den schmerzlichen Aspekten
der Vergangenheit meines Volkes aufgewachsen
und stand stets vorsichtig der türkischen Kultur
gegenüber. Aber schon der erste Kontakt mit der
Musik Sayguns hat mich tief berührt.
Sie haben osteuropäische Wurzeln in
Kroatien, sind aber Münchnerin. Wie haben
Sie den Zugang zu den Werken der hier
vorgestellten Komponisten gefunden?
R.H.: Als Margarita mir die Werke präsentierte war es um mich geschehen und ich
konnte mich sofort damit identifizieren! Die
Rhythmik, die Melodik und die Harmonik sind
mir sehr vertraut, gerade aufgrund meiner
bosnisch-serbischen Wurzeln!
Was sind die Gemeinsamkeiten der hier
eingespielten Werke?
M.O.: Eine große Gemeinsamkeit findet sich
in einer raffinierten Polyrhythmik. Die unsymmetrischen Strukturen ungerader Rhythmen
wirken auf uns wie kleine Energieschübe. Man
kann sich in einem 5/4 oder 7/16 Takt nie ausruhen. Dazu kommt eine Harmonik und Melodik,
die sich jederzeit unverhohlen ihrer folkloristischen Herkunft bedient und daraus Leidenschaft, Melancholie und Sehnsucht schöpft.
Die hier vorgestellten Werke beruhen
hauptsächlich auf modalem Material und
traditioneller Musik. Welche Besonderheiten sind Ihnen in der Interpretation
der Stücke begegnet?
R.H.: Die technischen und musikalischen
Anforderungen dieser osteuropäischen Musik
unterscheiden sich nicht grundlegend von denjenigen der westeuropäischen Musik. Aber es
gibt Besonderheiten: Die zweiten Sätze der Suite
und der Sonate von Ahmed Adnan Saygun,
welche auf dem Aksak-Rhythmus, auch genannt „hinkender Rhythmus“, basieren, stellen
durchaus eine rhythmische Herausforderung
dar. Faszinierend ist Sayguns Anwendung
folkloristischer Stilmittel in seinen Werken.
Da ist zum Beispiel der „Zeybek“, ein alter, sehr
langsamer Volkstanz, der nur von Männern
getanzt wird. In den ersten Sätzen der beiden
8
Ausgabe 2015/2
türkischen Werke erinnern manche Klänge an
die Gesänge der Muezzins. Bei den armenischen Werken ist die abwechselnde Metrik ein
spezielles Merkmal. Die Melodik ist teilweise
orientalisch, sehr getragen und elegisch.
Sie haben schon öfters das Programm
der CD aufgeführt. Wie ist die Reaktion
des Publikums?
M.O.: Wir haben bisher in vielen Konzerten Schwerpunkte mit der Gegenüberstellung
armenischer und türkischer Komponisten
gesetzt und das Publikum hat das begeistert
aufgenommen. Manche Veranstalter wünschen
einen kompletten Abend mit „Views from
Ararat“, der politischen Aktualität der 100­jäh­rigen Gedenkfeier wegen. Ich kann wirklich
jedem empfehlen, diese Meister vom Kaliber
eines Bartók, Schostakowitsch, Prokofjew für
sich zu entdecken!
Was ist die Botschaft dieser Einspielung?
M.O.: In der Musikwelt ist eines ganz
selbstverständlich: Die Koexistenz, das friedliche Nebeneinander. Unsere CD will eine
musikalische Brücke zwischen zwei, seit Jahrhunderten verfeindeten Völkern sein.
R.H.: Mein tiefster Wunsch wäre es, dass die
Musik den Menschen dieser beiden so problematisch zueinander stehenden Länder die Gemeinsamkeiten ihrer Kulturen deutlich macht.
Ich wünsche mir, dass unsere Einspielung die
Herzen bewegt und in den Menschen nachhallt.
CLASS : aktuell
Naturfreund, Philosoph, Genießer
Berolina Ensemble entdeckt Ernst Rudorff
E
Ernst Rudorff (1840-1916)
Kammermusik
Sextett für 3 Violinen, Viola und
2 Violoncelli op. 5; Drei Romanzen op. 48
Capriccio appassionato op. 49
Sechs Klavierstücke op. 52
Concertetüden No. 1 und 2 op. 29
Romanze für Violine + Klavier op. 41
Berolina Ensemble
MDG 948 1889-6 (Hybrid-SACD)
Ambitioniert dann der zweite Satz: Wie der zunächst betörend schlichte Beginn des Themas
nach nur wenigen Takten von lichtem Dur ins
grüblerische Moll wechselt, ist bei aller Einfachheit grandios: Ein großartiger Auftakt für einen
Variationensatz von symphonischem Ausmaß!
Salonkultur auf allerhöchstem Niveau bietet
die abschließende Romanze für Violine und Klavier. Hier kann David Gorol seine violinistische
Perfektion in den Dienst einer hochromantischen Erzählung stellen, von Viller Valbonesi
auf einen orchestralen Klang gebettet, der die
in schwärmerischen Höchstlagen singende Violine aufs Beste unterstützt. Zu erleben ist dies
alles in fein austarierter SACD-Technik, mit
echtem 3D-Klang – nicht nur für Naturfreunde
ein Genuss! Lisa Eranos
Foto: © Joerg Merlin Noack
cho Klassik für Hofmann; Opus d’or
für v. Bausznern: Zum dritten Mal tritt
das Berolina Ensemble mit einer spektakulären Entdeckung ins Rampenlicht.
Und wieder einmal erscheint unerklärlich, warum
so großartige Werke derart in Vergessenheit
geraten konnten. Ernst Rudorff ist die neueste
Veröffentlichung gewidmet, und mit dem opulenten Streichsextett, der Romanze für Violine und
Klavier sowie einer Reihe zauberhafter Klavierstücke ist das kammermusikalische Schaffen
dieses Berliner Komponisten, der überdies zu
den Pionieren des Naturschutzes gehörte, umfangreich dokumentiert.
Rudorff war eng mit Clara Schumann und
ihrer Familie befreundet; eine der SchumannTöchter erhielt bei ihm Klavierunterricht. Dass
er sich Schumann und Brahms zum Vorbild
nahm, ist besonders in den Klavierwerken zu
spüren. Man höre nur einmal das zweite der
„6 Klavierstücke“: Schumannsches Agitato trifft
auf ambitionierte Harmonik, während das erste
eine Reminiszenz an den erzählenden Ton der
„Kinderszenen“ vorstellt. Spätestens aber im
vierten Stück der Sammlung findet sich ein
ganz neuer Tonfall, der dann in der harmonischen Spannung des abschließenden Adagios
deutlich in die Zukunft weist.
Mit weit ausschwingender Geste beginnt das
Streichsextett, das der junge Rudorff als op. 5
veröffentlichte. David Gorol, spiritus rector des
Ensembles, setzt als Primarius gleich von Beginn an auf eine leidenschaftliche Linienführung.
Heinrich Hofmann (1842-1902)
Oktett op. 80; Serenade op. 65; Sextett op. 25
Berolina Ensemble
MDG 948 1808-6 (Hybrid-SACD)
www.berolina-ensemble.de
Waldemar von Bausznern (1866-1931)
Kammermusik
Serenade, Elegie, Oktett
Berolina Ensemble
MDG 948 1826-6 (Hybrid-SACD)
Ausgabe 2015/2
9
Edition
Günter
CLASS : aktuell
Foto: © Ignacio Barrios Martinez
Hänssler
Foto: M. Creutziger
Profil
Christophe Rousset
P. Schreier und das Dresdner Streichquartett wähend der Aufnahmen
der MDR FIGARO-Produktion in der Dresdner Lukaskirche, 2005.
Antonio Salieri: Les Danaides
Judith van Wanroij; Philippe Talbot; Katia Velletaz u.a.
Les Talens Lyriques, Christophe Rousset;
Les Chantres du Centre de musique baroque de
Versailles, Olivier Schneebeli
PETER SCHREIER
Abschied von der Sängerlaufbahn
Zum 80. Geburtstag von Peter Schreier
Im März 2005, also vor 10 Jahren, hat sich Schreier
noch einmal ins Studio begeben, um in der
Lukaskirche Dresden jene Fassung der «Winterreise»
aufzunehmen, die der Kasseler Komponist Jens Josef
für Singstimme und Streichquartett geschaffen hat.
Das war das Jahr, in dem Schreier seinen 70. Geburtstag feiern konnte und in dem er den bemerkenswerten Entschluss fasste, noch auf der völligen Höhe
seines stimmlichen Könnens Abschied von seiner
Sängerlaufbahn zu nehmen. Vor diesem Hintergrund
kommt dieser Einspielung eine besondere Bedeutung
zu. Das war auch bei der Aufnahme selbst zu spüren.
Peter Schreier wusste wieder mit völlig neuen Nuancen
und Gedanken musikalisch zu «erschüttern». Sowohl
das Ganze als auch jedes einzelne Lied hatte die Aura
des Ein- und Letztmaligen. Meist war die jeweils erste
Fassung gleich die Gültige. Hinzu kamen die Farben
der vier Streichinstrumente des Dresdner Streichquartetts. Durch sie wirkte der vom Tod umhauchte
Liedzyklus noch fahler und geheimnisvoller. Die
Aufnahme krönt ein überreiches Lebenswerk,
mit der Liedsänger Peter Schreier uns für immer
beschenkt hat.
Michael Oehme
NEU
Ediciones Singulares ES 1019 ( 2 CDs + Buch)
Massenmord!
K
ein Geringerer als der Erzromantiker
Hector Berlioz äußerte sich 1822 bewun­
dernd über die 1784 in Paris uraufgeführte
Oper Les Danaides von Antonio Salieri. Das der
fran­zösischen Königin Marie Antoinette gewidmete
Werk wurde zunächst als Gemeinschaftskompo­
sition von Christoph Willibald Gluck und seinem
ehemaligen Schüler deklariert. Nach dem über­
wältigenden Erfolg der Uraufführung 1784 an
der Pariser Académie Royale de Musique klärte
Gluck im Journal de Paris den „Schwindel“ und
erklärte offiziell, dass Salieri der alleinige Ver­
fasser des Werkes sei. Der bescheidene Salieri
erklärte dagegen, dass er von Glucks Weisheit
geleitet und von dessen Genie erleuchtet worden
sei. Mit dem Werk über den ungeheuerlichen
Massenmord der 49 Töchter des Danaos an ihren
frisch angetrauten Ehemännern (dem sich nur
die älteste Tochter Hypermnestra verweigert) war
dem jungen Komponisten tatsächlich eine der re­
volutionärsten Opern des Ancien Régime gelungen
und er etablierte sich endgültig als führender
Nachfolger Glucks auf dem Gebiet der Tragédie
lyrique. Salieri verabschiedet sich endgültig von
der klassischen Nummernoper und schuf ein
durchkomponiertes Werk, das dem Chor in noch
stärkerem Maße als bei Gluck eine tragende
Rolle zukommen lässt. Statt einem klassischen
Schlusschor bzw. Schlusstanz lässt Salieri die
Oper mit einem eindrucksvollen Tableau vivant
ausklingen, das die von Dämonen gepeinigten
Schwestern der Hypermnestra im Tartarus zeigt
(Tatsächlich wurden die Danaiden von den Toten­
richtern zu einer Sisyphos-Arbeit verdammt: Sie
mussten auf ewig mit ihren Wasserkrügen ein
Fass ohne Boden füllen). Christophe Rousset und
Les Talens Lyriques unterstreichen mit ihrer
außerordentlich gelungenen Produktion die Be­
deutung des Werkes und bereiten uns ein span­
nendes und mitreißendes Opernerlebnis. Wer
tatsächlich noch Zweifel an der musikhistori­
schen Bedeutung Salieris hatte, dem bietet sich
hier eine gute Gelegenheit, seine Meinung mit
diesem Stück und dieser Aufnahme zu revidieren.
Bernhard Blattmann
Foto: © Eric Larrayadieu
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Günter
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Les Talens Lyriques
10
Ausgabe 2015/2
Foto: © Marco Borgreve
CLASS : aktuell
Wyneke Jordans und Leo van Doeselaar
Erard-Flügel (Paris, 1837)
Farbenreicher Kosmos
Das Amsterdam Piano Duo präsentiert Schumann mit Erard
A
uf dem Klavier kannte Robert Schumann
sich aus wie kein Zweiter. Immer auf
der Suche nach neuen Klängen muss
es für ihn und seine Frau Clara ein Erlebnis gewesen sein, als ihr Flügel um ein Pedal
wie bei der Orgel erweitert wurde. Diese Offenbarung nachzuempfinden ist das Anliegen des
Amsterdam Pianoduo, die die „Studien für den
Pedalflügel“ jetzt auf einem ErardFlügel von 1837 eingespielt haben –
in einer Fassung für Klavier zu vier
Händen von Georges Bizet.
In den „Studien“ trifft Schumanns
poetische Fantasie auf strenge kontrapunktische Ausarbeitung, strenger
Kanon auf gefühlvolle Harmonik. Was
zunächst unvereinbar erscheint, führt
zu einem beglückenden Ergebnis:
Individuelle Charakterstücke im romantischen Geiste, die Schumanns
Bach-Verehrung ebenso widerspiegeln wie seine schier grenzenlose
Vorstellungskraft und Fantasie.
Die zeigt sich besonders in seinen „Bilder aus Osten“, die unter dem
Eindruck von Rückerts Über­tragung
mittelalterlich-arabischer Dichtung entstanden
sind. Weniger das illus­
trative Vertonen der
Gedichte als vielmehr das Einfühlen in Form
und Kunstfertigkeit der fremdartigen Literatur
mag dabei im Vordergrund stehen: Spätestens
im sechsten Stück sind programmatische
Be­züge zum Text unüberhörbar. Wie gekonnt
Schumann Poesie und Pädagogik verbindet,
zeigen van Doeselaar und Jordans in den viel
zu selten zu hörenden „Zwölf vierhändige Klavierstücke für kleine und große Kinder“ – ein
Zyklus, der den ungleich bekannteren „Kinderszenen“ in nichts nachsteht.
Das Amsterdam Piano Duo mit Leo van
Doeselaar und Wyneke Jordans überzeugt in
dieser bestens ausgestatteten SACD mit farbenreichem Spiel, das einen Kosmos romantischer
Haltung eröffnet – und zum Staunen einlädt.
Da sich auch der Flügel aus der Sammlung
Edmund Beunk in Top-Zustand präsentiert,
bleibt eine nachhaltige Empfehlung sich diese
Aufnahme einmal anzuhören.
Klaus Friedrich
Robert Schumann (1810-1856)
vierhändige Klavierwerke
Bilder aus Osten op. 66
6 Studien in Kanon für den
Pedalflügel op. 56 (bearb. von G. Bizet)
Stücke für kleine und große Kinder op. 85
Amsterdam Piano Duo:
Wyneke Jordans, Leo van Doeselaar
MDG 904 1902-6 (Hybrid-SACD)
Ausgabe 2015/2
11
CLASS : aktuell
Das Philharmonia Quartett Berlin wird 30
Es gibt diese Quartette. Und solche. Und jene. Und dann gibt es das
Philharmonia Quartett Berlin. Das ist anders. Und das jetzt seit genau 30 Jahren.
A
Alle Mitglieder des Streichquartetts
sind gleichzeitig Mitglieder der Berliner
Philharmoniker: Daniel Stabrawa, der
Primus, ist der erste Konzertmeister,
der zweite Geiger, Christian Stadelmann, ist
Stimmführer der Violinen und Neithart Resa
der Solobratscher des Orchesters.
Quartettmusiker, die jeden Tag im Orchester
spielen, haben einen Sinn für das Orchestrale,
das in allen großen Quartetten steckt. Beethovens und Schuberts Streichquartette sind auch
Symphonien für vier Solostreicher. Und genau
so spielt sie das Philharmonia Quartett.
Die Mitglieder des Quartetts gehen bei ihren
Interpretationen seit jeher einen Mittelweg, der
jedoch keinen faulen Kompromiss darstellt, sondern das Resultat einer ausgewogenen Mischung
von Herz und Hirn ist.
Auf der einen Seite greifen die Musiker bei
Klang und Phrasierung weder in den großen
Sahnetopf mit dem Dauervibrato, noch gießen
sie über die Musik die einst so beliebte Steak-
sauce aus seufzenden Portamenti, sentimentalen
Rubati und tiefempfundenen Ritardandi.
Auf der anderen Seite kommt ihr Klang aber
auch nicht aus der Kühl- und Gefrierkombination
mit der Energieeffizienzklasse A+++, sondern
bleibt, bei aller durchsichtigen Schlankheit,
stets warm, kräftig und sonor.
Ludwig van Beethoven
Streichquartette
Philharmonia Quartett Berlin
Thorofon CTH2614 (8-CD-Box)
Johannes Brahms
Streichquartette
Philharmonia Quartett Berlin
Thorofon CTH2623 (2 CDs)
12
Ausgabe 2015/2
Aktuelle Konzerte:
22. 05. 2015 Wittingen
23. 05. 2015 Magdeburg
24. 05. 2015 Bad Oeynhausen
22. 08. 2015 Schloss Amerang
23. 08. 2015 Brühl
www.philharmonia-quartett-berlin.de
Noch etwas zeichnet die Musiker des Philharmonia Quartetts aus: Sie haben weder das
Lachen verlernt noch ihre Gefühle in Frischhaltefolie verpackt. Sie wissen, dass bei Beethoven
der Humor nie weit weg ist, bei Schubert Tanz
und Stimmung Teil der Musik sind und es einen
Dvorˇ ák ohne Volksmusik und Polka nicht gibt.
Seit 30 Jahren spielt nun das Philharmonia
Quartett in derselben Besetzung mit nur einer
Ausnahme: Der großartige Cellist Jan Diesselhorst,
auch er Mitglied der Berliner Philharmoniker, ist
vor fünf Jahren viel zu früh verstorben. Für ihn
kam der kongeniale Dietmar Schwalke, Philharmoniker wie seine Kollegen.
Zu ihrem 30. Geburtstag haben die Musiker
ihren Fans und sich selbst ein doppeltes Geschenk gemacht: Sämtliche Streichquartette
von Beethoven und von Brahms sind nun in
zwei Schmuckboxen erhältlich. Musik von bleibendem Wert!
Markus Brandstetter
Foto: © Stephan Roehl
Keine Steaksauce aus
der Kühl- und
Gefrierkombination
Foto große Orgel: © St. Michaelis, Peter Vette; weitere: Michael Zapf
CLASS : aktuell
Gipfeltreffen der Königinnen!
Christoph Schoener registriert Bachs Orgel-Toccaten
mit allen vier Orgeln von St. Michaelis
Christoph Schoener
I
n einer spannenden Neuproduktion spielt
Christoph Schoener die fünf Toccaten
von Johann Sebastian Bach an allen vier
Orgeln im Hamburger Michel – für die
berühmte d-Moll-Toccata kommen sogar drei
Instrumente auf einmal zum Einsatz! Das
überwältigende Klangerlebnis ist dank MDGs
2+2+2-Wiedergabeverfahren und nächtlicher
Stille jetzt zum ersten Mal auch zu Hause zu
erfahren: Auf der fein ausbalancierten Super
Audio CD erklingt jedes Instrument an seinem
originalen Platz, und der prachtvolle barocke
Raum der hanseatischen Hauptkirche kommt
in überragender Natürlichkeit zur Geltung.
Opulente Raumwirkung war auch das Anliegen, das der 2009 durchgeführten Restauration der Orgeln zu Grunde lag. Die gewaltige
„Große Orgel“ im Westen bildet mit ihren
86 Registern auf fünf Manualen natürlich den
Mittelpunkt. Eine romantische Farbe bringt die
„Konzertorgel“ auf der Nordempore ein, und
dank glücklicher Fügung konnte ein ungewöhnlich reichhaltig ausgestattetes Fernwerk
auf dem Dachboden errichtet werden, das
ebenfalls von der zentralen Spielvorrichtung
aus wie eine komplette eigenständige Orgel genutzt werden kann. Von besonderem Reiz ist
die „Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel“, die mit
ungleichschwebender Stimmung natürlich nur
als Solitär auf der Südempore zum Einsatz kommt.
Bachs Toccaten eignen sich besonders gut
für die Wiedergabe auf mehreren Orgeln.
Schon der Beginn des wohl popu­
lärsten Orgelwerks aller Zeiten, der
Toccata in d-Moll, wird von Christoph
Schoener als faszinierende Raumin­stal­
lation inszeniert, und wenn dann das
Fernwerk aus luftiger Höhe erklingt,
zeigt sich die dreidimensionale Auf­
nahme von ihrer spektakulärsten Seite.
Christoph Schoener, Kirchenmusik­
direktor an der Hamburger Hauptkirche
St. Michaelis, spielt Bachs Toccaten mit
historisch informiertem Hintergrund;
dabei kommt die spielerische Entdeckerfreude aber keineswegs zu kurz.
Für ungetrübtes Hörvergnügen sorgen
die Tonmeister von MDG, die auch
für die Stereofreunde ein attraktives
Klangbild gezaubert haben. Wirklich
atemberaubend ist aber die dreidimensionale
Wirkung der 2+2+2-Wiedergabe, die diese Auf­
nahme zu einem einmaligen Erlebnis macht.
Lisa Eranos
Die großartige Orgelanlage von St. Michaelis
Hamburg mit großer Orgel (o. re.), Konzertorgel (o. li.) und Carl-Philipp-Emanuel-BachOrgel – nicht sichtbar ist das Fernwerk
J. S. Bach (1685-1750)
Orgel-Toccaten
Christoph Schoener an allen vier Orgeln der
Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg
MDG 949 1893-6 (Hybrid-SACD)
Ausgabe 2015/2
13
Foto: G. Finzi © Angus McBean; Foto: Kölner Kammersolisten © Florian Peelmann
CLASS
CLASS
: aktuell
: aktuell
Kölner Kammersolisten
Klangstark und keine Note zuviel…
Die Kölner Kammersolisten mit einem Gerald-Finzi-Portrait
N
eun Variationen von neun Kompo­
nisten über das lustige Liedlein eines
Amateurkomponisten: Gerald Finzi
wurde eingeladen mit so individuellen
Persönlichkeiten wie Ralph Vaughan Wiliams,
Gordon Jacob oder Howard Ferguson zusam­
men zu komponieren. Diese „Diabelleries“ über
„Oh! Where´s My Little Basket Gone?“ für eine
höchst ungewöhnliche Kammermusikbesetzung
sind jetzt von den Kölner Kammersolisten erst­
mals eingespielt worden, zusammen mit weite­
ren Werken aus Finzis Feder – Fazit: Ein span­
nender Überblick über die britische Musik in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Finzis Ruf gründet in besonde­
rem Maße auf seinen Vokalkomposi­
tionen, die eine tiefe Sensibilität für
die literarischen Vorlagen erkennen
lassen. Seine wenigen Instrumental­
werke fanden bislang deutlich gerin­
gere Beachtung – völlig zu Unrecht,
wie diese Neuaufnahme beweist: „Pre­
lude and Fugue“ für Streichtrio etwa
zeigt einen ausgereiften Personalstil;
vom beklemmenden Anfang über ge­
radezu schrille Töne zu einem groß­
artigen Finale entsteht eine beein­
druckend energiegeladene Steigerung.
Finzi muss sich der Qualität der
Komposition sehr sicher gewesen sein:
Sie ist seinem Kontrapunktlehrer ge­
widmet…
Dass Finzis Werk von überschaubarem
Umfang ist, liegt sicher nicht nur am viel zu
frühen Tod durch eine unheilbare Erkrankung.
In seinen jungen Jahren verbrachte er neben
dem Komponieren viel Zeit mit dem Aufbau
einer beeindruckenden Sammlung wertvoller
Bücher; außerdem bewahrte er durch gezielten
Anbau etliche historische englische Apfelsorten
vor dem Aussterben. Quasi nebenbei schuf er
in dieser Zeit sein „Introit“, das als langsamer
Satz eines ambitionierten, dann aber verworfe­
nen Violinkonzerts konzipiert war. Seine „Five
Bagatelles“ halten sich bis heute im Repertoire;
die hier eingespielte Fassung für Klarinette und
Gerald Finzi
Streichquartett erlebte ihre Uraufführung zu
Finzis hundertstem Geburtstag.
Vom frühen „Introit“ bis zu den „Diabelle­
ries“, die am Ende seines Lebens entstanden,
umfasst die Werkschau der Kölner Kammer­
solisten ein ganzes Komponistenleben. Sie zeigt
einen Künstler, der mit äußerstem Skrupel
ans Werk geht: Keine Note ist zuviel, jede Ge­
schwätzigkeit wird vermieden. So entsteht ein
Werk von wunderbarer Klarheit, das in der
Darbietung des Kölner Solistenensembles im
modernsten SACD-2+2+2-Klang endlich die
gebührende Wertschätzung erfährt. Stark!
Klaus Friedrich
Gerald Finzi (1901-1956)
„Diabelleries“
Variationen über ein Thema
„Oh! where’s my lovely basket gone“
Romance für Streichquartett op. 11
Elegie für Violine und Klavier op. 22
Prelude & Fugue für Streichtrio op. 24
und andere
Kölner Kammersolisten
MDG 903 1894-6 (Hybrid-SACD)
14
Ausgabe 2015/2
WERGO
CLASS : aktuell
Jetzt neu bei WERGO
Gaetano Donizetti
Les Martyrs
Joyce El-Khoury; Michael Spyres u.a.
Orchestra of the Age of Enlightenment
Sir Mark Elder
und Paolina in der Arena am Ende der Oper.
Der verärgerte Donizetti schwor sich, nie wieder
eine Oper an San Carlo aufzuführen und reiste
nach Paris ab, um dort seine Karriere weiterzuführen. Wenig später ließ er hier das Libretto von
Eugène Scribe zu einer vieraktigen Grand Opera
nach französischem Geschmack umarbeiten. In
Paris hatte man mit dem „christlichen“ Sujet
offenbar weniger Probleme. Das 1840 uraufgeführte Stück kann mit zwanzig Aufführungen in
der ersten Saison durchaus als Erfolg verbucht
werden, auch wenn die italienische Erstfassung
– sie wurde 1848 posthum dann doch noch am
Teatro San Carlo uraufgeführt – heute bekannter
ist. Anders als bei den französischen Versionen
anderer Opern des Komponisten gibt es hier
auch musikalisch einige signifikante Änderungen
und Ergänzungen gegenüber der italienischen
Erstfassung. Somit wird eine Beschäftigung mit
Les Martyrs als eigenständigem Werk eine echte
Bereicherung für jeden Donizetti-Liebhaber.
Die Aufnahme beim britischen Label Opera
Rara mit Mark Elder und dem Orchestra of the
Age of Enlightenment sowie handverlesenen Solisten (u.a. Michael Spyres und Joyce El-Khoury)
macht zudem erstmals als Studioproduktion
mit der äußerst selten gespielten Oper bekannt.
Grundlage ist dabei die neue kritische Ausgabe
von Flora Willson, die viele bislang bei Aufführungen gestrichene Passagen berücksichtigt.
Bernhard Blattmann
Opera Rara ORC52 (3 CDs)
Two3
für Sho- und fünf mit Wasser gefüllte Muscheln
Stefan Hussong: Akkordeon, Muscheln /
Wu Wei: Sheng, Muscheln
Morton Subotnick
The Wild Beasts
Landmark Recordings
After the Butterfly / The Wild Beasts
Mario Guarneri: Trompete / Dane Richards
Little, Alan K. Bartholemew: Cello / William
Edward Powell, James D. Rohrig: Klarinette /
Jay Charles Bulen, Toby L. Holmes, Miles
Anderson: Posaune / Marvin B. Gordy III:
Percussion / Virko Baley: Klavier /
Morton Subotnick: Leitung
WER 67942 (CD)
Koproduktion:
Deutschlandradio
Michael Spyres, Joyce El-Khoury und Sir Mark Elder
vor dem Orchestra of the Age of Enlightenment in der
Royal Festival Hall, London
John Cage
WER 73112 (CD)
L
es Martyrs ist Gaetano Donizettis Umarbeitung seiner italienischen Oper Poliuto zu
einer echten französischen Grand Opera.
Die Hintergründe der Umarbeitung sind wenig
erquicklich: Poliuto sollte eigentlich 1838 am
Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt werden,
doch verbot die königliche Zensur die Oper
quasi in letzter Minute, weil der König kein
christliches Sujet auf seiner Theaterbühne dulden wollte. Das „Christliche“ an der Handlung
war lediglich der Märtyrertod des Paares Poliuto
WER 67582 (2 CDs)
Koproduktion:
Deutschlandradio
Willkommene Donizetti-Premiere
Giacinto Scelsi
Foto: © Opera Rara
Suite 9 & 10 per pianoforte
Sabine Liebner: Klavier
Vertriebe
Deutschland: New Arts International BV, 02571 / 5819462,
[email protected]
Österreich: Lotus Records,06272 / 73175,[email protected]
Schweiz: Tudor, 044 / 4052646, [email protected]
Ausgabe 2015/2
15
Fordern Sie bitte unseren Katalog an!
WERGO, Weihergarten 5, 55116 Mainz, Deutschland,
[email protected] | www.wergo.de
CLASS : aktuell
Unerhört – exotisch – farbig
Masao Tanibe spielt japanische Gitarrenkonzerte
W
Takemitsus farbenreiche Partitur leuchtet
auch durch exotische Harmonik. Und es ist faszinierend zu erleben, wie sich dissonante Zusammenklänge in reiner Farbe auflösen. Masao
Tanibes makellos virtuoses Gitarrenspiel harmoniert wundervoll mit den einfallsreichen Klangcollagen, die entfernte Ahnungen an Maurice
Ravel oder Claude Debussy assoziieren.
Toshio Hosokawa geht deutlich sparsamer
mit dem Orchester um: lediglich zwei Schlagzeuger treten zum Streicherkorpus hinzu. Und
dennoch entsteht auch hier eine fernöstliche
Klangmagie: Japanische Windglocken verbreiten
als Frühlingsboten ein apartes asiatisches Kolorit.
Und wenn die Sologitarre dann wie eine Koto zu
spielen ist, ist die japanische Illusion perfekt.
Hikaru Hayashis Konzert beschränkt sich in der
Begleitung komplett auf Streichinstrumente; der
Einfluss amerikanischer Meister der Streichorchesterkomposition ist unüberhörbar.
Für Masao Tanibe geht mit dieser Produktion
ein Herzenswunsch in Erfüllung. Der weltgewandte Gitarrenvirtuose hat in Europa studiert,
blieb dabei aber seinen kulturellen Wurzeln treu.
Japanische Gitarrenkonzerte
Toru Takemitsu (1930-1996)
To the Edge of Dream
Toshio Hosokawa (*1955)
Voyage IX – Awakening
Hikaru Hayashi (1931-2012)
Concerto „Northern Sail“
Masao Tanibe, Gitarre
Erzgebirgische Philharmonie Aue
Naoshi Takahashi, Ltg.
MDG 901 1901-6 (Hybrid – SACD)
Die Verschmelzung zwischen japanischer Komposition und europäischer Orchestertradition
gelingt mit der Erzgebirgischen Philharmonie
Aue perfekt, und die fein abgestimmte SACD
bringt diese Symbiose im 2+2+2-Sound ideal
zur Geltung. Eine Entdeckung! Klaus Friedrich
Foto: © Rikimaru Hotta
Foto: © Dirk Rückschloß
as für zauberhafte Klänge! Gestopfte
Hörner mit Klarinetten, Streichertriller im Pianissimo-Unisono mit gedämpften Blechbläsern, dann Vibrafon, Celesta und zwei Harfen… Toru Takemitsu
ist ein Magier der Instrumentation. Ein riesenhaftes Orchester begleitet die zarten Töne der
Sologitarre in „To the Edge of Dream“, das der
Virtuose Masao Tanibe jetzt auf einer vielfar­bi­
gen SACD eingespielt hat. In Kombination mit
„Voyage IX – Awakening“ von Toshio Hosokawa
und dem Concerto „Northern Sail“ von Hikaru
Hayashi ist eine hochinteressante Moment­
aufnahme der derzeit führenden Generation
japanischer Komponisten im Genre Gitarrenkonzert gelungen. Den überaus anspruchs­
vollen Orchesterpart übernimmt die Erzgebirgische Philharmonie Aue – mit Chefdirigent
Naoshi Takahashi am Pult.
Masao Tanibe
Gespannte
Aufmerksamkeit
bei der
Produktion
16
Ausgabe 2015/2
Profil
CLASS : aktuell
Edition
Günter
Hänssler
BRUCKNER – ZYKLUS
Gerd Schaller & Philharmonie Festiva
– Live Einspielungen vom Ebracher Musiksommer –
Gerd Schaller, Dirigent, Gründer und künstlerischer
Leiter des Ebracher Musiksommers
Die Messe ist
PH14021
durchwegs einheitlich und in großem Styl gehalten,
ernst und würdevoll
würdevoll.
PH14020
Johann Ritter von Herbecks „Große Messe e-Moll für Chor,
Orgel und Orchester“, wiederentdeckt von Gerd Schaller, wurde
im Rahmen des Ebracher Musiksommers 2014 aufgeführt und
vom Bayerischen Rundfunk – Studio Franken als Ersteinspielung
für Profil-Edition Günter Hänssler aufgenommen.
G
erd Schaller hat sich mit seinen BrucknerInterpretationen international einen Namen gemacht, darüber hinaus ist er EchoMusikpreisträger: Die bis dahin völlig in Ver­gessenheit geratene Oper „Merlin“ von Carl Goldmark
wurde mit dem Echo Klassik 2010 ausgezeichnet.
Auch mit der Einspielung des Requiems von Franz
von Suppé gelang Gerd Schaller ein großer Wurf.
Ein Requiem von Suppé? Ja, und was für eines –
Gerd Schaller liebt die Entdeckung und die Aufführung unbekannter Kompositionen. So forscht
er in Bibliotheken nach vergessenen Werken und
macht damit Furore. Wie z.B. die Oper „Merlin“:
Die Aufnahme wurde über Nacht zum Erfolg.
Johann Ritter von Herbeck (1831-1877)
Große Messe e-Moll
für Chor, Orgel und Orchester
Philharmonischer Chor München
Einstudierung: Andreas Herrmann
Wieland Hofmann, Orgel
Philharmonie Festiva, Gerd Schaller
Profil Edition Günter Hänssler PH15003
Mit der Einspielung der Großen Messe von
Johann Ritter von Herbeck will der Dirigent ein
weiteres Werk vor der endgültigen Vergessenheit bewahren „Und das lohnt sich bei diesem
Werk – diese Messe hat etwas Funkelndes,
Spielerisches, Leuchtendes.“
Schon der große Musikkritiker Hanslick hat
die Qualität der Messe bestätigt: „Die Messe ist
durchwegs einheitlich und in großem Styl gehalten, ernst und würdevoll. [....] Der Chorsatz
herrscht ausschließlich, meistens sechs- und achtstimmig; [...] Die Krone des Ganzen ist das Agnus
Dei, ein streng achtstimmiger Satz voll Kraft und
Weihe, ein Musikstück, dessen kunstvolles Gefüge
den Kenner fesselt, ohne den unbefangenen, andächtigen Zuhörer zu drücken. Echte contrapunktische Kunst, welche Schwierigstes löst, ohne es
zum ästhetischen Zweck zu machen, bewährt der
Componist im Credo und Gloria, namentlich in der
Fuge „Cum sancto spiritu“. […] Daneben leuchtet aus den vocalen Klangwirkungen die feinste
Kenntniß des modernen Männergesanges, aus
dem Orchester die vollständige Herrschaft über
den Besitz der gegenwärtigen Instrumentalkunst.“
Somit wird deutlich, dass sogleich zu Beginn der Rezeption zu dieser herausragenden
Messe erkannt wurde, dass viel Eigenes, Neues,
Weg­bereitendes und zugleich Retrospektives wie
Traditionelles in diesem großen Stück Kirchen­
musik vereint ist. So hat die Herbeck-Messe
ihren eigenen, ganz besonderen Stellenwert in
der Kirchenmusikgeschichte des 19. Jahrhunderts, der nun dank dieser Ausgrabung und
Welterst­einspielung auch entsprechend gewürdigt werden kann. Kerstin Hänßler
Ausgabe 2015/2
17
Carragan-Edition
2 CD
PH13027
Carragan-Edition
PH13049
Carragan-Edition
3 CD
PH12022
Carragan-Edition
4 CD
PH11028
„Anton Bruckners Sinfonien kennen Sie nur
als stundenlange, bleischwere Boliden?
Dann hören Sie mal die Philharmonie Festiva unter
der Leitung von Gerd Schaller an!“ (artistxite.de 9/14)
Erhältlich im Fachhandel!
Profil
Edition
Günter
Hänssler
Profil Medien GmbH . Edition Günter Hänssler
www.haensslerprofil.de
Vertrieb: NAXOS DEUTSCHLAND GmbH . www.naxos.de
Foto: © Dagmar Titsch
CLASS : aktuell
Die 35 jungen Sängerinnen vom Aarhus Pigekor aus Dänemark
begeistern mit einer weiten Ausdruckspalette
Sängerhochburg Magdeburg
Europas beste Laienchöre messen sich bei den
European Choir Games
V
om 5. bis 12. Juni dieses Jahres finden
die zweiten European Choir Games statt
und Magdeburg wird sich dank tau­
senden singbegeisterten Menschen aus
vielen verschiedenen Ländern Europas in eine
wahre Hochburg des Singens verwandeln. Die
Spiele werden ausgetragen von „Interkultur”,
einem der weltweit führenden Initiatoren und
Veranstalter internationaler Chorwettbewerbe,
mit dem Ziel, Menschen aller Länder, Kulturen
und Weltanschauungen im friedlichen Wettbe­
werb zusammenzubringen.
Den hier aufeinandertreffenden weltbesten
Laienchören und anderen Preisträgern bei in­
ternationalen Wettbewerben von „Interkultur”
gibt das Label Hänssler Classic mit der Reihe
„The Choir Project“ seit 2014 eine starke und
bunte Stimme – so vielfarbig und vielseitig wie
die Kulturen der Chöre und Vokalensembles
selbst, die ein breit gefächertes Repertoire von
Barock bis Pop präsentieren. Inzwischen sind
unter „The Choir Projekt“ drei hervorragende
Einspielungen erschienen, die alle vor hörbarer
Singfreude und sängerischer Energie strotzen
– und das auf höchstem musikalischen Niveau.
Die erste Einspielung „Tuesdays“ stellte den
holländischen Chor Dekoor Close Harmony vor
– Gewinner zahlreicher internationaler Wettbe­
werbe und einer der bekanntesten Chöre in den
Musical Movements
Aarhus Girls Chor
Hänssler Classic CD-Nr. 94.704
Niederlanden. In elf Songs, teils neu komponiert,
teils Coverversionen entfacht Dekoor ein vo­ka­
les Feuerwerk, das durch seinen farblichen
und rhythmischen Reichtum schon beinahe
Happening-Charakter hat.
Das international vielfach preisgekrönte
österreichische Vokalensemble Lalá ist vor allem
durch seinen einzigartig homogenen Klang, die
unverwechselbaren Interpretationen und das
unverkennbare Timbre bekannt geworden. Die
vier SängerInnen bewegen sich quer durch
die Musikgeschichte: Franz Schubert, Johannes
Brahms, aber auch ein Titel von Earth, Wind and
Fire, Wienerlieder und Eigenkompositionen.
Mit der aktuellen Folge von „The Choir
Project“ kommt nun eine vokale Botschaft aus
Dänemark: Der Mädchenchor aus Aarhus – auf
gut dänisch: Aarhus Pigekor. Die 35 jungen
Sängerinnen bewegen sich musikalisch über­
wiegend auf dänischem Terrain, von einfachen
Volksliedern bis zu modernen Chorwerken.
Besondere Kennzeichen des Chores sind
dabei eine weite Ausdruckspalette, genüsslich
ausgekostete Kontraste und natürlich die von der
Dirigentin Helle Høyer Vedel handverlesenen,
exquisiten Stimmen. Leon Roder
Alles hat seine Zeit
LALÀ
Tuesdays
Dekoor Close Harmony
Hänssler Classic CD-Nr. 94.702
Hänssler Classic CD-Nr. 94.701
18
Ausgabe 2015/2
Kenneth Tarver
Douglas Boyd
www.musikkollegium.ch
Verschwörer, Liebhaber,
Doppelspitze
Das Musikkollegium Winterthur mit einer
habsburgischen Operngala
M
ozart und Salieri – eine ganz besondere Beziehung. Spätestens seit
Milos Formans „Amadeus“ sind
Legenden und Verschwörungstheorien Allgemeingut geworden. Die künstlerische
Qualität Salieris gerät da immer mal in den
Hintergrund – dabei hat er entschiedenen Anteil am Glanz der Wiener Oper. Salieri führte
die unterschiedlichsten Strömungen zusammen
und verhalf Glucks Pariser Opernreform in der
Habsburger Metropole zum Durchbruch. Das
Musikkollegium Winterthur hat seine jüngste
Veröffentlichung ganz den beiden Alphatieren
am Hofe Joseph II. gewidmet – ein mitreißender Opernabend, der nicht nur die Freunde des
Musiktheaters begeistert.
Mit Becken und Trommeln eröffnet Salieri
„Axur, Re d´Ormus“. Die Janitscharenklänge
machten die Oper weit über Wiens Grenzen hinaus bekannt. Etliche Arien finden sich heute noch
in Musikautomaten und Flötenuhren in ganz
Europa. Mit der Ouvertüre, der Sopranszene
„Come fuggir“ und dem Duett „Qui dove ride“
stehen drei echte Knaller auf dem Programm.
Zehn Jahre vor „Axur“ eröffnete die Mailänder
Scala – mit einer Oper von Salieri natürlich: „Ah!
Lo sento“ aus „L´Europa riconosciuta“ zeigt,
warum Salieri über lange Zeit der führende
Opernkomponist Europas war.
Mozart musste sich also anstrengen. Das tat
er mit Erfolg: Für eine Wiener Produktion seines
„Idomeneo“, der für die Münchner Residenz kurz
vor Mozarts Übersiedlung nach Wien entstand,
arbeitete er einige Teile um und fügte Neues
hinzu. Ein Glücksfall: Im zauberhaften Duett
„Spiegarti non poss´io“ verschmelzen Sen Guo
und Kenneth Tarver in
wunderbarer Innigkeit,
und im Rondo „Non
temer, amato bene“
glänzt Kon­zert­meis­­ter
Roberto González Monjas mit geschmei­
diger
Umspielung der Tenorpartie. Die gran­
diose
Ballettmusik war schon
in München der krönende Abschluss – eine
Referenz an das wohl
beste Orchester der damaligen Zeit.
Auch die leisen
Töne sind in Winterthur
bestens aufgehoben:
Douglas Boyd entlockt
seinem Orchester mit
den „Sechs ländlerischen Tänzen“ aus Mozarts
letztem Lebensjahr zarteste Farben, die auf dieser liebevoll gearbeiteten Doppel-SACD perfekt
zum Leuchten kommen. Am besten natürlich in
3D Wiedergabe – die festliche Gala für Zuhause!
Klaus Friedrich
Ausgabe 2015/2
19
Sen Guo
W. A. Mozart (1756-1791)
Antonio Salieri (1750-1825)
Arien und Ouvertüren
Sen Guo, Sopran; Kenneth Tarver, Tenor
Musikkollegium Winterthur; Douglas Boyd, Ltg.
MDG 901 1897-6 (2 Hybrid – SACDs)
Fotos ©: S. Guo: Marcel Sauder; K. Tarver: Joan Tomàs; D. Boyd: Pablo Faccinetto Photography
CLASS : aktuell
CLASS : aktuell
In Vorbereitung:
Johann Georg Linike:
mortorium
Concert Royal Köln
Bereits als SACDs erschienen
(Stereo, Surround Sound und
3D-Binaural-Stereo):
Max Reger Edition:
Sämtliche Orgelwerke Vol. 1-3
Martin Schmeding auf
verschiedenen historischen Orgeln
Musicaphon M56972
Cybele SACD
051501 / 051502 / 051503
Foto: © Martina Leymann
Dreidimensionale Kopf-Hör-er-lebnisse
HEAD
Kunstkopf
Advanced Headphone Amplifier
www.hd-klassik.com/aha
Ingo Schmidt-Lucas
D
r. Rainer Kahleyss, Inhaber der Firma
Klassik Center Kassel, im Gespräch mit
Ingo Schmidt-Lucas, Geschäftsführer des
Klassik-Labels Cybele Records sowie der Download-Plattform hd-klassik.com.
Die V­erbreitung von hochwertigen Kopf­hö­rern hat in den letzten Jahren ja
stark zugenommen. Was muss man sich
unter einem dreidimensionalen KopfHör-Erlebnis vorstellen?
Eine dreidimensionale Aufnahme (3D-Binaural-Stereo) wird mithilfe eines künstlichen
Kopfs (Kunstkopf) realisiert, der aufgrund
seiner der menschlichen Anatomie nachempfundenen Geometrie in der Lage ist, eine Aufnahme in sehr ähnlicher Weise abzubilden
wie sein menschliches Vorbild. Durch dieses
einzigartige Verfahren wird der Hörer quasi
direkt an den Ort des Geschehens versetzt, so
als würde er die Aufnahme live mit­erleben,
wodurch sich dieses Aufnahmeverfahren von
allen anderen unterscheidet.
Ich habe selbst einige 3D-Binaural-StereoAufnahmen gehört; die klanglichen
Vorzüge sind bestechend. Warum ist die
Verbreitung auf dem Markt noch nicht so
groß wie sie eigentlich sein sollte?
Ich denke, dies liegt unter anderem daran, dass
Tonmeister und Künstler oft im Nachhinein
Aufnahmen im Studio weiter abmischen möch-
ten. Und dies geht nur mit konventionellen
Aufnahmeverfahren, bei denen meistens jedes
Instrument ein eigenes Mikrofon bekommt, was
natürlich bequemer ist, weil man somit während
der Aufnahme die Abmischung des Klangs noch
nicht komplett festlegen muss.
Ich kenne jedoch keinen Menschen, der sich
sozusagen gleichzeitig an verschiedenen Mikrofon-Positionen im Raum befinden kann. Wir
sitzen immer nur an einer Position. Insofern
entspricht eigentlich keines der konventionellen
Aufnahmeverfahren dem natürlichen mensch­
lichen Hören.
Bei einer 3D-Binaural-Stereo-Aufnahme „mischt“
man ausschließlich durch die Position des
künstlichen Kopfs ab – oftmals zentimeter­
genau –, so als würde man im Konzert entscheiden, welchen Sitzplatz man einnimmt –
ein äußerst puristisches Verfahren, durch das
alle Feinheiten der Aufnahme lebendig per
Kopfhörer abgebildet werden können.
Kopfhörerverstärkers berücksichtigen?
Wir haben dieses Jahr einen Kopfhörerver­
stärker (Advanced Headphone Amplifier) entwickelt, der die Fertigungstoleranzen von Kopfhörern individuell ausgleicht. Man schickt uns
seinen Lieblingskopfhörer, der dann von uns
eingemessen wird und danach zusammen mit
dem hd-klassik Advanced Headphone Amplifier
eine klangliche Einheit bildet. Die klanglichen
Unterschiede zwischen normalen Kopfhörerverstärkern und unserem Verstärker sind
deutlich hörbar, wie uns viele Musik-Begeisterte bestätigt haben. Und das ebenfalls bei
herkömmlichen Stereo-Aufnahmen, die mithilfe unseres Verstärkers deutlich realistischer
abgebildet werden.
Was braucht man als Endverbraucher, um in
den Genuss dieses 3D-Sounds zu gelangen?
Man benötigt keine üppig ausgestattete Surround-Anlage, sondern lediglich 3D-BinauralStereo-Aufnahmen, einen handelsüblichen Kopfhörer sowie im Idealfall einen auf den eigenen
Kopfhörer eingemessenen Kopfhörerverstärker.
Was ist ein ‚eingemessener Kopfhörerverstärker‘? Was muss man bei der Wahl des
Ausgabe 2015/2
21
In Vorbereitung (Veröffentlichung Juli 2015):
Johann Sebastian Bach: Werke für Cembalo
Fritz Siebert, Cembalo
Cybele SACD 031517
CLASS : aktuell
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 9
Staatl. Russisches Sinfonieorchester
Mark Gorenstein, Ltg.
MDG 648 1719-2 (2 CDs)
Josef Bohuslav
Foerster
Gustav Mahler
Und immer wieder Sinfonien…
Gustav Mahler: Das klagende Lied
Blumine (Sinfonie Nr. 1)
Sinfonie Nr. 10
Beethoven Orchester Bonn
Stefan Blunier, Ltg.
MDG 937 1804-6 (Hybrid – SACD)
Gustav Mahler – Hermann Behn
Sinfonie Nr. 2 c-moll
„Auferstehungssinfonie“
Fassung für 2 Klaviere
Christiane Behn, Mathias Weber
Harvestehuder Kammerchor
Claus Bantzer
Neues von einem unverwüstlichen Genre
M
usik spiegelt einen Teil des kulturellen
Lebens. Und solange da Leben ist, ist
auch Veränderung. Manche Gattungen
der Musik haben ihre Zeit gehabt und
werden zwar noch im Konzert, aber nicht mehr von
Komponisten gepflegt. Andere Genres erfreuen sich
ungebrochener Beliebtheit. Unter diesen „Dauer­
läufern“ finden wir die Sinfonie. Und so ist es immer
wieder interessant zu verfolgen, wie gerade ent­
sprechende Musik des 20. Jahrhunderts in neuen
Interpretationen den CD-Markt bereichert.
Auf zu neuen Ufern – wenn ein Komponist die Tür
zu den vielfältigen Erscheinungsformen der Gattung
„Sinfonie“ im 20. Jahrhundert mit seinen monumen­
talen Werken ganz weit aufgestoßen hat, dann war
das Gustav Mahler. Auflösung der hergebrachten Har­
monik (hier war er ein würdiger Nachfolger Richard
Wagners), das Spiel mit vertrackten Rhythmen, die
Aufweichung der strengen Form – all das waren zu
seiner Zeit Pioniertaten. Aber nicht nur die musikali­
sche Welt, sondern auch Gustav Mahlers Seele war in
Aufruhr, als er 1909 sein letztes vollendetes Werk
komponierte. Der Tod der Tochter, die Diagnose einer
unheilbaren Herzkrankheit und die Aufgabe seiner
Direktorenstelle an der Wiener Oper hatten seine Welt
auf den Kopf gestellt. Diese Ereignisse berührten ihn so
sehr, dass er kaum in der Lage war, an frühere Aus­
drucksformen anzuknüpfen. Im Gegenteil: Mahlers
Neunte ist geprägt von akuter Subjektivität; sie handelt
von der Überwindung einer persönlichen geistigen
Krise, von der „Wiedergeburt“ eines Menschen und
ist gleichzeitig ein einzigartiges, nonverbales, auto­
biografisches Testament.
Aufbau und Harmonik von Mahlers 9. Sinfonie
weichen deutlich von der klassischen Form ab. Zwei
große langsame Sätze umrahmen die beiden Scherzi
Musicaphon M56915
Mahler: Symphonie Nr. 2
für 2 Klaviere zu 8 Händen
Brieley Cuttin, Angela Turner, Stephen
Emmerson, Stewart Kelly
Josef Bohuslav Foerster
Sinfonie Nr. 1 und 2
Sinfonieorchester Osnabrück
Hermann Bäumer, Ltg.
Josef Bohuslav Foerster
Sinfonie Nr. 3 und 4
Sinfonieorchester Osnabrück
Hermann Bäumer, Ltg.
Josef Bohuslav Foerster
Sinfonie Nr. 5
Sinfonieorchester Osnabrück
Hermann Bäumer, Ltg.
Melba MR301144
MDG 632 1491-2
MDG 632 1492-2
MDG 632 1493-2
22
Ausgabe 2015/2
Profil
CLASS : aktuell
Edition
Günter
Hänssler
CLASSICS
on the move
unterschiedlichen Charakters, die Tonarten wech­
seln und Anklänge zu Schönbergs Experimenten
sind erkennbar. Die orchestrale Struktur ist zu­
dem so dicht, dass Mahler mehr als einmal die
Grenzen menschlicher Auffassungskraft touchiert.
Und dann dieser völlig untriumphale verinner­
lichte, versöhnliche, nie enden wollende Schluss­
satz, in dem die Musik letztlich unmerklich in
die Sphäre des Unhörbaren verschwindet. Das
ist ergreifend und ungeheuerlich. Und beein­
druckend gelungen.
Mit ungeheurer Präzision vermag der 65-jäh­
rige Mark Gorenstein seinen 120-köpfigen Klang­
körper zu motivieren. Nach Eugene Onegin folgt
in MDGs Live-Reihe mit Mahlers 9. Sinfonie
sofort ein weiterer Bolide der symphonischen
Spätromantik mit dem Staatlichen Russischen
Sinfonieorchester. Und es lohnt sich, man spürt
vom ersten Augenblick an den Sog, mit dem die
riesigen klanglichen Entwicklungen mit Herzblut
durchlebt werden und in den Trugschlüssen
des berühmten Adagio-Finalsatzes kulminieren.
Mahler mit russischer Seele – wer kann sich
dem entziehen (MDG 648 1719-2).
Überhaupt hatte Mahler etwas „russisches“
(wenn es überhaupt erlaubt ist, von solchen natio­
nalcharakterlichen Zügen zu reden). Zeitlebens
schwankte er zwischen begeisterter Euphorie und
tiefster Depression. Die Programmzusammen­
stellung der MDG 937 1804-6 zeigt das in sehr
anschaulicher Weise; sie vereint nämlich „Das
klagende Lied“, „Blumine“ und das „Adagio“ der
10. Symphonie. Eigentlich war Mahler klar, dass
er eine 10. Sinfonie (nach Beethovens 9.) nicht
vollenden würde. Immerhin hatte er ja zwei
„Liederzyklen“ schon aus diesem Grunde bewusst
aus seiner symphonischen Zählung herausgenom­
men. Notizen am Rande der Partitur machen den
Blick in persönliche Abgründe frei: „Für dich
leben! Für dich sterben! Almschi!“… Musste aus
ähnlichen Gründen das idyllische „Blumine“-An­
dante weichen, das ursprünglich als zweiter Satz
der ersten Sinfonie angelegt war? Offenbar lugt
auch hier das Unheil bereits um die Ecke…
Stefan Blunier hat mit hervorragenden Pro­
grammen und kluger Disposition in der letzten
Zeit seinem Beethoven Orchester Bonn einen
sicheren Platz in der Diskografie verschafft. Die
feine 2+2+2- Mehrkanalaufnahme im gewohnt
schnörkellosem Naturklang des Labels MDG bietet
eine fantastische Klangbühne, auf der Blunier
mit expressivem Dirigat die gewaltige Spanne
von den fahlen, geradezu leblosen Eingangs­
tönen der Bratschen bis zum schwelgerischen
Kolossalklang scheinbar mühelos bewältigt.
Der oft skrupulöse Mahler hegte für seine
2. Symphonie eine ganz besondere Zuneigung.
Mehrfach gab es Versuche, dieses Riesenwerk
zu arrangieren. Den ersten unternahm Mahler
selbst, als er 1891 dem Dirigenten Hans von
Bülow den ersten Satz am Klavier vorstellte.
Dieser Versuch allerdings misslang; Bülow kom­
mentierte: „Wenn das Musik sein soll, verstehe
ich von Musik überhaupt nichts!“ Geglückt da­
gegen sind Arrangements von Mahlers Freund
Hermann Behn für zwei Klaviere (Musicaphon
M56915) und von Bruno Walter für Klavier
vierhändig. Auf Melba MR301144 wird die be­
setzungstechnisch aufwendigste Fassung vorge­
stellt; Heinrich von Bocklets Version für zwei
Klaviere vierhändig, also achthändig, wurde
1914 wenige Jahre nach Mahlers Tod von der
Universal Edition publiziert. Diese uns heute
exotisch vorkommende Besetzung war zu ihrer
Entstehungszeit nichts Besonderes; eine er­
staunlich große Zahl von Orchesterwerken ist um
die Wende zum 20. Jahrhundert in dieser Form
bearbeitet worden. Von Bocklets Fassung der
2. Symphonie erklingt hier in Ersteinspielung.
Unter den Freunden Mahlers findet sich ein
Talent aus Tschechien: Josef Bohuslav Foerster
(1859-1951). Der kann sich eine Karriere als
Musiker, Maler, Schauspieler oder Dichter vor­
stellen. Er wird Kirchenmusiker (ausgebildet
bei Dvorák), Autor und Komponist. Nach seiner
Hochzeit zieht das Paar nach Hamburg, freun­
dete sich mit Mahler an, der ihn als Dirigent an
die Wiener Hofoper beruft. Foerster stirbt 1951
hoch geehrt in seiner Heimatstadt Prag.
Zu Beginn seiner Hamburger Zeit kompo­
nierte er seine 3. Sinfonie mit dem Titel „Das
Leben“. Hier zeigt sich ein hochtalentierter,
von den unterschiedlichsten musikalischen Ein­
flüssen inspirierter Komponist. Mal glaubt man
Anklänge an Wagner zu hören, dann wieder von
Dvorák, schließlich von Bruckner oder doch
von Mahler. Foersters Botschaften sind subtil.
Wie individuell und mit viel Feingefühl er seine
dritte Sinfonie gestaltet hat, erfahren aufmerk­
same Zuhörer dennoch – und sind umso mehr
verzaubert von slawischer Terzenseligkeit und
natürlich einem böhmisch klingenden Scherzo.
Am Karfreitag 1904 begann Foerster die Kom­
position der „Osternacht“. Eine reine Meditation
sollte es nicht werden, im Gegenteil: Den ersten
Satz seiner 4. Sinfonie widmet er den Ostertagen,
wie der Erwachsene sie erlebt, im zweiten Satz
schildert er die Feiertage mit den Augen eines
Kindes. Dann ein Gebet und schließlich das Finale
zur Feier des auferstandenen Heilands…
Ausgabe 2015/2
23
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CLASS : aktuell
Max Bruch: Sinfonie Nr. 2
Violinkonzerte Nr. 3, op. 58
Sinfonieorchester Wuppertal
Gernot Schmalfuß, Ltg.
MDG 335 0868-2
Felix Draeseke: Symphonia tragica,
Ouvertüre zu Gudrun, Symphonischer
Prolog zu Penthesilea op. 50
Sinfonieorchester Wuppertal
George Hanson, Ltg.
MDG 335 1041-2
Franz Schmidt: Sinfonie Nr. 4
Intermezzo aus „Notre Dame“
Beethoven Orchester Bonn
Stefan Blunier, Ltg.
MDG 937 1631-6 (Hybrid – SACD)
Arthur Honegger
Sämtliche Symphonien
Philharmonisches Orchester der Hanse­
stadt Lübeck, Roman Brogli-Sacher
Erst Jahre nach dem plötzli­
chen Tod seines 16-jährigen Soh­
nes Alfréd verarbeitete Foerster
den schmerzlichen Verlust musi­
kalisch. Er entwarf die fünfte Sin­
fonie als Instrumental-Requiem,
das ihn bis zur Uraufführung an
seinem 70. Geburtstag am 2. No­
vember 1929 fünf Jahre lang
intensiv beschäftigte. Das Haupt­
thema des Werkes beginnt mit
einem musikalischen Anagramm:
Foerster wählt die in ausgreifen­
den Sprüngen emporstrebende
Tonfolge a-f-e-d und setzt damit
seinem Sohn ein verstecktes
Denkmal, das vom Sinfonieorchester Osnabrück unter
Leitung seines GMD Hermann Bäumer gekonnt, begeis­
ternd und Echo-prämiert erst­ein­ge­spielt wurde. (MDG
632 1491-2 ; MDG 632 1492-2; MDG 632 1493-2)
Zeitgleich hatte Mahlers und Foersters Kollege
Max Bruch gänzlich anderes im Sinn. Als „musikalische
Sozialdemokratie“ verachtete Bruch (1838 – 1920) alle
kompositorischen Neuerungen seiner Zeit und ging
seinen eigenen, konservativen Weg, den Weg der
großen Oratorien, Chorballaden und Hymnen. 1897,
als Brahms starb, ging für Bruch eine ganze Kunst­
richtung zugrunde: „Was im 20. Jahrhundert aus der
Kunst werden soll, wissen die Götter...“
Erst 1891 bekam er eine Professur für Komposi­
tion an der Königlichen Akademie der Künste Berlin:
„Ein großes Glück ist es, daß ich nun ganz unabhängig
von den Launen des Publikums, der elenden Tages­
presse und der gemeinen Orchestermitglieder bin...“
Nun konnte Bruch sich ganz seinen Idealen hingeben
– der Melodie, der Form und der Schönheit – und
mußte sich nicht mehr Kritiken
wie die zu seiner 2. Sinfonie
anhören: „...pathetisch, düster,
murrsinnig, langweilig!“ (MDG
335 0868-2).
So wie für Max Bruch der
Olymp der Musik von Johannes
Brahms bewohnt wurde, war
Felix Draeseke (1835 – 1913) ein
glühender Verehrer Wagners und
Liszts. Geübt an zahlreichen sym­
phonischen Dichtungen, über­trug
er deren kräftige Melodik und
farbige Harmonik auf nahezu alle
seine Hauptwerke. Dem Be­wun­
de­rer heute erschließen sich die
Bilder in derselben Klarheit, in
der sie Draeseke bei der Kompo­
sition seiner gewichtigen Sym­
phonia tragica vorschwebten...
Das Symphonieorchester
Wuppertal unter der Leitung
von George Hanson präsentiert
Draesekes „Symphonia tragica“,
die „Ouvertüre zu Gudrun“ und
der „Symphonische Prolog“ zu
„Penthesilea op. 50“ – Werke,
die dem spätromantischen Dorn­
röschenschlaf entrissen werden
sollten und heute für manche
ästhetische Überraschung gut
sind.(MDG 335 1041-2).
Gibt es eine Verbindung
Max Bruch
zwischen Gustav Mahler und
Franz Schmidt? Eine äußerliche
schon: Beide führte ihr Weg (auch) nach Wien. Franz
Schmidt wuchs als musikalisches „Wunderkind“ in
Pressburg auf, dem heutigen Bratislawa und Haupt­
stadt der Slowakei. Sein erster Klavierlehrer Theodor
Leschetitzky riet ihm dringend von einer Musiker­
karriere ab: „Wenn einer Schmidt heißt, soll er nicht
Künstler werden.“ Die Schmidts zogen nach Wien,
Franz fand am Konservatorium der Gesellschaft der
Musikfreunde eine adäquate Ausbildung und eine erste
Anstellung als Cellist am Wiener Hofopernorchester
und den Wiener Philharmonikern. Eine leidvolle Er­
fahrung veranlasste Franz Schmidt zu seiner vierten
und letzten Sinfonie. Nachdem er bereits seine erste
Frau in einer Nervenheilanstalt dahindämmern sehen
musste, verlor er 1932 auch noch seine Tochter. Die
vierte Sinfonie wurde ihr Requiem. Vor allem der
zweite Satz, ein bewegendes Adagio, trägt autobiogra­
phische Züge: „So stelle ich mir mein Sterben vor...“
1939 erlag der Komponist einem Herzanfall. Der LiveAuftritt des Beethoven Orchesters Bonn in der Beet­
hovenhalle Bonn vermittelt viel
Atmosphäre und Stefan Blunier
gelingt es den großen roman­
tischen Entwurf der Sinfonie
grandios zu gestalten. Nicht zu­
letzt dank der ausgefeilten und
detailreichen 2+2+2-MehrkanalSACD entsteht ein verschwende­
rischer, lebendiger Hörgenuss
(MDG 937 1631-6).
Weiter führt uns der Weg
nach Westen, in die Schweiz, denn
aus diesem Land kommt einer der
bedeutenden Sinfoniker des 20.
Jahrhunderts: Arthur Honegger.
Felix Draeseke
Geboren 1892 in Le Havre als
Sohn Schweizer Eltern vereinigte
Honegger als Komponist lebens­
lang Eigenschaften des französi­
Musicaphon M56942
24
Ausgabe 2015/2
CLASS : aktuell
Franz Schmidt
schen und des deutschsprachigen Kulturkreises
in sich, was ihn zu einem der reizvollsten Musiker
seiner Zeit machte. Vielseitigkeit und Offenheit
verschiedensten Stilen gegenüber, der Willen und
das Können zur Anknüpfung an die (deutschromantische) Tradition sowie der Mut zu neuen
Themen und Formen zeichnen sein Werk aus, das
er vor allem in Paris, wo er seit 1913 dauerhaft
lebte, schuf. Er gehört zu den sechs Komponisten,
die auf merkwürdige Art und Weise zu Mitgliedern
einer vermeintlich programmatischen Gruppie­
rung wurden, denn nur mehr oder weniger zu­
fällig kam die Gründung des „Groupe des Six“
zustande. Honegger hielt sich bei gemeinsamen
theoretischen Äußerungen der Six zurück, jedoch
beteiligte er sich an Gruppenprojekten wie dem
Kollektivballett „Les Mariès de la Tour Eiffel“
(1929/30). Am stärksten hatten ihn von Jugend
auf Richard Wagner, Max Reger und Richard
Strauss, also die spätromantische deutsche Musik,
beeinflusst. Mit Darius Milhaud besuchte er den
Unterricht von André Gédalge, um auch später
wieder die harmonische Komplexität und den
polyphonen Reichtum der Musik Johann Sebastian
Bachs zu schätzen und in seinen Werken auf­
zugreifen. Für ihn stand im Zentrum der Auf­
merksamkeit die detaillierte und ernsthafte
Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Instru­
ment, wie sie am besten in der Kammermusik
möglich war. Zugleich aber hatte er Sinn fürs
Provokative und Unkonventionelle, wie er es
in seinen programmatischen Orchesterwerken
„Pacific 231“ (1923) und „Rugby“ (1928) oder
auch in seinen Filmmusiken vorführte. Mit ihren
auf die moderne Welt bezogenen Titeln wurden
sie schnell berühmt. Honegger kultivierte in sich
eine Mischung aus Bürgerschreck und solide
gegründetem Handwerk, die ihn zu einem, wenn
nicht dem herausragenden Komponisten im Kreis
der Six werden ließ. Und seine fünf Sinfonien, in
denen er zeitgeschichtliche Ereignisse verarbei­
tete, sind Werke von ganz eigener Stilistik und
Qualität. Roman Brogli-Sacher hat sie über meh­
rere Jahre mit dem Orchester der Hansestadt
Lübeck eingespielt (Musicaphon M56942).
Ein Generationsgenosse und Landsmann
Honeggers war Frank Martin (1890-1974). Er
hatte nur einen musikalischen Lehrer, Joseph
Lauber, der ihn Klavier, Harmonie und Kompo­
sition lehrte. Später war er eng verbunden mit
Emile Jaques-Dalcroze, der ihm die Technik der
Rhythmik nahebrachte. Martin war beschäftigt als
Pianist und Cembalist, und während des Zweiten
Weltkrieges war er Präsident der L’Association
Suisse des Musiciens. 1946 siedelte er in die
Niederlande über, und von 1950 bis 1957 unter­
richtete er Komposition an der Musikhochschule
Köln. In seinem persönlichen Stil, den er erst Ende
der 1930er Jahre ausbildete, entwickelte Martin
eine Synthese aus der Zwölftontechnik Schön­
bergs und der traditionellen tonalen Musik.
Seine „Petite Symphonie concertante“ geht auf
einen Auftrag des Basler Mäzens und Dirigenten
Paul Sacher zurück. Zunächst komponierte Martin
ein Werk für Kammerorchester mit solistischen
Einlagen von Klavier, Harfe und Cembalo, später
schuf er eine Fassung für großes Orchester, hier
zu hören in einer Interpretation durch das Sinfo­
nieorchester Stavanger. Das macht bereits seit
Jahrzehnten international von sich reden. Seine
beiden Schwerpunkte Alte und Zeitgenössische
Musik sowie das große Repertoire norwegischer
Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert und die
hohe künstlerische Qualität des Klangkörpers
machen die Musiker aus Stavanger zu einem
unverzichtbaren Bestandteil des europäischen
Konzertkalenders. Die Verpflichtung von Steven
Sloane als Chefdirigent, die deutliche Aufstockung
der Musikerstellen und der Bau einer neuen
Konzerthalle haben dem Orchester zusätzlichen
Schwung verliehen und setzen deutliche kultur­
politische Akzente (MDG 901 1614-6).
Apropos „Petite Symphonie“: eine der meist
missverstandenen symphonischen Schöpfungen
des 20. Jahrhunderts ist Benjamin Brittens
„Simple Symphony“. Denn das Werk eignet sich
ganz und gar nicht für Schulorchester. „Einfach“
ist die Symphonie allenfalls für den Hörer, und
noch dazu höchst amüsant – das ist Tschaikowsky
mit britischem Augenzwinkern! Zu hören ist
das Werk des Engländers zusammen mit seinen
„Variations on a Theme of Frank Bridge“ und
„Les Illuminations“ auf MDG 901 1275-6, vor­
getragen von der Sopranistin Franziska Hirzel
und dem Kiev Chamber Orchestra unter der Lei­
tung von Roman Kofman. Bei der Gründung des
Kammerorchesters Kiew im Jahre 1963 fungierte
Kofman noch als 1. Konzertmeister. Seit 1990 ist
er künstlerischer Leiter und Chefdirigent des
Orchesters, das in dieser Zeit zu einem Ensemble
Ausgabe 2015/2
25
CLASS : aktuell
Frank Martin
Stavanger Symphony Orchestra
MDG 901 1614-6 (Hybrid – SACD)
Benjamin Britten
Kiev Chamber Orchestra
MDG 601 1275-2
Fritz Brun: Symphonie Nr. 1
Moscow Symphony Orchestra, Adriano
Guild GMCD 7395
Carl Nielsen: Symphonien Nr.1 & 3
Royal Stockholm Philharmonic
Orchestra, Sakari Oramo
BIS BIS-SACD-2048
Allan Pettersson: Symphonien Nr. 1 & 2
Norrköping Symphony Orchestra,
Christian Lindberg
BIS BIS-SACD-2110
der Weltspitze wurde. Ein Orches­
ter, das selbstverständlich im Ste­
hen musiziert, was übrigens in der
Mehrkanalwiedergabe in 2+2+2
Recording deutlich zu hören ist.
Benjamin
Von einem der bekanntesten
Brittens
Komponisten des 20. Jahrhunderts
zu einem der vielen heute zu
Unrecht vergessenen. Fritz Brun (1878-1959) war
Komponist, Dirigent und Pianist. Er studierte er am
Kölner Konservatorium u.a. bei Franz Wüllner. Er schloss
Freundschaft mit Volkmar Andreae, der ebenfalls in
Köln studierte, und mit Othmar Schoeck. Anschließend
folgte eine Anstellung bei Prinz Georg von Preußen in
Berlin als dessen Musiklehrer und Privatmusiker.
Nach dem Tod des Prinzen ging Brun nach London,
gab dort Privatunterricht und schlug sich mit dem
Instrumentieren von Couplets für das Variété durch.
Im Oktober 1902 übernahm er schließlich eine Stelle
als Klavier- und Theorielehrer am Konservatorium
von Dortmund, ein Jahr später an der Musikschule
Bern. 1909 wurde er zum Dirigenten der Sinfonie­
konzerte der Bernischen Musikgesellschaft berufen.
Zudem übernahm er die Leitung des „Cäcilienvereins“
und der „Berner Liedertafel“. Volkmar Andreae brachte
Bruns zweite, vierte, fünfte und neunte Symphonie
zur Uraufführung, Hermann Scherchen die sechste,
siebte und achte Symphonie in Winterthur. Ende der
Saison 1940/1941 legte Brun alle öffentlichen Ämter
nieder und zog in das Dorf Morcote (Kanton Tessin)
am Luganersee, um sich ganz dem Komponieren zu
widmen. Seine 1. Symphonie ist nun auf einer Auf­
nahme mit dem Moskauer Symphonieorchester auf
Guild GMCD7395 zu hören.
Aus Mitteleuropa blicken wir nun nach Skan­
dinavien, zu einem der bedeutendsten nordischen
Sinfoniker: Carl Nielsen (1865-1931). 1892, Nielsen
war Mitte zwanzig, schrieb er seine erste Symphonie.
Der merkt man an, mit welchem Respekt Nielsen
vorangegangenen Meistern begegnete. Das Werk ist
ganz klassisch in seinen Proportionen; vieles erinnert
an Schumann. Aber gleichzeitig zeigen sich Affinitäten
zum fiebrigen Stil eines Berlioz, dem lyrischen Ton
eines Grieg und der rhythmischen Vitalität eines
Svendsen, der auch die Uraufführung dirigierte (mit
Nielsen als Orchestermusiker in den Reihen der 2. Vio­
linen). Das zweite Werk auf dieser SACD, eingespielt
vom Königlichen Stockholmer Sinfonieorchester
unter Leitung seines Chefdirigenten Sakari Oramo,
dokumentiert Nielsens endgültigen Durchbruch als
Symphoniker. Etwa 20 Jahre nach der 1. entstand die
3. Symphonie, später „Sinfonia espansiva“ untertitelt.
Ein großer Erfolg; in kürzester Zeit hatten Orchester
in ganz Europa Aufführungen dieser Symphonie auf
den Konzertplänen. Der Grundton des 2. Satzes, der
26
Carl
Nielsen
auch auf Nielsens Beerdigung gespielt wurde, ist
nach Worten des Komponisten, die „friedliche Atmo­
sphäre darzustellen, wie sie im Paradies geherrscht
haben mag vor dem Fall unserer Ureltern Adam
und Eva.“ (BIS-SACD-2048).
Allan Pettersson (1911-1980) war eine sehr
eigene, eigenwillige Stimme nicht nur innerhalb der
schwedischen, sondern der gesamten europäischen
Musik des 20. Jahrhunderts. Er begann als Kind ar­
mer Eltern mit einer von seinem Bruder gebastelten
Fidel, wurde 1939 in die königliche Stockholmer
Philharmonie als Bratscher aufgenommen – und fing
zu dieser Zeit an, zu komponieren. Ab Ende der
1940er Jahre konzentrierte er sich dann ganz auf die
Komposition; es entstand ab 1951 seine „Symphonie
Nr. 1“, die er nie vollendete. Nach diesem ersten Ver­
such komponierte er noch 15 weitere Symphonien
und hinterließ bei seinem Tod 1980 ein weiteres
Fragment. Daneben schrieb er nur sechs andere
Werke; er war halt durch und durch Symphoniker.
Auf BIS-SACD-2110 hat das Norrköping Symphonie­
orchester unter der Leitung von Christian Lindberg
nun die Symphonien 4 und 16 eingespielt. Nur die
Jahre vor der Veröffentlichung der 4. Symphonie
scheinen Jahre des kompositorischen Innehaltens
gewesen zu sein, ausgelöst durch den Misserfolg der
3. Symphonie 1956. Die 4. hat einen biographischen
Bezug; Petterssons Mutter war gestorben, und er schrieb
in sein Tagebuch: „Symphonie Nr. 4. für meine Mutter,
die heimgegangen ist in das Leben, in dem Güte in Gott
verkörpert wird.“ Die choralartigen Passagen dieser
Symphonie werden direkt inspiriert sein durch die
Lieder, die ihm seine tief religiöse Mutter in seiner
Kindheit vorgesungen hat. Ganz anders der Ansatz
der 16. Symphonie, in der Pettersson das Saxophon
solistisch auftreten lässt und die von der Spannung
zwischen wilden, eruptiven und langsamen, ruhigen
Abschnitten lebt. Als Bonus liegt der SACD eine DVD
bei mit einem zweiundfünfzigminütigen Interview, 1974
von Sveriges Television aufgezeichnet: „Vem fan är Allan
Pettersson?“ (Wer zur Hölle ist Allan Pettersson?)
Und was „zur Hölle“ treibt bis heute Komponisten,
sich mit dieser traditionsbehafteten Form immer wieder
auseinander zu setzen? Eine Frage, die auch dieser
Artikel sicher nicht erschöpfend beantworten konnte.
Die Entwicklung geht weiter. Bleiben Sie dran!
A. Rainer
Ausgabe 2015/2
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Kammermusik
Werke für Flöte und Klavier
Reinecke: „Undine“-Sonate op. 167
Prokofiev: Sonate D-Dur op. 94
Enescu: Cantabile et Presto;
Hindemith: Sonate (1936);
Dohnányi: Aria op. 48,1
Daniela Koch, Flöte
Oliver Triendl, Klavier
Indésens INDE074
Die junge Flötistin Daniela Koch
begann mit 16 Jahren ihr Studium am
Mozarteum in Salzburg bei Michael
Martin Kofler. Sie wurde vom Konzert­
haus und Musikverein Wien als „Rising
Star“ der European Concert Hall Organi­
sation nominiert. In diesem Rahmen gab
die Flötistin Rezitale in vielen europäi­
schen Konzertsälen von internationalem
Rang. Weitere Konzerte führten die Flö­
tistin außerdem bislang unter anderem
nach Kanada, die USA und nach Japan.
Ein Rising Star lässt
aufhorchen
Nicht zuletzt durch ihre zahlreichen
Wettbewerbserfolge konnte sich Daniela
Koch in der Musikwelt schnell einen
Namen machen. So gewann sie als
jüngste Teilnehmerin im April 2009 den
1. Preis bei der 7. Kobe International
Flute Competition – dem größten und
bedeutendsten internationalen Flöten­
wettbewerb. Beim 59. Internationalen
Musikwettbewerb der ARD in München
im September 2010 konnte sie als
jüngste Finalistin mit dem 2. Preis so­
wie einem Sonderpreis den nächsten
Erfolg verzeichnen.
Nach Stipendien der Orchesteraka­
demie der Münchner Philharmoniker,
sowie der Sommerakademie der Wiener
Philharmoniker ist Daniela Koch seit
April 2011 Soloflötistin der Bamberger
Symphoniker. Auf dieser, ihrer zweiten
CD, widmet sie sich zusammen mit dem
bekannten Pianisten Oliver Triendl dem
großen europäischen Flötenrepertoire
vom späten 19. bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts.
Claude Debussy (1862-1918)
Klaviertrio in G (1880)
Maurice Ravel (1875-1937)
Klaviertrio a-Moll (1914)
Trio Parnassus
MDG 303 0272-2
fantasia italiano – per clarinetto
e piano
Domenico Mirco: Fantasia sopra motivi
dell‘opera Mosè (Rossini);
Iwan Müller: Fantasie „Di piacer mi balza
il cor“ (Rossini) / Fantasie „Ecco ridente
in cielo“ (Rossini)
Donato Lovreglio: Fantasia da Concerto
„La Traviata“ (Verdi)
Giacomo Setaccioli: Sonata in Es op. 31
Eindrucksvolle Gehversuche eines
ganz Großen: Das Klaviertrio ist Claude
Debussys erste erhaltene Instrumental­
komposition. Erst in den 1980er Jahren
entdeckt, erlaubt das jugendlich-unge­
stüme Werk einen spektakulären Ein­
blick in die künstlerische Entwicklung
des späteren Meisters des französischen
Impressionismus. Das Trio Parnassus
hat diese Neuentdeckung seinerzeit als
eines der ersten Ensembles in sein Re­
pertoire aufgenommen und gemeinsam
mit dem reifen Meisterwerk Ravels in
einer exquisiten Digitalaufnahme ein­
gespielt – Grund genug für eine längst
überfällige Neuauflage.
In Maurice Ravels Klaviertrio hin­
gegen zeigt sich die Souveränität eines
selbstbewussten Künstlers. Die für die
Impressionisten so typische Neugier
an fremden Kulturen schlägt sich schon
im Titel des zweiten Satzes nieder:
„Pantoum“ bezieht sich auf eine malai­
ische poetische Deklamationsform, die
Ravel meisterhaft in ein virtuoses
Scherzo über drei rhythmisch konkur­
rierende Themen transformiert. Fernweh
und Bodenständigkeit sind für Ravel
kein Gegensatz: Der letzte Satz weckt
mit wildem Wechsel von 5/4- und 7/4Takt Assoziationen an die baskische
Heimat des Komponisten.
Nach dem großen Erfolg seiner CDEinspielung „Romantische Raritäten für
Klarinette und Klavier“, amb 97879 wid­
mete sich der Klarinettist Rolf Weber
nun Transkriptionen berühmter Opern­
melodien.
Auf Grund seiner langjährigen Erfah­
rung im Orchester des Staatstheaters am
Gärtnerplatz in München war er fas­
ziniert von den kammermusikalischen
Übertragungen ausgewählter Arien
Rossinis und Verdis in den Fantasien
von Domenico Mirco und Iwan Müller
und begeistert von dem Streifzug durch
die Oper „La Traviata“ bei Donato
Lovreglio, wo Motive der ganzen Oper
höchst virtuos in der Fantasio da Con­
certo zusammengefasst wurden.
Mit diesen Fantasien und zusam­
men mit der Sonate in Es von Giacomo
Setaccioli (inspiriert durch das Gedicht
„Sole e amore“ von Giosuè Carducci),
die schon deutlich impressionistische
Anklänge erkennen lässt, gelingt es dem
Duo Weber/Tsuzuki verborgene und
selten zu hörende Schätze zu heben.
Vom Feinsten
Geliebte Oper
Mit dieser maßstabsetzenden Einspie­
lung gab das Trio Parnassus sein Debüt
auf LP bei MDG – der Beginn einer bei­
spiel­losen Erfolgsstory. Mehrere Dutzend
wegweisender Aufnahmen entstanden,
und bis heute veröffentlicht das Ausnah­
meensemble exklusiv beim Detmolder
Edellabel. Zahlreiche Schallplattenpreise,
darunter gleich zwei Mal der begehrte
„ECHO Klassik“, zeugen vom Musizieren
auf allerhöchstem Niveau.
In den drei Sätzen der Sonate, über­
schrieben mit „Nachmittag“, „Abend­
lied“ und „Morgendämmerung“ werden
Stimmungen tonmalerisch nachemp­
funden: spiegelndes Sonnenlicht auf
der Wasseroberfläche, leichter duften­
der Wind, tanzende Abendfeen, sanftes
Wellenrauschen, die Kraft des Morgens
und des aufsteigenden neuen Tages,
Trost und Hoffnung spendend, im
wahrsten Sinne „fantasia italiana“.
Rolf Weber, Klarinette
Kazue Tsuzuki, Klavier
Ambitus AMB96955
Ausgabe 2015/2
27
Joseph Haydn (1732-1809)
Streichquartette Vol. 8
Quartette op. 50 Nr. 2, 3 & 6
Leipziger Streichquartett
MDG 307 1898-2
Mit drei weiteren Werken aus op. 50
setzt das Leipziger Streichquartett seine
Haydn-Edition fort. Dass die vier Sachsen
auf der Höhe der historisch informierten
Interpretationspraxis sind, versteht sich
von selbst, und die Verwendung von Bo­
genmodellen aus dem 18. Jahrhundert
sorgt für ein vielfarbiges Musikerlebnis,
das keine Wünsche offen lässt.
Haydn ist ein Phänomen: Auf der
einen Seite erarbeitet er in mehreren
Werkzyklen die klassische Form des
Streichquartetts, um sie auf dem Höhe­
punkt der Vollendung durch völlig un­
vorhersehbare Einfälle gleich wieder in
Frage zu stellen. Man höre nur einmal
den Anfang des 6. Quartetts: Das Stück
beginnt auf der None, mit einer Wen­
dung, die mehr einer Schlusskadenz
ähnelt; lediglich das Cello sorgt dann
mit pulsierenden Achteln für den nöti­
gen Drive, um in den Satz einzusteigen.
Und eine überaus abenteuerliche Har­
monik lässt auch im weiteren Verlauf
ein Gefühl harmloser Betulichkeit gar
nicht erst aufkommen. Und dann der
Schlusssatz: Eine wilde Bariolage, die
dem Stück den zweifelhaften Beinamen
„Froschquartett“ eintrug…
Frosch und König
Verspielt, gleichzeitig jedoch mit
ländlerischer Derbheit beginnt die CD;
reiche Verzierungen und filigrane Drei­
klangsbrechungen fordern vor allem den
Primarius. Dass sich aus diesen Figura­
tionen im Mittelteil dann eine veritable
Doppelfuge entwickelt, zeigt einmal mehr
den hintergründigen Humor, der Haydns
kompositorische Meisterschaft mit schier
grenzenloser Fantasie verbindet. Gewid­
met sind die Quartette dem preussischen
König, der sich artig mit einem kostba­
ren Ring bedankte…
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Kammermusik
Felix Mendelssohn Bartholdy
Die Klaviertrios:
Trio Nr. 1 d-Moll op. 49
Trio Nr. 2 c-Moll op. 66
Sitkovetsky Trio
BIS BIS-SACD-2109
„Dies ist das Meisterwerk in diesem
Genre in unserer Zeit“, schrieb Robert
Schumann begeistert über Mendelssohns
Klaviertrio in d-Moll, als er das Werk
1840 in seiner Neuen Musikzeitung rezen­
sierte. Es mit den Trios von Beethoven
und Schubert vergleichend, formulierte
er weiter, es sei eine „wunderschöne
Komposition, die auch in kommenden
Zeiten noch unsere Enkel und Urenkel
erfreuen wird.“ Und in der Tat ist das
d-Moll-Trio bis heute eines der belieb­
testen und bekanntesten Kammermusik­
werke Mendelssohns, in dem sich die
melodische Erfindungsgabe des Kom­
ponisten aufs Schönste mit formaler
Meisterschaft und lyrischer Erfindungs­
gabe vereint. Daher ist es sehr er­
staunlich, dass Mendelssohn das Werk
zweimal vor Drucklegung revidierte,
obwohl doch die Musik hier so ganz
natürlich fließt. Schuld daran war (je­
denfalls beim zweiten Mal) der Pianist
Ferdinand Hiller, der den Klavierpart
„streckenweise old fashioned“ fand.
Beliebt, nicht mehr
old fashioned
Also änderte Mendelssohn und stellte
später befriedigt fest, dass „Pianisten das
Werk gerne spielen werden, denn es
gibt ihnen Gelegenheit, sich zu zeigen“.
Einige Jahre später tat er sich mit dem
zweiten Klaviertrio in c-Moll deutlich
leichter. Und dem ersten steht das zweite,
1845 komponiert, qualitativ keineswegs
nach. Zwei Höhepunkte romantischer
Kammermusik, hier vorgetragen von
einem jungen, ambitionierten Ensemble,
dessen Debüt-CD 2014 mit den Trios
von Dvorˇ ák und Smetana als „grandios“
gefeiert wurde.
Alte Musik
La Primadonna
Arien in Arrangements für Oboe von
Andreas N. Tarkmann
Carl Maria v. Weber: Freischütz-Concertino:
Romanze des Ännchen, Cavatine der Agathe,
Ariette des Ännchen
Christoph Willibald Gluck: „Oh, del mio
dolce ardor“ aus Paride ed Elena;
Wolfgang Amadeus Mozart: „Dove sono“
aus Le nozze di Figaro
Gioacchino Rossini: Finale „Naqui
all´affanno“ aus La Cenerentola;
„D´Amor al dolce impero“ aus Armida
Giuseppe Verdi: „O patria mia“ aus Aida;
Elena‘s Bolero „Mercè dillette amiche“
aus I Vespri Siciliani; Violetta‘s Abschied
„Addio del passato” aus La Traviata
Giacomo Puccini: „Sole e amore“ Studie
zu La Bohème; „Storiella d´amore“
Richard Wagner: „Träume“ aus den
Wesendonck-Liedern
Andreas N. Tarkmann: „Intermezzo“, Allegro
Clara Dent, Oboe
Mendelssohn Kammerorchester Leipzig
Coviello CLASSICS COV 91505
Obwohl das Solo-Repertoire für die
Oboe vergleichsweise reichhaltig ist,
wollte die bekannte Virtuosin Clara Dent
für ihre neue CD ein anderes, ganz in­
dividuell maßgeschneidertes Programm
einspielen. Fasziniert von den unmittel­
baren Ausdrucksmöglichkeiten der Ge­
sangsstimme in großen Opern, wünschte
sie sich von Meisterarrangeur Andreas
N. Tarkmann ein ganzes Programm
mit bearbeiteten Arien. Dieser richtete
eine Auswahl von Lieblingsstücken der
Solistin so passend für die Oboe ein,
dass sie auf ihrem Instrument adäquat
zu „singen“ sind. Von Glucks „Paride
ed Elena“, der „Hochzeit des Figaro“
von Mozart über Rossini, Verdis „Aida“
und „La Traviata“ bis Wagner und
Puccini sind die renommiertesten
Komponisten der Operngeschichte mit
bekannten Hits versammelt; bei der
Adaption von Carl Maria von Webers
„Freischütz“ kam sogar ein ganz neues
Concertino heraus. Das gelungene
Ergebnis der Wandlung der Oboe zum
Opernstar ist hier zu hören und fas­
ziniert nicht weniger, als würde man
einer der großen Gesangsdiven, vom
Mendelssohn Kammerorchester Leipzig
kongenial begleitet, lauschen.
28
Christopher Simpson (1605-1669)
20 Ayres for Two Trebles and Two
Basses; Four Divisions
Chelys Consort of Viols
BIS BIS-SACD-2153
(Teilweise Ersteinspielung)
Wir wissen nicht viel über das Le­
ben Christopher Simpsons, kennen ihn
eigentlich nur als exquisiten Komponis­
ten von Musik für Violen, obwohl er zu
Lebzeiten vor allem als Gambenvirtuose,
weniger als Komponist geschätzt wurde.
Bis heute nutzen Gambisten sein Hand­
buch „The Division Viol“ als Führer für
die Aufführungspraxis dieser Zeit. Ins­
besondere erfährt man darin, wie die
„Divisions“ zu spielen sind, die damals so
beliebten improvisatorischen Ausschmü­
ckungen notierter Musik. Simpson gibt
zu diesem Thema ganz praktische und
detaillierte Anweisungen. Doch sind viele
der Werke Simpsons bis heute unaufge­
führt, so dass auch die hier vorgestellte
Sammlung der „20 Ayres“ ihre Erstein­
spielung erfährt. Im Manuskript ist von
Musik „for two trebles and two basses“
die Rede, und es finden sich daher auch
Stimmen für das Continuo. Deshalb wird
das Chelys Ensemble hier verstärkt durch
Dan Tidhar an Kammerorgel und Cem­
balo sowie durch James Akers, der die
Klangfarben von Theorbe und Barock­
gitarre beisteuert.
Großes aus
melancholischer
Endzeit
Das Programm bietet einen faszinie­
renden Einblick in die Gambenmusik
Mitte des 17. Jahrhunderts und mit den
Ayres herausragende Beispiele für die
melancholische Endzeit der großen
englischen Musiktradition, die von den
Gambenconsorts geprägt war. 10 Jahre
nach Simpsons Tod sollte Henry Purcell
mit seinen berühmten „Fantazias“ das
letzte Kapitel dieser Geschichte schreiben.
Ausgabe 2015/2
Die Bassvioline
Werke von
Giovanni Battista Vitali (1632-1692)
Giuseppe Colombi (1635-1694)
Giovanni Lorenzo Lulier (1662-1700)
Musica Perduta:
Renato Criscuolo, Violone
Alberto Bagnai, Cembalo
Bud Roach, Barockgitarre
Leonardo LDV14021
(Teilweise Ersteinspielung)
Unter den diversen Instrumenten
der Barockzeit, die dank der Wieder­
entdeckung der Alten Musik auf die
Konzertpodien zurückgekehrt sind, ist
die Baßvioline eines der nur sehr selten
zu sehenden und zu hörenden. Sie ist
der Vorläufer des Cellos, in Italien als
Violone bezeichnet, und war bisher nur
am Rande Gegenstand musikhistorischwissenschaftlicher Beschäftigung. Bis
zum Ende des 17. Jahrhunderts war sie
modern, als aus dem Violone sich das
Cello entwickelte (das „kleine Violone“).
Möglich wurde dies durch die Erfin­
dung von Saitenmachern aus der Emilia,
Baßsaiten mit Silberdraht zu umspinnen,
was es erlaubte, die Saiten zu verkürzen
und damit den Instrumentenkorpus zu
verkleinern.
Falsche Besetzung
Heute wird oft für die Wiedergabe
von Musik des 17. Jahrhunderts das
Barockcello eingesetzt, obwohl es vor
dem Ende des Jahrhunderts noch gar
nicht erfunden war. Also sollte für die
Musik vor dieser Zeit eigentlich ein
Violone anstelle des Cellos gespielt wer­
den (für außeritalienische Musik auch
noch bis ins 18. Jahrhundert hinein, da
das Cello zunächst nur in Italien Ver­
breitung fand). Die Intention dieser CD
ist also die korrekte Wiedergabe von
Musik, die spezifisch für die Bassvioli­
ne geschrieben wurde, allein oder mit
Begleitung durch ein Basso continuo,
unter Benutzung der richtigen Instru­
mente und unter Beachtung der Spiel­
praxis jener Zeit.
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Orchester und Konzert
Fantastique
Werke von Berlioz und Weber
Hector Berlioz: Symphonie fantastique
Carl Maria von Weber (Orchestrierung:
H. Berlioz): Aufforderung zum Tanz
Argovia Philharmonic
Douglas Bostock, Leitung
Coviello CLASSICS COV 91508
Vom Liebesrausch zum Höllenritt –
die Symphonie phantastique von Hector
Berlioz verarbeitet so plastisch wie kaum
ein anderes Instrumentalwerk das ty­
pisch romantische Sujet des tragischen
Helden, den seine maßlose Liebe am
Ende in die Katastrophe führt.
Tanz, Liebesrausch
und Höllenritt
Berlioz erzählt diese Geschichte in
prallen musikalischen Farben und führt
dabei die immer wiederkehrende „idee
fixe“ zur Kennzeichnung der Hauptfigur
ein – eine Kompositionstechnik, die
später auch bei Wagner als Leitmotiv
zum prägenden Element wurde. Über­
haupt gab es einige Berührungspunkte
zwischen Berlioz und der deutschen
Musik, die er bewunderte. So freute ihn
sicher der Auftrag der Pariser Opéra,
eine Ballettmusik zu Carl Maria von
Webers bekannter Oper „Der Freischütz“
zu schreiben; ein Werk, das er einmal
als „vom ersten bis zum letzten Ton ge­
lungen“ bezeichnet hatte. Berlioz wählte
das ebenfalls von Weber stammende
Klavier-Rondo „Aufforderung zum Tanz“
und verwandelte es mit meisterlicher
Instrumentationskunst zu einem fun­
kelnden Orchesterwerk, das mit oder
ohne Opernballett äußerst effektvoll ist
– hier von Douglas Bostock und dem
argovia philharmonic brillant serviert.
Sergeij Prokofiev (1891-1953)
Symphonie Nr. 5 B-Dur op. 100
Skythische Suite op. 20
Bergen Philharmonie, Andrew Litton
BIS BIS-SACD-2124
1944, als der Sieg der Alliierten
über die zurückweichenden deutschen
Truppen sich schon abzeichnete, wurde
dieses Werk in der Sowjetunion als pa­
triotisch, heroisch und unverbrüchlich
optimistisch gefeiert. Der Komponist be­
schrieb seine Gefühle später so: „Ich hielt
es für ein Werk, das den menschlichen
Geist feiert.“ Dabei ist diese 5. Sympho­
nie alles andere als vordergründiger
Schwulst und Bombast, hohle Rhetorik
und lautstarke Banalität, wie man dies
oft in solchen als politisch/patriotisch
gelobten Werken findet. Der große
Erfolg in Russland setzte sich sofort
im Ausland fort und verhalf Prokofiev
letztlich dazu, in den Olymp der großen
Sinfoniker des 20. Jahrhunderts auf­
genommen zu werden.
Gute
Futterverwertung
Die sich anschließende Skythische
Suite erblickte 1905 als „Ala und Lolli“
das Licht der Welt; eine Ballettsuite für
Diaghilevs „Ballets Russes“. Die Skythen
waren ein antikes Volk aus der südrussi­
schen Steppe. Zu der Zeit, als Prokofiev
die Suite schrieb, wusste man noch
herzlich wenig über dieses Volk und
seine Kultur. Die Musik geriet keines­
wegs übermäßig fremdartig, sprengte
auch kaum die Grenzen herkömmlichen
Komponierens. Und dennoch: Diaghilev
hörte eine Klavierfassung und war
davon überhaupt nicht begeistert; das
Ballettprojekt wurde abgeblasen – ein
Skandal. Da Prokofiev aber niemals
gute Musik „in den Mülleimer“ warf,
extrahierte er zehn Jahre später aus dem
Material eine farbenreiche viersätzige
Suite für konzertante Aufführungen.
Antonin Dvorˇák (1841-1904)
Komplette Symphonien Vol. 1:
Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 3,
Rhapsodie op. 14
Deutsche Radio Philharmonie
Saarbrücken Kaiserslautern,
Karel Mark Chichon, Dirigent
Hänssler CLASSIC CD-Nr: 93.330
Karel Mark Chichon, der britische
Chefdirigent der Deutschen Radio Phil­
harmonie Saarbrücken Kaiserslautern,
hat sich für seine erste Einspielung
mit diesem hervorragenden Orchester
nichts Geringeres vorgenommen als
eine Gesamteinspielung der Sinfonien
von Antonin Dvorˇák. Die Sinfonien sollen
auf CD jeweils gekoppelt werden mit
anderen Orchesterwerken des tschechi­
schen Meisters, vor allem mit Ouvertüren
und Zwischenspielen aus den Opern
Dvorˇ áks – eine Kombination, die selten
auf Tonträgern zu erhalten ist.
Zauber und
Melodienreichtum
In der ersten Folge der Dvorˇ ák-Ein­
spielung widmen sich Chichon und sein
Klangkörper der ersten Sinfonie des
tschechischen Meisters und kombinie­
ren dazu die slawisch-vaterländisch
grundierte Rhapsodie op. 14. Dvorˇ áks
erste Sinfonie mit dem Beinamen „Die
Glocken von Zlonice“ ist trotz des um­
fangreichen Orchesterapparates voller
Zauber und Melodienreichtum. Ihre
großräumigen Flächen und Steigerun­
gen erinnern von Ferne an Anton
Bruckner, doch volkstümliche Wendun­
gen, lebhafte Stimmungswechsel und
farbiger Streicherklang geben dem Werk
eine ganz eigene Note.
Die herausragenden Eigenschaften
des Dirigenten Karel Mark Chichon sind
sein Temperament, seine Leidenschaft
und seinen Sinn für Stimmungen – Eigen­
schaften, die er besonders bei der Musik
Antonin Dvorˇ áks einsetzen kann, die er
und die erstklassisch aufspielende Deut­
sche Radio Philharmonie Saarbrücken
Kaiserslautern mit Frische und Leben­
digkeit zu einem Erlebnis machen.
Ausgabe 2015/2
29
Johann Gottfried Müthel (1728-1788)
Die fünf Cembalokonzerte
Marcin Swiatkiewicz, Cembalo
Arte dei Suonatori
BIS BIS-CD-2179
Bachs Biograph Johann Nikolaus
Forkel nannte Müthel als einen der be­
deutendsten (und letzten) Schüler des
Meisters. Und der Chronist Charles
Burney, beschrieb Müthels Werke als „so
voll neuer Ideen, Geschmack, Anmut und
Formvollendung, das ich mich nicht
scheue, sie unter die wichtigsten Pro­
duktionen der Gegenwart einzureihen.“
Dennoch geriet dieser interessante Kom­
ponist in Vergessenheit, und das hat mit
seiner Biographie zu tun. Nach der Lehr­
zeit bei Bach unternahm er noch eine aus­
giebige, einjährige Bildungsreise zu ande­
ren Großen der deutschen Musikszene
(Altnikol, Hasse, C. Ph. E. Bach, Telemann),
aber dann verschwand er von der zentra­
len europäischen Bühne. Denn 1753 ging
er nach Riga, wo er als Kapellmeister in
einem der Adelshäuser eine Anstellung
fand, und wurde schließlich Organist der
dortigen Kathedrale St. Petri bis zu sei­
nem Tod. Er scheint sich dort sehr wohl
gefühlt zu haben, denn er lehnte mehr­
mals Angebote aus Deutschland ab.
Wanderer zwischen
den Welten
In seinen fünf Cembalokonzerten be­
gegnen wir einem Wanderer zwischen den
Welten, ganz ähnlich wie C. Ph. E. Bach hat
er mit dem zu Ende gehenden Barock
stilistisch schon gebrochen, in der auf­
dämmernden Klassik ist er aber noch
nicht so ganz angekommen. So wird er
neben C. Ph. E. Bach zu einem der Haupt­
vertreter des „Sturm und Drang“. Müthel
lehnt sich schon noch an die formalen
Vorbilder seines Lehrers an, spielt aber
mit den Formen, mit raffinierten Rhyth­
men und harmonischen Kunststückchen.
Er wechselt zwischen orchestralen Effek­
ten und intimer Kammermusik und ver­
mag so stets zu überraschen. Eine höchst
unterhaltsame Entdeckung, die Lust auf
mehr von diesem Komponisten macht.
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Cembalo
Cembalo Avantgarde
Violeta Dinescu: Prelude
Hans Werner Henze: Aus Zwei Sonaten
über Gestalten von Shakespeare
Peter Heeren: Fünf Stücke / Bazon 1-3
John Patrick Eloge 2 / Imaginary Dances
Anders Eliasson: Disegno per clavicembalo
Isang Yun: Shao Yang Yin
Roderick de Man: Chordis Canam
Kristian Nyquist, Cembalo
Musicaphon M55723
(Teilweise Ersteinspielung)
Zeitgenössische Musik für Cembalo?
Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahr­
hunderts hinein war es das Cembalo, wel­
ches an vorderster Front als Klangkörper
für experimentelles und avantgardisti­
sches diente: Die Toccaten Frescobaldis,
Préludes- non-mesurés von Louis Cou­
perin, das „Wohltemperirte Clavier“
J.S. Bachs, Domenico Scarlattis Sonaten
seien als „berühmtere“ Beispiele ge­
nannt. Spätestens mit der Generation um
Beethoven hatte sich für diese Aufgabe
dann der „moderne“ Hammerflügel als
Tasteninstrument durchgesetzt.
Altes Instrument
ganz vorn
Mit der Renaissance des Cembalos
gegen Ende des 19. Jhd. erwachte auch
allmählich das Interesse lebender Kom­
ponisten für dieses Instrument. Ein
erster Höhepunkt war in den 1920er
Jahren erreicht, als Manuel de Falla und
Francis Poulenc mit ihren jeweiligen
Konzertstücken die ersten bedeutenden
Werke schufen, in Auftrag gegeben von
Wanda Landowska. Deren Offenheit für
„ihre“ zeitgenössischen Komponisten ist
beispielhaft und steht für die schier
grenzenlosen Möglichkeiten einer frucht­
baren Verbindung des vermeintlich „al­
ten“ Instrumentes mit „neuer“ Musik.
Erfreulicherweise wird weiterhin
fleißig für dieses „alte“ Instrument kom­
poniert. Die auf dieser CD zu erlebende
Darbietung eines Rezitals im Jahr 2004
soll die Lebendigkeit sowie Aktualität
neuer Cembalomusik dokumentieren.
Daneben stand die Idee im Vordergrund,
Werke verschiedenster Stile vorzustellen.
Klavier
Paul Dukas (1865-1935)
Sämtliche Klavierwerke
Olivier Chauzu, Klavier
Calliope CAL1523
Dukas studierte am Pariser Konser­
vatorium Klavier, Harmonielehre und
Komposition. Später unterrichtete er dort
selbst; zu seinen Schülern zählten u. a.
Jehan Alain, Maurice Duruflé und Olivier
Messiaen. Er pflegte stets Kontakte zu
anderen berühmten Komponisten wie
beispielsweise Claude Debussy. Zeitge­
nossen beschreiben ihn als einen Mann
von hoher Allgemeinbildung. Sein Hang
zur Selbstkritik führte dazu, dass er eine
ganze Reihe komponierter Werke nach
ihrem Beginn abbrach und schließlich
einige ganz vernichtete, weil sie seinen
Ansprüchen nicht genügten.
Meisterliches vom
Zweifler
Und so verwundert es nicht, dass
selbst ein Standardgenre wie Musik
für Klavier von ihm durchaus spärlich
bedacht wurde. Aber unter den nur vier
Klavierwerken von Paul Dukas finden
sich zwei sehr unterschiedliche Meister­
werke. Das eine ist französisch inspi­
riert (die Variations, Interlude et Finale
sur un thème de Rameau), das andere
deutsch (die Klaviersonate). Charakte­
ristika der Klaviersonate sind die klas­
sische Form, der große Gestus und der
Sinn für einen farbenreichen Klang. Sie
ist interpretatorisch nicht einfach, und
diese Schwierigkeiten zeigen sich denn
auch in den sehr unterschiedlichen
verfügbaren Einspielungen. Einer der
bisher überzeugendsten Interpreten
des Werkes war Jean Hubeau. Olivier
Chauzu nimmt diese Herausforderung
sehr erfolgreich an.
30
Johann Brahms (1833-1897)
Variationen und Fuge über
ein Thema von Händel op. 24
Max Reger (1873-1916)
Variationen und Fuge über
ein Thema J.S. Bach op. 81
Friedrich Wilhelm Schnurr, Klavier
MDG 604 0172-2
Ein Mehrgenerationenprojekt der be­
sonderen Art: Friedrich Wilhelm Schnurr
ist noch bei den Klavierlegenden Alfred
Cortot und Wilhelm Kempff in die Lehre
gegangen. Als fürsorglicher Pädagoge von
Weltrang hat er bis heute Generationen
von Pianisten geprägt. Viele seiner her­
ausragenden Schüler bekleiden nam­
hafte Professuren auf der ganzen Welt.
MDG hat jetzt eine Aufnahme aus den
1980er-Jahren wieder aufgelegt, die
Schnurr als zupackenden, energiege­
ladenen Interpreten zeigt.
Händel hatte sein tänzerisch-einfa­
ches Thema selbst einem Variationssatz
zu Grunde gelegt. Was allerdings der
junge Brahms daraus macht, ist sensa­
tionell, es entfaltet sich ein gigantischer
Kosmos an musikalischen Charakteren
und Ausdrucksebenen.
Meisterhaft
Max Reger wählte sich ein instrumen­
tales Vorspiel aus einer Kantate Bachs.
Aber anders als Brahms entfernt er sich
nach einigen Umspielungen weit vom
Ausgangspunkt: Schon die dritte Varia­
tion ist eine sehr freie, kontemplative
Fantasie, die mit urplötzlichen dyna­
mischen Ausbrüchen überrascht. Auch
Reger schließt mit einer Fuge, die es in
sich hat: Schon das Anfangsthema ist
von überbordender Chromatik, und
mit dem später einsetzenden zweiten
Thema entsteht einen Doppelfuge von
gewaltigen Dimensionen.
Dass diese spektakuläre Aufnahme
auch nach 30 Jahren nichts von ihrer
Frische eingebüßt hat, liegt auch an
der tonmeisterlichen Klangregie, die die
Atmosphäre der berühmten RudolfOetker-Halle in Bielefeld perfekt ein­
gefangen hat.
Ausgabe 2015/2
Jean Sibelius gespielt am Klavier
in Ainola
Kleinere Klavierstücke
Folke Gräsbeck, Klavier
BIS BIS-CD-2132
Ainola, das Haus, das Sibelius 1904
baute und in dem er bis zu seinem Tod
1957 lebte, ist unter Liebhabern skandi­
navischer Musik zu einer Wallfahrts­
stätte geworden. Mehr als 300 seiner
Werke hat Sibelius hier komponiert,
und im Kamin von Ainola hat er wohl
das Manuskript seiner 8. Symphonie ver­
brannt, bevor er als Komponist endgültig
verstummte. Das Haus ist jetzt ein Mu­
seum, jeden Sommer von Zehntausenden
besucht. Das best gehütete Objekt des
Museums ist Sibelius‘ großer Steinway,
den der Meister 1915 zu seinem 50. Ge­
burtstag geschenkt bekommen hatte und
der ihm für 40 Jahre zum treuen Ge­
fährten wurde. An diesem Instrument hat
der Sibelius-Spezialist Folke Gräsbeck
nun einen Querschnitt durch das Klavier­
schaffen des Meisters aufgenommen, aber
auch Transkriptionen beliebter Orches­
terwerke wie „Finlandia“ und „Valse
triste“ einbezogen. An der Aufführung und
Einspielung von über 200 Kompositio­
nen seines Landsmanns hat Gräsbeck
mitgewirkt, und nicht weniger als 82
davon hat er uraufgeführt. Die große
Sibelius-Gesamtedition bei BIS wäre
ohne Gräsbecks fundierte Quellenarbeit
kaum zustande gekommen.
Beim Meister zu
Hause
Authentischer geht es also wohl
kaum, wenn Sibelius‘ Klavierwerke hier
an seinem eigenen Instrument im eige­
nen Haus erklingen.
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Klavier und Lied
Josef Matthias Hauer (1883-1959)
Sämtliche Melodien und Präludien
Steffen Schleiermacher, Klavier
Holger Falk, Bariton
MDG 613 1890-2 (3 CDs)
Wie Arnold Schönberg komponierte
auch Joseph Matthias Hauer „mit zwölf
Tönen“ – aber wie anders ist das Ergeb­
nis! Bestimmen bei Schönberg Dissonanz,
harmonische Spannung und ein Höchst­
maß an Expressivität das Geschehen, so
ist Hauers Musik völlig frei von alledem.
Von geradezu luftiger Leichtigkeit, über­
aus gesanglich und oft mit wohlklingen­
den Dur-Dreiklängen am Ende bilden sei­
ne Präludien und Melodien, die Steffen
Schleiermacher jetzt erstmals vollständig
eingespielt hat, ein Kondensat Hauers
musikalischer Philosophie.
Luftige Leichtigkeit
„Ausdruck je nach Melos“ lautet die
Spielanweisung zu jedem einzelnen dieser
kurzen Werke. Es bleibt dem empfind­
samen Interpreten vorbehalten, dem
„Melos“ nachzuspüren und seinem Cha­
rakter zu folgen. Das „Sonnenmelos“ von
1919 führt die Bedeutung des Melos
besonders eindringlich vor Ohren: Aus­
drücklich für Gesang und Klavier gesetzt,
ist das Stück – „gedeutet und gedichtet
von Joseph Matthias Hauer“ – streng
einstimmig! Keine Spur von komplexen
Rhythmen oder würziger Harmonie,
nichts stört die Klarheit der Intervalle,
die mit großer Konsequenz alle zwölf
chromatischen Töne erreichen, bevor
auch nur einer wiederholt wird.
Wie im „Sonnenmelos“ steht Bariton
Holger Falk dem Pianisten auch in der
Melodie op. 24 zur Seite. Spätestens seit
der Einspielung der „Musik mit Hölder­
lin“ bilden die beiden das Dream Team
für Hauers Musik. Den weitaus größten
Teil übernimmt Steffen Schleiermacher
allerdings allein, und wieder einmal führt
sein außerordentlicher Klangsinn zu
einer faszinierenden Entdeckung, die in
Zeiten musikalischer Übersättigung eine
geradezu reinigende Wirkung entfaltet.
Orgel
Laute
Northern Baroque
Sweelinck, Buxtehude & Co.
Jan Pieterszoon Sweelinck:
Toccata; Echo fantasia; Est-ce Mars
Heinrich Schütz: O süßer, o freundlicher, o
gütiger Herr Jesu Christe; Eile mich, Gott,
zu erretten, Herr, mir zu helfen!
Heinrich Scheidemann: Lobet den Herren,
denn er ist sehr freundlich;
Preambulum in g
Erbarm dich mein, O Herre Gott
1. Versus: Canto fermo in Tenore
Erbarm dich mein, O Herre Gott
Versus: auff 2 Clavir
Dieterich Buxtehude: Toccata in d
Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ
Passacaille in d; Fuga in C;
Komm Heiliger Geist, Herr Gott; Klag-Lied
Fabien Moulaert, Orgel
Zsuzsi Tóth, Sopran
Coviello CLASSICS COV 91504
Heinrich Schütz gilt heute als Be­
gründer der norddeutschen barocken
Orgelmusik. Allerdings etablierte schon
kurz vor seiner Zeit, gegen Ende
des 16. Jahrhunderts, Jan Pieterszoon
Sweelinck in Amsterdam eine neue
Orgelschule, die wenig später auch für
Norddeutschland prägend wurde: Ne­
ben vielen anderen studierte Heinrich
Scheidemann bei Sweelinck. Später
war er langjähriger und einflussreicher
Organist der Hamburger Katharinen­
kirche und etablierte dort dessen stilis­
tische Neuerungen in Improvisation
und Komposition. In der Blütezeit der
Hansestädte bildete sich – trotz der
Schatten des 30jährigen Krieges – die
auf Sweelinck basierende norddeutsche
Schule in zahlreichen, oft reich ver­
zierten und komplex kombinierten For­
men wie Toccaten, Choralfantasien und
Lied-Variationen aus, die im Werk von
Dieterich Buxtehude einen Höhepunkt
findet. Fabien Moulaert und Zsuszi Toth
zeichnen in ihrer Neueinspielung eine
knapp hundertjährige Entwicklung von
Sweelinck bis Buxtehude nach – an
der großen Arp-Schnitger-Orgel in der
Hamburger Jacobi-Kirche, einer der
bedeutendsten in fast unverändertem
Originalzustand erhaltenen Barock-Or­
geln überhaupt.
Samuel Scheidt (1587-1654)
Tabulatura nova III
Franz Raml an historischen Orgeln:
Scherer Orgel St. Stephan in Tangermünde,
Schnitger Orgel in St. Jacobi Hamburg,
Putz Orgel im Praemonstratenser-Chor­
herren-Stift Schlägl (A)
MDG 614 1895-2 (2 CDs)
Mit der dritten Folge schließt Franz
Raml die Gesamtaufnahme von Scheidts
„Tabulatura nova“ ab. Den als „Referenz­
einspielung“ gelobten ersten beiden
Teilen folgt Schlusspunkt und Krönung
zugleich: An den historischen Orgeln in
Tangermünde, St. Jacobi in Hamburg und
dem oberösterreichischem Stift Schlägl
entfaltet der umtriebige Organist ein
prachtvolles und vielfarbiges Klangfest
frühbarocker Kirchenmusik.
Fernstudium
Die „Tabulatura nova“ schrieb Scheidt
für seine Schüler auf – der vielbeschäftig­
te Musiker hatte einfach kaum noch Zeit
zu unterrichten… Entsprechend finden
sich in der Sammlung vor allem Werke,
die als exemplarische Vorlagen zu Stu­
dienzwecken gedacht waren. Im 3. Band
stehen liturgische Stücke im Vordergrund:
Neben Magnificat-Vertonungen in allen
Kirchentonarten auch Hymnen für die ho­
hen Festzeiten des Kirchenjahres. Revo­
lutionär ist die Notation: Zum ersten Mal
erscheint Orgelmusik in Partiturform – so
lassen sich die Satzstrukturen besser er­
kennen, und auch die Übertragung in
die damals übliche Buchstabentabulatur
zum praktischen Gebrauch vertiefte den
didaktischen Nutzen.
Wertvolle Hinweise zur Registrierung
der einzelnen Stücke gibt Scheidt selbst
im Vorwort zum 3. Band der „Tabulatura
nova“: Auf dem „Rückposetif mit einer
scharffen Stimme“ könne der cantus
firmus gespielt werden, oder am schöns­
ten sei „den Alt auff dem Pedal zu spielen“.
Detaillierte Beispiele für geeignete Regis­
terkombinationen ergeben ein umfassen­
des Bild von Scheidts Klangvorstellung,
die an den aufwändig restaurierten Origi­
nalinstrumenten zu neuem Leben erwacht.
Ausgabe 2015/2
31
François Dufaut (1604-1670)
Les Accords Nouveaux III
(Suiten in c, g, B, d und B)
+ Jacques Gallot:
Prélude; Le Sommeil de Dufaut
Sigrun Richter, Laute
Ambitus AMB96956
Aufbruch in eine andere Klangwelt,
die Entwicklung eines neuen Lautenstils
– der Beginn des 17. Jahrhunderts ist
reich an Neuigkeiten für die Laute. Wäh­
rend in Italien Chitarrone und Arciliuto
entstehen, entwickelt sich in Frankreich
aus der 10-chörigen Renaissance-Laute
die 11-chörige Barocklaute. Die Möglich­
keiten größerer Resonanz öffnen den Weg
für den französischen barocken Stil.
François Dufaut gehörte zusammen
mit den Komponisten Mesangeau, Pierre
Gaultier, Chancy, Chevalier, Dubuisson,
Bouvier zu jenen „Revolutionären“ der
Laute, die durch die Accords Nouveaux
schließlich die neue Barocklautenstim­
mung entwickelt haben.
Revolutionär mit
Erfolg beim Adel
Dufaut hatte in den 20er Jahren des
17. Jhs. großen Erfolg in der Lautenszene
der Pariser Adelskreise, und bald darauf
gingen seine Werke in die gedruckten
Sammlungen des Verlagshauses Ballard
ein. So eilte ihm schon sein Ruf voraus, als
er 1652 aufbrach, um als Virtuose auch
außerhalb Frankreichs Karriere zu ma­
chen. Die vielen Handschriften mit hohem
Anteil an Dufaut-Werken in schweizeri­
schen, österreichischen, böhmischen und
deutschen Archiven belegen die große
Wertschätzung, die dem Virtuosen und
seinen Werken überall entgegengebracht
wurde. Offenbar in den früheren Jahren
Dufauts entstanden die Suiten in B-Dur für
10-chörige Laute. Dem gegenüber stehen
die vermutlich später komponierten
Suiten für 11-chörige Laute in c, g und d.
Die CD schließt mit der großartigen
Huldigung an Dufaut von Jacques Gallot
aus seinen „Pièces de Luth“ 1681, dem
Tombeau „Le Sommeil de Dufaut“.
Im Blickpunkt
CLASS : aktuell
Geistliche Musik
Johann Sebastian Bach
Die lutherischen Messen, Vol. 1:
Lutherische Messen BWV 235-236
Sanctus G-Dur BWV 240
Sanctus BWV 241, 238, 237
Kyrie c-Moll BWV Anh. 26
Christe c-Moll BWV 242
Blazikova, Lunn, Blaze, Türk
Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki
BIS BIS-SACD-2081
Längst hatte die Reformation die
traditionelle Liturgie und Form des
Gottesdienstes zu Bachs Zeit gründlich
verändert, und die deutsche Sprache hatte
das Kirchenlatein verdrängt. Rudimentär
verblieben Elemente der großen Liturgie
des römisch-katholischen Hochamts,
insbesondere der Messe, aber doch im
lutherischen Gottesdienst. Dies gilt be­
sonders für das Kyrie und das Gloria,
die denn auch entsprechend häufig auch
von protestantischen Komponisten ver­
tont wurden. Obwohl in der verkürzten
Form unvollständig, wurden diese Werke
dennoch „Messe“ genannt. Heute spricht
man, um diese Werke von vollständigen
Messvertonungen zu unterscheiden, von
den „lutherischen Messen“. Auch Bachs
berühmte h-Moll-Messe hat ihr kompo­
sitorisches Leben als lutherische Messe
begonnen, und vier andere Exemplare
dieser Gattung aus Bachs Feder sind auf
uns gekommen. In allen Fällen greift Bach
ausgiebig auf bereits existierendes musi­
kalisches Material zurück; die zwei auf
dieser SACD vorgestellten Messen sind
sogar komplette Parodie-Messen.
Ausgiebig zitiert
Chor
Lied
Concert Clemens
Werke von Gade, Mendelssohn,
Lewkovitch, Duruflé, Gesualdo,
Nystroem, Nystedt, Taverner, Arason,
Jersild, Byrd, Janequin
Vokalensemble Concert Clemens
Carsten Seyer-Hansen
Danacord DACOCD752
Concert Clemens, in Aarhus behei­
matet, besteht aus 16 ausgebildeten Sän­
gerinnen und Sängern und hat sich einen
festen Platz in der dänischen Chor- und
Ensembleelite erarbeitet (nicht zuletzt
nach dem 1. Platz beim internationalen
Chorwettbewerb 2009 in Randers). Un­
ter anderem Frieder Bernius und Paul
Hillier haben dieses äußerst leistungs­
fähige Vokalensemble schon geleitet.
Das Ensemble verfügt dank seiner
professionell ausgebildeten Stimmen über
weitreichende stimmliche und musika­
lische Fähigkeiten. Dies ermöglicht dem
Chor denn auch Ausflüge in sehr unge­
wohntes Repertoire abseits des Üblichen.
Lust am Experiment
So konnte Concert Clemens Johann
Sebastian Bachs Johannespassion in
einem Arrangement für Chor, Saxophon­
quartett und Basso continuo aufführen.
Nach zwei Konzerten in Berlin im
Frühjahr 2009 nahm Concert Clemens
das Requiem und vier Motetten von
Maurice Duruflé für CD auf. Die hier
vorgestellte neue CD bietet einen reprä­
sentativen Querschnitt durch das weit
gefächerte Repertoire des Ensembles,
das von Musik der frühen Renaissance
bis zur Gegenwart reicht.
Begleitet werden sie hier von SanctusKompositionen, auch dies eigentlich ein
Teil der katholischen Messe, der aber oft
als eigenständiges Werk vertont wurde.
Zwei davon sind Originalkompositio­
nen, während BWV 241, vielleicht auch
BWV 240, Arrangements von Werken
anderer Komponisten sind. BWV 241
stammt im Original von Johann Kaspar
Kerll. Und Kyrie und Christe c-Moll
schließlich sind Umarbeitungen von
Kompositionen des Francesco Durante.
32
Ophelia sings
Liedzyklen von Rihm, Schumann
und Strauss
Wolfgang Rihm: Das Rot
Sechs Gedichte der Karoline von
Günderrode für Sopran und Klavier
Robert Schumann: Liebeslied (Goethe)
op. 51 No. 5
Robert Schumann: Sechs Gesänge op. 107
Richard Strauss: Mädchenblumen
Vier Gedichte von Felix Dahn für eine
Singstimme und Klavierbegleitung op. 22;
Drei Lieder der Ophelia
(Seeger, nach Shakespeare) op. 67
Wolfgang Rihm: Ophelia sings
Drei Lieder für Sopran und Klavier
(Shakespeare)
Annika Gerhards, Sopran
Pauliina Tukiainen, Klavier
Coviello CLASSICS COV 91506
Immer wieder war in der Musikge­
schichte seit dem frühen 19. Jahrhundert
vor allem das Lied Kristallisationspunkt
emotionaler Extreme – große Gefühle
wie Liebe, Verzweiflung und Todes­
sehnsucht können in der knappen
Form besonders prägnant auf den
Punkt gebracht werden, der unmittel­
bare Bezug von Wort und Musik lässt
auf engem Raum höchste Dramatik ent­
stehen. Robert Schumann und Richard
Strauss stehen in dieser Tradition, und
auch Wolfgang Rihm, der wohl popu­
lärste deutsche Komponist der Gegen­
wart, hat sich mehrfach dieser Gattung
zugewandt. In „Das Rot“ vertont er Texte
von Karoline von Günderrode, einer
romantischen Dichterin, die sich in
ihrem kurzen Leben vom Widerspruch
zwischen ihrer ungestümen Emotionali­
tät und der aufgezwungenen Frauenrolle
ihrer Zeit zerrissen sah. Annika Gerhards
stellt sie in Bezug zum Schicksal der
seelenverwandten Ophelia aus Shakes­
peares Hamlet, vertont in einer WeltErsteinspielung von Rihms jüngstem
Liedzyklus Ophelia sings mit Ori­gi­nal­
texten und im bekannten Ophelia-Zyklus
von Richard Strauss. Ergänzt wird das
Kompendium tragischer Frauenschick­
sale durch einige Schumann-Lieder.
Ausgabe 2015/2
Jazz
Remembering the Rain – A Jazz View
Bill Evans, George Enescu, Jerome Kern,
Arthur Hamilton, Béla Bartók, John Lewis,
Peter de Rose, John Coltrane
Valentin Radutiu, Cello
Benjamin Schaefer, Klavier
Markus Rieck, Schlagzeug
Hänssler CLASSIC CD-Nr. 93.331
Nur ein paar wenige, berühmte
Jazz-Bassisten haben es unternommen,
über die Grenzen ihres Instrumentes
hinauszugehen und neue Möglichkeiten
auf dem Cello zu suchen. Nun hat der
Cellist Valentin Radutiu den Spieß um­
gedreht und zeigt, wie viel Jazz im Cello
steckt: Mal als Bass, mal als Gitarre, und
natürlich als Stimme. Das Repertoire die­
ses außergewöhnlichen Albums stammt
überwiegend aus dem Fundus des „Great
American Songbook“, ergänzt um Stan­
dards der gemäßigten Jazzmoderne von
John Lewis bis zum Meister improvisie­
render Intensität Bill Evans, außerdem
zwei Anker aus der klassischen Musik,
um die eigenen Wurzeln nicht völlig
außer Acht zu lassen.
Fulminantes Trio
Unterstützt und gefordert wird Valentin
Radutiu dabei von zwei Jazzkollegen, die
ihrerseits zu den renommierten Grenz­
gängern ihres Fachs gehören und mit der
passenden Mischung aus Behutsamkeit
und gestalterischer Kraft das Projekt
wachsen lassen: Benjamin Schaefer am
Klavier und Markus Rieck am Schlag­
zeug. Das ist ein Team, das mit viel ge­
genseitiger Hochachtung und einer Prise
Witz die Berührung und Verschmelzung
von Kontrasten in den Mittelpunkt stellt.
„Remembering the Rain“ ist ein Pro­
gramm, das keine Revolution vom Zaun
bricht. Es arbeitet sich vielmehr be­
dächtig genug voran, um dem Cello
klassischer Provenienz im Raum des
Jazz seinen Platz zu geben. Denn es geht
nicht um Konfrontation, sondern um die
Verbindung von Radutius immensen
spielerischen Kompetenzen mit einer
Musik, die er liebt – und das auf emo­
tionaler und ästhetischer Augenhöhe.