Kindgerecht Verändertes Aufwachsen in einer modernen Gesellschaft impressum Herausgeber Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e. V. Die Kinderschutz-Zentren Bonner Str. 145 50968 Köln Telefon 0221 56975-3 Telefax 0221 56975-50 E-Mail [email protected] Internet www.kinderschutz-zentren.org Redaktion Jasmin Hofmeister, Arthur Kröhnert (verantwortlich) Umschlaggestaltung Jens Hoeft Seitengestaltung Geela Eden Köln, April 2015 Nachdruck und Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers und der Autor(inn)en. ISBN: 978-3-943243-12-3 2 inhalt Jessika Kuehn-Velten Vorwort9 Kay Biesel Die Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsen 15 Reinhart Wolff Kinderschutz braucht Ressourcen – Wenn Hilfeinstitutionen verarmen, verliert der Kinderschutz und schädigt Kinder29 Thomas Mörsberger „Wir brauchen einen Richtungswechsel!“ Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des Kinderschutzes, ausgehend von schwierigen und insbesondere von besonders spektakulären Kinderschutzfällen Birgit Zeller Anerkennungskultur in der Jugendhilfe Kann eine Profession, die ständig infrage gestellt wird, für sich und andere sorgen? Jessika Kuehn-Velten Ver-rückt im Kinderschutz Die Psychiatrisierung der Kindheit 39 51 61 3 inhalt Christian Schrapper Im Mittelpunkt und doch aus dem Blick? „Das Kind“ im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung 71 Michael Winkler Reformpädagogik99 4 Birgit Maschke Wie viel Parteilichkeit ist kindgerecht? Wie parteilich ist systemischer Kinderschutz? Und was ist eigentlich der Unterschied? Ergebnisse einer Telefonbefragung 117 Michael Böwer, Britt Heinrichs und Mareike Naß Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe – Befunde einer Forschungswerkstatt im Rahmen des Forschungsprojektes »ISkE« 141 Mike Lenkenhof Kinderschutz zwischen ASD, SPFH und Familien: Explizite Kontrolle in ambulanten Erziehungshilfen 153 Bernd Reiners Neue Ansätze in der Arbeit mit Kindern: Kindorientierte Familientherapie 165 Peter Mosser Kinder schützen – auch vor Kindern! Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt 181 Silke Birgitta Gahleitner et al. Bindungs- und traumasensibel arbeiten: Traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe 193 inhalt Ilse Wehrmann Die Lebenswelt kleiner Kinder – Herausforderung U3 205 Anne Katrin Künster, Ute Ziegenhain Krippenbetreuung – eine Frage der Qualität Ein Kommentar zu „Risiken der Krippenbetreuung aus tiefenpsychologischer Sicht von Ann Kathrin Scheerer“ 209 Philipp Ikrath Die Überforderung in der digitalen Kultur und antidigitaler Eskapismus – Ein Essay zu jugendlichem Medienverhalten 225 Catarina Katze Facebook, WhatsApp & Co: Neue Welten für Kommunikation und Selbstdarstellung – Risiko für Grooming und Cybermobbing? 237 Teresa Siefer Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten: Chancen, Risiken, Herausforderungen 255 Dorett Funcke Entschleunigte Familien? – Auswege und Strategien gegen die Beschleunigung sozialen Lebens 269 Bettina Hünersdorf (Un)sichtbar kindgerecht Privatheit und Öffentlichkeit von Familie 289 Dominic Frohn „Wir sind Eltern!“ Studie zur Lebenssituation Kölner Regenbogenfamilien Sabina Schutter Risikofaktor Alleinerziehend? Einelternfamilien zwischen Stigmatisierung und Bewunderung 315 331 5 inhalt Klaus Roggenthin Was wir den Kindern inhaftierter Eltern schulden 359 Thomas Fertig Niemand hat gesagt, dass Inklusion einfach ist ... Wege in eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe 389 Johanna Karpenstein Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen Jugendhilfe und Ordnungsrecht 403 Autor(inn)enverzeichnis 413 6 7 V jessika kuehn-velten Vorwort Die Antwort auf die Frage »Was ist kindgerecht?«, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Das Ziel dieses Buches ist es, gemeinsam Bilder einer kindgerechten Welt, Familie, Politik, einer kindgerechten Gesellschaft und schließlich Jugendhilfe zu verstehen und zu entwerfen. Die Deutschen halten ihr Land für eher ungerecht. Eine repräsentative Umfrage des Allensbach Institutes zeigt, dass viele Bundesbürger(innen) sich mehr soziale Gerechtigkeit im Lande wünschen. Besonders auf Chancengerechtigkeit wird Wert gelegt: 90 Prozent der Befragten sehen Gerechtigkeit etwa erst dann als gegeben an, wenn alle Kinder die gleiche Chance auf eine gute Schulbildung haben, 91 Prozent, wenn Beschäftigte von ihrem Lohn wirklich leben können. Diese Klage über das ungerechte Heimatland ist möglicherweise typisch depressiv-deutsch einerseits – die dahinter stehende Werteorientierung auf soziale und Chancen-Gerechtigkeit gibt allerdings andererseits auch viel Hoffnung. Es ist eine Binsenweisheit, dass vollkommene Gerechtigkeit im Leben nicht möglich ist. Und so lehren wir ja unsere Kinder, dass es in der Welt ungerecht zugeht, und manchmal zeigen wir ihnen auch die Variante von John F. Kennedy: „Das Leben ist ungerecht. Aber denke daran – nicht immer zu deinen Ungunsten!“ Wäre es nicht schön, wenn Ungerechtigkeit zumindest zugunsten der Kinder ausginge? Charles Dickens sagt: „Kinder erleben nichts so scharf und bitter wie Ungerechtigkeit“ – und er mag wohl aus eigener Erfahrung gesprochen haben, in der Kindheit mit dem Vater im Schuldgefängnis und Kinderarbeit zum Lebensunterhalt von Eltern und Geschwistern gegründet. Der Blick der Kinder auf Kindgerechtigkeit könnte und sollte so uns Helfern und Helferinnen zum Helfen helfen … Und dann noch ein Letztes dieses kleinen Ausflugs in die Literatur – etwas, das einer durchaus kindgemäßen Symbolisierungsebene entstammt. In Leonie 9 jessika kuehn-velten Swanns wundervollem Schafskrimi Glennkill blökt der schwarze Vierhornwidder Othello „Gerechtigkeit“ – und vom Winterlamm gefragt, was das sei: „Gerechtigkeit ist, wenn man traben kann, wo man will, und grasen, wo man will. Wenn man seinen Weg gehen kann. Wenn man um seinen Weg kämpfen darf. Wenn niemand einem den Weg stiehlt. Das ist Gerechtigkeit.“ Kindgerecht heißt aber nicht nur Gerechtigkeit. Kindgerecht heißt nicht nur Familienrecht und Bundeskinderschutzgesetz. Kindgerecht stellt auch die Frage der Orientierung und Angemessenheit, und die Frage: Müssen Eltern und Einrichtungen, müssen Hilfen und Hilfesysteme wie Jugendhilfe und Gesundheitswesen zu den Kindern passen – oder die Kinder zu den Eltern, Hilfen, Institutionen, Systemen? Die vorliegenden Beiträge verfolgen mehrere Handlungsstränge. Da ist zum einen und insbesondere das Thema Beteiligung von Kindern mit dem Bogen von der Partizipation bis zur Inklusion, von der gesellschaftlichen Teilhabe bis zu einem möglichen Mitgestalten. Einem Mitgestalten auch in den Hilfen, in der Umsetzung von Hilfen wie dem Erfinden von Hilfen, die Kinder und Jugendliche in der Jetztzeit wirklich brauchen können. Weiter geht es um neue Zugänge und Ansätze in der Arbeit mit Kindern und vor allem Jugendlichen und Familien – darin auch den Blick auf die neuen Medien und Technologien, deren Möglichkeiten und Risiken, jedoch nicht nur als verwundert betrachtete Lebenswelt der jungen Menschen, sondern als von der Jugendhilfe zu besetzendes Beratungs- und Hilfefeld mit entsprechenden nicht nur Kenntnissen, sondern auch finanziellen Ressourcen. Es geht natürlich um die Themen, die uns in den letzten Monaten und davor in Jugendhilfe und Kinderschutz beschäftigt haben und noch befassen – um die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Institutionen und Familie und die Reflexion der dazu entwickelten Schutzkonzepte, um gute Aufbereitung und das Lernen aus schwierigen Verläufen in Kinderschutzfällen, und immer wieder um das Ringen um ein Gleichgewicht zwischen Risikominimierung und konsequenter Hilfe- und Beziehungsorientierung in der Arbeit mit Kindern und Familien. 10 vorwort Und schließlich beschäftigen wir uns immer wieder damit, wie sehr wir in Jugendhilfe und Kinderschutz mit entwickeln und verantworten (können), dass es wirklich kindgerechte Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern gibt. Wir sind Fachleute und damit wichtige Akteure im Feld guter Kindheiten und Jugendzeiten in unserer Gesellschaft. Wir können helfen, Kinder und Jugendlichen ebenfalls in angemessener, nicht überfordernder Weise Mit-Akteure sein zu lassen. Der Untertitel des Buches lautet „Verändertes Aufwachsen in einer modernen Gesellschaft“. Kinder werden nicht in der gleichen Weise groß wie vor 10, 20 oder mehr Jahren – das gibt das Modell von Entwicklungs- und Veränderungsorientierung in unserer Gesellschaft ebenso wenig her wie die Geschwindigkeit unseres Lebens. Viele der Beiträge haben auch die Frage im Blick, wie wir in der Jugendhilfe nicht nur nachgehen, sondern mitgehen und vielleicht sogar vorausgehen können, wie wir bei aller Entschleunigung auch passend zu den jungen Adressat(inn)en Fahrt aufnehmen können. Aus den Frühen Hilfen kennen wir den Begriff der Feinfühligkeit, mit der Eltern Signale ihrer Babys und Kleinkinder beantworten. Wir wissen, wie viele Ressourcen und Stärken zur Verarbeitung auch schwieriger Lebensereignisse in dieser frühen Basis liegen. Ich wünsche uns Engagement für die Differenzierung einer gesellschaftlichen Feinfühligkeit für Kinder und Jugendliche, nicht nur für die Kleinen, auch für die Pubertierenden bis zur Adoleszenz. Einer Feinfühligkeit, die Signale der Kinder ohne Angst und unerschrocken aufnimmt, beantwortet und integriert. Wie wollen wir das machen? „Kindgerecht ist, wenn schwierige Sachen einfach erklärt werden“, hat ein Mädchen in einer Interviewreihe der KinderschutzZentren einmal so treffend gesagt. Das heißt, dass wir innerlich immer einmal wieder das Gehörte und Gesagte in die Sprache und den Verstehenskontext von Kindern übertragen, um in innerem Kontakt mit ihnen zu bleiben. Lassen Sie uns immer wieder einmal den Blickwinkel der Kinder einnehmen. Lassen Sie uns einander zuhören aus der Sicht einer Dreijährigen, eines Sechsjährigen, 10 Jahre alter Kinder oder 14 Jahre alter Jugendlicher, um diese Sicht 11 jessika kuehn-velten fest mit der unseren als Erwachsene und Fachleute zu verknüpfen, um kindgerecht zu bleiben und Kinder und Jugendliche sicher im Blick zu behalten. Ich wünsche Ihnen eine erfahrungsreiche, spannende, aber auch lustvolle Lektüre! Jessika Kuehn-Velten Ärztliche Kinderschutzambulanz Düsseldorf, Bundesvorstand der Kinderschutz-Zentren 12 D kay biesel Die Verantwortung der Kinderund Jugendhilfe für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsens Kinder- und Jugendhilfe übernimmt öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern (vgl. Bundesministerium für Familie 2002, Bundesministerium für Familie 2013). Sie soll sich für die Wahrung und Verwirklichung ihrer Rechte und Interessen einsetzen und mit ihren Angeboten und Leistungen zur Förderung ihrer individuellen und sozialen Entwicklung beitragen. Sie hat den Auftrag, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familie sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII). In diesem Sinne kann Kinder- und Jugendhilfe als eine Unterstützungs- und Sozialisationsinstanz angesehen werden, die für den Erhalt und die Schaffung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens verantwortlich ist. Ausgehend von dieser These werden im Beitrag zwei Fragen aufgegriffen und beantwortet: (1.) Was sind kind(er) gerechte Bedingungen des Aufwachsens? (2.) Welche Verantwortung hat Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Gestaltung kind(er)gerechter Bedingungen des Aufwachsens? 1. Zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘ Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1971a) lassen sich zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘ keine Einträge finden, dafür aber für das Wort ‚gerecht‘. ‚Gerecht‘ ist etwas, wenn es gerade gewachsen ist oder jemand richtig gebaut und gesund ist oder den rechten Weg geht. Gerecht sind auch solche Dinge, die genau, passend, vollkommen oder gerade bzw. im rechten Winkel sind. Gerecht ist auch, was richtig ist oder den gesetzlichen Vorschriften entspricht (vgl. Grimm/Grimm 1971b). Ungerecht sind hingegen Handlungen, die falsch sind, die gegen das Gesetz verstoßen oder ungerade bzw. uneben sind. 15 kay biesel Wenn etwas kind(er)gerecht sein soll, muss es demnach dem Recht entsprechen bzw. den Rechten von Kindern gerecht werden. Es muss richtig und darf nicht falsch sein, d. h. es muss gerechtfertigt sein. In den einschlägigen Hand(wörter)büchern Sozialer Arbeit bzw. der Kinderund Jugendhilfe lassen sich zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘ ebenfalls keine Einträge finden. Ebenso nicht zur Frage, ob und inwieweit Kinder- und Jugendhilfe Verantwortung für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsen hat (vgl. Otto/Thiersch 2011, Schröer/Struck/Wolff 2002, Thole 2010).1 Es sind in ihnen aber Beiträge über die Entwicklung und Bedeutung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Bartscher/Kriener 2002, Kriener/Hansbauer 2014) und zum Begriff der Gerechtigkeit enthalten (vgl. Böllert et al. 2011). Der Begriff ‚kind(er)gerecht‘ wird insofern zwar im Diskurs verwendet. Es bleibt jedoch oftmals unklar, was unter ‚kind(er)gerecht‘ verstanden wird. Anzunehmen ist, dass der Begriff auf einen Mangel hinweisen soll. Er verweist auf die schwache Stellung von Kindern in unserer Gesellschaft. Er signalisiert, dass Kinder eines besonderen Schutzes und spezieller Rechte bedürfen. Ihnen soll es Recht in unserer Gesellschaft gemacht werden bzw. soll mit ihnen gerechter als bisher umgegangen werden. Sie sollen kein Leid und keine Ungerechtigkeiten mehr erfahren, so wie es in der Geschichte der Kindheit lange Zeit üblich war (vgl. deMause 1980). Sie sollen nicht länger benachteiligt sowie misshandelt, vernachlässigt und/oder sexuell ausgebeutet werden, sondern endlich als gleichberechtigte Subjekte anerkannt und ernst genommen werden. Liebel (2013, S. 5ff.) argumentiert in seiner Auseinandersetzung über den Begriff ‚kindergerecht‘ in ähnlicher Weise. Er kritisiert allerdings, dass nur vage Vorstellungen darüber bestehen, was „Kindergerechtigkeit“ (ebd., S. 5) ist, weshalb der Begriff oftmals nur eine Formel sei, mit der man sein Handeln in ein gutes Licht rücken könne (vgl. ebd.). Liebel unternimmt aus diesem Grund den Versuch, zu beschreiben, „was Gerechtigkeit für Kinder aus der Sicht von Kindern“ (ebd.) bedeuten könnte. Hierfür unterscheidet er fünf Dimensionen von Gerechtigkeit, die für ihn miteinander verknüpft sind und sich überschneiden (vgl. ebd., S. 5ff.): 1 Generell lassen sich nur wenige lexikalische Einträge zum Wort ‚kindgerecht‘ finden. Oft wird in Lexika der Begriff ‚kindgemäß‘ verwendet, was so viel bedeutet wie der Entwicklung und dem Alter von Kindern entsprechend. 16 die verantwortung der kinder- und jugendhilfe ·Gleichberechtigung: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was getan werden kann, damit Kinder ihre Rechte in Anspruch nehmen können und nicht aufgrund ihres Alters diskriminiert und an ihrer Rechtsausübung gehindert werden. ·Politische Gerechtigkeit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was getan werden kann, damit Kinder als Bürgerinnen und Bürger beteiligt und nicht strukturell aus politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden. ·Soziale Gerechtigkeit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was getan werden kann, damit Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Geschlechts oder anderer ihnen zugeschriebenen Merkmalen nicht sozial benachteiligt werden. ·Individuelle Verschiedenheit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, wie altersspezifische Lebens-, Ausdrucks- und Kommunikationsformen von Kindern anerkannt und zugleich ihre Rechte gewahrt bleiben können. ·Gerechtigkeitssinn: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was getan werden kann, damit Kinder Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickeln können und wie mit ihnen umzugehen sei. Die Analyse des Begriffs ‚kind(er)gerecht‘ verdeutlicht, worum es der Kinderund Jugendhilfe gehen muss, soll sie ihrer Verantwortung für die Gestaltung kind(er)-gerechter Bedingungen des Aufwachsens gerecht werden: um die Beachtung und Realisierung von Kinderrechten für Kinder und aus Sicht von Kindern (vgl. ebd., S. 5). Oder wie im Abschlussbericht des Nationalen Aktionsplans „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ betont wird, um eine „Wandlung des Bildes vom Kind: weg von der Sicht auf das Kind als Objekt des Handelns Erwachsener hin zur Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte“ (Bundesministerium für Familie 2010, S. 8). 17 kay biesel 2.Rechte von Kindern in der Kinder- und Jugendhilfe – immer noch nicht hinreichend beachtet Dass Kinder eigene Rechte haben, ist bereits seit dem Beginn der Moderne und nicht zuletzt seit Rousseau’s ‚Èmile‘ (1998), dann aber im 20. Jahrhundert vor allem seit Ellen Key’s Programmschrift ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ (vgl. Key 2000) und insbesondere seit dem Wirken und der Werke von Janusz Korczak ein wichtiges Anliegen geworden (vgl. Beiner 2008, Korczak 2008 und 2011). Kinderrechte sind die Basis für eine soziale Praxis der Achtung, die auf dem Recht des Kindes auf den eigenen Tod, dem Recht des Kindes auf den heutigen Tag und auf das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist, fußt (vgl. Korczak 2008, S. 40). Dennoch hat erst seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 in der Kinder- und Jugendhilfe eine breite Auseinandersetzung über Kinderrechte begonnen (vgl. Bundesministerium für Familie 2013, S. 263f.; IzKK-Nachrichten 2009; Kriener/Hansbauer 2014; Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e. V. 2010). Im Schwerpunkt der Auseinandersetzung geht es dabei tendenziell immer wieder um die Frage, ob und wie Partizipationsrechte von Kindern (weniger Förderrechte und Schutzrechte) in der Kinder- und Jugendhilfe besser wahrgenommen und umgesetzt werden und dabei die Rechte von Eltern gewahrt bleiben können. Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 ist es mittlerweile jedoch zu einer Stärkung der Rechtsstellung von Kindern gekommen (vgl. Meysen/ Eschelbach 2012, S. 165ff.). Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen nun geeignete Verfahren zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und für deren Schutz vor Gewalt als wesentliches Qualitätsmerkmal nachweisen (vgl. § 78a SGB VIII). Sie sind gekoppelt an die Erteilung einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII und sollen die Beteiligung von Kindern in stationären Settings sicherstellen und ihnen die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten gestatten (siehe hierzu auch: Urban-Stahl 2011, Urban-Stahl 2014). Dennoch werden – wie Liebel herausstellt (2013, S. 72–99) – die Rechte von Kindern in der Kinder- und Jugendhilfe immer noch nicht hinreichend beachtet, zumindest wenn man die augenblickliche Praxis des Kinderschutzes vor Augen hat, in der Schutzrechte im Rahmen der Ausübung des staatlichen Wächter- 18 die verantwortung der kinder- und jugendhilfe amtes oftmals einseitig gegen die Förderungs- und Partizipationsrechte von Kindern durchgesetzt werden (siehe auch: Kriener/Hansbauer 2014, S. 181; Pluto 2007; Wolff et al. 2013). Es scheint insofern von Bedeutung zu sein, sich in der Kinder- und Jugendhilfe verstärkt für die Wahrnehmung und Realisierung von Kinderrechten einzusetzen. Ihre in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte sind zwar bislang noch nicht im Grundgesetz enthalten, ihre Verankerung wird jedoch aktuell im 14. Kinder- und Jugendbericht gefordert, in dem es heißt: Der Rückgang des Anteils junger Menschen an der Gesamtbevölkerung birgt die Gefahr, dass ihre Interessen und Anliegen bei der Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen marginalisiert werden. Zwar hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass das Kind ein Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit ist. Allerdings lässt sich dieses Rechtsverständnis noch nicht im Grundgesetz finden. Die Einfügung von Kinderrechten in das Grundgesetz würde insoweit zu einer Klarstellung beitragen. Sie könnte Anlass zur Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen primär aus der Perspektive junger Menschen geben, würde das allgemeine Rechtsbewusstsein verändern und der ‚strukturellen Rücksichtslosigkeit‘ entgegenwirken, mit der Kinder und Familien konfrontiert sind. (Bundesministerium für Familie 2013, S. 51) 3.Anhaltspunkte zur Bestimmung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens in der Kinder- und Jugendhilfe Auf der Suche nach Anhaltspunkten zur Bestimmung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens sind neben der UN-Kinderrechtskonvention drei normative Referenzrahmen richtungsgebend (Böllert et al. 2011, S. 519; Schrödter 2007, S. 9ff.). Sie sind eng verknüpft mit der Frage, worauf Gerechtigkeitsurteile fußen und woran man erkennen kann, dass Kindern Unrecht geschieht bzw. Ungerechtigkeiten zuteil werden. Bedingungen des Aufwachsens sind demnach kind(er)gerecht, a)wenn sie zum Wohlbefinden oder zur Befriedigung der Grundbedürfnisse von Kindern beitragen (Utilitarismus), 19 kay biesel Voraussetzung für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachens b)wenn Kindern unabhängig ihrer individuellen Grundbedürfnisse ausreichend gesellschaftliche Grundgüter zur Verfügung stehen, wie z. B. finanzielle Ressourcen oder anerkannte und gewährte Kinderrechte (Rawls liberale Theorie der Gerechtigkeit), c)wenn Kinder trotz ungleicher Startbedingungen die Chance gewährt wird, Fähigkeiten zu Führung eines guten Lebens ausbilden zu können (Capabilities-Ansatz von Nussbaum und Sen). Gewährleistung des Wohlbefindens von Kindern und der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse Vorhandensein ausreichender gesellschaftlicher Grundgüter Sicherstellung von gleichen Startbedingungen / (frühe) Unterstützung bei der Ausbildung von Fähigkeiten zur Führung eines guten und sinnerfüllten Lebens Abb. 1: Voraussetzung für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsens Alle drei genannten Referenzrahmen können zur Bestimmung von kind(er) gerechten Bedingungen des Aufwachsens herangezogen werden. Sie beinhalten für sich genommen sinnvolle Kriterien anhand derer man beurteilen kann, ob Bedingungen des Aufwachsens kind(er)gerecht sind oder nicht. Sie haben aber auch Schwächen. Vor allem sind sie primär nicht dazu entwickelt 20 die verantwortung der kinder- und jugendhilfe worden, um zu beantworten, ob Bedingungen des Aufwachsens aus Sicht von Kindern gerecht sind und wie diese realisiert werden können. So argumentieren Böllert u. a., dass Rawls liberale Theorie der Gerechtigkeit auf einem Gedankenexperiment basiert, welches „vernünftige, kooperationsfähige und mit moralischem Urteilsvermögen ausgestattete“ (Böllert et al. 2011, S. 520) Menschen voraussetzt. Rawl geht nämlich davon aus, dass Menschen sich fair über die Verteilung von Ressourcen und die Zubilligung von Rechten verständigen können und stets nach dem Differenzprinzip vorgehen. Dieses besagt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn diese mit Amt und Würden verbunden sind (die prinzipiell allen offenstehen müssen) und der Besserstellung der in einer Gesellschaft am schlechtesten gestellten Mitglieder dienen (vgl. Böllert et al. 2011, S. 520; Holzleithner 2009, S. 41ff.). Kinder und Menschen, die senil oder geistig behindert sind, seien laut Böllert u. a. (2011, S. 520f.) jedoch nur begrenzt in der Lage, den Partizipations- und Teilhabeanforderungen der Rawlschen Vertragstheorie gerecht zu werden. Auch sei die Orientierung am Wohlbefinden bzw. an der Befriedung von Grundbedürfnissen, wie sie im Rahmen des klassischen Utilitarismus vorgeschlagen wird (und auch im Kinderschutz dominierend ist), unzureichend. Mit dieser Perspektive würde einer paternalistischen Sozial- und Bildungspolitik Vorschub geleistet werden (ebd., S. 523). Böllert u. a. machen sich aus diesem Grund für den Capabilities-Ansatz in der Sozialen Arbeit stark, der ihrer Meinung nach „ein klassisches Motiv Sozialer Arbeit“ (ebd., S. 524) aufnimmt: Menschen zur Führung eines autonomen Lebens zu befähigen (vgl. ebd.), also dazu, ein erfülltes und sinnerfülltes Leben mit einer guten körperlichen und geistigen Verfassung in Geselligkeit und Gemeinschaft bis zum Tod zu führen (Nussbaum 1999). Diese Argumentation ist an sich überzeugend, verdeckt aber, dass Bedingungen des Aufwachsens nur dann kind(er)gerecht sind, wenn Rechte von Kindern beachtet und „als normative, beinahe universell anerkannte Bezugspunkte für das, was jedem Kind zusteht, auch wenn unvermeidbar ist, dass die in den Kinderrechten enthaltenen Versprechen immer nur näherungsweise eingelöst werden (können)“ (Maywald 2009, S. 19), sichergestellt sowie ihre Grundbedürfnisse (vgl. Brazelton/Greenspan 2002) hinreichend befriedigt werden, wofür die Kinderund Jugendhilfe aktiv Verantwortung übernehmen muss. 21 kay biesel 4. Kinder- und Jugendhilfe und ihre Verantwortung für kindgerechte Bedingungen des Aufwachsens Die Realisierung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens ist eine sozialpolitische Aufgabe (vgl. Bartscher/Kriener 2002, S. 1059). Sozialpolitik kann mit Kaufmann (2005, S. 75) als Intervention des Staates in soziale Verhältnisse angesehen werden. Sein Modell basiert auf folgenden Grundannahmen (ebd., S. 83 u. 87): · Ziel sozialstaatlicher Interventionen ist es, die soziale Teilhabe von Men schen sicherzustellen bzw. zu erweitern, also auch von Kindern. · Sozialstaatliche Interventionen haben einen individuellen und einen kollektiven Nutzen. · Sozialpolitik wirkt auf verschiedenen Ebenen und kennt vier Interventions formen: die rechtliche, die ökonomische, der ökologische und die pädagogische Intervention. Die rechtliche Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung des rechtlichen Status von Personen (Schutzrechte, Teilhaberechte, soziale Rechte, z. B. Ansprüche auf Leistungen) (ebd., S. 89). Die ökonomische Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommensund Lebensverhältnisse von Personen (Umverteilung zum Ausgleich sozialer Ungleichheit) (ebd., S. 92). Die ökologische Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung der Gelegenheitsstrukturen für Personen (ebd., S. 96). Die pädagogische Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft von Personen: Bildung, Beratung, Information; Vermittlung von Kompetenzen (ebd., S. 101. u. 104). 22 die verantwortung der kinder- und jugendhilfe Soziale Teilhabe Dimensionen sozialer Teilhabe Status Gelegenheiten Kompetenzen Sozialpo- RechtsGeldlitische ansprüche leistungen Güter Infrastrukturelle Einrichtungen Personenbezogene Dienstleistungen Interven- rechtliche ökonomische tionsformen ökologische pädagogische Zentralproblem der Realisierung Interorganisationale Kooperation, Inanspruchnahme Interpersonelle Kommunikation (Aufbau und Erhalt helfender Beziehungen) Ressourcen RechtsFinanzierung wahrnehmung Quelle: Kaufmann 2005, S. 88 Nimmt man Kaufmanns Modell zur Beantwortung der Frage, welche Verantwortung die Kinder- und Jugendhilfe für die Gestaltung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens hat, wird deutlich: · Kinder- und Jugendhilfe ist verantwortlich für die Gestaltung von Bedin gungen des Aufwachsens und von informellen Bildungsprozessen. Sie nutzt hierfür ökologische und pädagogische Interventionsformen. · Sie ist gemeinsam mit anderen staatlichen Institutionen, der Familie und anderen kollektiven gesellschaftlichen Akteuren (wie vor allem den Wohl fahrtsverbänden) dafür zuständig, Kinder zu fördern, zu erziehen und zu schützen. · Eine ihrer Aufgaben ist es, sich für den Erhalt und die Schaffung positiver und kinder- sowie familienfreundlicher Umwelten einzusetzen. 23 kay biesel · · · Ihr primäres Ziel ist jedoch nicht, kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsens zu erhalten oder zu schaffen, sondern entwicklungsgerechte (vgl. Bronfenbrenner 1981); ihr Handeln ist bislang mehr am Grundbedürfnismodell und weniger am Kinderrechte-Modell ausgerichtet. Sie muss deshalb – soll sie mehr Verantwortung für die Gestaltung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens übernehmen – stärker über Rechte von Kindern informieren und die Umsetzung der Rechte von Kindern vor allem bei ihren Trägern und Organisationen verlässlich absichern und überwachen; ebenso muss sie untersuchen, ob und wie es ihr mit ihren Angeboten und Leistungen gelingt, Grundbedürfnisse von Kindern angemessen zu befriedigen. Nicht zuletzt ist sie auf Partner angewiesen, die sich mit ihr für die soziale Teilhabe von Kindern einsetzen und dafür Sorge tragen, dass der Status von Kindern in unserer Gesellschaft gestärkt und Bedingungen des Aufwachsens erhalten und/oder geschaffen werden, die ihnen, ihren Grundbedürfnissen und Rechten gerecht werden. 5. Schluss Kinder- und Jugendhilfe ist für die angemessene Erfüllung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben verantwortlich. Sie hat verantwortungsvolle Aufgaben zu bewältigen; ihr wird prinzipiell zugetraut, dass sie über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, mittels derer sie Kinder fördern, erziehen und schützen und die Folgen ihres Handelns abschätzen und kalkulieren kann. Sie kann ihre Verantwortung allerdings nur wahrnehmen, wenn sie davon überzeugt ist, dass sie die mit der Realisierung der ihr zugewiesenen Aufgaben entstehenden Kooperationsprobleme erfolgreich lösen kann. Sie muss über die nötige Durchschlagskraft verfügen (Macht und Ressourcen) und dazu bereit sein, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und es als normal ansehen, dass auch Kinder als aktive Selbstproduzenten / Selbstkonstrukteure ihrer eigenen Persönlichkeit unterstützenden und schützenden Lebensumständen eigene Rechte haben, die es zu achten, zu respektieren, zu wahren und mit Leben zu erfüllen gilt, um ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen. 24 die verantwortung der kinder- und jugendhilfe Literatur Bartscher, Matthias/Kriener, Martina (2002): Rechte von Kindern und Jugendlichen. In: Schröer, Wolfgang/Struck, Norbert/Wolff, Mechthild (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/München, S. 1051–1069. Bein, Friedhelm (2008): Was Kindern zusteht. Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung. Inhalt – Methoden – Chancen. Gütersloh. Böllert, Karin/Otto, Hans-Uwe/Schrödter, Mark/Ziegler, Holger (2011): Gerechtigkeit. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4., völlig neu bearb. Aufl. München, S. 517–527. Brazelton, T. Berry/Greenspan, Stanley I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Weinheim/Basel. Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2002) (Hg.): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2010) (Hg.): Perspektiven für ein kindergerechtes Deutschland. Abschlussbe richt des Nationalen Aktionsplans „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013) (Hg.): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Men schen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. deMause, Lloyd (1980) (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt/Main. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1971a) (Hg.): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bd. in 32 Teilbänden. Bd. 5. Online-Version vom 24.11.2014. Leipzig. Grimm, Jacob /Grimm, Wilhelm (1971b): Gerecht. In: Grimm, Jacob /Grimm, Wilhelm (Hg.): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bd. in 32 Teilbänden. Bd. 5. Online-Version vom 24.11.2014. Leipzig. 25 kay biesel Holzleithner, Elisabeth (2009): Gerechtigkeit. Wien. IzKK-Nachrichten (Hg.) (2009): UN-Kinderrechtskonvention. Impulse für den Kinderschutz. Heft 1. München. Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen. 2., erw. Aufl. 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Köln. 27 K reinhart wolff Kinderschutz braucht Ressourcen Wenn Hilfeinstitutionen verarmen, verliert der Kinderschutz und schädigt Kinder *) 1. Woran können wir die Verarmung von Kinderschutzeinrichtungen festmachen? Im Kinderschutz geht es im Kern immer wieder um Kinder gefährdende und verletzende Lebensumstände. Armutsverhältnisse und soziokulturelle Ausgrenzungen in Verbindung mit konfliktreichen Erwachsenen-KindBeziehungen in Familien und Institutionen (Heimen, Kindertageseinrichtungen, Kliniken, Schulen, Jugendverbänden, Sportvereinen und Kirchen) sind wesentlich als ursächlicher Hintergrund für Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern. Sich für den Schutz der Rechte und der Entwicklungsbedürfnisse und für die Förderung des Wohlbefindens von Kindern einzusetzen, hat daher in den letzten Jahren mit Recht die Aufmerksamkeit von Gesellschaft und Politik wie von den im Kinderschutz engagierten professionellen Einrichtungen und Fachkräften beansprucht. Viel weniger sind allerdings Verarmungen und Verlusterfahrungen von Kinderschutzeinrichtungen selbst in den Blick genommen worden. Mit der weiteren Aufgipfelung der Ansprüche an die Kinderschutzarbeit im Zuge moderner Risikodiskurse – insbesondere im Zusammenhang der medialen Skandalisierung von gescheiterten Kinderschutzfällen – ist es überall zu einer wachsenden Flut von Kindeswohlgefährdungsmeldungen, zu mehr Kinderschutzfällen, zu mehr Inobhutnahmen und außerfamilialen Unterbringungen von Minderjährigen und zu mehr familiengerichtlichen Einschränkungen elterlicher Sorgerechte gekommen. Überhaupt sind mit der Neuendeckung der Kindesmisshandlung in den 1960er und 1970er Jahren die Kinderschutzaufgaben im gesamten Kinder- und *) Werner Thole in herzlicher Verbundenheit zum 60. Geburtstag. 29 reinhart wolff Jugendhilfesystem immer wichtiger geworden, wurden andere Aufgaben (wie z. B. die Jugendarbeit) an den Rand geschoben. Bereits Anfang der 1990er Jahre war dieser Trend, der überall in Europa und in den USA einer grassierenden Begeisterung für „Neue Steuerung“ – einem neo-managerialen Verwaltungskonzept – folgte, vor allem in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe deutlich geworden, wie die unvergessene Olive Stevenson, eine der wichtigsten englischen Sozialarbeitswissenschaftlerinnen der letzten Jahrzehnte, prägnant feststellte. Ihr zugespitzter Befund Anfang der 1990er Jahre, der auch heute noch gilt, lautete: Die Tatsache der Misshandlung ist für viele Kinder und Jugendliche nur eine Problematik in einem leidvollen Katalog von Familienschwierigkeiten, Benachteiligungen und problematischen Verhaltensweisen. Es ist aber diejenige, die wir uns entschieden haben zu betonen (to highlight); und obwohl wir nicht ihre zentrale Bedeutung bestreiten wollen, scheint es doch schwierig gewesen zu sein, sie (die Problematik der Kindesmisshandlung, RW) angemessen in das gesamte System der Praxis und Forschung der Kinder- und Jugendhilfe (child care) zu integrieren. Dies läuft den Interessen von Kindern und Jugendlichen zuwider. Kindesmisshandlung scheint manchmal wie der Kuckuck im Nest zu sein, der die anderen Küken unbarmherzig hinauswirft und unersättlich deren Anteil an den Ressourcen konsumiert. (Übersetzung RW) 1 Insofern hat sich ein regelrechtes Entwicklungsdilemma ergeben: Kindesmisshandlungen – und noch vager und weiter greifend Kindeswohlgefährdungen – wurden mit immer größerer Aufmerksamkeit wahrgenommen und als relevantes Handlungsproblem herausgestellt. Damit wurde Kinderschutz zu einer wachsenden und zugleich alle anderen Aufgaben dominierenden Aktivität der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, ohne dass freilich die dafür notwendigen Ressourcen mit gewachsen wären. Bei wachsender Anspruchserhöhung und trotz insgesamt 30 1 Stevenson, Olive (1992): Social Work Intervention to Protect Children: Aspects of Research and Practice. In: Child Abuse Review, Vol. 1, pp. 19–32; hier S. 19. kinderschutz braucht ressourcen substanzieller Haushaltsmittelexpansion und trotz – wenn auch regional unterschiedlicher – Personalaufstockungen2, reichen die vorhandenen Ressourcen für die Bewältigung der gewachsen Aufgaben im modernen Kinderschutz nicht aus. Wie wir in unserer Feldstudie im kommunalen Kinderschutz3 zeigen konnten, haben sich die Belastungen enorm erhöht, ist die fachliche Qualität der Kinderschutz-Institutionen aber nicht entsprechend mit gewachsen. In den Städten, Gemeinden und Landkreisen mit dauerhaften Haushaltsproblemen ist sie sogar gesunken, was sich nun mit den nicht mehr abweisbaren Aufgaben im Zuge des personellen und finanziellen Kita-Ausbaus sogar noch verschärft hat. Als besonders markant hat sich diese Zwickmühle zwischen Anspruchserhöhung und realem Leistungsvermögen aber dort zugespitzt, wo man im Feld der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe dem neo-managerialen Trend zum abgespeckten und outgesourcten Restejugendamt (!) bereitwillig gefolgt ist, sodass das Jugendamt als staatliche Kernorganisation des Kinderschutzes zu einer bloßen Melde-, Eingriffs- und bürokratisierten CasemanagementMaschine verkommen ist, wodurch sich das in der Öffentlichkeit und Gesellschaft weit verbreitete Negativimage des Jugendamtes als autoritäre und leistungsschwache Kinderschutzbehörde nur noch weiter verfestigte, der man – gerade wenn ein Kind zu Tode gekommen ist – schnell pauschal „Versagen“ und „Scheitern“ vorzuwerfen sich angewöhnt hat.4 2 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten 14 Jahren neben einer erheblichen Personalexpansion (auf insgesamt über 700.000 Fachkräfte) fast zu einer Verdoppelung der Ausgaben (im Jahre 2012 auf 32,3 Mrd. € gegenüber 17,7 Mrd. € im Jahre 1998) gekommen ist. Vgl.: Rauschenbach, T./Schilling, M. (2014): Die Kinder- und Jugendhilfe – wertvoller denn je. In: KOMDAT, 17. Jg., Heft 1 & 2 (Juni 2014), S. 1–4. 3 Wolff, R./Flick, U./Ackermann, T./Biesel, K./Brandhorst, F./Heinitz, S./Patschke, M./Röhnsch, G. (2013): Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse, hg. vom NZFH. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. 4 Diese Tendenz hat sich Anfang des Jahres 2015 erneut besonders deutlich in der öffentlichen Skandalisierung des „Falles Lenzkirch“ gezeigt, wo der für seine Polemik gegen die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe bekannt gewordene Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos – ohne jegliche Untersuchung des Falles – gewissermaßen „ferndiagnostisch“ – den Behörden vorhielt, sie hätten beim Schutz des dreijährigen Jungen versagt bzw. der Fall sei „ein Lehrstück für das komplette Versagen des Kinderschutzes in Deutschland.“ (Vgl.: „Rechtsmediziner: Ämter haben im Fall Lenzkirch versagt.“ In: Badische Zeitung, 28. Januar 2015). 31 reinhart wolff 2. Welche Verlusterfahrungen und Belastungen spielen im Kinderschutz eine Rolle? Das expandierende Kinderschutzsystem ist auf besondere Weise von diesem in modernen Berufssystemen sich regelhaft herausbildenden Entwicklungsdilemma betroffen. Es kann nämlich – wie auch bei anderen Berufssystemen beobachtet wird – den wachsenden Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern, von Gesellschaft und Politik an die professionellen Expertensysteme immer wieder nicht nachkommen. Daraus ergibt sich eine wachsende Enttäuschung gegenüber den Leistungen der Fachkräfte, zumal, wenn sie es in ihrer Praxis – wie generell im Kinderschutz – mit strukturellen Unsicherheitsbedingungen und komplexen Handlungssituationen von hoher Kontingenz zu tun haben, die sich zwar beeinflussen, aber nicht sicher steuern lassen.5 Solche Enttäuschungen in Verbindung mit intergenerational weitergegebenen, nicht selten traumatischen Erfahrungen mit Kinderschutzorganisationen, führen aber zu einem strukturellen Anerkennungsverlust, gegen den gut gemeinte Öffentlichkeitskampagnen wie etwa „Jugendamt – Hilfe, die ankommt!“ nur wenig ausrichten können, vor allem, wenn gleichzeitig massive mediale „Entwertungskampagnen“ gegen die heutige Kinderschutzarbeit in Gang gesetzt werden.6 Sie werden aber besonders gefährlich, wenn die Kinderschutzorganisationen die professionelle Deutungshoheit an andere konkurrierende Berufssysteme abgeben und es auf diese Weise zu einem Verlust an programmatischer Selbststeuerung durch Außen- oder Fremdsteuerung kommt, wie es gerade in der öffentlichen Erörterung problematischer (tödlicher) Kinderschutzfälle oft geschieht.7 5. Vgl.: Hirschman, Albert O. (1984): Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 6. Besonders hervorgetan hat sich dabei der bereits oben zitierte Rechtsmediziner Tsokos mit dem – faktisch von einem Ghostwriter verfassten – Band: Tsokos, Michael/Guddat, Saskia (2014): Deutschland misshandelt seine Kinder. München: Droemer. 7. Felix Brandhorst hat diesen Zusammenhang in seiner hervorragenden Dissertation „Kinderschutz und Öffent- 32 lichkeit – Der >Fall Kevin< als Sensation und Politikum“ (die demnächst im VS Verlag erscheint) überzeugend empirisch belegt. Siehe auch den wichtigen Beitrag: Hildenbrand, Bruno (2014): Das KJHG und der Kinder- schutz: Eine verpasste Professionalisierungschance der Sozialpädagogik. In: Bütow, B. u. a. (Hg.): Sozialpäda- gogik zwischen Staat und Familie. Wiesbaden: Springer VS, S. 175–202. Der Autor identifiziert mit Recht kritisch eine „Ortlosigkeit“ der Sozialpädagogik in der Arena des Kinderschutzes. kinderschutz braucht ressourcen Im Zuge der Propagierung von kruden Casemanagement- und bürokratischen Steuerungskonzepten (mit Diagnose-Checklisten, grünen, grauen und roten Verfahrensablaufschemata in der Kinderschutzarbeit à la Lüttringhaus und IT-gestützten Dokumentationssystemen) ist im Kinderschutz aber auch die Wertschätzung einer multiperspektivischen sozialpädagogischen Fachkompetenz geringer geworden, woraus sich ein programmatischer und methodischer Qualitätsverlust in der Kinderschutzarbeit ergeben hat. Denn so wichtig gute Verwaltungsfachleute auch in der Kinderschutzarbeit sind, schwierigste Notlagen in verstrickten Beziehungskrisen, worum es in Situationen der Kindeswohlgefährdung ja in der Regel geht, lassen sich von sozialen Kinderschutzfachkräften, die sich nurmehr als „Sachbearbeiter“ und „Fallmanager“ verstehen, nicht bearbeiten. Hinzukommt, was viel zu wenig bedacht wird, dass im Zuge der Etablierung und Ausweitung postmoderner Wohlfahrtsregime der Überwachung und des Risikocontainments den Hilfeinstitutionen die Hilfe benötigenden Menschen selbst (die Eltern, die Kinder und Jugendlichen) als zentrale und selbst verantwortliche Akteure verloren gegangen sind. Sie werden allenfalls als Risikopopulationen gesehen und erfasst und viel zu selten als freie und (gleich-)berechtigte Bürgerinnen und Bürger und als hilfeinteressierte, hilfesuchende Partnerinnen und Partner, die Hilfe wählen und abwählen können. Ihre Interessen, ihre Widerstände und ihre Abwehr gelte es aber, im offen Dialog wahrzunehmen, anzuerkennen, zu klären und durchzuarbeiten. Schließlich gibt es im Zuge hoch arbeitsteiliger, multidisziplinärer Berufssystementwicklungen erhebliche inter-organisationale Verlusterfahrungen und Belastungen, wird vor allem – trotz einer bereits gebetsmühlenhaften Betonung der Notwendigkeit der Kooperation – eine systemübergreifende Zusammenarbeit im Kinderschutz schwieriger, misslingt sie oder geht ganz verloren. In der Kinderschutzarbeit, bei der es strukturell immer um eine multiprofessionelle und multidisziplinäre Arbeit mit Grenzobjekten geht, sind solche inter-organisationalen Vernetzungs- und Koordinationsschwierigkeiten besonders problematisch. Das Konzept der Grenzobjekte als inter-organisa- 33 reinhart wolff tionaler Verstehensrahmen für die Herstellung von Übereinstimmungen bei gemeinsamen Themen, Problemen und Aufgaben bei unterschiedlichen Sichtweisen und Handlungskonzepten kann man nutzen, um gerade Prozesse und Brüche in der Produktion von Fallgeschichten und Fallprozessen im Kinderschutz besser zu verstehen. Hier treffen nämlich unterschiedliche Akteure (Eltern und Kinder aus familialen Lebenswelten sowie aus den beteiligten Berufssystemen) aufeinander, und die Schwierigkeit besteht geradezu darin, trotz unterschiedlicher Bezugssysteme der aufeinandertreffenden Akteure (nämlich der Referenzsysteme des Wissens, der Handlungsinteressen, der moralischen Orientierungen und Verantwortungen) so etwas wie eine gemeinsame Kohärenz, eine „common identity across sites“ (vgl.Star/Griesemer8) systemübergreifend herzustellen und aufrechtzuerhalten. Kindeswohlgefährdungen, Kindesmisshandlung und Vernachlässigungen können wir darum mit Gewinn als „Grenzobjekte“ fassen, die zwischen verschiedenen sozialen Welten (bzw. organisationalen Systemen) als gemeinsamer Bezugspunkt fungieren. In Anknüpfung an Stephan Wolff9, der das Konzept von Star & Griesemer hierzulande als erster aufgegriffen hat, hat Thomas Klatetzki diesen Schritt gemacht und vorgeschlagen, mit Blick auf den Kinderschutz die „Fallgeschichte als ‚idealtypisches’ Grenzobjekt“ zu verstehen. Seine Untersuchung10 kommt am Beispiel eines Kinderschutzfalls11 allerdings zu einem kritischen Befund, der schlaglichtartig die fachlichen Schwierigkeiten kennzeichnet, die im Hauptstrom gegenwärtiger Kinderschutzarbeit – vor allem der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe – nicht selten zu beobachten sind. Klatetzki formuliert zusammenfassend: 8 Star, S. L./Griesemer, J. (1989): Institutional Ecology, ‚Translations’, and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology.1907–1939. In: Social Studies in Science. 19 (3), pp. 387–420. 9 Siehe hierzu auch die Festschrift zu Stephan Wolffs 65. Geburtstag: Hörster, R./Köngeter, S./Müller, B. (Hg.) (2013): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer VS. 10 Klatetzki, T. (2013): Die Fallgeschichte als Grenzobjekt. In: Hörster, R./Köngeter, S./Müller B. (Hg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer VS, S. 117–135. 11 Der Fall wurde der Jenaer Studie von F. Bohler und T. Franzheld entnommen, der 2010 in der Zeitschrift Sozialer 34 Sinn 11 (2), S. 187–217 unter dem Titel „Der Kinderschutz und der Status der Sozialen Arbeit als Profession“ veröffentlicht worden war. kinderschutz braucht ressourcen Unterschiedliche narrative Sinnstiftungen organisieren das Handeln der beteiligten Akteure im Verlauf des Falls (Czarniawska und Gagliardi 2003)12. Auffallend dabei ist, dass das Jugendamt als zentrale, rechtlich zuständige Behörde keine eigene Erzählung hervorbringt, sondern sich in seinem Handeln an den Sinnkonstruktionen der Medizin und Justiz orientiert. Die sozialpädagogischen Fachkräfte bemühen sich nicht um ein eigenes Verstehen des Falls, es scheint ihnen in grundlegender Weise an dem zu mangeln, was Hannah Arendt (1998)13 als Einbildungskraft bezeichnet hat, und sie kommen daher auch zu keiner Beurteilung des Geschehens. (S. 132) Wenn dann noch hinzukommt, wie wir im Bundesforschungs- und Qualitätsentwicklungsprojekt „Aus Fehlern lernen“ vielerorts feststellen konnten, dass die Belastungen in der aktuellen Kinderschutzarbeit erheblich sind, wird deutlich, vor welchen Herausforderungen viele Kinderschutzfachkräfte stehen. Sie müssen nämlich mit den folgenden Widrigkeiten kämpfen: · mit überall steigenden Fallzahlen, · mit Zeitmangel/Zeitnotstand/Zeitdruck (alles muss schnell gehen), mit permanentem Stress (in der Beschleunigungsgesellschaft), · mit unterbezahltem, fehlendem oder wechselndem, hin- und her gescho benem Personal, · mit einem Zuviel an Verwaltungs- und Dokumentationsarbeit und an bürokratischen Rationalisierungen und instrumenteller Verregelung, · mit der Einschränkung beraterischer, sozialpädagogischer und ökologischer Unterstützungspraxis, · mit großen Reflexions-, Weiterbildungs- und Forschungsdefiziten. Die hier aufgeführten Verarmungen, Verlusterfahrungen und Belastungen bedingen strukturelle Schwächen in Hilfeinstitutionen, die dann weiter zu professionellen Fehlern mit der Folge von Schädigungen (Traumatisierungen) bei den Beteiligten führen – auf allen Seiten! 12 Czarniawska, B./Gagliardi, P. (2003): Narratives We Organize By. Amsterdam: John Benjamins Publishing. 13 Arendt, H. (1998): Das urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München: Piper. 35 reinhart wolff 3. Wie können wir neu ansetzen in der Kinderschutzarbeit? Gerade mit Blick auf die hier erörterten Schwierigkeiten und Belastungen müssen wir nüchtern sehen: Um eine gute Kinderschutzarbeit machen zu können, brauchen wir Ressourcen. Oft wird aber zu einseitig darüber gesprochen, um welche Ressourcen es dabei geht. Weiterführend ist, wenn wir herausstellen: · Ressourcen in der Form substanzieller struktureller materieller Rahmenbedingungen (ausreichender Räume, Ausstattung, Haushaltsmittel) sind ein wichtiger Qualitätsindikator, vor allem in Verbindung mit zuverlässigen Daten zur Ergebnisqualität.14 · Aber in humaner Hilfepraxis sind wir selbst die wichtigste Ressource, die wir haben (mit unserem Können, unserem Wissen, unserer Erfahrung, unserer Kreativität). · Und was immer wieder übersehen wird: Die Hilfeteilnehmer, die Klientinnen und Klienten, die Eltern, die Kinder (mit ihrer Handlungsmacht, ihren Kräften, mit ihren Wünschen und Widerständen), mit denen wir in partizipatorischer Gegenseitigkeit verbunden sind, sind entscheidende Ressourcen für erfolgreiche Fachpraxis. · Und schließlich: Die anderen Fachkräfte, die zahlreichen Bündnispartner in Gesellschaft, Öffentlichkeit und Politik, sind Ressourcen, die wir gerade als „Grenzobjekt-Fachkräfte“ brauchen. Was aber vor allem zählt, sind klare strategische Orientierungen in der Kinderschutzpraxis, an die wir uns halten, die unsere mentalen Selbstmodelle, unsere fachliche Rolle und Aufgabe bestimmen. Die „neue Kinderschutzbewegung“, die mit der Gründung der Kinderschutz-Zentren in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm, hat die folgenden Leitziele 14 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Kindler, H./Pooch, M.-T. (2014): Qualität und Qualitätsindikatoren in den 36 Hilfen zur Erziehung: Eine Perspektive in fünf Thesen. In: JAmt, Heft 07/08, S. 354–357. kinderschutz braucht ressourcen gelingender Kinderschutzpraxis herausgestellt.15 Sie sollen hier noch einmal unterstrichen werden: 1) Wir nutzen uns selbst, unsere eigene Macht und Kraft, und verlassen die uns aufgenötigte Opferrolle, wir lernen aus Erfolgen und Fehlern und lassen uns nicht entmutigen. 2)Wir handeln demokratisch, selbstbewusst und solidarisch „in erster Person“ (rollenklar, autoritativ, kompetent, reflexiv und kreativ, experimentierend und forschend) als Handwerker der Demokratie. 3)Wir achten und nutzen die Kräfte der Menschen, die wir unterstützen, beraten, schützen und fördern – wir geben und nehmen in einer Praxis auf Gegenseitigkeit (reciprocal transformative transactions – Jona Rosenfeld) 4)Wir suchen und gewinnen Bündnispartner – überall. 15 Vgl. in diesem Zusammenhang den zusammenfassenden Band: Wolff, R. (2010): Von der Konfrontation zum Dialog. Kindesmisshandlung – Kinderschutz – Qualitätsentwicklung, hg. von Georg Kohaupt. Köln: BAG der Kinderschutz-Zentren. 37 W thomas mörsberger „Wir brauchen einen Richtungswechsel!“ Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des Kinderschutzes, ausgehend von schwierigen und insbesondere von besonders spektakulären Kinderschutzfällen Einstieg Zunächst eine kleine „Lageeinschätzung“, oder besser: eine Einschätzung zur Stimmungslage in Sachen Kinderschutz. Es gibt zwar landauf, landab ein gewisses Unbehagen, aber ansonsten scheint inzwischen „alles klar“ zu sein: „Alles gut“, wie man neuerdings so sagt. Grund: Es gibt jetzt klare Vorgaben. Es gibt diesen § 8a SGB VIII, und wir haben entsprechend „8a-Fälle“. Es gibt detaillierte Vorschriften; die Dinge sind besser organisiert. Das beruhigt. Und im Übrigen, so ist immer wieder zu hören, tun alle ihr Bestes im Aufpassen. Aber, so sagen die Engagierteren, wolle man natürlich noch besser werden, damit möglichst keine Fehler passieren. Zwar sei es sehr bedauerlich, wenn es ab und zu durch die Medien, die Politik und die Strafjustiz zu Reaktionen komme, die gekennzeichnet seien von völliger Ignoranz gegenüber dem, was im Kinderschutz zu leisten sei und geleistet werden könne. Und man hoffe, nicht selbst plötzlich Betroffener („Fallverantwortlicher“) zu sein. Aber ansonsten sei die Richtung eigentlich klar. Die Weiterentwicklung gehe nur zu langsam. Und man brauche mehr Geld und insbesondere mehr Personal. Will heißen: Wir werden im Laufe der Zeit wahrscheinlich immer besser und besser und besser. Immerhin hat sich im Kinderschutz ja auch schon viel getan. Ich erlaube mir, gegenzuhalten: Nichts ist klar! Und es ist auch nicht alles 39 thomas mörsberger gut. Zwar hat sich tatsächlich in den letzten Jahren in Sachen Kinderschutz viel getan, aber es werden immer öfter Zweifel laut, ob es denn auch in die richtige Richtung geht. Ob man wirklich von Fortschritten sprechen könne. Da wird an einzelnen Stellen etwas Gutes aufgebaut, dafür jedoch an noch mehr Stellen Gutes abgebaut. Wenn sich die Entwicklung nur langsam bewegt, aber insgesamt in die falsche Richtung, dann ist die Langsamkeit sogar eher positiv zu sehen ... Ja, es wird besser organisiert, aber zugleich bürokratisiert. Absicherung für sich selbst steht im Vordergrund. Und dabei geht der Blick auf das Eigentliche verloren, ganz abgesehen von der Nachhaltigkeit. Die mag für die Selbstorganisation der Verwaltungen gegeben sein, nicht aber in der Wirkung auf die, um die es geht: Familien und ihre Kinder. Und auch nicht im Sinne von Professionalität. „Systemvertrauen“ (Luhmann) bei den Betroffenen nimmt ab – soweit es entwickelt war. Und ob die Systemverantwortlichen beruhigter sein können, ist auch fraglich. Die Versuche zur Messung von „Ergebnissen“ nimmt zu, aber auch die negativen Erscheinungen unserer „Ergebnisgesellschaft“ (Bausinger) werden offenkundig: Die Wirkungen des Helfens bleiben oberflächlich und kurzfristig, es findet keine Veränderung von Verhältnissen und Lebensperspektiven statt. Die Programme werden zwar „nachhaltig“ angelegt, die Effekte sind es aber nicht. Es wird nur beruhigend eingewirkt, also alles andere als „nachhaltig“. Pauschal gesagt. Das zwecks Diskussion als Einstieg. Nun einige Thesen (und Anmerkungen), stichwortartig: These 1: Es darf nichts Schlimmes passieren Die Weiterentwicklung des Kinderschutzes wird weniger aus der nüchternen Analyse der Bedarfe bei Kindern und Familien bzw. auf der Seite der Helfersysteme aus der Analyse der Potenziale und Defizite heraus geprägt, auch nicht durch die gesetzlichen Vorgaben, auf die immer so viele Hoffnungen gesetzt werden seit Inkrafttreten des KJHG bzw. SGB VIII, sondern insbesondere durch die Erwartungen der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik, dass „nichts Schlimmes passieren soll“, genauer: nichts dramatisch Spektakuläres. 40 „wir brauchen einen richtungswechsel!“ These 2: Politischer Aktionismus und Glaube an technische Machbarkeit dominieren Die als problematisch bezeichnete Entwicklung wird gefördert durch (optischen) Aktionismus, der dazu dient, dass die politisch Verantwortlichen bzw. die Leitungskräfte der Verwaltung möglichst schnell aus dem „Schussfeld“ kommen. Ob das den Fachkräften hilft, die sich um die Familien kümmern, ist fraglich. Man lässt neue organisatorische Vorgaben entwickeln. Informationen sollen schnell und ausreichend zur Verfügung stehen, Rückfragen jederzeit zu beantworten sein. Es werden Computerprogramme entwickelt, damit der Chef auf Knopfdruck die Probleme erkennen kann, wird A mit B vernetzt, unter Berücksichtigung von C, damit auch die letztlich im entscheidenden Augenblick D einschalten kann und das ganze durch E überprüft wird, damit es die Vorgehensweise korrigieren kann, die letztlich X dazu bewegt, Y davor zu bewahren, Z alles zu glauben, was er bisher vorgetragen hat. These 3: Kinder- und Jugendhilfe als Ausfall-Bürge? Wunsch nach grundsätzlichem Misstrauen gegenüber Klient(inn)en – Machbarkeitswahn In den 80er Jahren ist es gelungen, die Sozialarbeit und namentlich den ASD, früher oft als „Außendienst“ bezeichnet, aus der Rolle der weisungsabhängigen Zuarbeit für andere Stellen zu befreien. Vorher war es üblich, dass man dort als eine Art Hilfsorgan für das Gesundheitswesen oder die Familiengerichtsbarkeit tätig war. Man berief sich regelmäßig noch auf eine Entscheidung des BGH von 1954, nach der das Jugendamt insbesondere seine in anderer Funktion erlangten Informationen zur Verfügung zu stellen hatte. Es ging zudem darum, „nach dem Rechten zu schauen“; besondere fachliche Kompetenzen waren nicht gefragt, es gab auch kein professionelles Profil. Ausgehend von der kritischen Rückfrage des Datenschutzrechts, nämlich präziser benennen zu müssen, wie eigentlich die jeweilige Informationsweitergabe zu legitimieren ist, konnte erreicht werden, dass die Rolle des Jugendamts in familiengerichtlichen Verfahren endlich aus dieser Zuarbeiterrolle herausgeholt wurde – damals übrigens sehr zum Ärger mancher Familien- und übrigens auch Jugendgerichte. 41 thomas mörsberger Allerdings wurde dieser Prozess von Anfang an begleitet durch widersprüchliche (alte und) neue Erwartungen: Indem ein eigenständiges Profil „erkämpft“ worden war, stiegen auch die Erwartungen. Wie selbstverständlich ging und geht man davon aus, dass jede Fachkraft des Jugendamtes eine fundierte pädagogisch-psychologische diagnostische Beurteilungskompetenz hat, er oder sie sogar dafür einzustehen hat. Wünschenswert ist sie natürlich, aber nicht nur die Realitäten zeigen, dass – nicht zuletzt angesichts des Verhältnisses von notwendiger und teurer Ausbildung einerseits und schlechter Bezahlung andererseits – man insofern von falschen Voraussetzungen ausgeht, insbesondere für die besonders schwierigen Grenzfälle. Es kommt hinzu, dass man sich in anderen Institutionen klar abgrenzen kann von allzu umfassenden Erwartungen. So hat sich das Jugendamt zunehmend geradezu angeboten im Sinne einer Art Auffangzuständigkeit, einer Art Ausfall-Bürgschaft – sowohl in professioneller Hinsicht als ohnehin zunehmend zur Finanzierung von Leistungen, aus denen sich andere Systeme inzwischen verabschiedet haben (z. B. die gesetzliche Krankenversicherung aus der Hebammenbetreuung). Manchmal hat man den Eindruck, als fände so etwas wie späte Rache an der Kinder- und Jugendhilfe statt nach dem Motto: „Wenn Ihr Euch schon aus der Rolle von Zulieferern verabschiedet habt, dann müsst Ihr Euch schon gefallen lassen, an entsprechenden professionellen Maßstäben der Diagnostik usw. gemessen zu werden“. Eine etwas zugespitzte Darstellung, die aber etwas verdeutlichen soll: Wir haben es heute mit einer doppelten Problematik zu tun. Zum einen sind viele Fachkräfte schlicht überfordert, dem zu entsprechen, was insofern von ihnen erwartet wird (aus welchen Gründen auch immer: Ausbildung, Fähigkeiten der Analyse, Rahmenbedingungen usw.). Zum anderen kommt es angesichts der Zusicherungen der Systeme zu gefährlichen Fehleinschätzungen hinsichtlich des Hilfe-und Schutzbedarfs von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. So ist es zwar eine Art Kompliment, dass der Gesetzgeber mit § 8a SGB VIII und § 4 KKG dem Jugendamt eine zentrale Funktion in Sachen Kinderschutz zuschreibt, das aber keineswegs nur zu koordinieren hat, sondern eben längst auch Bürge geworden ist. Werden daraus die Konsequenzen gezogen? Unabhängig vom ohnehin grassierenden Machbarkeitswahn dieser 42 „wir brauchen einen richtungswechsel!“ Gesellschaft übernimmt sich die Kinder-und Jugendhilfe heillos mit dieser Rolle, denn aus Gründen, über die man natürlich reden kann, ist es jedenfalls so, dass unsere Gesellschaft die dafür erforderlichen Ressourcen nicht zur Verfügung stellt. Und ich warte bis heute darauf, dass wenigstens einmal der ASD eines großen Jugendamts einen Arzt als Mitarbeiter einstellt und einen Kinder-und Jugendpsychiater. Das wird nach meiner Kenntnis bis heute nicht einmal erwogen, obwohl ich das für notwendig hielte. Alles soll auf der Ebene der Kooperation mit anderen Institutionen gelöst werden, obwohl wir immer wieder erleben, dass sowohl aus rechtlichen, aus berufspolitischen und nicht zuletzt finanziellen Gründen auf dieser Ebene die Möglichkeiten begrenzt sind und nach meiner Einschätzung auch begrenzt bleiben. Dazu passt dann aber, dass rein zufällig all die anderen Institutionen und Berufsgruppen überhaupt nicht in den Blick kommen, wenn zum Beispiel die Frage des strafrechtlichen Haftungsrisikos auftaucht. These 4: Mythos Garantenpflicht als Druckmittel zugunsten falscher Strategien Also das Thema Garantenpflicht. Sie stellt in ihrer Bedeutung für die Kinderund Jugendhilfe insbesondere einen Mythos dar, der aber sehr wirksam ist, wenn auch extrem destruktiv. Es ist sogar gang und gäbe, von einer „Garantenpflicht des Jugendamts“ zu sprechen, obwohl es die nun wirklich überhaupt nicht geben kann, denn Institutionen können sich bekanntlich nicht strafbar machen (und bei der Garantenpflicht handelt es sich nun mal um ein rein strafrechtliches Konstrukt). Das können nur einzelne Personen. Aber es wird mit diesem Schlagwort Politik gemacht. Offenkundig sollen der Sozialarbeit Beine gemacht werden. Nun ist hier nicht der Raum, detailliert dieses Konstrukt auf seinen realen Kern zu reduzieren, den das Strafgesetzbuch dafür vorgesehen hat. Aber das Stichwort „Garant“, das an „Garantie“ erinnert, passt gut zur verbreiteten Strategie, in das Jugendamt Verpflichtungen hinein zu geheimnissen, die es originär nicht gibt. Es sollte zu denken geben, dass es früher, vor Ende der 90er Jahre, keine Strafverfahren gegen Sozialarbeiter(innen) wegen fahrlässiger Tötung (mit dem Konstrukt 43 thomas mörsberger Garantenpflicht) gegeben hat – es seither aber auch keine diesbezügliche Veränderung im Strafgesetzbuch gegeben hat. Es wurde und wird nur von einigen Juristenkolleg(inn)en behauptet, die fallverantwortliche Fachkraft sei nun mal qua Amt ein sog. Beschützergarant. In den 90er Jahren wurde zur Begründung von den Protagonisten dieser Strategie sehr allgemein auf die „Wächteramtsfunktion“ des Jugendamtes hingewiesen. Damit konnte man aber die Verhinderung von Todesfällen noch nicht zu einer neuen „Aufgabe“ des Jugendamtes hochstilisieren, für deren sachgerechte Erfüllung man dort einzustehen hat – und also bei Pflichtverletzungen auch bestraft werden kann. Die damalige Argumentation fußte auf dünnem Eis. Dann kam § 8a SGB VIII. Da kann man die dort formulierten Verfahrenspflichten und insbesondere den Ausgangsbegriff Kindeswohlgefährdung so umdeuten, dass sie quasi eine Garantenstellung konstituieren, was strafrechtsdogmatisch in dieser Pauschalität mehr als gewagt ist. Noch schlimmer dann aber der TVöD: Dort hat man die Garantenstellung zu einem Merkmal der Eingruppierung gemacht. Was im Umkehrschluss übrigens bedeuten kann, dass die so eingruppierte Fachkraft strafrechtlich grundsätzlich als Garant zu behandeln wäre. Schon aus rechtssystematischen Gründen frage ich mich, ob bei den Tarifverhandlungen ein Strafrechtler beteiligt wurde. Das kann ich mir kaum vorstellen. These 5: Beschuldigte Fachkräfte werden alleine gelassen Damit keine Missverständnisse aufkommen – kommt ein Kind zu Tode, hat die Staatsanwaltschaft selbstverständlich Ermittlungen aufzunehmen, ggf auch gegen Fachkräfte des Jugendamts. Das verlangt die StPO. Auch kann es passieren, dass erst in einem förmlichen Strafverfahren geklärt wird, geklärt werden muss, ob hier eine strafrechtlich relevante Pflichtverletzung vorliegt. Was aber geschieht, wenn ein solches Verfahren eingeleitet wird? Ist das dann Anlass, auf breiter Basis und kritisch zu prüfen, ob hier nicht ein Fehler gemacht wurde, wer welche Verantwortung hatte oder ob es nur unglückliche Umstände waren, die hier zusammenkamen? 44 „wir brauchen einen richtungswechsel!“ Meine Erfahrung ist eine andere. Man duckt sich weg, lässt die direkt Betroffenen alleine, mehr oder weniger. Kam es wirklich einmal zu einer Hauptverhandlung, sah man nur sehr vereinzelt Kolleginnen und Kollegen in den Zuschauerreihen. (Ich habe mehrere Verfahren als Strafverteidiger oder Gutachter begleitet.) Ich kenne jedenfalls keine Berufsgruppe, wo man beschuldigte Kolleginnen und Kollegen so sehr alleine lässt wie in der Helfer-Profession Sozialarbeiterin/ Sozialpädagoge. Das wurde besonders deutlich im Fall des ermordeten Pflegekindes Anna in Königswinter bzw. Bad Honnef, beim Verfahren vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Bonn im Herbst 2013. Es war brüskierend, wie penetrant die Kammer immer wieder einwandte, die „fallzuständige Fachkraft“ hätte doch bei mehreren Ereignissen erkennen müssen, dass da „etwas nicht stimmt“. Dabei waren auch eine Therapeutin, eine Ärztin, ein Fachberater, eine Lehrerin, ein engagierter Schulleiter, mehrere Kolleginnen und Kollegen des Teams u. a. von der Pflegemutter getäuscht worden. Zwar wurde das Verfahren dann eingestellt, aber es blieben Vorwürfe im Raum. Und kein Aufschrei aus Kollegenkreisen, dass hier mit massiven Vorverurteilungen und politischer Instrumentalisierung gearbeitet worden war. These 6: Aus Fehlern (das Richtige) lernen? Ja. Für alles zuständig sein? Nein. Man darf sich über solche Unfairness und mangelnde Solidarisierung beschweren. Aber das nützt natürlich wenig. Letztlich kommt es auf rationale Strategien an. Und da erscheint die Strategie „Aus Fehlern lernen“ gewiss als tragfähigste und effektivste. Allerdings birgt auch diese Strategie gewisse Gefahren. Zum einen wird sie mitunter allzu pauschal auf alle Fälle bezogen, bei denen Schreckliches passiert ist, und man geht – zumindest auf den ersten Blick – davon aus, dass also auf jeden Fall wohl ein Fehler gemacht worden sein muss. Durch die Kinder- und Jugendhilfe. So war ja auch die „Logik“ der Anklage und Nebenklage beim Fall Anna vor dem Landgericht Bonn. „Da muss doch etwas falsch gelaufen sein, und also wurde ein Fehler gemacht“. So argumentierte übrigens auch die betroffene Stadtverwaltung – wahrscheinlich der öffentlichen Meinung wegen, die so etwas fordert. Da wurde die Soziarbeiterin von der Pflegemutter belogen, 45 thomas mörsberger wie andere Kollegen auch. Man hat als Team agiert und sich gegenseitig bestärkt, der Pflegemutter zu glauben. Gewiss, hätte man der Pflegemutter nicht geglaubt, würde Anna heute noch leben. Aber ist damit auch schon gesagt, dass ein Fehler gemacht wurde? Bedeutet diese Grundannahme nicht, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich in der Lage sieht, solche Mordtaten zu verhindern? Ich lasse mal offen, wo wir insofern die Grenze genau ziehen. Aber irgendwo muss da – wie ich vorher schon gesagt hatte – eine Grenze gezogen werden. Denn sonst ist Versagen vorprogrammiert. Wie aber soll ein Berufsstand eine Identität entwickeln, wenn solches Versagen sozusagen zum Wesensmerkmal wird. Ich kenne keinen Berufsstand, der sein Profil wesentlich daran orientiert, dass er sein Tun am Unmöglichen orientiert. Kein Arzt tut das, keine Feuerwehr, kein Anwalt. So könnte aus dem guten Ansatz für neue Lernstrategien („aus Fehlern lernen“) und insbesondere für eine gute Führungs- und Betriebskultur ungewollt ein Beitrag zur Selbstüberschätzung werden. Dieses Motto: Wir müssen immer mehr lernen, immer besser werden. Wie bei einer olympischen Disziplin, mit dem Zwang zum Treppchen. Verbunden mit der Option zur Selbstbezichtigung (das Kind ist tot, also müssen wir einen Fehler gemacht haben). Immer mehr schaffen, immer mehr kooperieren, immer mehr dokumentieren, immer besser fortgebildet sein, immer besser werden – bis die Kinderschutzfachkraft irgendwann so gut sein wird, wie sie es schon immer hätte sein sollen ... Könnte es sein, dass da im Ansatz etwas nicht so ganz stimmt? Und es kommt hinzu, dass Lernen nicht per se in die richtige Richtung lenkt. Man kann auch aus Fehlern das Falsche lernen. Dafür gibt es unzählige historische Beispiele. Im Kinderschutz kann man das gut beobachten, wenn nämlich spektakuläre Fälle zur Folge haben, dass etwas verändert wird. Es ist ja keineswegs gewährleistet, dass diese Veränderungen ohne „Nebenwirkungen“ bleiben. Und die können schlimmer sein als das, was man als veränderungsbedürftig eingeschätzt hat. 46 „wir brauchen einen richtungswechsel!“ These 7: Inflationäre Verwendung des familienrechtlichen Begriffs „Kindeswohlgefährdung“ lenkt ab von der originären Funktion der Kinder- und Jugendhilfe i. S. von „Schutz- und Hilfebedarf“ Der Hinweis auf die wichtige Unterschiedlichkeit hat auch Bedeutung für Begriffe, die nämlich in verschiedenen Systemen unterschiedliche Bedeutung haben können und ggf. müssen. Ich greife den Begriff „Kindeswohlgefährdung“ auf. Früher haben die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung in der Kinder- und Jugendhilfe – anders als im Familienrecht – nur ganz am Rande eine Rolle gespielt. Es waren i. d. R. nur Begriffe der Zielorientierung, es wurde damit skizziert, was gefördert bzw. was verhindert werden sollte. In den 70er Jahren galt es auch als unstrittig, dass der Begriff Kindeswohl positiv nicht zu beschreiben ist, sondern – insbesondere im Scheidungsrecht – lediglich im Sinne einer „am wenigsten schädlichen Alternative“ dazu diente, das vorher dominierende Schuldprinzip abzulösen. Daran hat sich die familiengerichtliche Spruchpraxis auch gehalten. Im Recht der Kinder- und Jugendhilfe wurde die Kindeswohlgefährdung als Tatbestandsmerkmal auch nur flankierend verwendet, während es maßgeblich um die Beschreibung des zu konkretisierenden Schutz- und Hilfebedarfs ging – bis zum Inkrafttreten des § 8a SGB VIII. Da dort – nicht nur in der Beziehung zum Familiengericht, sondern als Tatbestandsmerkmal – die Kindeswohlgefährdung als Anknüpfungspunkt für Handlungspflichten genannt ist („gewichtige Anhaltspunkte“), wird vielfach davon ausgegangen, dass auch die gängigen Definitionen des Familienrechts heranzuziehen sind. Damit geschieht aber eine Fixierung auf die familienrechtlichen Fragestellungen, also auf die Grenzziehung zum Elternrecht, bleibt man nicht konsequent orientiert an den Kindern bzw. ihrem systemischen Zusammenhang und insbesondere nicht an den originären Fragen, nämlich den praktischen Schutz- und Hilfemöglichkeiten. Mit der Verwendung des Rechtsbegriffs „Kindeswohlgefährdung“ in § 8a Abs.1 SGB VIII ist die Gefahr entstanden, dass man einen Begriff, der für eine familienrechtliche Beurteilung bedeutsam ist, auf Hilfeprozesse überträgt und damit auch die Fixierung auf das Verhältnis von Eltern zu Kindern, man aber nicht konsequent an den Kindern bzw. ihrem systemischen Zusammenhang bleibt. Immer wieder muss man feststellen, dass nicht klar definierte oder aus dem systematischen Zusammenhang gerissene Rechtsbegriffe oder die ungenaue 47 thomas mörsberger Handhabung juristischer Vorgaben über kurz oder lang zu einem mitunter problematischen „Eigenleben“ führen. These 8: Enttäuschung vorprogrammiert. Zum Ruf nach expliziten Kinderrechten im Grundgesetz Das gilt auch und ganz besonders für Regelungen im Grundgesetz. Wenn seit Jahren aus allen Ecken und Enden zu hören ist, Kinderrechte sollten ausdrücklich im Grundgesetz benannt und hervorgehoben werden, dann hört sich das für jeden, der sich der Kinder- und Jugendhilfe verschrieben hat, auf den ersten Blick sehr bedenkenswert an. Die Sache hat nur einen gravierenden Haken. Während es normalerweise so ist, dass man Vorstellungen hat, was konkret mit einer solchen Initiative bewirkt werden soll, man Beispiele auflistet, ist bis heute unklar, was beispielhaft damit geändert werden soll. Unstreitig sind nach unserer Verfassung Kinderrechte abstrakt und in der Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht längst wirksam. Nun haben Kinderrechte und der Begriff Kindeswohl (wenn auch in seiner nicht unumstrittenen Übersetzung aus dem Englischen) durch die UN-Kinderrechtskonvention eine massive deklarative Verstärkung erhalten. Aber damit ist noch nicht geklärt, was denn nun im Einzelnen unter „Kinderrechten“ zu verstehen ist (man liest da die abenteuerlichsten Ableitungen bis hin zum kindlichen Wunsch, immer das tun zu dürfen, was man will). Und noch unklarer steht es um den Begriff des Kindeswohls, von dem inzwischen von einigen Autorinnen und Autoren behauptet wird, er stehe über den Kinderrechten – und damit auch über den Menschenrechten als Oberbegriff zu Kinderrechten. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob uns diese sehr abstrakte Diskussion um Kinderrechte und Kindeswohl in Sachen Kinderschutz wirklich weiterhilft. Die Diskrepanz zwischen dem Pathos dieser Diskussion und der Realität in den Hilfesystemen ist mir zu groß. Nur zwei Beispiele: Da werden immer wieder Skandale aus der Heimerziehung bekannt. Aber die Aufsicht über diese Heime ist durchweg personell so schwach besetzt, dass i. d. R. nur noch die Formalia der Betriebserlaubnis bearbeitet werden können. Und das 48 „wir brauchen einen richtungswechsel!“ Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren regelmäßig fachliche Defizite bei familiengerichtlichen Gutachten moniert, die ja bekanntlich elementare Auswirkungen haben können für das Leben von Kindern und Jugendlichen. Würde sich an solchen Missständen etwas ändern, wenn Kinderrechte ausdrücklich in unserem Grundgesetz Erwähnung finden? Oder findet da weiterhin mehr Beschwichtigung und Vernebelung statt? Der Ruf nach Kinderrechten ist in der Gefahr, den Inhalt zu verwässern. Ross und Reiter müssen genannt werden. Und dann wird es heikel: Wer ist denn schuld, dass da so schlecht bezahlt wird? Dass unterbesetzt ist? Dass viele Initiativen kaputt gemacht worden sind? Das sind z. T. dieselben, die jetzt nach Kinderrechten rufen! Es wird auch – in der allgemeinen Betrachtung von Kinderrechten – zu viel auf das Gegenüber von Elternrecht und Kindesrecht abgestellt. Oft sollte auch angesichts der allzu vielen „Armutskinder“ (der passendere Begriff als der individualisierende Begriff „Kinderarmut“) gefragt werden, inwieweit nicht Eltern und Kinder gemeinsam mehr Rechte gegen wer-weiß-wen haben sollten. Oder Kinder gegen Einrichtungen. Dazu brauchen wir aber keine Grundgesetzänderung. Das ist z. B. Thema bei der Betriebserlaubnis. Aber fragen Sie mal, wer sich für eine strengere Kontrolle in Heimen einsetzt. Das kostet nämlich. Und zwar Staat und Einrichtungen. Und schon redet keiner mehr von Kinderrechten! Kinderschutz ist nicht zu messen an Ankündigungen. Die kennen wir. Frage ich genauer nach, was wie neu geregelt werden sollte, stelle ich regelmäßig fest, dass man juristisch Dinge lösen will, die eher aus fachlicher Inkompetenz schief gehen. Inkompetenz abzubauen, ist allerdings aufwendig und dauert, kostet zudem viel Geld. Wir brauchen praktische Fortschritte. In die richtige Richtung. Lernen aus Fehlern, aber auch Abgrenzung gegen falsche Erwartungen und Abschied von Tendenzen der Selbstüberschätzung. Da ist noch viel zu tun und nachzudenken – bevor es wieder ans Formulieren von hehren Zielen geht. 49 A birgit zeller Anerkennungskultur in der Jugendhilfe Kann eine Profession, die ständig infrage gestellt wird, für sich und andere sorgen? 1. Anerkennungskultur – was ist das? Die Ausgangsfrage meines Beitrags verstehe ich als eine rhetorische. Wenn wir sie mit nein beantworten würden, wäre das eine Infragestellung unseres gesamten Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe. Gleichwohl verlangt die Frage nach der Anerkennung im Feld der sozialen Arbeit Aufmerksamkeit und eine differenzierte Auseinandersetzung. Sie spielt in der Auseinandersetzung der Fachkräfte mit ihren Arbeitsbedingungen und ihrer Reputation sowie in der öffentlichen Diskussion immer wieder eine prominente Rolle. Und sie verlangt auch nach einer Weiterentwicklung, nach einer Qualitätsentwicklung, an der wir selbst uns intensiv beteiligen sollten. Denn: soziale Arbeit kann nur so gut sein wie ihr Ruf. Die Frage der Anerkennung ist zunächst einmal eine, die wir als Handelnde in der sozialen Arbeit uns selber stellen müssen: · Wie sehen wir unsere eigene Arbeit? · Vertreten wir unsere Anliegen und unseren Auftrag offensiv nach außen? · Stellen wir unsere Leistungen selbstbewusst dar? · Begegnen wir der eigenen Arbeit und der Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen mit Respekt und Wertschätzung? Im nächsten Schritt geht es dann darum, nach der Anerkennung von außen zu fragen, nach der Anerkennung durch die Klientinnen und Klienten, durch Politik, durch die Öffentlichkeit, durch die Medien. · Wie werden wir dort wahrgenommen? Was registrieren wir? · Was erleben wir an positiver Resonanz? 51 birgit zeller · Wo wird unsere Profession infrage gestellt? Aus welchen Gründen? Wenn wir der Auffassung sind, dass es bei der Beantwortung dieser Fragen Verbesserungsoptionen gibt, dann sollten wir aktiv werden und die Anerkennung einfordern durch eine Sichtbarmachung dessen, was wir leisten und durch Verbesserungen dort, wo sie notwendig sind. Diese beiden Schritte – Anerkennung der eigenen Leistungen und Sichtbarmachung dieser Leistungen – sind die zentralen Elemente der Kampagne „Das Jugendamt. Unterstützung, die ankommt.“ Diese Kampagne wurde von der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter gemeinsam mit Jugendämtern im Jahr 2011 ins Leben gerufen mit dem Ziel, den öffentlichen Ruf der Jugendämter zu verbessern und damit zu einer wirkungsvolleren Arbeit beizutragen. Über Konzept und Wirkung der seither unternommenen Aktivitäten möchte ich hier beispielhaft berichten. Die Erkenntnisse, die wir hier gewonnen haben, lassen sich meiner Ansicht nach zu großen Teilen auch auf die freien Träger übertragen.1 2. Öffentlichkeitsarbeit als Strategie für eine Kultur der Anerkennung 2.1 Warum Öffentlichkeitsarbeit? Ausgangspunkt unserer Kampagne für die Jugendämter war die Reaktion vieler Medien, der Politik und der Öffentlichkeit auf einige tragische Todesfälle von Kindern, die sich in der Betreuung von Jugendämtern befanden. Medien berichteten kritisch – das ist ihr gutes Recht. Wenn Institutionen ihrem Auftrag nicht oder scheinbar nicht gerecht werden, ist es Aufgabe der Medien, hier für Aufklärung zu sorgen. Der kritische Blick von außen kann ein wichtiger Anlass für Weiterentwicklungen sein – überall, nicht nur in der Jugendhilfe. Vielfach aber schossen die Medien weit über das Ziel hinaus. Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter wurden an den Pranger gestellt und 1 Nähere Informationen zur Kampagne finden Sie unter www.unterstuetzung-die-ankommt.de. 52 anerkennungskultur in der jugendhilfe letztlich für Fehler unseres Sozialsystems verantwortlich gemacht, die sie nicht zu verantworten haben. Gleichzeitig gilt aber, dass bei dieser kritischen Betrachtung die positiven Leistungen der Jugendämter meist unter den Tisch fallen und öffentlich nicht wahrgenommen werden. Wie viele Kinder erfolgreich geschützt werden, wie viele Jugendliche eine neue Chance erhalten, wie viele Kinderbetreuungsplätze neu geschaffen werden – all diese guten Nachrichten erhalten nur wenig Aufmerksamkeit. Der Fokus liegt auf dem Sensationsträchtigen, und das ist oft das Negative. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter und auch die Leitungskräfte fühlen sich in Krisensituationen, in denen sie öffentlich angegriffen werden, oft hilflos ausgeliefert. Dabei ist es unerheblich, ob tatsächlich Fehler gemacht wurden, die einzuräumen sind oder ob diese nur behauptet werden. Behörden haben Öffentlichkeitsarbeit nicht gelernt. Sie geraten deshalb leicht in die Defensive und tun sich oft schwer, ihr Handeln nach außen nachvollziehbar darzustellen. Dies liegt auch, aber nicht vor allem, an den datenschutzrechtlichen Regelungen, die zum Schutz der Familien natürlich einzuhalten sind. Oft schweigen die Ämter einfach und machen sich gerade dadurch angreifbar. Das sollte so nicht bleiben. Damals, nach Kevin und Lea-Sophie, wandten sich einige Jugendämter an die Landesjugendämter mit der Aufforderung: Ihr solltet hier etwas für uns tun. Viele Jugendamtsleitungen und Fachkräfte hatten es satt, immer wieder als versagende Behörde dargestellt zu werden, der es nicht gelingt, ihren Aufgaben nachzukommen. Ihr Ziel war es, ein anderes Jugendamt zu präsentieren – die kompetente Behörde, die vielfältige Dienstleistungen für Familien bereit hält und die in den Kommunen aktiv dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche eine gute Infrastruktur vorfinden. Ihnen war es wichtig, deutlich zu machen, dass die Fachkräfte in Jugendämtern Expertinnen und Experten für alle Fragen sind, die Kinder, Jugendliche und Familien betreffen. 53 birgit zeller 2.2 „Das Jugendamt. Unterstützung, die ankommt.“ – Ein Beispiel für offensive Öffentlichkeitsarbeit Diesem Gedanken folgend wurde unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der Fachkräfte aus Landesjugendämtern und Jugendämtern gemeinsam an einem Konzept zur Veränderung des öffentlichen Bildes von Jugendämtern strickten. Hier wurde der Plan für eine Kampagne entwickelt, in der Jugendämter bundesweit ihre Aufgaben und Leistungen präsentieren und selbstbewusst den Kontakt mit Medien und Öffentlichkeit aufnehmen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte viel Sympathie für diesen Gedanken und war deshalb bereit, die angedachte Kampagne ideell und finanziell zu unterstützen. Auch die kommunalen Spitzenverbände waren mit von der Partie. Im Jahr 2011 gab es die ersten Aktionswochen für Jugendämter, die zweiten im Jahr 2013, die nächsten sind für 2015 geplant. An den bisherigen Aktionswochen beteiligten sich jeweils Hunderte von Jugendämtern, die mit vielfältigen Aktionen vor Ort auf sich aufmerksam machten. Auf Bundesebene haben wir, jeweils unterstützt von Geldern aus dem Bundesministerium, eine Reihe von Materialien bereit gestellt, die von den Jugendämtern bestellt werden konnten: Info-Broschüren über die Arbeit der Jugendämter, Plakate, Postkarten, Filme zu Arbeitsfeldern der Jugendämter, Give-aways. Es gab regelmäßige Newsletter mit Best-Practice-Beispielen, es gab Kampagnenmappen und Seminare zur Vorbereitung. Wir stellen regelmäßig Pressemeldungen zu aktuellen Themen zur Verfügung und unterstützen bei Bedarf beim Krisenmanagement vor Ort. Und wir haben Unterrichtsmaterialien zu den Aufgaben der Jugendämter im Portfolio. Davon wurden schon Tausende bestellt. Unser Renner aber ist die Broschüre „Was Jugendämter leisten – mit mehr als 500.000 Exemplaren ist sie inzwischen bundesweit verbreitet. Offenbar ist es hier erfolgreich gelungen, die Arbeit von Jugendämtern knapp und nachvollziehbar so zu beschreiben, dass viele Ämter sich darin wiederfinden können und diese Information gerne weitergeben. Die Broschüre liegt inzwischen auch auf Englisch, Türkisch, Russisch und Arabisch vor. 54 anerkennungskultur in der jugendhilfe 3. Wirkungen der Öffentlichkeitsarbeit für die Jugendämter 3.1 Wirkung nach außen Genaue Zahlen zur Umsetzung unserer Kampagne liegen uns aus dem Jahr 2011 vor. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine umfangreichere finanzielle Unterstützung durch das Ministerium und konnten deshalb auch eine Medienresonanzanalyse durchführen lassen. Damals beteiligten sich bundesweit 400 Jugendämter, das sind zwei Drittel aller Ämter, mit mehr als 1.000 Veranstaltungen, die von Presseeinladungen über Familienfeste und Fachveranstaltungen bis zu jugendbezogenen Stadtrundfahrten reichten. Thematisch wurde das ganze Spektrum der Jugendhilfe abgedeckt, vielfach in Zusammenarbeit mit den freien Trägern. 2013 konnten wir diese Spitzenzahlen nicht mehr erreichen, die Beteiligung war aber immer noch sehr hoch. Die Medienresonanzanalyse im Jahr 2011 zählte mehr als 2.000 Artikel, Hörfunkund Fernsehbeiträge zu den Aktionswochen und damit zur Arbeit der Jugendämter in regionalen und überregionalen Medien. Berichtet wurde über die zahlreichen Veranstaltungen vor Ort; darüber hinaus gab es Serien zu den Aufgaben und Leistungen der Jugendämter, Fallbeispiele oder Interviews mit Jugendamtsleiterinnen und -leitern. Das Ziel, die Kompetenz der Jugendämter und die Vielfalt ihrer Leistungen als Thema in die Medien zu bringen, wurde vollumfänglich erreicht. Da der Schwerpunkt der Aktionswochen auf den zahlreichen Aktionen vor Ort lag, wurde vorwiegend in der lokalen und regionalen Tagespresse publiziert. Eine überregionale Wahrnehmung ergab sich über Beiträge in Funk und Fernsehen, z. B. in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD, ZDF und WDR, sowie über die Online-Berichterstattung. Fast alle Beiträge hatten einen positiven Grundtenor, wobei im Mittelpunkt die Arbeitsbereiche standen, die die meisten Menschen angehen und die Servicecharakter haben. Darin liegt ein großes Potenzial für die zukünftige Kommunikation der Jugendämter. Parallel zu den Aktionswochen und über diese hinaus haben wir beobachtet, dass sich in den vergangenen Jahren der Tenor der Berichterstattung in vielen 55 birgit zeller Medien gewandelt hat. Es erscheinen mehr differenzierte und nachdenkliche Berichte in Film, Funk und Fernsehen über die Arbeit der Jugendämter, auch über das Handeln in Grenzsituationen. Mehr und mehr findet sich eine sensible Berichterstattung, die neben den Erfolgen auch die Probleme und Schwierigkeiten der Arbeit in Jugendämtern, gerade im Kinderschutz, deutlich macht. Es wird von den Medien positiv bewertet, wenn Jugendämter sich zeigen und einen Einblick in ihr Innenleben geben. Die intensive Kommunikation mit den Medien nutzt dem Image und der Reputation der Behörde – zumindest dann, wenn nicht gerade der kritische Ausnahmezustand herrscht. 3.2 Wirkung nach innen Bei den Wirkungen nach innen sind wir auf Erfahrungsberichte und Einzelwahrnehmungen angewiesen und können nicht auf systematische empirische Erkenntnisse zurückgreifen. Gleichwohl sind die Wirkungen nach innen und die Reaktionen, die die Kampagne in den Jugendämtern selbst ausgelöst hat, von besonderer Bedeutung. Viele Jugendamtsleitungen haben diese neue Form der Öffentlichkeitsarbeit als eine Zeitenwende beschrieben, mit der das Selbstbewusstsein in den Ämtern gewachsen ist. Für eine ganze Reihe von Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern war es eine neue Erfahrung, sich selbstsicher und positiv nach außen präsentieren und die eigene Arbeit mit Stolz vorstellen zu können und dafür Respekt und Anerkennung zu ernten, z. B. auch von der Bundesministerin. Auch in anderen Veröffentlichungen, wie bspw. in der Organisationsuntersuchung zur Arbeit des ASD in Hamburg von Prof. Dr. Christian Schrapper, wird auf die Bedeutung einer positiven Öffentlichkeitsarbeit für das Selbstbewusstsein der Fachkräfte hingewiesen. Hier finden sich also Anknüpfungspunkte für die weitere Arbeit innerhalb der Jugendämter. 56 anerkennungskultur in der jugendhilfe Das neue Selbstbewusstsein spiegelt sich auch in den Kontakten mit den Medien wider. Viele Fachkräfte machten unterstützt durch die uns begleitenden Agenturen die Erfahrung, dass es sinnvoll ist, offen auf die Anfragen von Medien zu reagieren und Einblicke in die eigene alltägliche Arbeit zu vermitteln, ganz ohne Spektakel. Medien interessieren sich für die Geschichten von Menschen – und da haben Jugendämter, hat die gesamte Jugendhilfe eine Menge zu bieten. Jugendämter können auf diese Weise die Berichterstattung über ihre Arbeit auch ein Gutteil mit steuern. Es hat uns auch sehr gefreut, dass in diesem Jahr der Medienpreis der AGJ und der Bundesländer an einen Journalisten ging, der im SZ-Magazin einen sehr beeindruckenden Artikel zur Balance von Hilfe und Kontrolle geschrieben hat. Und der Wissenschaftspreis ging ebenfalls an eine Autorin, die sich in ihrer Dissertation mit der Öffentlichkeitsarbeit von Jugendämtern befasst hat. An diese insgesamt sehr positiven Entwicklungen sollten wir weiterhin anknüpfen. Über die Aktionswochen hinaus haben denn auch zahlreiche Jugendämter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu einem festen Bestandteil ihrer Arbeit ausgebaut. 4. Zum Zusammenhang von Öffentlichkeitsarbeit und Qualitätsentwicklung Das Bild des Jugendamtes, das Bild, das andere sich von ihm machen, hat erhebliche Wirkungen auf die Qualität der Arbeit. Es schadet dem Selbstbewusstsein und auch der Schaffenskraft der Fachkräfte, wenn ihnen die Anerkennung für ihre anstrengende und engagierte Arbeit versagt wird. Es beschädigt gleichzeitig die Institution Jugendamt selbst, in die offenbar kein Vertrauen gesetzt werden kann. Und es wirkt sich auch negativ aus auf die Menschen, die dort Hilfe suchen oder Unterstützung bekommen. Öffentlichkeitsarbeit und die Qualität der in Jugendämtern geleisteten Arbeit hängen, so die These, die hinter unserem Handeln steckt, eng miteinander zusammen. 57 birgit zeller Eine positiv bewertete Behörde kann ihrem Auftrag wesentlich wirksamer nachkommen. Offensive Öffentlichkeitsarbeit von und in Jugendämtern ist also unverzichtbar, wenn es darum geht, die Arbeit der öffentlichen Jugendhilfe wirkungsvoller werden zu lassen. Denn von alleine wird sich die Anerkennungskultur nicht entwickeln. Die Jugendämter müssen selbst etwas dafür tun. Jugendämter haben eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung für die Gestaltung des Aufwachsens. Wenn Jugendämter zukünftig zu strategischen Zentren des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen werden sollen, wie es der 14. Kinderund Jugendbericht postuliert, dann bedarf es dazu nicht nur einer guten Ausstattung, sondern auch eines positiven politischen und öffentlichen Ansehens. Eine Institution, die keine Wertschätzung genießt, kann auch keine Wirkung entfalten. Neben einer guten personellen Ausstattung und ausreichenden finanziellen Ressourcen bedarf es für diese Weiterentwicklung also darüber hinaus eines großen Maßes an öffentlicher Anerkennung. Eine Organisation kann dann am besten arbeiten, wenn sie sich der politischen Unterstützung vor Ort und der öffentlichen Akzeptanz sicher sein kann. Damit leistet die Öffentlichkeitsarbeit der Jugendämter einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung und hilft, Professionalität zu sichern. Etwas für den eigenen Ruf zu tun, ist also auch und vor allem eine Maßnahme, mit der Jugendämter die Qualität ihrer Arbeit sichern und stabilisieren. Diese Aussage trifft selbstverständlich auch auf die freien Träger zu. Und: Öffentlichkeitsarbeit lässt sich besonders erfolgreich im Dialog gestalten. Wie dies aussehen soll, könnte Gegenstand unserer Diskussion sein. 58 V jessika kuehn-velten Ver-rückt im Kinderschutz Die Psychiatrisierung der Kindheit Die Themen Kinder psychisch kranker Eltern, depressive Jugendliche, psychiatrische Erkrankungen und Störungsbilder als Belastungsfaktor in Familien sind in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit auch in der Kinderschutz-Arbeit gerückt. Wir haben uns mit neuen Ideen und Erkenntnissen, mit veränderten Kommunikationsstrukturen und innovativen Hilfeansätzen befasst, um auf genau diese Familien zuzugehen. Wir haben viel getan für die grenzüberschreitende Kooperation zwischen den Systemen Jugendhilfe und Gesundheitswesen – auf beiden Seiten. Dies sind Bausteine einer auch weiterhin wichtigen und wünschenswerten Entwicklung. Und doch – inzwischen begegnen uns psychische Auffälligkeiten und psychiatrische Diagnosen in einer Häufigkeit, die uns Fragen stellen lässt: Wird unsere Gesellschaft, wird Kindheit zunehmend psychisch krank – oder ist es so, dass Gesellschaft und auch Jugendhilfe und Gesundheitswesen zunehmend Familie, Kinder und Kindheit psychiatrisieren, als krank ansehen, darin zu sehr Verstehensmodelle und Hilfegrundlagen suchen, darüber Kindeswohl und Kinderschutz definieren? Die Frage nach Psychiatrisierung zu stellen, heißt dabei nicht, psychische Erkrankung zu leugnen oder psychiatrischen Zugängen mit Entwertung zu begegnen, sondern lediglich, um eine Balance zu ringen, ihnen einen angemessenen Stellenwert und stimmigen fachlichen Umgang zukommen zu lassen. Während ein Teil-Thema psychisch erkrankte Eltern und die Auswirkungen der psychischen Erkrankung auf die Kinder ist, soll hier der Fokus auf den Kindern und Jugendlichen selbst – mit und ohne psychische Erkrankung – liegen. In der Kooperation der Systeme Jugendhilfe und Gesundheitswesen bleibt es natürlich nicht aus, dass wir im Miteinander auch das Territorium des jeweils anderen Berufsfeldes betreten. Wir werden zum Herüberkommen und Hinübergehen eingeladen. Und dann stehen wir im Feld – immer noch mit unterschiedlichen Sprachen, Berufskulturen und Haltungen zu dem, was unser gemeinsames Aufgaben- und Tätigkeitsgebiet ist, aber mit mehr Wissen, mit 61 jessika kuehn-velten mehr Mut – und darin manchmal auch mit mehr Grenzverletzung. Das andere Feld kennenzulernen, euphorisiert. Es ist ein bisschen wie im Winter im frisch gefallenen Schnee zu stehen, staunend, erste Spuren hinterlassend. So ist es vielleicht uns in der Jugendhilfe mit der Psychiatrie gegangen (und natürlich umgekehrt). Wir haben psychisch kranke Eltern mit ihrem Lebensrahmen für Kinder entdeckt, die Hilfebedarf haben, mit denen wir an Veränderungen arbeiten könnten. Ebenso haben wir depressive Kinder und Jugendliche als Hilfeadressat(inn)en entdeckt, plötzlich nicht mehr nur in der Psychiatrie, sondern in der Familienhilfe, in der Hilfeplanung beim Jugendamt, in den Beratungsstellen, in der Schulsozialarbeit, in Wohngruppen. So passiert es, dass ein sechsjähriger Junge in unserem Kinderschutz-Zentrum angemeldet wird zur Klärung möglicher traumatisierender Hintergründe einer Persönlichkeitsstörung und der daraus folgenden Hilfeempfehlungen – und die Diagnose der Persönlichkeitsstörung stammt nicht aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sondern vom Jugendamt. Was erhoffen wir uns von dieser Feldbesetzung – wie kommt es in der Jugendhilfe zu diesem besonders interessierten Blick auf psychische Erkrankung? Wie bereits angedeutet, kann das Modell psychischer Erkrankung der Jugendhilfe einen anderen, neuen Verständniszugang zu Kindern und Familien öffnen. Damit wird unser Spektrum von Erklärungen breiter – für Verhaltensoriginalität, für Belastungszeichen, für scheinbar Unerklärbares im Kontakt, in Familienbeziehungen, im Verhalten und Erleben. Psychische Erkrankung schafft eine ganz neue Rahmung für Widerstand in der Kinderschutzarbeit, der Arbeit an Problem- und Hilfeakzeptanz von Eltern bei Fragen möglicher Kindeswohlgefährdung. Aber dann gibt es die erschütternden Beispiele, die psychische und Sucht-Erkrankung im Rahmen von Kindeswohlgefährdung ins Blickfeld gerückt haben, das dann gar nichts mehr mit Euphorie und Neugier zu tun hat – denken wir nur an Kevin, Chantal und andere und an das, was wir aus den Analysen ihrer Geschichten haben lernen müssen. Daraus sind unter anderem die Strebungen nach Risikominimierung und Sicherheit im Kinderschutz erwachsen – und auch dafür scheinen psychiatrische Diagnosen zunächst Möglichkeiten zu versprechen, von denen allerdings bezweifelt werden darf, dass sie allein langfristig unsere Probleme gemeinsamer Einschätzung von Kindeswohl und Kinderschutz zwischen Helfer(inne)n und Familien lösen können. Es braucht 62 ver-rückt im kinderschutz also gutes Miteinander, gelingende Vernetzung, gleichwertiges voneinander Lernen der Systeme Gesundheitswesen und Jugendhilfe. Dann können wir aus guten Kooperationserfahrungen schöpfen, können gemeinsam unsere Hilfeangebote abgleichen und dadurch erweitern, können unser Wissen zusammenfügen und vergrößern. Noch aber stehen Unterschiedlichkeit wie ausgetragene Differenzen der Systeme im Wege und erschweren die Balance in der gegenseitigen Bereicherung. Im Umgang mit schwierigen, verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen wird der Konflikt zwischen den Definitionen pädagogisches versus psychiatrisches Problem ausgetragen. Resultat ist dann manches Mal ein „Zuschieben“ der Verantwortung wie auch der jungen Klient(inn)en. Über 25 % der stationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelten Kinder und Jugendlichen werden in eine stationäre Jugendhilfemaßnahme entlassen, so zeigen Studien etwa von Beck & Warncke (2009) oder Martin (2002). Kinder und Jugendliche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen werden umgekehrt häufig in Krisen und eskalierenden Konflikten in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Wenn wir uns so gegenseitig nutzen, kann das hilfreich und fruchtbar für die Klient(inn)en sein – wenn aber, wie es oft der Fall ist, Absprachen über die Bedingungen für diese Wege und gemeinsame Problemdefinitionen noch nicht hinreichend vorliegen, wird es schwierig. Dann „nehmen“ wir die Klient(inn)en und Patient(inn)en des jeweils anderen Systems nicht, dann findet vielleicht der 15-Jährige nicht die Jugendhilfe, die die Psychiatrie ihm wünscht, dann wird etwa die 14-Jährige, die sich selbst verletzt und andere bedroht, nicht auf der Station der Jugendpsychiatrie aufgenommen, weil eben dort ein pädagogisches und kein psychiatrisches Problem diagnostiziert wird, während die Jugendhilfe es genau umgekehrt einschätzt. Dann treffen die Diagnoseverständnisse gegnerisch aufeinander – und dann geht es immer wieder auch um Konkurrenz. Schließlich hat die Jugendhilfe mit der sozialpädagogischen Diagnostik das ursprünglich medizinische Begriffsfeld der Diagnose mitbesetzt (während das Gesundheitswesen unter anderem mit den Kinderschutzgruppen an Kliniken im Bereich des Kindeswohls mitbestimmt). Und es geht darum, welches System Hilfe anbieten darf, welche etwa der zugehenden Hilfen für Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt 63 jessika kuehn-velten ist, „besser“ dasteht – und finanziert wird, welches System also über welche Geld-Ressourcen verfügt. Und – hat die Idee, dass psychische Erkrankung zunimmt und dass dafür Gelder zur Verfügung gestellt werden (müssen), einen Einfluss auf mögliche Psychiatrisierung in der Gesellschaft? Wie sieht es aber nun wirklich aus mit der psychischen Gesundheit, mit Normalität und psychischer Störung? Die KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Folgestudie 2009–2012 des Robert-Koch-Instituts) sagt aus, dass 20,2 % der 3- bis 17-Jährigen Hinweise auf psychische Störungen zeigen, davon 12,4 % mit deutlichen, massiven Beeinträchtigungen im sozialen Alltag. Darüber hinaus stellen die Studienergebnisse die Abhängigkeit des Vorliegens der Diagnose ADHS vom sozialen Status fest – sie wird offenbar dreimal häufiger in Familien mit niedrigem sozialen Status vergeben als in den übrigen Familien. Insgesamt ist die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern nicht oder nur leicht signifikant, aber das Niveau erscheint gleichbleibend hoch. Ist also die „gefühlte“ Zunahme von psychischer Erkrankung ein soziales oder ein Jugendhilfe-Problem, sozusagen hausgemacht, eine Frage der Aufmerksamkeit vielmehr als der Realität? Zur Frage möglicher Psychiatrisierung mag es hilfreich sein, einen Blick in die Kinderschutz-Geschichte zu werfen und darauf, wie die Aufmerksamkeit auf vermeintlich „neue“ Themen Kinderschutzarbeit und -verständnis wie auch die Statistik verändert hat. Vor Jahrzehnten schon war es, als die Sorge um sexuellen Missbrauch an Kindern sich verbreiterte und intensivierte. Mit jeder Erkenntnis und Fortbildung zum Thema stieg die fachliche und dann nach und nach auch gesellschaftliche Wahrnehmung, stiegen Zahlen, bis dann – endlich, so muss man in der Rückschau festhalten – auch spezifischere Hilfeangebote und Schutzkonzepte geschaffen wurden. Weiter ging es mit dem Fokus auf Vernachlässigung; die „vergessenen Kinder“ rückten in den Blick. Dann sprachen wir über Artefakt-Störungen und das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Unsere Sicht auf Häusliche Gewalt führte zu einer Zunahme der betroffenen und betreuten Familien in der Jugendhilfe, zum Verständnis der direkten schädigenden Auswirkungen der Zeugenschaft von Gewalt bei Kindern, zum Aufgeben der Idee, Kinder könnten nichts mitbekommen haben davon. Es folgten Kooperationen etwa zwischen Frauenberatung, Polizei, Angeboten für Kinder und Familien, und es wurden Hilfekonzepte entwickelt für Betroffene, 64 ver-rückt im kinderschutz für Kinder, nicht Gewalt ausübende wie Gewalt ausübende Elternteile. Im Vorfeld sozusagen des Themas psychische Erkrankung haben wir vieles – und das in einem guten Miteinander von Jugendhilfe und Gesundheitswesen! – gelernt über Traumatisierung und Traumafolgestörung, mit wunderbaren Auswirkungen auch im Kinderschutz für die Entwicklung traumapädagogischer und -therapeutischer Techniken. Und nun sind es eben psychische Störungen und Erkrankungen, die uns herausfordern. Wir nehmen also offensichtlich immer das besonders viel und deutlich wahr, worüber wir gerade sprechen, nachdenken, Neues erfahren. Aus der Kinderschutz-Geschichte heraus gibt es aber noch weiteres zu sehen. So mag unsere Sorge, im Hinblick auf Kindeswohl etwas zu übersehen und damit anfällig für Fachfehler zu sein, uns gerade in Zeiten zunehmender Achtsamkeit auf Qualitätsstandards und Fehlermanagement dazu bringen, möglichst viele und auch bis dahin wenig berücksichtigte Belastungsfaktoren in den Blick zu nehmen. Wir werden alles annehmen, was uns zu einer Differenzierung in der Risikoeinschätzung hilft. Eine der wichtigsten Entwicklungen im Kinderschutz ist die von der Defizitorientierung hin zum Ressourcenansatz. Uns muss allerdings bewusst sein, dass die Hinwendung zur vermeintlichen Sicherheit psychiatrischer Diagnosen davon wieder etwas aufgibt. Denn in den Klassifikationssystemen für Diagnosen ist die Ressourcensicht noch nicht angekommen: Es gibt keine im ICD oder DSM klassifizierte Diagnose Normalität und Gesundheit („Dem Jungen fehlt nichts“ oder „Das Mädchen steht sicher und gut entwickelt im Leben“ etwa als A-Klassifikation). Auch hier könnte ein Aspekt dessen liegen, was uns manchmal wie eine Psychiatrisierung von Problemlagen und belasteten Familien vorkommen mag. Nimmt also aus den genannten Gründen psychische Erkrankung als Problematik in der Jugendhilfe besonders zu? Nimmt eigentlich im Gegenzug Kindeswohlgefährdung als Problematik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie besonders zu – und wird das in der Zukunft auch die Erwachsenen-Psychiatrie mehr befassen? Das sind spannende Fragen oder Hypothesen, in deren Reflexion Chancen für gemeinsames Handeln liegen können. Nichts geschieht ohne Sinn und Grund – die Zunahme der Aufmerksamkeit auf psychische Erkrankungen scheint notwendig. Denn Jugendhilfe und Gesell- 65 jessika kuehn-velten schaft brauchen Antworten auf die Frage nach der Erklärung und der Hilfe für multiple Problemlagen: Kinder und Jugendliche, die unruhig oder verhaltensoriginell daherkommen, die sozial schlecht angepasst sind oder Leistung verweigern, aggressive oder emotional nicht gut gesteuerte Kinder und Jugendliche bis hin zu den sogenannten „Systemsprengern“ fordern uns so heraus, dass die bisherigen Antworten nicht mehr zu genügen scheinen. Die Diagnosen für Kinder und Jugendliche eben als Antwort und Hilfe zur Bewältigung reichen dann von AD(H)S über Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen, über Traumafolgestörung, autistische Störung (Typ Asperger), Depression, Angststörung, Zwangsstörung, Borderlinestörung, Psychose, über Suchterkrankung und psychosomatische Erkrankungen bis zur „einfachen“ Adoleszenzkrise. Nicht nur scheinen also solche psychiatrischen Diagnosen zumindest in der Jugendhilfe vermehrt vorzukommen oder mehr wahrgenommen zu werden, ihnen scheint auch eine größere „Macht“ zugeschrieben zu werden: Sie scheinen Sicherheit in unsicheren Situationen zu versprechen und mehr in Risikoeinschätzung einbezogen zu werden. Sie laden vielleicht auch zu einer schnelleren und häufigeren Medikamentierung für Kinder und Jugendliche als medizinische Hilfe ein, was wiederum Auswirkungen auf die Klient(inn)en wie auch auf die Abstimmung systemischer und ganzheitlicher Hilfekonzepte haben wird und insgesamt die Gefahr einer zunehmenden Medikalisierung im Kinderschutz beinhaltet. Psychiatrisierung – das hieße, dass psychiatrische Diagnosen und Behandlungen Normalität gewinnen würden. Psychiatrie würde dann vielleicht noch weniger mit Zwang, noch mehr mit Freiwilligkeit verknüpft sein. Der Zugang zur Psychiatrie wäre leichter, es gäbe möglicherweise einen Anstieg stationärer Maßnahmen mit jeweils kürzeren Behandlungszeiten, die für Familien und Gesellschaft mehr Entlastung schaffen könnten. Psychiatrie und psychische Erkrankung würden weiter enttabuisiert, stattdessen „gesellschaftsfähig“. Gerade in Zeiten, in denen die freie Jugendhilfe sich öffentliche Angriffe und Entwertungen gefallen lassen muss, steigen klinisch-stationäre Maßnahmen und Hilfen der Psychiatrie im Renommee. Natürlich birgt Psychiatrisierung auch Risiken und Gefahren, zuoberst die des selbstreferenten Systems, wenn die Krankheit sich selbst erklärt und zur Erklärung aller Probleme herangezogen wird, etwa bei Beziehungsschwierigkeiten und Kontakt im Konflikt mit 66 ver-rückt im kinderschutz Helfer(inne)n und in Beratungsprozessen bei Kindeswohlgefährdungsfragen. Die Mutter, die sich in höchsten Tönen aufregt, der Vater, der die Helfer beschimpft, die Eltern, die Hilfe verweigern und eine andere Problemsicht haben – psychisch krank? Bedenken werden vielleicht nur noch in einem Zusammenhang bewertet, und statt der Erweiterung des Horizonts wird der Blickwinkel auf Kinder und Familien doch wieder einseitig. Und: Ressourcen geraten aus dem Blick, die Defizitorientierung hätte wieder die Oberhand. Noch ein Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Krisen – und die Rolle des psychiatrisch-diagnostischen Blickwinkels darin. Dieser könnte die Gefahr der Individualisierung von Problemlagen bergen, könnte der Kompensation gesellschaftlicher Hilflosigkeit dienen. Wenn Kinder, Jugendliche, Eltern, Familien, die belastet sind, als psychisch krank identifizierbar sind, entlastet dies im schlechtesten Fall die Gesellschaft davon, sich um soziale Lebensbedingungen und Belastungsfaktoren wie Armut, Wohnumfeld, Bildungschancen, Integration zu kümmern, gemeinschaftlich feinfühlig auf die Einzelnen zu reagieren. Entwicklungsorientierung und Prozesshaftigkeit im Miteinander, in der Sicht auf und Hilfe für Familien bleibt dann leicht auf der Strecke. Wieder ein paar Fragen. Wenn psychische Erkrankung zur Normalität wird: Macht das psychische Erkrankung weniger aufregend? Darf Jugendhilfe dann mit „Normalität“ reagieren? Haben wir dann wieder Freiräume, uns gesellschaftlichen und politischen Forderungen zuzuwenden? Und können wir als Jugendhilfe im Kinderschutz unser „Kernhandeln“, die Arbeit in Beziehung, im Blick behalten, wie es so wichtig und notwendig ist? Dazu bedarf es wohl der Gemeinsamkeit der Systeme Jugendhilfe und Gesundheitswesen/Psychiatrie, der balancierten Kooperation. Dazu braucht es die Sicht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Aufgabe von Konkurrenz und Gegeneinander, die Reflexion von Vorbehalten, den Willen, sich nicht hinter den anderen zu verstecken, miteinander die Ressourcen wie die Gefahren jedes Standpunkts zu teilen, abzuwägen, zu behalten oder loszulassen. Psychiatrie und Jugendhilfe haben unterschiedliche Terminologien und Kommunikationsstile, die es nicht anzugleichen, aber kennenzulernen gilt. Das heißt eben nicht, dass Psychiatrie Hilfepläne erarbeiten und schreiben und Jugendhilfe Diagnosen stellen und klassifizieren soll. Aber wir könnten wissen, 67 jessika kuehn-velten was das jeweils heißt und ist, wo es sich mit Ähnlichem bei uns begegnet, dessen Bedeutung und vor allem auch Grenzen kennen. In der Kooperation zwischen psychiatrischen Fachdiensten und Institutionen und solchen der Jugendhilfe lauert eine Fülle von Fallen auf beiden Seiten. Auf Seiten der Jugendhilfe gibt es zum Teil geringe Kenntnis über psychische Erkrankungen und ihre Auswirkungen auf die Erziehungskompetenz von Eltern. Es bestehen nicht selten persönliche Unsicherheit, Abwehr, Vorurteile, Angst vor Belastung im Angesicht von psychischer Erkrankung. Gefahren lauern in Unterlegenheitsgefühlen und kompensatorischer Machtausübung gegenüber der (als höherwertig erlebten) gesellschaftlichen Stellung der Psychiatrie. Angst vor heftigen Reaktionen, Krisen und Kontaktabbrüchen seitens psychisch erkrankter Elternteile oder auch Kinder und Jugendlicher und damit vor Verlust des Zugangs kann ein schlechter Ratgeber sein. Auf Seiten der Psychiatrie dagegen steht die Sicht psychischer Erkrankung als Funktionsbeeinträchtigung ohne Reflexion der Auswirkung auf die Erziehungskompetenz gelingendem Miteinander im Wege, ebenso wie Vorurteile gegenüber der Jugendhilfe mit folgender Kontaktvermeidung und daraus resultierender Bestätigung des Vorurteils. Weitere Fallen sind unter Umständen Überlegenheitsgefühle gegenüber der Jugendhilfe und Parteilichkeit zugunsten des psychisch erkrankten Elternteils, der Patientin / des Patienten. Beide Seiten, Psychiatrie und Jugendhilfe, haben zu kämpfen mit zu wenig Wissen über Aufträge und Auftraggeber, Arbeitsweisen, Hilfe- und Heilungskonzepte, Handlungsstrategien und -abläufe des jeweils anderen Systems. Falsche Erwartungen aneinander haben Unzufriedenheit, Enttäuschung, Vertrauensverlust und Aufgabe der Kooperation zur Folge. Und die unterschiedliche Finanzierung, unterschiedliche Leistungsansprüche und Finanzierbarkeit von Leistungen (etwa Teilnahme an Helferkonferenzen) sowie unterschiedliche Kooperationen mit Dritten (Schule, Kita, Gericht und weitere) machen es uns zusätzlich schwer. Wenn wir aber in der Gesellschaft, unter allen Fachleuten darüber, über uns, über Familien wertschätzend sprechen, wird die Frage von Psychiatrisierung, wird die dahinter stehende Sorge an Bedeutung verlieren, und wir werden uns gegenseitig mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten nutzen können – egal, ob die Kinder, die Hilfe brauchen, depressiv oder sozial zurückgezogen heißen, an ADHS, Traumatisierung oder Vernachlässi- 68 ver-rückt im kinderschutz gungsfolgen leiden. Wir dürfen schauen, ob Kinder- und Jugendpolitik sich hinter der Psychiatrisierung versteckt und andere Entwicklungen vermeidet. Wir können in den Blick nehmen, ob die Zunahme psychischer Erkrankungen vielleicht einfach die Hilflosigkeit der Gesellschaft spiegelt. Wir hinterfragen, inwiefern gesellschaftliche, Umwelt- und familiale Bedingungen vielleicht doch zunehmend krank machen. Und wir sind miteinander achtsam darauf, ob wir Psychiatrisierung von Eltern nutzen, nur um eine sicherere Risikoeinschätzung in Kinderschutzfällen vorzunehmen, ob wir Psychiatrisierung von Kindheit und Kindern nutzen, nur um Komplexität im Verstehen und in der Hilfe zu reduzieren, und ob wir Psychiatrisierung – oder eben nicht! – zu Lasten der Arbeit in Beziehung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern gehen lassen. Wie gesagt: Die Frage nach Psychiatrisierung zu stellen, heißt nicht, psychische Erkrankung zu leugnen oder psychiatrischen Zugängen mit Entwertung zu begegnen, sondern lediglich, um eine Balance zu ringen, ihnen einen angemessenen Stellenwert und stimmigen fachlichen Umgang zukommen zu lassen. Es geht nicht um Kampf und Konkurrenz, im Gegenteil – sondern darum, vielleicht irgendwann geschrieben zu lesen, was auf der Seite des Gesundheitswesens bedenkliche Fragen aufwirft, und dann gemeinsam an der Balance zu arbeiten. Wir brauchen, so ein vorläufiges Fazit, ein Bewusstsein für die Bedeutung von Zuschreibungen psychischer Krankheit und Störung. Wir brauchen Achtsamkeit und fachliche Verantwortung im Umgang mit diesen Zuschreibungen ebenso wie eine zeitliche Begrenzung für Zuschreibungen und Hilfen. Wir brauchen ein Krisenverständnis und Krisenmanagement jenseits psychischer Erkrankung. Wir brauchen Vernetzung mit den Hilfen der Psychiatrie und des Gesundheitswesens, aber auch mit Kindertagesstätten, Schule, Berufsbildung und anderen. Und wir brauchen Ressourcen für Kinder- und Jugendhilfe und -politik – ideelle wie finanzielle. Dann kann und wird es weitere Entwicklung geben – in der Jugendhilfe, im Gesundheitswesen mit Psychiatrie, im Miteinander, im Kinderschutz. 69 I christian schrapper Im Mittelpunkt und doch aus dem Blick? „Das Kind“ im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung Ein Positionspapier des Deutschen Institutes für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) Wo ist das Problem? Es geht um die Praxis des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung. In den Mittelpunkt gerückt werden soll „das Kind“, hier in Anführungszeichen gesetzt, da grundsätzlich und prinzipiell von Kindern und Jugendlichen die Rede ist. Herausgearbeitet wird, wofür die Akteure in Verfahren vor dem Familiengericht bei Kindeswohlgefährdung besonders achtsam sein müssen, wenn sie die komplexen Interessen und Ansprüche, Bedarfe und Rechte von Kindern angemessen begreifen und berücksichtigen wollen – wenn sie Kindern „gerecht“ werden wollen. Das Vorhaben, den Blick zu schärfen für „das Kind“ und seine Situation im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, kann auf viele Entwicklungen im Umfeld von Jugendhilfe und Familiengerichtsbarkeit aufbauen. In den letzten Jahren ist auf politischer, gesetzlicher und fachlicher Ebene viel geschehen, um das Kind mit seinen (Entwicklungs-) Potenzialen und Problemen sowie seinen subjektiven Interessen weiter in den Mittelpunkt zu rücken. Das gilt sowohl für die Jugendhilfe als auch für das familiengerichtliche Verfahren bei Kindeswohlgefährdung. So ist die Bedeutung von Partizipation und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern deutlicher anerkannt, bspw. in Bezug auf die Hilfeplanung oder die Pflegekinderhilfe. Die Runden Tische zu Heimerziehung und sexuellem 71 christian schrapper Missbrauch haben das Bewusstsein geschärft für die erheblichen und lange wirksamen Folgen einer auch institutionellen und professionellen Missachtung kindlicher Subjektivität und ihrer Reduzierung zu Objekten staatlicher und gesellschaftlicher Beeinflussung. In Bezug auf gerichtliche Verfahren steht für die verstärkte Wahrnehmung von Kindern etwa die Einführung der Verfahrensbeistandschaft, um Gesichtspunkte, die das Kind betreffen und dessen subjektive Interessen, stärker in das familiengerichtliche Verfahren einzubringen (§ 158 FamFG). Auch die Ausweitung der Pflichten, Kinder in Gerichtsverfahren anzuhören (§ 159 FamFG), zeigt das Ziel, das Kind in den Mittelpunkt des Verfahrens zu rücken. Die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung gewichtet den Willen des Kindes in sorgerechtlichen Verfahren in jüngerer Zeit stärker als bisher. (z. B. BGH 28.04.2010, XII ZB 81/09; zugleich Grundsatzentscheidung zur Kindesanhörung vor dem Oberlandesgericht); oder aktueller (allerdings speziell zur Beschneidung) OLG Hamm 30.08.2013, 3 UF 133/13: „ein entgegenstehender Kindeswille ist in diesem Falle zwingend zu beachten” – eine gegenläufige Tendenz wird durch neuste Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes allerdings kritisch diskutiert (siehe: Heilmann, Stefan (2014): Schützt das Grundgesetz die Kinder nicht? Eine Betrachtung der bisherigen Kammerrechtssprechung des BVerfG im Jahr 2014. In: Neu Juristische Wochenzeitschrift, Nr. 40, S. 2904–2909). So begründet und selbstverständlich das Anliegen, das Kind „in den Mittelpunkt“ zu stellen, so komplex die Umsetzung. Es wurde deutlich, wie unterschiedlich sich die Perspektiven auf „das Kind“, sein Wohl und seine subjektiven Rechte darstellen. Allzu leicht verschob sich der Fokus vom Kind auf das von den jeweiligen erwachsenen Akteur(inn)en für richtig und gültig Gehaltene. Deutlich wurde in der Diskussion in der Fachkonferenz auch: Die Verwobenheit der Entwicklung und Lebenssituation des Kindes mit seiner Familie bzw. seinen Familien macht es zudem kaum möglich, das Kind „unabhängig” von Erwachsenen in den Mittelpunkt zu stellen. Weiter erschwert die Dynamik und Vehemenz, die Konflikte zwischen Erwachsenen mit sich bringen können, und das generelle Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern eine vorrangige Konzentration auf das Kind. Das Papier wendet sich an alle beteiligten Professionen im familiengericht- 72 im mittelpunkt und doch aus dem blick? lichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, gleichermaßen an die Jugendhilfe und die Justiz. Wer ist die Ständige Fachkonferenz 2 des Deutschen Institutes für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF)? Fachkräfte aus Jugendhilfe, Justiz und Wissenschaft beraten unter dem Dach des DIJuF Fragen der Arbeitsfelder an der Schnittstelle von Familiengericht, Jugendamt und Beratungsstellen. In den letzten Jahren ging es vor allem um Konsequenzen des seit 2009 neuen Familienverfahrensgesetzes. So sind in einem ersten Positionspapier 2010 „Situation, Perspektiven und Entwicklungsbedarf verlässlicher Qualitätsstandards und klarer Rollengestaltung im familiengerichtlichen Verfahren im Kinderschutz“ vorgestellt worden (abrufbar unter www. dijuf.de > Publikationen > Bücher/Broschüren). An der Erarbeitung des aktuellen Positionspapieres waren beteiligt: Renate Blum-Maurice, Kinderschutz-Zentrum Köln; Anselm Brößkamp, Amt für Jugend und Sport des Kreises Plön; Ulrich Engelen, Jugendamt Essen; Juliane Fahrner, Justizministerium, Baden-Württemberg, Stuttgart; Ansgar Fischer, Richter am Oberlandesgericht Oldenburg; Christine Gerber, Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI), München; Henriette Katzenstein, Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF), Heidelberg; Dr. Heinz Kindler, Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI), München; Dr. Doris Kloster-Harz, Rechtsanwältin, München; Marita Krist, Lebensberatung Hermeskeil, Trier; Klaus Guido Ruffing, Jugendamt Saarpfalz-Kreis; Wolfgang Rüting, Jugendamt Kreis Warendorf; Beate Schiffer, Dezernat für Jugend, Schule, Soziales und Kultur Hattingen und Prof. Dr. Christian Schrapper, Universität Koblenz, Vorsitz der SFK 2. Das Positionspapier wird hier in einer gekürzten Fassung vorgestellt, ausführlich unter www.dijuf.de. 73 christian schrapper Warum ist nicht so einfach, was so selbstverständlich erscheint: Das Kind im Mittelpunkt der Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung? Verfahren vor dem Familiengericht wegen Kindeswohlgefährdung wecken oft Hoffnungen und Befürchtungen zugleich. Erwartet wird, dass strittige Fragen und Konflikte in dem komplizierten Verhältnis kindlicher Versorgungs-, Entwicklungs- und Erziehungsrechte, elterlicher Rechte und Pflichten und sozialstaatlicher Unterstützungs- und Wachsamkeitsverpflichtungen endgültig geklärt werden. Die Erwartung, dass Klarheit eintritt, wird jedoch häufig enttäuscht. Den Hintergrund dafür bilden zum ersten spannungsreiche Rechtspositionen, zum zweiten die Komplexität der normativen Grundlagen des Verfahrens. Zudem erschweren es unklare, in Grenzbereichen liegende oder kaum zu ermittelnde Sachverhalte, zu klaren Ergebnissen zu kommen. Und schließlich sind divergierende Perspektiven der Beteiligten im Verfahren bei Kindeswohlgefährdung im Spiel, die nicht immer bewusst zugänglich und kommunizierbar sind. Zuerst sollen diese prägenden Aspekte, unterschiedlichen Sichtweisen und Ziele in familiengerichtlichen Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung kurz umrissen werden, bevor endgültig das Kind „in den Mittelpunkt“ gestellt wird. 1. Spannungsreiche Rechtspositionen im Verfahren In jedem konkreten Fall eines Verfahrens nach § 1666 BGB geht es prinzipiell darum, Grundrechtsansprüche zu klären und eine möglichst weitgehende Konkordanz herzustellen. Im Spiel sind etwa die Unantastbarkeit der Würde, das Recht auf freie Entfaltung, Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2 GG) und das natürliche, als Pflichtrecht ausgestaltete Elternrecht, über dessen Ausübung die staatliche Gemeinschaft wachen soll (Art. 6 Abs. 2 GG). Hinzu kommt das Recht von Eltern und Kindern auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK). Im Grundsatz konzipiert die Verfassung Rechte des Kindes, Rechte und Pflichten der Eltern und staatliche Wächterfunktion also als aufeinander bezogen, nicht einander entgegengesetzt. Und doch stehen sie in einem Spannungsverhältnis, umso mehr, wenn es um vermutete Kindeswohlgefährdung geht. Das Verfahren 74 im mittelpunkt und doch aus dem blick? vor dem Familiengericht bei (vermuteter) Kindeswohlgefährdung muss daher immer im Spannungsverhältnis von grundlegenden – und aufeinander bezogenen – Rechtspositionen verstanden werden, und zwar: · den Rechten der Kinder auf Schutz und auf Erziehung und Entwicklung; · den Rechten der Eltern auf Selbstbestimmung in Spannung zur Pflicht für Erziehung und Versorgung zu sorgen und Recht auf staatliche Unterstützung; · den Pflichten der staatlichen Gemeinschaft zur Unterstützung, zur Wachsamkeit und Erreichbarkeit für „Hilferufe“ und dafür, Gefahren für das Kindeswohl durch Hilfe oder Intervention abzuwenden, dies aber in einer Weise, die das Recht auf Familienleben möglichst weitgehend achtet. 2. Notwendige und zugleich notwendig unklare normative Grundlagen der Verständigung: Kindeswohlgefährdung und Kindeswohl als aufeinander bezogene Konzepte Die immer noch prägende juristische Definition des Bundesgerichthofs (FamRZ 1956, 350) für Kindeswohlgefährdung beinhaltet, dass eine gegenwärtige Gefahr vorliegt, die erhebliche Schäden für das Kind mit ziemlicher Sicherheit voraussehbar sein lässt. Diese Definition markiert die Schwelle, die einen Eingriff in das durch die Verfassung garantierte Elternrecht ermöglicht. Zugleich wird die Gefährdung des Kindeswohls hier weit abgerückt von einer positiven Bestimmung des Kindeswohls. In der juristischen Diskussion wird angenommen, dass zwischen dem Kindeswohl und der Kindeswohlgefährdung eine Art unbestimmter Lücke klafft, ein Zustand, in dem das Kindeswohl zwar nicht (mehr) gewährleistet wird, aber (noch) nicht gefährdet ist. Die für die Feststellung einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung geforderte Voraussage erheblicher kindlicher Entwicklungsschäden kann zum einen nur getroffen werden auf Basis detaillierter Kenntnisse des Einzelfalls und unter sachkundigem Rückgriff auf einschlägige Forschungsergebnisse. Zum anderen erscheint eine Wertung, ob festgestellte oder erwartbare Schäden erheblich sind bzw. sein werden, ohne eine Vorstellung über unbeschädigte Entwicklung als Bezugspunkt nicht entscheidbar. Hier soll daher die These vertreten werden, dass ein Diskurs über das Vorliegen einer Gefährdung zwischen Richter(in) 75 christian schrapper und anderen Beteiligten eine Verständigung auch darüber erfordert, was positiv als Kindeswohl allgemein (Was brauchen Kinder?) und im konkreten Fall (Was braucht dieses Kind?) angenommen werden kann. Immer wieder diskutiert wird, ob das Kindeswohl wegen des Fehlens positiver Bestimmungen im deutschen Recht durch Bezug auf internationale Konventionen und völkerrechtliche Vorgaben konkretisiert werden kann. Obwohl die UN-Kinderrechtskonvention keine direkte Möglichkeit der Bestimmung konkreter Inhalte des Kindeswohls bietet (dazu ausführlich: Meysen/Mendez de Vigo Forum Jugendhilfe 2013, S. 24ff.), weist sie deutlich darauf hin, welche Rechte des Kindes staatliche Maßnahmen fördern und verwirklichen sollen. Zu den Kinderrechten gehört dabei u. a. auch – wie aus Art. 6 Abs. 3 GG im deutschen Recht garantiert –, dass Kinder nur unter engen Voraussetzungen von ihren Eltern getrennt werden dürfen und dass die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern zu respektieren sind. Die entsprechenden Artikel der Konvention reflektieren wiederum die schon beschriebene Verwobenheit von Kinder- und Elternrechten. Insgesamt reflektieren die hier genannten Kinderrechte eine Sichtweise, die Kinder immer auch schon als eigenständige Subjekte und nicht ausschließlich als Teil des Eltern-Kind-Verbunds in den Blick nimmt. Es ist daher davon auszugehen, dass eine verstärkte Rezeption auch dieser Rechte der Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention die gesellschaftliche Wahrnehmung der eigenständigen Rechtspositionen von Kindern stärken würde. Bei einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung träten neben den in Art. 6 Abs. 1 bis 3 GG und in der UN-KRK gleichermaßen verankerten Schutz der Eltern-Kind-Beziehung eigenständige Grundrechte des Kindes. 3. Unklare oder nicht zu ermittelnde Sachverhalte Zu den skizzierten Problemen der näheren juristischen Bestimmung von „Kindeswohlgefährdung“ treten prinzipielle Probleme bei der Sachverhaltsermittlung hinzu: · Das Problem der arbiträren Grenze: Bei von der Rechtsordnung gesetzten Grenzen (Kindeswohlgefährdung liegt vor oder liegt nicht vor) und einer 76 im mittelpunkt und doch aus dem blick? Wirklichkeit, in der es ein Kontinuum des Ausmaßes von Gefährdung gibt, entstehen – neben sehr eindeutigen Fällen – zwangsläufig Fälle, die nah an der Grenze liegen oder darum pendeln und deshalb Unsicherheit und verschiedene Positionierungen von Fachkräften auslösen müssen. · Gefährdung als verdeckter Prozess: Die gesellschaftliche Ächtung von Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung, die bei Kindern häufig vorhandenen Ambivalenzen gegenüber staatlichen Eingriffen zu ihrem Schutz und die Beschränkung solcher Eingriffe auf Konstellationen, in denen Hilfen von den Eltern nicht gewünscht werden, führen dazu, dass die Gerichte sich überwiegend mit Fällen auseinandersetzen müssen, in denen Motive zur Verdeckung tatsächlich existierender Gefährdung in den Familien wirken. Hinzu kommt, dass die Einsehbarkeit des privaten Raums der Familie notwendig beschränkt ist. Im Ergebnis ist daher nicht anzunehmen, dass – selbst bei fachkundigem Vorgehen – in allen Fällen, in denen eine Gefährdung tatsächlich vorliegt, eine entsprechende Klärung erreicht werden kann. · Äquifinalität und Multifinalität: Da ein und dieselben Erlebnisse bei ver schiedenen Kindern zu unterschiedlichen Folgen führen können (Multi finalität) und ein und dasselbe Zustandsbild bei Kindern, von umschrieben en Ausnahmen abgesehen, verschiedene Ursachen haben kann (Äquifinalität), sind die Möglichkeiten des Rückschlusses von belasteter Ent wicklung auf Gefährdung beschränkt. Vielfach werden daher nicht immer beizubringende bewertbare Äußerungen eines Familienmitglieds oder wiederholte Beobachtungen familiärer Fürsorge benötigt, bevor eine hin reichende Sachverhaltsaufklärung erreicht werden kann. · Ethische sowie rechtliche Beschränkungen von Forschung zu Kindeswohl gefährdung und Vorgehensweisen bei der Sachverhaltsaufklärung: Schließlich strahlen ethisch notwendige Einschränkungen in der Forschung auf die Sachverhaltsaufklärung aus, da lückenhafte Kenntnisse – bspw. zu den Folgen früher Trennungen oder früher emotionaler Vernachlässigung – zu Bewertungsunsicherheiten beitragen. In den Gerichtsverfahren wiederum ergeben sich aus Achtung vor den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen Grenzen für die Sachverhaltsaufklärungen ohne Zustimmung. So können etwa Eltern nicht zur Teilnahme an einer psychiatrischen Begutachtung gezwungen werden. (BGH 17.02.2010, XII ZB 68/09.) 77 christian schrapper 4. Prägende Perspektiven der Beteiligten im Verfahren Schwierigkeiten der Verständigung über Wertungen im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung liegen nicht nur in der Komplexität der konzeptuellen Grundlagen. Schwierig ist oft auch, dass die Unterschiedlichkeit der Perspektiven der Beteiligten zum Tragen kommt, jedoch nicht immer bewusst zugänglich ist. Obwohl sich alle professionellen Beteiligten darin einig sind, dass Anlass und Ziel des Verfahrens nach § 1666 BGB der Schutz des Kindes ist, unterscheiden sich die Sicht- und Denkweisen der professionellen Beteiligten im familiengerichtlichen Verfahren nämlich erheblich voneinander. ·Die professionellen Helfer(innen) orientieren sich an der fachlichen Einschätzung des erforderlichen Maßes an Unterstützung für das Kind und seine Familie und (den Erfahrungen mit) der Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern, diese Unterstützung anzunehmen. Das schließt unterschiedliche fachliche Wertungen nicht aus. Das Verfahren wird angeregt, um einem Kind die notwendige Unterstützung und Schutz für seine Entwicklung zu ermöglichen. Als gelungen erscheinen ein Verfahren und eine Gerichtsentscheidung dann, wenn sie eine ausreichende Grundlage dafür bieten, dem Kind diese nach fachlicher Einschätzung notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. · Orientierungspunkt für das Gericht ist dagegen nicht in erster Linie die notwendige Unterstützung für das Kind. Richter(innen) orientieren sich in ihrer Verfahrensleitung an der Frage, ob ein Eingriff in Elternrechte in Frage kommt. Wenn ja, stellt sich die Frage nach dem – geringstmöglichen – Maß des Grundrechtseingriffs. Aus Richtersicht hängt das Gelingen eines gerichtlichen Verfahrens dabei in erster Linie von der juristischen Qualität der Entscheidung ab. Gelungen ist die Entscheidung über das Maß eines Sorgerechtseingriffs in einem Verfahren nach § 1666 BGB, wenn sie im juristischen Sinne „richtig“, also im Einklang mit Recht und Gesetz ergangen ist. Dazu gehören die richtige Anwendung der materiellen Vorschriften wie § 1666 BGB und der verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 152ff. FamFG. Fachlich „gut“ sind Verfahren und Entscheidung bereits dann, wenn sie sich als juristisch in Ergebnis und Argumentation als „vertretbar“, besser: „gut 78 im mittelpunkt und doch aus dem blick? vertretbar“ erweisen, auch wenn ein Großteil der Jurist(inn)en anders vorgegangen wäre und entschieden hätte. Es ist also gut möglich, dass eine Richterin einen Sorgerechtseingriff aus rechtlichen Gründen ablehnt, persönlich jedoch die damit verbundene Beendigung einer Inobhutnahme im Ergebnis als unbefriedigend empfindet. Ein anderer Richter wird die Entscheidung im Ergebnis aufgrund guter Begründung und verantwortungsvoller Führung des Verfahrens durch den Kollegen juristisch als „gut vertretbar“ akzeptieren, auch wenn er selbst anders entschieden hätte und die Entscheidung als Beschwerderichter ggf. abändern würde. Diese juristische Herangehensweise ist aus Sicht der professionellen Helfer(innen) nicht immer leicht zugänglich. Die Vorstellung, dass unterschiedliche Ergebnisse in einem Kinderschutzverfahren aus juristischer Sicht als ähnlich „gelungen“ gesehen werden könnten, erscheint bei erster Betrachtung möglicherweise „formal“ und aus fachlicher Sicht dem Kind und seiner Situation unangemessen. „Fremd“ ist jedoch nicht die Tatsache, dass es zu unterschiedlichen (juristischen) Wertungen kommen kann, denn auch in der Welt professioneller Helfer(innen) kommt es zu unterschiedlichen (fachlichen) Wertungen. „Fremd“ sind vielmehr die juristischen Erwägungen, die hinter der Entscheidung stehen. Aus juristischer und rechtsstaatlicher Sicht müssen sorgerechtliche Entscheidungen sich streng an der Eingriffsschwelle orientieren und verhältnismäßig sein. Nur wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und von den Eltern nicht abgewendet werden kann, ist ein staatlicher Eingriff in die grundgesetzlich verbrieften Elternrechte gerechtfertigt. Die Schwelle, die den Eingriff rechtfertigt, ist also im doppelten Sinne „negativ“ definiert. Zudem muss der Eingriff in die elterliche Sorge so gering wie möglich sein, um die Gefährdung des Kindeswohls abwenden zu können; er darf gar nicht erfolgen, wenn zwar unstrittig ein Hilfebedarf besteht, eine Gefährdung des Kindeswohls aber nicht vorliegt. Das ist die eine Seite. Da das familiengerichtliche Verfahren aber unter dem Primat des Kindeswohls als Leitmaxime steht, gilt es dennoch zu überlegen, wie im Verfahren 79 christian schrapper wieder Entwicklung in Richtung des Wohls des Kindes (nicht nur im Sinne der Abwendung der Gefährdung) in Gang kommen kann. Wenn ein Kind in seinem Wohl als gefährdet angesehen wird, muss es das Ziel sein, ihm zu ermöglichen, Entwicklungsschritte zu machen und auch nachzuholen. Die im Verfahren letztlich gefundene Lösung muss weitreichend genug sein, um Raum zu schaffen für Bedingungen und Hilfen, die in diesem Sinne notwendig sind. Das ist die andere Seite. Beide Seiten fallen durchaus nicht „automatisch“ zusammen. Vielmehr besteht hier ein Spannungsverhältnis, dessen sich die Beteiligten im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung bewusst sein müssen. So mag die Anordnung der Inanspruchnahme einer sozialpädagogischen Familienhilfe oder eines heilpädagogischen Horts (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB) ausreichend erscheinen, um der unmittelbaren Gefährdung eines Kindes durch Vernachlässigung zu begegnen. Im Hinblick auf bestehende Entwicklungsrückstände und -auffälligkeiten des Kindes wäre jedoch zu fragen, ob eine solche Auflage zu einer ausreichend stabilen Veränderung führt, die dem Kind eine nachholende Entwicklung und Überwindung von Schwierigkeiten erlaubt. Verständnis für diese Spannung zwischen Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Elternrechte und den notwendigen Voraussetzungen für eine gelingende Hilfe erleichtert den Diskurs und die Suche nach Lösungen zwischen den von juristischer Seite Beteiligten, den beteiligten professionellen Helfer(inne) n und den betroffenen Familienmitgliedern. Die Kommunikation in diesem Spannungsfeld ist anspruchsvoll, ihr Gelingen bemisst sich auch daran, ob es gelingt, dass die juristischen Wertungen an den fachlichen Wertungen anknüpfen können. 5. Klärungs- und Ergebnisorientierung als Dimensionen des Verfahrens Die Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Prozessorientierung wurde in der Ständigen Fachkonferenz 2 (SFK 2) auf dem Hintergrund einer Diskussion darüber entwickelt, was erfolgreiche, positive und wenig erfolgreiche, negative Beispiele familiengerichtlicher Verfahren bei Kindeswohlgefährdung 80 im mittelpunkt und doch aus dem blick? auszeichnet. Besprochen wurden Einzelfälle, die als besonders gelungen oder misslungen empfunden wurden. Zum einen wurden Konstellationen deutlich, in denen das familiengerichtliche Verfahren nach § 1666 BGB vor allem danach beurteilt wird, ob es sehr zügig zu klaren Ergebnissen geführt hat. Solche Fälle, in denen die Ergebnisorientierung des Verfahrens im Vordergrund steht, zeichnen sich dadurch aus, dass das Kind im Säuglingsoder Kleinkindalter ist; dem Kind schon etwas Belegbares passiert ist, also bspw. eine Misshandlungsfolge wie etwa ein Schütteltrauma vorliegt, es unter den beteiligten Fachkräften keine vernünftigen Zweifel oder erheblichen Unklarheiten darüber gibt, dass das Kind fremduntergebracht werden muss. Deutlich ist also, dass eine für das Kind im Säuglings- bzw. Kleinkindalter eindeutig negative Vorgeschichte, die bereits zu Schädigungen geführt hat, die Formulierung klarer Erwartungen an das Verfahren bei Kindeswohlgefährdung und klarer Kriterien für das Gelingen des weiteren Fallverlaufs begünstigt. In anderen Fällen liegen jedoch zu Beginn des Verfahrens Konstellationen vor, in denen vieles unklar erscheint. Unklarheiten und/oder unterschiedliche Einschätzungen können sowohl hinsichtlich der Einschätzung der gegenwärtigen Belastungen des Kindes als auch – und noch viel mehr – hinsichtlich einer Prognose bestehen. Auch die Erfolgschancen möglicher Hilfen und die Belastungen durch eine Trennung von der Familie werden häufig sehr unterschiedlich beurteilt. Schließlich gibt es nicht selten verschiedene Einschätzungen der (künftigen) Erziehungsfähigkeit oder Kooperationsbereitschaft der Eltern. In solchen Fällen steht nicht ein möglichst zügiges Verfahren und schnelles Ergebnis im Vordergrund, sondern die Initiierung und Ermöglichung eines Klärungsprozesses durch und während des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung; die fundierte Auswertung der in diesem Prozess erworbenen Erfahrungen durch die Beteiligten; die Anschlussfähigkeit des familiengerichtlichen Beschlusses an die Auswertungen des Klärungsprozesses. Zusammenfassend kann gesagt werden: Bei einer hohen Ergebnisorientierung gehen die beteiligten Professionellen davon aus, dass das angemessene und wünschenswerte Ergebnis des 81 christian schrapper Verfahrens zumindest der Richtung nach schon vor dessen Beginn feststeht, in jedem Fall aber rasch eine klare Entscheidung für das Kind getroffen werden sollte. Das familiengerichtliche Verfahren nach § 1666 BGB wird als Mittel zum Zweck betrachtet, alles, was den Ablauf verzögert, wird als Hindernis für eine angemessene und tragfähige Perspektive des Kindes gesehen. Bei einer hohen Prozessorientierung wird das familiengerichtliche Verfahren bei Kindeswohlgefährdung dagegen als Chance für die Qualifizierung der Einschätzung und die Entwicklung von möglichst geteilten Perspektiven oder die Erprobung von Lösungsansätzen betrachtet. Nicht selten wird von der Autorität des Richters / der Richterin bzw. dem Druck, der von einem Gerichtsverfahren ausgeht, auch eine Klärung der Kooperationsbereitschaft der Herkunftsfamilie erwartet. Fälle mit geringer Prozessorientierung und geringer Ergebnisorientierung sind eindeutig negativ zu bewerten. Entsprechend wäre zu fragen, welche Bedingungen geeignet sind, solche Verfahrensabläufe weniger wahrscheinlich zu machen. Eindeutig positiv zu sehen sind solche Verfahren, in denen die Akteure sich einerseits erfolgreich um Klärung bemühen und diese dann, andererseits, einem klaren Ergebnis dient, insbesondere wenn die Verfahrensdauer den Notwendigkeiten des Falls angemessen erscheint. Hier ist zu fragen, unter welchen Bedingungen ein solcher Verfahrensablauf wahrscheinlicher wird. Nicht immer sind sich die am Verfahren Beteiligten einig darüber, ob und wann Ergebnis- oder Prozessorientierung im Verfahrens im Vordergrund stehen sollen bzw. wie beide Orientierungen gut miteinander verbunden werden können. Mit Blick auf das Kind ist zu empfehlen, dass die beteiligten Professionellen einzeln und gemeinsam reflektieren, welche Vor- und Nachteile für das Kind mit einer Orientierung auf ein schnelles Ergebnis versus einer vertieften Klärung verbunden sind: · Verfahrensführung und -ablauf im Hinblick auf die genannten Dimensionen sollten nicht zufällig erfolgen (etwa Verzögerung durch lange Begutachtungszeiten) oder den jeweiligen Vorlieben der Beteiligten folgen, sondern auf die Situation des Kindes abgestimmt sein. 82 im mittelpunkt und doch aus dem blick? · Einer Weiterentwicklung familiengerichtlicher Verfahren bei Kindeswohlgefährdung ist es dienlich, wenn darüber kommuniziert wird, wie familiengerichtliche Entscheidungen an Klärungsprozesse Anschluss finden können. Diese Diskussion sollte nicht nur am einzelnen Fall, sondern auch fallübergreifend geführt werden. 6. Zum Verständnis der Komplexität, Kindern im familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB gerecht zu werden Es erscheint immer wieder verwunderlich, wie schwierig es ist, in Verfahren, in denen es zentral um das Kind geht, eben dieses Kind gut im Blick zu behalten. Fachkräfte der Jugendhilfe und Jurist(inn)en an den Familiengerichten sind sich darüber einig, dass Kinder immer wieder in den Hintergrund geraten, wenn Erwachsene sich (über sie) streiten. Welche grundsätzlichen Einsichten über Kinder und Kindheit sind bedeutsam, denen sich die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB bewusst sein müssen? Diese hier skizzierten Hintergrundüberlegungen machen deutlich, wie komplex es ist, ein vertieftes Verständnis für die (potenzielle künftige) Situation eines Kindes und Möglichkeiten des Schutzes und der Unterstützung zu bekommen. (1) Kinder sind Menschen in Entwicklung Kinder werden als vollwertige Menschen geboren und müssen doch erst zu selbstverantwortlichen Menschen heranwachsen. Dieses Paradox unserer modernen Auffassung von Kindheit prägt wesentlich die Ideen und Konzepte über diese Lebensphase menschlicher Reifung und Entwicklung, Sozialisation und Erziehung. Medizin, Psychologie und Pädagogik haben umfangreiche Daten gesammelt, um Entwicklungsprozesse, -einflüsse und -kontexte zu beschreiben, und Theorien entworfen, um die Befunde zu ordnen. Beispielhaft für relevante Theorien zu nennen wären etwa im Anschluss an Charles Darwin formulierte Konzepte der Entwicklungsbiologie und Entwicklungsneurophysiologie, die davon ausgehen, dass Kinder mit Anpassungen und Anpassungsfähigkeiten bezüglich einer evolutionär „erwarteten“ Umwelt geboren werden, diese Anpassungsfähigkeit aber auch Grenzen kennt. Ebenso anzuführen wären ökologische Theorien, die auf Urie 83 christian schrapper Bronfenbrenner zurückgehen und die grundlegende Einsicht formulieren, dass sich kindliche Entwicklung in verschiedenen Lebensfeldern (z. B. Familie und Schule) vollzieht, die zudem in übergeordnete soziale Strukturen eingebettet sind. Grundlegende Lern- und Entwicklungstheorien, etwa von Hans Aebli, besagen weiterhin, dass Lernen auf sehr unterschiedlichen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Bereichen geschieht. Lernen kann schrittweise erfolgen, aber auch qualitative Veränderungen beinhalten, etwa im Hinblick auf das Zeitempfinden. Frühe Erfahrungen stellen in manchen Fällen Weichen für bestimmte Entwicklungspfade, von denen später nur noch schwer abgewichen werden kann. Schließlich betonen Theorien zu Entwicklungsaufgaben, etwa nach Robert J. Havighurst, dass die Entwicklung von Kindern auf die Auseinandersetzung mit aufeinander aufbauenden Herausforderungen hin organisiert ist. Diese Entwicklungsaufgaben strukturieren Entwicklung und erlauben Vergleiche. Teilweise sind sie kulturabhängig (z. B. existieren Schulen und damit der Meilenstein der Bewältigung von Schule nicht in allen Kulturen), zumindest aber kulturell überformt. Die Rechtsordnung in Deutschland unterscheidet zwischen dem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl von Kindern und nimmt damit diese drei Dimensionen als Entwicklungsbereiche wahr, in denen jeweils Gefährdungen auftreten können. Im Hinblick auf Entwicklungsziele werden wenige, aber grundlegende Vorgaben gemacht, wonach sich Kinder im Rahmen ihrer Anlagen zu gemeinschaftsfähigen und zu Eigenständigkeit befähigten Menschen entwickeln können sollen. Gemeinschaftsfähigkeit und Eigenständigkeit als Entwicklungsziele beinhalten notwendig die Vermittlung von Beziehungsfähigkeiten, sozialen Werten, nutzbaren Fertigkeiten und die Bereitschaft zu Eigenverantwortung. Zur Gestaltung von elterlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Kindern formuliert das Recht den Appell, Kinder ohne körperliche und seelische Gewalt zu erziehen (§ 1631 Abs. 2 BGB), und legt fest, dass Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend an sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden müssen (§ 1626 Abs. 2 BGB). Zudem wird bestimmt, dass Eltern ihren Entwicklungseinfluss mit der Schule als einer für die soziale Integration und die Verteilung von Lebenschancen wichtigen Institution teilen müssen. Im Rahmen dieser Festlegungen ist das 84 im mittelpunkt und doch aus dem blick? Recht prinzipiell offen für neue Erkenntnisse darüber, welche Bedürfnisse Kinder haben und wie sich ein hierauf bezogenes Tun oder Unterlassen der Eltern auswirkt. (2) Kinder bedürfen der Fürsorge und des Schutzes sowie der Förderung und Erziehung durch Erwachsene, haben aber ebenso Anspruch auf Freiraum und Respekt für ihre Eigenständigkeit Kindliche Bedürfnisse nach Pflege und Versorgung, nach Bindung sowie nach Erziehung und Förderung werden in unserer Gesellschaft wesentlich in Familien erfüllt bzw. durch (soziale) Eltern mitorganisiert und begleitet. Manche Bedürfnisse können außerhalb der familiären Lebensverhältnisse mit ihren überdauernden Beziehungen zwischen Generationen befriedigt werden. Während dies bei Bindungsbedürfnissen kaum gelingt, erfolgt die Förderung von Kindern zu erheblichen Teilen außerhalb von Familien. Trotzdem sind familiäre Einflüsse auch hier mit Abstand für Unterschiede zwischen Kindern am wichtigsten. Staatliche Versuche, im Einzelfall die Erfüllung kindlicher Bedürfnisse außerhalb der Herkunftsfamilie zu organisieren, bergen die Gefahr, Kinder sozial auszuschließen oder auch von ihrem Selbstverständnis her negativ zu beeinflussen. Aufgrund von Unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen in Erfahrung, Einsicht, Handlungsfähigkeit und Stärke weisen Beziehungen zwischen Kindern und Fürsorge- bzw. Erziehungspersonen stets Machtungleichgewichte auf. Ganz überwiegend nutzen Eltern ihre Macht positiv im Interesse ihrer Kinder, jedoch ist die Möglichkeit eines Machtmissbrauchs dieser Beziehungsstruktur inhärent. Das Ausmaß, in dem Kinder selbstschutzfähig sind, notfalls also auch selbst Hilfe für sich holen können, und in dem Kinder reflexionsfähig sind, also über die Qualität der Fürsorge durch ihre Eltern nachdenken können, sind zwei Aspekte, die in Gefährdungsfällen mit darüber entscheiden, welche Interventionen als verhältnismäßig angesehen werden können. Trotz des Machtungleichgewichts gegenüber Erwachsenen sind Kinder nicht einfach passive Empfänger von Fürsorge. Vielmehr prägen sie mit ihren Merkmalen auch ihre Eltern (Bidirektionalität der Einflüsse). Darüber 85 christian schrapper hinaus sind Kinder „aktive Akteure“, d. h. sie gehen etwa Bindungen ein und verarbeiten Erfahrungen, indem sie lernen und sich anpassen. Auch Kinder mit Erfahrungen von Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch binden sich an ihre Bezugspersonen und suchen, unter den ungünstigen Bedingungen ihrer Familie, nach Wegen, um ein größtmögliches Ausmaß an guter Fürsorge und emotionaler Geborgenheit bei ihren Bezugspersonen auszulösen. Zudem nutzen Kinder ihre Erfahrungen, um im Rahmen ihrer Verständnismöglichkeiten Fragen und Angebote Dritter (z. B. des Gerichts) zu deuten und darauf zu reagieren. (3) Kinder und Kindheit sind Projektionsflächen vielfältiger und auch widersprüchlicher Erwartungen Neben den skizzierten wissenschaftlichen Konzepten sind wirksame Bilder von Kindern und Kindheit im Alltag – auch im Gerichtssaal – durch romantische und mythologische Vorstellungen über Kindheit und Jugendlichkeit geprägt: Kinder und Kindheit erscheinen als noch ursprünglich, rein, unverfälscht – „Kinder und Betrunkene reden die Wahrheit“ – noch nicht verdorben und lösen Impulse von Schutz und Bewahrung aus. Was physiologisch mit dem Kindchenschema erklärt werden kann, hat auch historische und kulturelle Wurzeln: Die rasanten Veränderungen, die komplexen und komplizierten Realitäten des modernen Menschen scheinen in der Kindheit noch auf einen heilen Ursprung zurück-geführt werden zu können. Gelänge es, diesen zu finden und zu bewahren, hätten wir eine Chance, wieder heile zu werden: „... und werdet wie die Kinder“. Wie nah allerdings Verklärung und Verachtung beieinander liegen, zeigt semantisch das Begriffspaar „kindlich“ und „kindisch“. Mehr noch sind Jugend und Jugendlichkeit ambivalent aufgeladene Begriffe – Jugendlichkeit als Ideal für äußere Erscheinung und innere Haltung bis ins hohe Alter – aber auch negative Assoziationen und Konnotationen treten deutlich zu Tage: So klagt jede ältere Generation über die Faulheit und Unbotmäßigkeit der Jugend. Kindheit und Jugend stellen damit Projektionsflächen zur Verfügung für gesellschaftliche Widersprüche und Wandlungsprozesse, soziale Hoffnungen und persönliche Erfahrungen ebenso wie für individuelle und kollektive Träume und Ängste. 86 im mittelpunkt und doch aus dem blick? Auch die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren bei möglicher Kindeswohlgefährdung stehen stets in der Gefahr, dass Bilder von Kindern und Kindheit, guter Elternschaft und von Gefährdung, Eindrücke von den im Fall konkret vorhandenen Personen und ihren Handlungen bzw. Erfahrungen überlagern. Die Fülle der Fälle und die kurzen Kontakte, etwa im Rahmen der Kindesanhörung, können es schwermachen, eigene Projektionen kritisch zu hinterfragen. Projektionen können etwa in der Form auftreten, dass aus dem Eindruck, den Kinder machen, vorschnell auf die Ernsthaftigkeit von Gefährdungserfahrungen geschlossen wird oder sichtbare Spuren von Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch ernster genommen werden als psychische Folgen. Da es sich bei der Eindrucksbildung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Bilder um einen unwillkürlichen Prozess handelt, heißt die Aufgabe nicht, sie auszublenden, sondern den eigenen Eindruck an belastbaren Informationen zum Fall zu reflektieren und zu kontrollieren. Fazit dieser Überlegungen für die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung kann zunächst nur sein, sich über die Schwierigkeiten, Vieldeutigkeiten und auch Widersprüche, die bei der Einschätzung von Kindern und ihrer Situation eine Rolle spielen, bewusst zu werden und zu sein. Es gilt vor diesem Hintergrund, · den Blick auf die Entwicklung des Kindes zu richten: Was ist nötig, um zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in der Zukunft Entwicklungsprozesse zu ermöglichen oder zu erleichtern? Welches Handeln oder Unterlassen im Verantwortungsbereich der Eltern und welche Voraussetzungen bei den beteiligten Institutionen lassen befürchten, dass Entwicklungsmöglichkeiten verstellt oder behindert werden? · Es gilt, die Fürsorgebedürfnisse von Kindern wahrzunehmen und klar zu benennen und gleichzeitig das Kind als eigenständigen Akteur ernst zu nehmen. Nicht immer „funktionieren“ fürsorgliche Vorstellungen der Erwachsenen. Das Kind profitiert nur von der Fürsorge, die es annehmen und sich aktiv aneignen kann. · Und schließlich müssen scheinbare Gewissheiten über das Kind, über sein Wohl und mögliche Gefährdungen (immer wieder) überprüft werden. 87 christian schrapper Es ist wichtig, sich über eigene Bilder und Wertungen klar zu werden und gegenteilige Einschätzungen sorgfältig auf ihren konstruktiven Gehalt zu prüfen. 7. Das Kind in den Blick nehmen: Anforderungen an die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB In Verfahren bei möglicher Kindeswohlgefährdung können sehr verschiedene Unsicherheiten auftreten: ·Welche Erfahrungen hat ein Kind mit den Eltern bislang tatsächlich gemacht, und welche weitere Versorgung und Erziehung des Kindes durch die Eltern ist zu erwarten? ·Wie sind die Erfahrungen des Kindes mit den Eltern und die zu erwartende weitere Fürsorge im Hinblick auf die Gefährdungsschwelle zu bewerten? ·Welche Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit zeigen die Eltern, und welche Art des Eingriffs wäre ggf. noch als verhältnismäßig zu bewerten? ·Wie kann das Verfahren so gestaltet werden, dass es dem Kindeswohl dient, es jedenfalls nicht zusätzlich gefährdet? Aus dem Ziel, das Kind zentral in den Blick zu nehmen, ergeben sich Forderungen nach sehr konkretem und genauem Hinschauen, die in fünf Leitsätzen vorgestellt werden sollen: (1.) Das Kind als konkretes Kind mit seinen Erfahrungen und Reaktionen in den Blick nehmen Im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung müssen die konkreten Erfahrungen und Reaktionen des Kindes erforscht und dargelegt werden. Die meisten Verfahren nach § 1666 BGB betreffen Kinder, die mit ihren Eltern gelebt und mit ihnen Erfahrungen gemacht haben. Befunde zur Lebenssituation der Eltern, ihrer Art und Weise des Auftretens gegenüber Jugendamt und Gericht sowie ihrer psychischen Verfassung sind aber nur relevant, insoweit sie sich konkret auf die Fürsorge und Erziehung des Kindes beziehen lassen. Vor allem Befunde zu evtl. psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen sind häufig sehr 88 im mittelpunkt und doch aus dem blick? wichtige Hintergrundinformationen, bspw. im Hinblick auf erforderliche Behandlungsangebote. Jedoch ersetzen solche Informationen nicht die genaue Recherche, welche Fürsorge und Erziehung betroffene Kinder tatsächlich bislang erfahren haben. Da sich Eltern mit ein und derselben Diagnose in ihrer Erziehungsfähigkeit sehr unterscheiden, stärkt die Konzentration auf die tatsächlichen Erfahrungen mit Fürsorge und Erziehung die Orientierung am konkret vorhandenen Kind. Ist es im Rahmen der Betreuung und Erziehung durch die Sorgeberechtigten zu Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch gekommen, so reagieren Kinder hierauf sehr unterschiedlich. In einem Teil der Fälle zeigen sich Folgen, die geeignet sind, die Lebenswege betroffener Kinder nachhaltig zu beeinflussen, wie etwa Entwicklungsverzögerungen oder Posttraumatische Belastungsstörungen. Eine in manchen Fällen festzustellende Verengung im Verfahren auf die Verhinderung gravierender einzelner Schädigungsereignisse stellt insofern nicht das Kind in den Mittelpunkt, da sie wesentlich häufigere und zudem erhebliche Schädigungen aufgrund chronischer, sich allmählich aufbauender Belastungen übersieht. Es herrschen vielfach große Unsicherheiten, wie chronische Schädigungsprozesse ohne lebensbedrohliche Einzelereignisse von bloß ungünstigen familiären Lebensumständen abzugrenzen sind. Auch hier ist es notwendig, die Reaktionen des Kindes genau in den Blick zu nehmen, ggf. mit diagnostischer und gutachterlicher Unterstützung. (2.) Das Kind mit den Möglichkeiten und Grenzen seiner Äußerungsfähigkeit in den Blick nehmen Mit dem in § 8a SGB VIII geforderten Einbezug betroffener Kinder in Prozesse der Gefährdungseinschätzung, mit der Einführung der Verfahrensbeistandschaft sowie mit der Rechtsprechung zur Anhörung von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB wurden in Deutschland wichtige Voraussetzungen geschaffen, um den geäußerten Perspektiven von Kindern mehr Beachtung schenken zu können. Es stellt sich die Aufgabe, die Beteiligung von Kindern so auszugestalten, dass diese gehört werden, sich gehört fühlen und sich einbringen können. Dazu gehört auch die sorgfältige Dokumentation von und Auseinandersetzung mit Äußerungen der Kinder. 89 christian schrapper Die bisherige Umsetzung der Beteiligung von Kindern ist häufig noch unzureichend und enttäuschend. Sie ist zunächst einmal enttäuschend, weil sich in vielen Verfahren nach wie vor keine oder nur banale Aufzeichnungen zu Gesprächen mit Kindern finden, die darüber hinaus im weiteren Verlauf auch keinerlei Rolle spielen. Enttäuschend ist die Situation aber auch deshalb, weil Gesprächsansätze im Kinderschutzverfahren häufig bei Äußerungen von Kindern zu einer Fremdunterbringung und zu im Raum stehenden gravierenden Gefährdungsereignissen im Rahmen kurzer Konversationen stehen bleiben. Damit jedoch wird auf der einen Seite die Situation von Kindern, die häufig in ihrem bisherigen Leben wenig Anlass zu Vertrauen gegenüber Erwachsenen hatten, auf schwer nachvollziehbare Weise ignoriert. Ihnen wird zugemutet, mit einer weitgehend fremden Person über ebenfalls weitgehend unbekannte oder von negativen Stereotypen überlagerte Hilfemöglichkeiten zu sprechen. Auf der anderen Seite kommt die für die Interpretation kindlicher Willensäußerungen notwendige Ebene des erlebten Familienalltags und der Bilder des Kindes von Fürsorge, Versorgung und Zugehörigkeit häufig nur unzureichend ins Spiel, sodass kindliche Angaben im Verfahren oft schon deshalb wenig Beachtung finden, weil große Unsicherheiten bezüglich der Interpretation bestehen oder sogar unreflektiert von notwendig verzerrten Angaben ausgegangen wird. Allerdings ist die derzeit hochgradig unbefriedigende Situation schwerlich der Fachbasis vorzuwerfen, die kaum Angebote und Möglichkeiten entsprechender Fortbildung hat und der zudem von den beteiligten Fachwissenschaften auch wenig verwertbare Befunde für eine bessere Praxis sowie Wertschätzung für das Fachthema „Gespräche mit Kindern im Kinderschutz” vermittelt werden. Mit dem Erstarken des Stellenwerts von Kinderrechten verbindet sich der Anspruch, die Perspektiven von Kindern auf ihre eigene Situation stärker zu berücksichtigen und Kinder nicht einfach als Objekte von (an sich häufig vernünftigen) Experteneinschätzungen zu begreifen. Diese Entwicklung ist prinzipiell geeignet, doppelten Ohnmachtserfahrungen von Kindern – erst in der Familie, dann im familiengerichtlichen Verfahren – entgegenzuwirken. Allerdings bedürfen Äußerungen von Kindern stets der Interpretation, damit Kindern nicht unangemessen Verantwortung zugeschoben wird und sie in 90 im mittelpunkt und doch aus dem blick? ihrer kommunikativen Kompetenz überfordert werden. Angeregt wird in Verfahren nach § 1666 BGB, regelhaft nach der Anhörung des Kindes schriftlich protokollierte Auseinandersetzungen von Verfahrensbeistand, Jugendamt und ggf. Sachverständigen zu den Äußerungen des Kindes einzufordern und zur Akte zu nehmen, um Gerichte bei der Interpretation kindlicher Äußerungen zu unterstützen. (3.) Das Kind als Kind seiner Eltern in den Blick nehmen Ist eine (zeitweise) Fremdunterbringung unumgänglich und nur durch einen teilweisen Sorgerechtsentzug umsetzbar, so behalten die bisherigen Bezugspersonen in der inneren Welt des Kindes, zumindest zunächst, ihre Bedeutung. Wenn diese, auch nach einem Sorgerechtsentzug, dafür gewonnen werden können, die ergriffenen Maßnahmen gegenüber dem Kind mitzutragen, erleichtert dies Kindern i. d. R. die Anpassung an die neue Situation. Auch bei erfüllten Tatbestandsmerkmalen für einen Eingriff nach § 1666 BGB muss daher wenigstens versucht werden, die bisherigen Sorgeberechtigten ins Boot zu holen. Mitgefühl für Eltern, die am grundlegenden Wunsch gescheitert sind, das Beste für ihre Kinder zu erreichen, kann dabei eine Rolle spielen und steht dem vorrangigen Schutz des Kindes nicht entgegen, sondern dient ihm. Von großer Bedeutung kann aber auch eine klare und einfache Sprache des Gerichts sein. Es ist zu überlegen, ob Eltern in Kinderschutzfällen kostenlos eine Vermittlung von Urteilen in einfacher Sprache erbitten können sollten, da diese Anforderung von juristischen Fachkräften häufig als berufsfremd empfunden wird. Das prinzipiell akzeptierte Ziel einer vorrangigen Wiederherstellung der elterlichen Erziehungsfähigkeit steht praktisch vor den Schwierigkeiten, dass Eltern manchmal keine Orientierung dazu erhalten, welche Schritte vor einem Rückführungsversuch von ihnen erwartet werden. Viele Eltern erhalten zudem während einer andauernden Fremdunterbringung keine Hilfen zur Erziehung mit dem Ziel einer Wiederherstellung der elterlichen Erziehungsfähigkeit. Die rechtliche Grundlage dafür ist in § 37 Abs. 1 S. 2, 3 SGB VIII gegeben, in der Praxis werden jedoch häufig keine Ressourcen für diese Hilfen bereitgestellt. Vonseiten der Gerichte könnte hier überlegt werden, bei Überprüfungen der Notwendigkeit eines fortbestehenden 91 christian schrapper Sorgerechtsentzugs nach § 1696 BGB regelmäßig Vormund und Eltern um Auskunft zu bitten, welche Informationen zu Hürden gegeben wurden, die vor einer Rückführung überwunden werden müssen, und welche konkreten Hilfen zur Erziehung zur Widerherstellung der Erziehungsfähigkeit angeboten wurden. Da Kinder die Kinder ihrer Eltern sind, besteht ein Zusammenhang zwischen Kindeswohl und Familienwohl. Selbst wenn Kinder im Ergebnis nicht bei ihren Eltern leben können, hilft das entschiedene Bemühen um die Aufrechterhaltung der Familie doch, um – im Fall des Scheiterns – die dann neue Perspektive des Kindes außerhalb der Familie absichern zu können und für das Kind akzeptabel zu machen. (4.) Das Kind mit seinem Bedürfnis nach Klärung und Perspektive in den Blick nehmen Das Bedürfnis von Kindern, die Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erleben mussten, nach Klärung ihrer Lebensperspektive verlangt eine Weiterentwicklung der rechtlichen Situation. Es ist ein Weg dafür zu suchen, die Bedeutung dauerhafter Perspektiven für Kinder nach Gefährdung anzuerkennen und rechtlich höher zu gewichten. Für die Praxis stellt sich nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen die Herausforderung, so schnell wie möglich nach dauerhaft tragfähigen Lösungen zu suchen und Umplatzierungen noch weitgehender zu vermeiden. Im familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB wird geprüft, ob anstelle der bisherigen Sorgerechtsinhaber eine andere Person die rechtliche Verantwortung für ein Kind übernehmen muss bzw. welche anderen familiengerichtlichen Maßnahmen zur Abwehr bestehender Gefahren erforderlich und geeignet sind. Eine langfristige Klärung der Perspektive für das Kind steht zu diesem Zeitpunkt nicht im Vordergrund. Vielmehr sind sorgerechtliche Maßnahmen des Gerichts so schnell wie möglich wieder aufzuheben, und das Kind ist ggf. zurückzuführen. Selbst bei der längeren Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie, die ihrerseits unter dem Schutz des Grundgesetzes steht, gibt es im Familienrecht keine konfliktunabhängige Möglichkeit, Kindern eine dauerhafte Perspektive aufzuzeigen. Allenfalls kann nach § 1632 Abs. 4 BGB ein zur Unzeit erfolgender Rückführungsanspruch abgelehnt werden. Jedoch hat die Rechtsprechung klar herausgearbeitet, dass es hier nicht um eine Entscheidung über den dauerhaften 92 im mittelpunkt und doch aus dem blick? Verbleib eines Kindes in der Pflegefamilie gehen kann. Es ist daher festzustellen, dass in Kinderschutzverfahren in Deutschland die Anerkennung der Bedeutung einer kontinuierlichen Lebensperspektive für Kinder nur schwach abgebildet und abgesichert ist, wenn diese außerhalb der Herkunftsfamilie liegt. Zwar ist die Situation im Jugendhilferecht anders (§ 37 SGB VIII) und dortige Klärungen können indirekt Bedeutung gewinnen, wenn über Beratung ein – nachhaltiges – Einverständnis aller Beteiligten erreicht wurde. Kommt ein solches Beratungsergebnis jedoch nicht zustande, ist die Festlegung des Jugendamts zur Perspektive der Fremdunterbringung für das Familiengericht weitgehend ohne Belang. Im Ergebnis kann es daher sein, dass Kinder innerlich jahrelang große Unsicherheiten bezüglich ihres Verbleibs aushalten müssen, ebenso wie manche Eltern verführt werden, einen im Ergebnis aussichtslosen Kampf ums Kind fortzusetzen. Insoweit die erste ethische Verpflichtung von Fachkräften aller Berufsgruppen darin besteht, nicht durch eigenes Handeln jemandem ohne rechtfertigenden Grund zu schaden, ist hier eine große Herausforderung entstanden. Es stellt sich die Frage, ob eine radikale Beschleunigung der gerichtlichen und Platzierungsverfahren möglich ist oder ob das System der Bereitschaftspflege oder anderer Interimslösungen für manche Fälle aufgegeben werden muss. Auf einer übergeordneten Reflexionsebene könnte sich an dieser Problematik auch einiges über Gefahren der Selbsttäuschung lernen lassen, wenn Hilfesysteme mit positiven Zielen, aber unabhängig von empirischer Forschung entwickelt werden. Auf der Einzelfallebene sind Verfahrensbeistände und Jugendämter zu ermutigen, mehr als bisher in der Verfahrensdauer wurzelnde Belastungen von Kindern an die Gerichte heranzutragen. (5.) Das Kind als Nutzer und Ko-Nutzer von öffentlichen Angeboten in den Blick nehmen Zu einer Weiterentwicklung des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung gehört es auch, wissenschaftliche Erkenntnisse, die Grundlagen für Entscheidungen bilden können, zu gewinnen. Dazu gehört 93 christian schrapper Forschung zu den Wirkungen von Hilfen zur Erziehung, insbesondere auch dazu, wie sich die (an die Eltern gerichteten) Hilfen auf die Kinder und ihre Entwicklung auswirken. Auch für „Nutzer(innen)“, Sorgeberechtigte und Kinder wäre es ein großer Fortschritt, würden sie über die Wirkungen und Erfolgswahrscheinlichkeiten von Hilfen informiert. Kinder, die durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch belastet oder verletzt wurden, haben ebenso wie Eltern mit Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit Anrecht auf öffentliche Unterstützungsangebote. Bislang normiert das Jugendhilferecht nur Beteiligungsrechte von Eltern und Kindern bei der Festlegung von Hilfezielen und der Auswahl von Hilfen. Als Nutzer bzw. Ko-Nutzer, die vermittelt durch ihre Bezugspersonen profitieren sollen, gehen „Konsumentenrechte“ von Kindern in diesem grundrechtsnahen Bereich aber noch weiter, wenn auch nur in ethischer Hinsicht. Obwohl kaum gesicherte Erkenntnisse über die Wirkungen der folgenreichen staatlichen Interventionen in das Leben von Kindern und Eltern vorliegen, werden diese gerne auf ihre Rolle als Koproduzenten der Wirkung von Hilfen verwiesen. Das ist nicht verkehrt, entlässt aber Anbieter, Jugendhilfeplanung und politisch Verantwortlich in ungebührlich starkem Maß aus der Verantwortung für die Weiterentwicklung wirksamerer Hilfekonzepte. Ebenso fehlt es in der Regelpraxis des Kinderschutzes bisher an in Modellprojekten zum Thema „Aus Fehlern lernen“ entwickelten Ansätzen, um aus fehlgelaufenen Fällen wenigstens rückblickend Lehren zu ziehen. Das hier grundsätzlich angesprochene Problem schwacher Nutzerrechte kann nicht von einzelnen, i. d. R. hochengagierten Fachkräften oder einzelnen Gebietskörperschaften bzw Trägern gelöst werden. Hier sind Weiterentwicklungen in der Forschung und der Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis unumgänglich, wenn nicht Bemühungen in der Rechtsprechung, das Wohl von Kindern stärker in den Mittelpunkt zu rücken, teilweise ins Leere laufen sollen. Kinder in den Blick zu nehmen und entsprechende kindgerechte Entscheidungen zu fällen, bedeutet eben auch, sich soweit möglich auf Wissensbestände stützen zu können und nicht nur auf persönliche Erfahrungen und Merksätze. 94 im mittelpunkt und doch aus dem blick? 8. Was ist zu tun? Hinweise für eine Weiterentwicklung und Qualifizierung familiengerichtlicher Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, die „das Kind“ in den Mittelpunkt rücken Wie kann ein Verfahren bei Kindeswohlgefährdung vor dem Familiengericht so gestaltet werden, dass sowohl möglichst objektiv über Kindeswohlgefährdungen und ihre Abwendung verhandelt und entschieden wird, als auch die Kinder und Jugendlichen in ihrer Subjektivität verstanden, berücksichtigt und beteiligt werden? Zu dieser zentralen Herausforderung sollen abschließend fünf grundlegende Aspekte zur Weiterentwicklung und Qualifizierung familiengerichtlicher Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung herausgestellt werden. · Basis für die Weiterentwicklung des familiengerichtlichen Verfahrens nach § 1666 BGB ist die Auseinandersetzung mit seinen rechtlichen Grundlagen. Verletzungen kindlicher Grundrechte im Verantwortungsbereich der Eltern können Eingriffe des Staats in die Eltern-Kind-Beziehung und damit die elterlichen Grundrechte legitimieren. Die Akteurinnen und Akteure aus Jugendhilfe und Gesundheit müssen sich immer wieder die schwer wiegende Bedeutung von staatlichen Eingriffen in die verfassungsgemäßen Grundrechte von Eltern und das Eltern-Kind-Verhältnis in den Blick zurückholen, während die Akteure aus Justiz und Gericht sich vergegenwärtigen müssen, dass mit ihren Entscheidungen auch im Sinne der Grundrechte der Kinder auf Würde und Entwicklung (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) positive Perspektiven für diese eröffnet werden müssen. · Kinder sind in diesen Verfahren Anlass und „Gegenstand“ der gerichtlichen Auseinandersetzung. Über ihr (zukünftiges) Leben wird entschieden. Sie sind daher strukturell und konkret – nach Alter und Erfahrung – in der schwächsten Position. Das gilt sowohl in Bezug auf ihre Eltern als auch auf die professionellen Verfahrensbeteiligten. Eine Praxis, die darauf zielt, dieses „strukturelle Manko“ durch eine bewusste und geeignete Verfahrensgestaltung auszugleichen, erfordert erhebliche Anstrengungen von den professionellen Beteiligten. Das Kind bewusst in den Blick zu nehmen, ist keine „Kleinigkeit“. Die Anstrengungen werden sich zum einen auf die konkrete Gestaltung des Verfahrens richten müssen, 95 christian schrapper · · 96 um zu sichern, dass Kinder gehört werden und sich gehört fühlen. Zum anderen geht es auch darum, die Anschlussfähigkeit der fachlichen Berichte und Anregungen an das materielle Recht sicherzustellen. Das Kind muss in seinen Erfahrungen, Reaktionen und Perspektiven präzise in den Blick genommen werden, Gefährdungen und begründete Maßnahmen zu deren Abwendung konkret benannt sowie eine präzise Vorstellung entwickelt werden, wie diese Maßnahmen eine positive Entwicklung des Kindes (wieder) ermöglichen können. Kinder haben den Anspruch und das Recht, in Verfahren, die so zentral ihre aktuelle Lebenssituation und ihre zukünftigen Lebenschancen betreffen, „im Mittelpunkt zu stehen“, allerdings so, dass sie nicht neuerlich geschädigt werden. Eine Weiterentwicklung des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung in diesem Sinne erfordert, dass Verfahrensführung und -ablauf auf die Situation, Bedarfe und Bedürfnisse des Kindes abgestimmt werden und nicht zufällig erfolgen (etwa Verzögerung durch lange Begutachtungszeiten) oder den jeweiligen Vorlieben und Gewohnheiten der Beteiligten folgen. Voraussetzung dafür ist, dass die professionellen Akteure in Justiz und Jugendhilfe Kriterien dafür entwickeln, was ein Verfahren allgemein und für ein konkretes Kind „leisten“ muss, um als gelungen bewertet zu werden. Die Gewichtung von Ergebnisorientierung und Zügigkeit oder Prozessorientierung und genaues Erforschen der Situation kann als ein erstes solches Kriterium genannt werden. Kinder „in den Blick zu nehmen“ erfordert von den professionellen Akteuren auch und vor allem, ihren „Blick“ zu schulen und zu reflektieren, um der immer erheblichen Gefahr zu begegnen, nur „das Kind“ zu sehen, das sie sehen wollen. Um scheinbare Gewissheiten über das Kind, über sein Wohl und mögliche Gefährdungen zu überprüfen, ist es vor allem nötig, die aktive Beteiligung von Kindern zu implementieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Durch Gespräch und Beobachtung von Interaktion können unmittelbare Äußerungen von Kindern zugänglich werden. Dabei muss im Bewusstsein behalten werden, dass kindliche Äußerungen immer im Kontext gedeutet werden müssen. im mittelpunkt und doch aus dem blick? Kinder haben ein Recht darauf, dass professionelle Akteure, die in Grundrechte eingreifen, um Grundrechte zu schützen, „wissen, was sie tun“. Dieses Wissen der professionellen Akteure muss sowohl erarbeitet als auch in der Praxis wirksam berücksichtigt werden. Hierzu tragen vor allem Forschungen zu Wirkungen des Handelns der staatlichen Gemeinschaft bei, also vor allem der Justiz und der Jugendhilfe: Die Forderung nach einer vertiefenden Wirkungsforschung zu staatlichen Interventionen setzt sich ab von ökonomischen Zielsetzungen (Erkenntnisse für eine gesteigerte Effektivität und Effizienz gewinnen) und ist hier vor allem verfassungsrechtlich und verbraucherschutzrechtlich begründet. So einschneidende Eingriffe, wie sie Entscheidungen in familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung regelmäßig darstellen, bedürfen auch einer besonders sorgfältig abgewogenen Einschätzung und Beurteilung ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen. Hierzu tragen weiter Fortbildungen und Qualifizierungen der Akteure und Entwicklung ihrer Kooperationen und ihrer Organisationen bei. Hierfür sind erhebliche Anstrengungen der Qualifizierung und Fortbildung für alle Akteure im familiengerichtlichen Verfahren erforderlich, aber auch die Entwicklung und Erprobung praktischer Konzepte und Methoden für eine aktive Beteiligung von kleinen Kindern, Gespräche mit Kindern in konflikthaft aufgeladenen Situationen, die Interpretation und Dokumentation kindlicher Äußerungen, Vorgehen und Gesprächsführung von Richter(inne)n bei Unklarheiten und divergierenden Einschätzungen der Beteiligten sowie angemessene Informationen über das gerichtliche Verfahren für Eltern und Kinder. Insgesamt ist eine kritische Revision der Praxis in Justiz und Jugendhilfe unumgänglich. Im Kontext der zunehmend auch (fach-)öffentlichen Aufarbeitung sog. „problematischer Kinderschutzfälle“ muss die Chance genutzt werden, auch die Bedeutung und konkrete Gestaltung von Verfahren vor Familiengerichten kritisch in den Blick zu nehmen. Gerade für die Zusammenarbeit der professionellen Akteure sowie für die Bewertung konkreter Formen der Beteiligung von Kindern können hieraus weiterführende Erkenntnisse gewonnen werden. Erforderlich dafür ist die Bereitschaft der involvierten Institutionen in Justiz und Jugendhilfe, solche kritischen Revisionen auch jenseits bisher vorgesehener rechtlicher Möglichkeiten zu vereinbaren. 97 R michael winkler Reformpädagogik Um etwas ungewöhnlich zu beginnen, nämlich mit einem subjektiven und sehr persönlichen Eingeständnis: Pädagogische Debatten lassen einen zuweilen fast verzweifeln, gleich ob es sich um öffentliche Auseinandersetzungen handelt oder um fachliche, gar um erziehungswissenschaftliche. Selbst wenn sich gut und gerne nachvollziehen lässt, wie auf disziplinärer und erst recht auf professioneller Ebene mit Ausdifferenzierung, mit einer Vielfalt der Auffassungen und Konzepte gerechnet werden muss, bedrückt einen nicht nur, wie gering die fachlichen Übereinstimmungen ausfallen. So als ob es keinen gemeinsamen Bestand an Begriffen und Theorien gibt. Vielmehr irritiert, wie rasch die Urteile gefällt und Verurteilungen vorgenommen werden – ohne Vergewisserung über Grundlagen, über die Komplexität des Geschehens, ohne historische oder systematische Klärung, wohl aber politisch und moralisch akzentuiert und entschieden, als ob die Vorstellung von dem Korrekten jenseits sachlicher Prüfung und kritischen Bedenkens möglich ist. Der Mainstream des Urteils reißt offensichtlich schnell mit; gegen ihn zu schwimmen, ist wohl unmöglich, ebenso wenig das Innehalten und die Prüfung der Lage. Eine solche Debatte ist die um Reformpädagogik, die nun seit geraumer Zeit die Gemüter erhitzt, in Publikumsmedien ebenso wie in politischen Gremien wie auf fachlichen Tagungen. Nun darf und sollte man weder überheblich noch ungerecht sein. Im Gegenteil: Selbstverständlich setzen sich nicht wenige mit großem Wissen, kenntnisreich und differenziert abwägend mit dem auseinander, was als Reformpädagogik bezeichnet wird – um eine kurze Werbeeinblendung zu machen, mit der Bitte an Sie, dranzubleiben: Eben hat Ralf Koerrenz ein spannendes Buch zur Einführung in die Reformpädagogik veröffentlicht, eine Reihe von Einzelstudien sind dem vorangegangen, die ihm ordentlich Kritik eingebracht haben. Weitere Veröffentlichungen wären zu nennen, durchaus kontrovers diskutiert – so gehört sich das schließlich. Nüchtern betrachtet bestimmen jedoch andere das Gespräch und die Wahrnehmung, zum Teil mit verheerenden Folgen: Lange 99 michael winkler wurde Reformpädagogik euphorisch in den Himmel gehoben und als allein selig machend für einen modernen Unterricht gesehen. Dabei wurden weder ihre dunklen Seiten gesehen, allzumal die politischen Aufladungen, dann die seltsam männerbündischen und fatal erotischen Tendenzen, noch aber ist klar geworden, dass manche Handlungsangebote eben nicht zu generalisieren sind, weil sie Geltung nur für spezifische, oft elitäre Kontexte beanspruchen können. Man darf nicht vergessen, dass und wie die – um es etwas platt zu formulieren – linken, nämlich auf die Arbeiterklasse gerichteten Theorien und Praktiken schon immer eher vernachlässigt wurden – übrigens nach der Wende mehr denn je. Der Überbewertung korrespondiert nun heute eine ziemlich törichte Abwertung, bei der Reformpädagogik in Bausch und Bogen verworfen wird. Ein gefährlicher Vorgang. Reformpädagogik gilt nun als irrational und von dunklen Mächten getrieben. Das aber gibt technokratischen Modellen in der Pädagogik Raum, wie sie gegenwärtig fast überall beobachtet werden können, in der Schule mit ihrer Orientierung an Kompetenzen und Standards, in der Sozialpädagogik mit einer geradezu blinden Wut, Risiken und Gefährdungen zu verhindern, mit einer Tendenz zu einer Pathologisierung menschlichen Verhaltens. Zu einer Pathologisierung, bei der sich, nebenbei gesagt, das Gefühl einstellt, alles soll der Psychologie unterworfen werden, dort den Kognitionspsychologen hier den Verhaltenstherapeuten, die den Trotzanfall eines Kindes als Störung nach DSM-Code 313.81 für behandlungswürdig halten. 1. Im Grunde steht also der Umgang mit der Reformpädagogik für das dreifache Elend der Pädagogik schlechthin, leider auch der Erziehungswissenschaft: · Zum einen fehlt den Auseinandersetzungen um Pädagogik die nötige – um ein wenig ungewöhnlich zu formulieren – Esoterik, die eine jede wissenschaftliche Disziplin sowie eine Profession unvermeidlich auszeichnet und auszeichnen muss. Esoterik meint nicht Spiritualität – hier besteht eher das Problem, dass Pädagogik ähnlich wie Psychologie heute zu einer Form des Religionsersatzes gewonnen ist, mit Heilsversprechen, Erweckungs- und Bekenntnisformen operiert, wie das gegenwärtig sehr schön dort zu verfolgen ist, wo man sich zu dem Gott Bildung bekennt und von ihm die Rettung aller, der Gesellschaft wie 100 reformpädagogik der Einzelnen, verspricht. Mit Esoterik ist vielmehr gemeint, dass jede Wissenschaft und jede fachlich bestimmte Praxis über Begriffe, Theorien und Praktiken verfügen muss, die sie spezifisch und exklusiv für sich bestimmt, sodass sie nicht beliebig öffentlich verhandelt werden können. Man kann dagegen argumentieren, dass Erziehung doch eine im Kern unspezifische Angelegenheit sei, die in den Bereich des Privaten falle, in den der Familie insbesondere, dass Unterricht hingegen weitgehend mit Öffentlichkeit zu tun habe; beides spricht dafür, über pädagogische Angelegenheiten doch so zu verhandeln, dass alle an diesem Gespräch teilnehmen können. Für eine solche demokratische Beteiligung spricht zwar einiges, in der Realität aber wird dennoch das fachliche Urteil gefordert: Lehrerinnen und Lehrer sollen kompetent sein, guten und insofern richtigen Unterricht machen; wer den Eltern zur Seite steht, sollte pädagogisch und psychologisch geschult sein. Die Gesellschaft will also pädagogische Spezialisten – übrigens in hochkritischem Ausmaße, weil die Nebenfolge von Institutionen und Professionalität in Lebenspraxen ignoriert wird, die auf Informalität angewiesen sind. Die Spezialisten werden verlangt, sollen aber in einer Weise reden, denken und handeln, dass jegliche Professionalität verschwunden ist. Selbst Fachleute sprechen dann nur noch didaktisch, trivial oder mit wohlfeilen Worthülsen, wo Fachtermini und Komplexität, wo Differenziertheit und Abwägung nötig wären, um ein sachgerechtes und gegenstandsorientiertes Gespräch führen zu können. Auf der Strecke bleibt nicht zuletzt die Einsicht in Spannungen und Widersprüche, wie sie in einer guten Praxis bewältigt werden müssen. Sie werden nicht benannt, um nicht zu überfordern, man will schließlich verständlich und publikumsnahe sein sowie Worte vermeiden, die anstößig erscheinen: Der Begriff des Zöglings beispielsweise soll vermieden werden, inzwischen wird sogar der Begriff Erziehung mit einem Tabu besetzt, während der der Bildung populär gemacht wird, obwohl er nur selten ernsthaft diskutiert wird. Am Ende steht er dann nur für Schule und Unterricht. Damit wird die Sache verfehlt. Denn Bildung ist nun etwas anderes als Schule und Unterricht, man würde sich ja auch über den Arzt beschweren, der statt des Blinddarms einen Teil des Ulkus entfernt. In der Pädagogik macht das aber offensichtlich nichts aus. Erziehung ist dann – etwas grob formuliert – die Bearbeitung eines 101 michael winkler Kindes durch einen Erwachsenen, der jenes nach seinen Zielen formt. Wer jemals mit Kindern zu tun hatte, weiß, dass das nicht geht. Dennoch wird so schlicht gesprochen – und bitter beklagt, wenn das Verfahren in der Wirklichkeit nicht funktioniert. · Zweitens leidet die Pädagogik unter einer inzwischen problematischen Nähe zur Politik. Um nicht missverstanden zu werden: Pädagogisches Denken und Handeln zeichnet immer eine politische Dimension aus, weil es von der politischen Gemeinschaft verantwortet und in den Grundorientierungen bestimmt wird, die von jungen Menschen erwartet werden; es geht schließlich darum, sie zu befähigen, in eine politische Gemeinschaft einzutreten, ihren Vorstellungen und Normen zu folgen oder diese zu verändern. Und Pädagogik hat immer eine politische Dimension, weil im Nachdenken über das gegenwärtige und künftige Leben einer jungen Generation ein Entwurf für ein gutes Zusammenleben diskutiert wird; Wohlbefinden beispielsweise wird immer eine politische Kategorie sein, zugleich aber steht der Begriff als Leitvorstellung dafür, warum und wie wir pädagogisch agieren. Aber auf dieser Ebene werden das zoon politicon und eine historisch geprägte Vorstellung von Anthropologie verhandelt. Bei der Debatte um Reformpädagogik geht es aber inzwischen um eine andere Dimension des Politischen; sie hat auch mit der zunehmenden Ausdifferenzierung eines Systems von Politik zu tun, das mit sich selbst beschäftigt ist und zuweilen vorrangig ein Politainment (Andreas Dörner) betreibt, das auf die Umwelt des politischen Systems gerichtet ist: In den Vordergrund rückt, welche politischen Auffassungen Autor(inn) en und Praktiker(innen) hatten oder haben – und damit wird ihr Werk be- oder verurteilt, zugleich wird die Nähe zur Bildungs- und Sozialpolitik gesucht, wo es doch darum gehen müsste, ein fachliches Verständnis von Pädagogik vielleicht sogar gegenüber dem zu verteidigen, was politisch als wünschenswert gilt. Um es provokativ zu formulieren: Macht und Herrschaft werden politisch und insofern moralisch diskutiert, nicht aber als Asymmetrien, die mit Entwicklungsprozessen zu tun haben, übrigens auch nicht – und das ist besonders ärgerlich – als Gleichheit in pädagogischen Interaktionen; es gibt eine pädagogisch notwendige Form der Partizipation in der Erziehung, die nicht preisgegeben werden darf. 102 reformpädagogik · Drittens gelingt es der Pädagogik damit jedoch selbst nicht, ein hinreichendes epistemologisches Bewusstsein zu entwickeln, mithin Theorien als Versuche zu fassen, Erkenntnis in Sachen Pädagogik zu gewinnen und praktische Entwicklungen als Versuche zu begreifen, experimentell Wissen und Fähigkeiten zu sammeln, wie Erziehung (besser) gelingen kann oder veränderten sozialen und kulturellen Umstände eher gerecht wird. Mit anderen Worten: sie diskutiert sofort moralisch oder politisch, aber nicht analytisch oder theoretisch; und das bedeutet, dass eine Unterscheidung nicht gemacht wird, die im ersten Semester gelehrt werden sollte, nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was eine Person als Person, aufgrund ihres Charakters, vielleicht bedingt durch Umstände, möglicherweise wegen ihrer moralischen Defekte anrichtet und anstellt, auf der einen Seite, und dem, was sie gleichwohl geleistet hat, theoretisch oder praktisch, das unabhängig von der Person beurteilt werden kann und muss. So sehr das irritieren mag: Es gibt Pädagogen (wie übrigens auch Philosophen, der Fall Heidegger gehört zu den besonders bekannten), die politisch und sogar moralisch, letztlich persönlich kaum zu ertragen sind; dennoch können sie die Erkenntnis vorangebracht haben. Ernst Krieck wäre hier zu nennen (bei allen unsäglichen Schriften, mit welchen er sich vergeblich den Nazis anzubiedern suchte), vielleicht wird Peter Petersen ebenfalls einmal in diesen Kreis gerechnet werden (wobei man, nebenbei gesagt, die Affinität der Jenaer Universität zum Nationalsozialismus nicht verschweigen darf). 2. Damit steht dann endgültig das Thema Reformpädagogik zur Debatte. Zum Warmlaufen darf aber noch eine kleine Geschichte zum Besten gegeben werden, aus dem Sommer des Jahres 2014: Der Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern wollte seinen Lehrerinnen und Lehrern etwas Gutes tun und hat ihnen ein Exemplar von Enja Riegels „Schule kann gelingen“ als Ferienlektüre geschenkt. Versehentlich wurde jedoch die vierte Auflage nachgedruckt, nicht die aktualisierte fünfte. Sie unterscheiden sich im Nachwort. Denn in der alten Auflage bedankt sich die Wiesbadener Schulleiterin bei Gerold Becker für seine Unterstützung und dafür, dass sie bei ihm so viel über guten Unterricht habe lernen können. Dieser Dank ist in der neuen Auflage gestrichen, nachdem nun endgültig öffentlich geworden ist, in 103 michael winkler welchem Ausmaße Becker sich an den Kindern vergriffen hat. Die Tatbestände selbst waren bekannt. Aber Becker wie sein Mentor und Freund Hartmut von Hentig galten dereinst als die strahlenden Größen der Pädagogik, Kritik an ihnen durfte man nicht äußern, sie waren sakrosankt, heute werden sie aus der Erinnerung verdrängt. Abgesehen von aller Heuchelei illustriert dies doch, was eben als Hypermoralismus anstelle von epistemologischer Haltung beklagt wurde. Denn: moralisch mag das zwar anstrengen, gleichwohl gilt: Wenn Frau Riegel bei Gerold Becker gelernt hat, wie man guten Unterricht macht, dann bleibt dies ein gültiger Tatbestand, der weiterhin Dank verdient, wie verwerflich das Tun Beckers dann gewesen ist. Man kann schließlich den mit dem Dank ausgesprochenen Tatbestand nicht tilgen, möglich wäre nur eine relativierende Bemerkung zu Becker. Oder Frau Riegel muss eingestehen, dass sie dann doch nicht das Richtige bei Becker gelernt hat, dass Prämissen des Tuns ihr verborgen geblieben sind. Dann aber müsste sie ihr Buch insgesamt revidieren. Offensichtlich ging es also in der Dankesbemerkung nicht um Sachstrukturen, sondern vornehmlich darum, einem Heroen die Reverenz zu erweisen, Heiligenverehrung zu betreiben; es ging um pädagogischen Monumentalismus. Das Problem besteht darin, dass mit solchen Formen letztlich ideologischer Rhetorik Tür und Tor für pauschale Urteile geöffnet werden – wie das der früheren nordrhein-westfälischen Kultusministerin Gabriele Behler. Sie hat in der Wochenzeitung „die Zeit“ eine Generalabrechnung mit der Reformpädagogik schlechthin vorgenommen, die in der Formel gipfelte: „Die Reformpädagogik hat versagt“. Das ist kühn, um nicht zu sagen tollkühn, spiegelt aber eine auf rhetorische Figuren reduzierte Debatte. In dieser ist es nahezu unmöglich geworden, sachlich und begründet über Reformpädagogik und darüber zu sprechen, was im Kontext des mit diesem Ausdruck Bezeichneten an Einsichten und Erfahrungen gewonnen worden ist. Sachlich und begründet – das würde zunächst einmal verlangen, dass der Begriff der Reformpädagogik selbst kritisch infrage gestellt wird. Es ist nämlich ziemlich unklar, was er eigentlich benennt. Jürgen Oelkers hat einmal – einen Gedanken Luhmanns aufgreifend – gesagt, eigentlich wäre alle Pädagogik Reformpädagogik, weil es immer um Verbesserung wenigstens des Erziehungssystems gehe. Das klingt ganz witzig und ist 104 reformpädagogik ein netter Gag, verdoppelt aber den schon angedeuteten Fehler, jeglichen pädagogischen Text normativ und nicht als einen theoretischen Beitrag lesen zu wollen, der uns ein Verständnis von Erziehung ermöglicht. Um noch einmal ein Beispiel aufzunehmen: Kein vernünftiger Mensch wird Rousseaus Emile als praktische Anleitung oder gar als Text zur Verbesserung der Erziehungspraxis nehmen, obwohl der – wie er sich selbst nannte – Genfer Bürger vielleicht sogar diesen Anspruch hatte. Die Pointe besteht jedoch darin, dass Rousseau in seinem Roman und mit diesem gedanklich eine Art Laborsituation konstruiert hat, in der die binnenstrukturellen Veränderungen des Erziehungsgeschehens sichtbar wurden. Oelkers wandte sich dabei zugleich gegen die üblich gewordene historiographische Einordnung, den Begriff der Reformpädagogik für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930 zu reservieren. Tatsächlich aber können wir doch sehr genau historische Epochen unterscheiden, in welchen formal gesehen die pädagogische Publizistik häufiger und insofern vordergründig reformorientierter wurde. Das war der Fall nach dem Dreißigjährigen Krieg, dann insbesondere zwischen 1770 und 1820, endlich eben in dem schon angedeuteten Zeitraum um die Wende zum 20. Jahrhundert. In all diesen Epochen musste die Pädagogik aufgrund der historischen und gesellschaftlichen Umstände neu gefasst und bestimmt werden, in all diesen Epochen wurden zentrale pädagogische Erkenntnisse gefunden – was übrigens daran erinnert, dass wir offensichtlich bei den pädagogischen Sachverhalten mit einer mehr oder weniger anthropologischen Struktur zu tun haben, die immer wieder neu, im Blick auf veränderte gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse modifiziert werden muss. Man kann das so fassen: Es gibt ein pädagogisches Problem, das zu erkennen ist, wenn in einer geschichtlichen Situation die in der Gesellschaft bislang üblichen Traditionsmechanismen zusammenbrechen; die Grundstruktur des pädagogischen Problems tritt nun hervor und konturiert sich unter den gegebenen Bedingungen so, dass die pädagogische Praxis neu organisiert werden muss. Platt formuliert: Pädagogik kann nun ihrer Problemstruktur erkannt werden, die praktische Praxis als Lösung des Problems muss gewissermaßen neu erfunden werden. Insofern kann es nun gar nicht überraschen, dass um die Jahrhundertwende eine Vielzahl von pädagogischen Ansätzen theoretisch, konzeptionell wie praktisch entwickelt und erprobt worden sind: In dieser – wie Historiker gerne sagen – goldenen 105 michael winkler Zeit des Kapitalismus war es schlicht unvermeidbar geworden, Erziehung neu zu denken und zu gestalten – und zwar durchaus in einer Weise, die bis heute nachwirkt. So verändert haben sich die Verhältnisse nicht. Der Begriff der Reformpädagogik ist insofern nur mehr oder weniger metaphorisch zu gebrauchen, als eine Art Überbegriff für einen Zeitraum, in welchem viele Entdeckungen gemacht worden sind – von ganz unterschiedlichen Akteuren und mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und Perspektiven. Man muss genau hinschauen – und darf den Ausdruck Reformpädagogik nicht als Begriff für eine einheitliche und klar definierte pädagogische Wirklichkeit oder Konzeption nehmen. Das wäre Unfug, vor allem historisch problematisch, weil man sich einen polemisch gemeinten Ausdruck zu eigen machen würde, den einige Vertreter der Pädagogik genutzt haben, um sich disziplin- und professionspolitisch zu positionieren. Sie wollten mit diesem Etikett die sogenannten Herbartianer als konservativ desavouieren, die mit ihren Theorien und – übrigens sehr klugen Praktiken – das Feld bislang beherrschten. Platt gesagt: Mit dem Ausweis als Reformpädagogen wollten sich manche als die besseren Pädagogen präsentieren und lukrative Positionen in der Politik, der Verwaltung und den Hochschulen besetzen. Was übrigens durchaus gelungen ist, mit dem Effekt, dass die Herbartianer in Deutschland nahezu vollkommen verdrängt wurden, nicht so übrigens in Österreich oder den K. u. K. Kronländern. Nur: das war eine wissenschafts- oder sogar wissenspolitische Aktivität, die aber keineswegs mit der Breite und der Vielfalt identifiziert werden kann, wie sie sich in den pädagogischen Debatten und Handlungsfeldern zeigten, übrigens in einer Vielzahl von Ländern – dennoch muss man skeptisch gegenüber Auffassungen bleiben, die – wie Herman Röhrs das tut – von einer internationalen Reformbewegung sprechen. Obwohl oder weil ein reger Austausch stattgefunden hat, gab es massive Kontroversen zwischen den Akteuren, bei vielen wissen wir gar nicht, ob sie einander kannten oder nicht bloß ähnliche soziale und kulturelle Erfahrungen gemacht haben, die sie zu vergleichbaren Erkenntnissen geführt haben. Um nur einen Fall zu nennen: Janusz Korczak, der berühmte polnische Pädagoge, der mit seinen dramatischen Rechten des Kindes bis heute für Furore sorgt – u. a. 106 reformpädagogik fordert er ja ein Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod – wird zwar zur Reformpädagogik gerechnet, Kontakte aber mit prominenten Vertretern sind bislang nicht nachgewiesen. Zugleich finden wir in seinen Schriften Ansätze wie bei Siegfried Bernfeld, sowohl soziologischer Art wie bis hin übrigens zu Überlegungen, die durch die Psychoanalyse beeinflusst scheinen. Anders gesagt: Die knapp fünfzig Jahre um 1900 bilden einen Zeitraum der pädagogischen Entdeckungen und Erkenntnisse, um gewissermaßen Erziehung und Unterricht in das Zeitalter der Moderne zu bringen – und diese Erkenntnisse tragen und provozieren uns bis heute. Auf den einen Nenner aber sind sie nicht zu bringen, wie er nun in positiver oder negativer Konnotation mit dem Ausdruck Reformpädagogik versucht wird. Denn da ist so viel Unterschiedliches entstanden und erkannt worden, dass eine Pauschalformel gar nicht taugt. 3. Um nur einige Hinweise auf diese Vielfalt der Reformpädagogik in alphabetischer Reihenfolge und somit einigermaßen willkürlich zu benennen: · Bernfeld erkennt die prinzipiell konservative Funktion aller Pädagogik, mithin ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen. Er beschreibt aber zugleich das komplexe Zusammenspiel zwischen biologischen Bedingungen, mit diesen vermittelten elementaren Sozialformen – etwa der Urhorde – und den gesellschaftlichen Reaktionen auf diese, sowie endlich das Problem der individuellen Einstellung und Haltung. Bernfeld konstituiert so ein modernes Grundverständnis von Erziehung als Zusammenhang natürlicher und sozialer Prozesse (das übrigens sowohl in der Soziologisierung wie in der Psychologisierung der Pädagogik gegenwärtig verloren geht). · Blonski erkennt die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Erziehung, entwirft eine Arbeitsschule, die der Idee von Marx folgt, mithin das – um die Unterscheidung von vorhin aufzugreifen – Problem der modernen Industrie ganz anders zu fassen versucht, als Kerschensteiner dies tut, der eher an handwerkliche Traditionen anknüpft. 107 michael winkler · Dewey entwickelt mit Kilpatrick eine Form des Unterrichts, der sich vom Lehrplan verabschiedet und mit Projekten operiert, die im Alltag fundiert sind und auf die Fundierung eines demokratischen Gemeinwesens gerichtet ist – übrigens mit Anleihen bei dem deutschen Philosophen Hegel. · Makarenko begründet eine differenzierte Kollektivpädagogik, die schon aufnimmt, dass pädagogische Gruppen Submilieus bilden. Er entwirft dann eine Pädagogik des Erziehungsprozesses, der Perspektiven folgt. Diese Pädagogik hat als Theorie und Praxis inhaltlich bis heute Bestand, obwohl sie aus politischen Gründen in Vergessenheit geraten ist. Über einen Sowjetpädagogen darf man halt nicht reden, selbst wenn er als einer der ganz wenigen die spezifische innere Dynamik von Pädagogik erfasst hat, nämlich den Zusammenhang zwischen der Veränderung sozialer Wirklichkeiten und der der inneren Wirklichkeiten junger Menschen, die ihrerseits dann die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. · Montessori begreift ebenfalls die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Erziehung, entwickelt aber eine Pädagogik der Individualität. Sie sieht, wie das Kind in dem ihm gegebenen Raum sich selbst „polarisiert“ entwickelt, wobei seine individuelle spezifische Normalität als normgebend für das pädagogische Handeln gelten muss – noch bis zur Vorstellung seiner Renormalisierung gegenüber den gesellschaftlichen ihm angetanen Verstörungen. Und wieder fällt übrigens auf, dass naturbedingte Entwicklungen, das Innere des Kindes in den Vorgängen der Selbststeuerung sowie soziale Einflussnahme miteinander interagieren – übrigens noch vermittelt mit einer Dimension der Transzendenz, die bei Montessori durch Gott gegeben ist, nüchtern vielleicht als die Notwendigkeit einer utopischen Energie bezeichnet werden kann. · Neill zeigt, wie Unterricht der Selbststeuerung des Kindes folgen kann und dennoch Lernprozesse ermöglicht, die nicht nur dauerhaften Bestand haben, sondern schon vorwegnehmen, was heute als Kompetenz beschrieben wird. Selbst formale Lernprozesse lassen sich durch die Kinder selbst entscheiden und organisieren, sie bestimmen, ob und wann sie in die Schule gehen. Wider alle Unkenrufe erwerben sie selbst alles, was sogar 108 reformpädagogik noch den ohnedies seltsamen Kriterien der Kompetenztests erforderlich ist, die heute im Rahmen von large scale assessments durchgeführt werden. · Peter Petersens Jenaplan hebt alle Formen eines curricular und an der Schulklasse ausgerichteten Unterrichts auf, um der selbstgesteuerten individuellen Entwicklung Raum zu geben, die er zugleich in einen sozialen Zusammenhang in der Schulgemeinde mit ihren Ritualen gewissermaßen gegen die Gefahr absichert, nur noch als Individuum zu gelten und so Opfer einer Überwältigung durch die Anforderungen moderne Arbeits- und Konsumgesellschaften zu werden – übrigens kann Petersen auch für die seltsamen Verdrehungen herangezogen werden, die eine Interpretation der Reformpädagogik allein unter politisch-moralischen Gesichtspunkten nach sich zieht. Ihm wird – wohl zu Recht – vorgeworfen, dass er als Professor der übrigens als nationalsozialistische Kaderuniversität berüchtigten Universität Jena Vorträge im KZ Buchenwald gehalten habe; unsicher ist, ob er im Thüringer Wald bei der Ausbildung von Wehrmachtssoldaten und SSAngehörigen tätig war – es gab hier einen Namensvetter. Aber: ist damit das Werk von Petersen diskreditiert, darf man seinen Namen nicht mehr nennen, sich aber ungeniert der Jena-Plan-Pädagogik bedienen? · Karl Wilker endlich hat gezeigt, wie Fürsorgeerziehungsheime als totale Institutionen zu begreifen sind, sich aber in einem Prozess der Öffnung in einen spannenden und guten Lebensort für junge Menschen transformieren lassen, die sich so als Subjekte erfahren und erleben, übrigens nicht zuletzt in ihrer Leiblichkeit, weil er mit ihnen auf ganz radikale Weise praktiziert, was damals Freikörperkultur genannt wurde. 4. Man kann hier abbrechen, die Botschaft ist klar genug geworden: Jede Rede von der Reformpädagogik schlechthin ist – vorsichtig formuliert – ziemlich unscharf und erhellt nur wenig; weder in der positiven Affirmation, in der blinden Verehrung für die Reformpädagogik, noch in der Ablehnung lernt man wirklich etwas über Pädagogik. Nötig ist die Frage darnach, was man bei pädagogischen Autoren, bei Theoretikern und Praktikern begreifen kann. Nötig sind selbstverständlich Kritik und Prüfung. Noch einmal: 109 michael winkler schon in den 20er Jahren sind die Debatten kontrovers geführt worden, um zuweilen sogar aus der Erkenntnis der kontroversen Einsichten in die pädagogische Sachproblematik zu gewinnen. Einen schon fast klassischen Beleg bietet das berühmte Buch von Theodor Litt über Führen oder Wachsenlassen. Doch nicht genug damit: Unter dem Vorbehalt, dass es darum geht zu verstehen, was als Pädagogik in der modernen Gesellschaft gelten kann, wird man hinter die damals gewonnenen Einsichten nicht zurück können. Sie bilden die Grundlage eines modernen pädagogischen Denkens. Gleichwohl muss klar sein, dass sie weder dogmatisch gelesen noch in Formen eines technischen Handelns gegossen werden dürfen – wie das heute zunehmend der Fall scheint, übrigens sogar bei jenen, die sich zur Reformpädagogik bekennen. Um nur ein paar Kernpunkte solcher Erkenntnis zu nennen: Deutlich ist geworden, dass pädagogisches Handeln begriffen und organisiert werden muss als ein Prozess-Geschehen, bei dem die – um noch einmal den alten Ausdruck zu verwenden –Zöglinge selbsttätig und selbstgesteuert sich mit den Gegebenheiten der Welt auseinandersetzen, dass mithin die Aufgabe zu bewältigen ist, Menschen in Entwicklungsprozessen Autonomie und letztlich Freiheit in einem substanziellen Sinne des Ausdrucks zu ermöglichen, bei dem die Zusammenhänge des sozialen Lebens mit reflektiert sind. Reformpädagogik hat mit Autonomie und Freiheit zu tun, mit dem, was heute technisch als Selbstwirksamkeit bezeichnet wird. Sie zeigt Züge, die im Konstruktivismus wieder auftauchen, dort aber dogmatisch verkürzt werden. Den Reformpädagogen war schon bewusst, dass und wie jede Pädagogik mit einer objektiv gegebenen Welt zu tun hat. Das aber bedeutet, dass Erzieher(innen) und Kinder nebeneinander stehen und gemeinsam sich die Wirklichkeit zu eigen machen, dass eine sorgfältige Balance gestaltet werden muss zwischen Gemeinschaft, Individualität und dem, was wir als Beziehung bezeichnen. Dass Nähe und Distanz austariert werden müssen; Entwicklungs- und Bildungsprozesse sind auf Begegnung, Begleitung, auf eine Umfassung angewiesen, die den Schutz und das Gefühl der Sorge ebenso impliziert wie eben doch die Sicherheit, nicht vereinnahmt oder gar überbewältigt zu werden. Eben hier wäre festzuhalten, was Jürgen Oelkers zuletzt kritisch notiert hat: die Bedeutung des Eros, die dann mit 110 reformpädagogik Machtausübung und Überwältigung einhergeht, weil sie eben nicht kritisch und kontrolliert zur Debatte gestellt wurde, als Einsicht in die Bedeutung letztlich auch der Sexualität als einem wichtigen Antrieb menschlichen Lebens. In der Tat darf man sich nichts vormachen: Herman Nohls Beschreibung des pädagogischen Bezugs klingt mehr als schmierig, was dort als pädagogischer Eros bezeichnet wird, fand ich schon als Erstsemester eklig und ziemlich widerwärtig. Es ist auch theoretisch falsch und in der Sache der Erziehung nicht angemessen, den Bezug oder die Beziehung als Kern des Geschehens zu begreifen. Nur: nicht minder gefährlich ist es, die Dimension der erotischen Zuneigung ebenso wie die der Ambivalenzen ausblenden zu wollen, so zu tun, als ob – um bewusst diesen Ausdruck aufzunehmen – Liebe keine Rolle spielt, als ob Sexualität in einer neokonservativen Verdrängung und Verklemmung erledigt werden könnte. Urie Bronfenbrenner hat einmal gesagt, dass die Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen darin besteht, dass ein Kind fühlt, wie jemand verrückt nach ihm ist. Das ist eine gefährliche Formulierung, die aber präzise die Gefährlichkeit des pädagogischen Geschehens bezeichnet, um die wir wissen müssen – die wir aber eben auch nicht los bekommen. Insofern gilt: Es kann niemand heiliggesprochen werden. Nicht wenige der Pädagoginnen und Pädagogen in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren ziemlich schräge Vögel, die eine falsche Theorie und eine falsche Praxis betrieben haben. Sie haben Grundprämissen von Pädagogik ignoriert. Manche werden bis heute zitiert und in Einführungen wie Vorlesungen präsentiert – ganz ohne die nötigen Zusatzbemerkungen: Ellen Keys Buch Das Jahrhundert des Kindes ist beispielsweise ein schier unerträgliches Machwerk aus sozialdarwinistischen und rassekundlichen Versatzstücken, das für Euthanasie eintritt. Und dennoch hat sie eine Denkposition gesetzt, die das öffentliche pädagogische Denken geradezu revolutioniert hat; auch schlechte Bücher können Wichtiges bewirken: Kinder sind als Personen ernst zu nehmen, sie haben einen Status, der durch alle Erziehungsabsicht nicht verletzt werden darf. Mehr noch: Erziehung muss so gedacht und organisiert werden, dass doch immer schon Anerkennung und Gleichheit mit ihr verbunden sind. Korczak hat das viel radikaler und klüger formuliert, dabei diese Pädagogik in all ihren Konsequenzen ausbuchstabiert (soweit, dass seine Pädagogik mit allem bricht, was vorher über Pädagogik zu 111 michael winkler lesen war) – und Bernfeld ernüchtert uns, indem er sagt: in einer Gesellschaft der Klassenverhältnisse wird die Pädagogik ebenfalls Ungleichheit mit transportierten. Nicht minder sind jene dann als gefährlich zu erinnern, die – wie Lietz – die Abgeschiedenheit des Landerziehungsheims und seine charismatisch zu nennende Stellung ausgenutzt haben, um junge Menschen buchstäblich zu vergewaltigen. Die Odenwaldschule, gepriesen und als Hort moderner Pädagogik gefeiert, war wohl immer schon ein Ort der Abgründigkeit. Nur: daraus ein Verdikt über die Reformpädagogik ableiten zu wollen, grenzt an Absurdität. Denn es waren auch Pädagogen, die heute der Reformpädagogik zugeordnet werden, welche die Machtprozesse in der Pädagogik aufgedeckt haben, wie gefährlich das Bündnis zwischen kontrollierendem Staat und Erziehungssystem werden kann. Die Kritik an der Heimerziehung hat ihren Ursprung in den Gegenmodellen der 20er Jahre. Das Wissen um die totalen Institutionen und die Gefährdung durch jegliche Form von Institution ist damals entstanden. Man muss schon arg ignorant sein, um so zu tun, als wären die Reformpädagogen schlechthin schuld daran, wenn in Institutionen Übergriffe und Gewalt begegnen. Nein: wer sich mit ihnen beschäftigt und sich von ihnen belehren lässt, wer sich mit ihrer Kritik auseinandersetzt, wird erkennen, dass und wie Institutionen eben gefährlich sind; es täte uns allen gut, diese Einsichten angesichts des blinden Vertrauens in Institutionen der Elementarpädagogik wieder aufzunehmen. Um noch einmal an die anfangs ausgesprochene Verwunderung über die Debatte anzuknüpfen: Es ist schlicht und einfach nicht zu verstehen, dass und wie pädagogische Debatten immer wieder als Glaubensbekenntnisse für oder gegen die Reformpädagogik und zugleich mit einer Naivität und in einer Trivialität geführt werden, die unter jeglichem Niveau historischen und – notabene – rationalen Denkens bleiben. Dabei lässt sich der Affekt gegenüber der Reformpädagogik noch insofern nachvollziehen, weil er aus dem Motiv eines Ennui, einer Überdrüssigkeit an dem dauernden Reform- und Innovationsgerede erwächst, mit dem wir in allen Zusammenhängen des Erziehungs- und Bildungssystems konfrontiert werden – und das sich bei näherer Betrachtung als ziemlich schal und meist 112 reformpädagogik durch Kostenminimierungsvorstellungen gespeist erweist. Nur: mit den Einsichten in das pädagogische Denken hat das wenig zu tun – im Gegenteil: Sie widersprechen eigentlich dem, was an Einsichten zur Verfügung steht. Möglicherweise muss aber die Kritik an reformpädagogischen Ansätzen durchaus als Teil einer Tendenz gesehen werden, mit der neue Formen von Herrschaft und Kontrolle durchgesetzt werden sollen, möglicherweise sogar als ein fataler Nebeneffekt von durchaus fortschrittlich gemeinten Initiativen, die sich dann zum Büttel von Aktivitäten machen, die ihrer eigenen Intention widersprechen. Was gegenwärtig unter dem Vorzeichen von Bildung passiert, hat ja durchaus trübe Dimensionen der Zurichtung von Arbeitskräften für eine zynische und menschenverachtende kapitalistische Ökonomie. Und ähnliches könnte man ja auch für die Kinder- und Jugendhilfe sagen: Wenn Kinderschutz dazu pervertiert, buchstäblich alle Familien als riskant zu überwachen und in ihren Leistungen infrage zu stellen, dann wird damit eben Kontrolle etabliert, die wenig mit Autonomie und Freiheit zu tun hat. Wenn in Heimen Partizipation infrage gestellt wird, um stattdessen rigoros Normen zu überwachen, dann bleibt auf der Strecke, was man vor wenigen Jahren als Emanzipation bezeichnet hat – nämlich die pädagogische Leistung, Autonomie und Selbstbestimmung zu ermöglichen. 113 michael winkler Literatur Koerrenz, Ralf (2014): Reformpädagogik. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh. Zur Geschichte mit Enja Riegels Buch finden sich zahlreiche Belege. Ich nenne hier einen: http://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Brodkorb-laesstPaedagogik-Buch-zurueckrufen,buchrueckruf100.html [11.1.2015] 114 W birgit maschke Wie viel Parteilichkeit ist kindgerecht? Wie parteilich ist systemischer Kinderschutz? Und was ist eigentlich der Unterschied? Ergebnisse einer Telefonbefragung Fallbeispiel In der zweiten Klasse einer Grundschule wurde mit Kindern und Eltern ein Projekt zur Stärkung von Kindern zum Schutz vor sexueller Gewalt durchgeführt. Anlässlich dieses Projektes sucht die Mutter der siebenjährigen M. das Gespräch mit ihrer Tochter, um diese auf ihr Recht hinzuweisen, alleine über ihren Körper bestimmen zu dürfen. Sie sagt M., dass ihr das ja bestimmt noch nicht passiert sei. Als M. nicht eindeutig verneint, hakt sie nach. M. erzählt darauf, dass sie einmal auf dem Rücken von Herrn X (Angestellter der Schule) saß und dieser sie „da“ gekitzelt hätte (zeigt auf den Unterbauch). Als sie ihm sagte, dass er aufhören solle, hätte er das auch sofort gemacht und gesagt, sie solle das niemandem erzählen. Die Eltern wenden sich an die Rektorin der Schule und fordern eine Versetzung des Angestellten. Im weiteren Verlauf kommt es schnell zu Spaltung und hoch emotional gesteuerten Deutungsprozessen und Interventionen. Die Eltern wenden sich zeitnah um Unterstützung an eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit spezifischer Fachkompetenz gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Die Rektorin holt sich Fachberatung, als eine Verständigung nicht mehr gelingt. Die beiden Fachkräfte, die nun das System Schule und die Eltern beraten, geben im weiteren Verlauf zum Teil gegenteilige Empfehlungen zu grundsätzlichen Fragstellungen. 117 birgit maschke Entstehung der Idee für die Telefonbefragung Seit 30 Jahren arbeite ich im Themenfeld Kinderschutz. Ich bin beruflich sozialisiert in einer damals sogenannten „parteilichen Beratungsstelle“ gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Als junge Frau erlebte ich eher in zweiter Reihe die „Grabenkriege“ zwischen Vertreter(inne)n der systemisch und analytisch orientierten Kinderschutz-Zentren und Frauen der feministisch und politisch orientierten parteilichen Beratungsstellen. Gegenseitig wurde sich damals fachlich falsches und schädigendes Vorgehen vorgeworfen. Nach vielen Jahren praktischer Berufserfahrung im Feld Kinderschutz und zahlreichen überwiegend systemisch orientierten Weiterbildungen war ich überrascht, als ich in diesem Jahr (2014) mit obigem Fallbeispiel befasst war. Ich war erstaunt über die zeitnahe Empfehlung der Kindertherapeutin an die Eltern, es hätte keinen Sinn, wenn sie selbst oder eine andere Fachkraft in Gesprächen mit dem Kind und auch der Mutter die beschriebene Situation noch einmal fachlich und mit Zeit explorieren würde. Auch das persönliche Einbringen ihrer fachlichen Einschätzung als Vertreterin von Eltern und Kind in eine Hilfekonferenz (auf Wunsch der Eltern) gelang nicht. Gleichzeitig erleben wir zurzeit eine erhebliche Medienpräsenz des Themas sexuelle Gewalt, die – wie in den breiten Medien üblich – hoch emotional und polarisierend geführt wird. Auch in eigenen fachlichen Zusammenhängen begegnete mir diese Polarität vereinzelt wieder neu. Dies zusammengenommen entstand der Wunsch herauszufinden, wie die fachlichen Haltungen und Orientierungen in diesem Themenfeld in Deutschland heute sind. Insbesondere interessierten mich Antworten auf die Frage, ob es noch heute einen Unterschied macht, wenn ich mich als Eltern oder Fachkraft mit meiner Bitte nach Beratung und Unterstützung an eine „parteilich orientierte Beratungsstelle“ wende oder an ein Kinderschutz-Zentrum / eine Erziehungsberatungsstelle. Aufbau und Rahmen der Telefonbefragung Zunächst suchte ich mir eine Partnerin für mein Projekt. Sie sollte in einer spezialisierten Beratungsstelle arbeiten, in deren Konzept die parteiliche 118 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? Orientierung für betroffene Mädchen und Jungen von sexueller Gewalt formuliert ist. Diese Partnerin für das Projekt fand ich in Birthe Roden, angestellt bei der Beratungsstelle Zornrot e. V. in Hamburg-Bergedorf.1 In Abstimmung mit ihr entstand der Interviewleitfaden. Unser Ziel war es, Haltungen von Fachkräften einzusammeln, die seit vielen Jahren Berufserfahrungen in diesem Themenfeld haben. Die Befragung erhebt keinerlei wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist unter der Rubrik: „Fachkräfte aus der Praxis befragen andere Fachkräfte aus der Praxis“ anzuordnen. Die Gespräche wurden nicht auf Band aufgezeichnet, sondern während der Telefonate in Stichworten von uns mitgeschrieben. Die so entstandenen ausführlichen Protokolle sind auf der Seite der KinderschutzZentren veröffentlicht.2 Befragt wurden jeweils zehn Fachkräfte aus Arbeitskontexten, die ihr Angebot auf das Themenfeld sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen spezialisieren, und Beratungsstellen, die im weiteren Feld Kinderschutz tätig sind, jeweils aus dem ganzen Bundesgebiet.3 Ausgewählt wurden ausschließlich Fachkräfte, die seit vielen Jahren und bis heute Eltern oder Fachkräfte beraten, wenn diese sich Sorgen um das Wohl eines Mädchens oder Jungen machen, sie könnten durch eine Bezugsperson sexuelle Gewalt erfahren. Sie sollten mindestens 50 Jahre alt sein. Die Fachkräfte, die wir fragten, ob sie bereit wären, ein ca. halbstündiges 1 Birthe Roden, Lehrerin für die Grund- und Mittelstufe, staatlich anerkannte Erzieherin, systemisch-integrative Beraterin, insoweit erfahrene Fachkraft nach § 8a SGBVIII, Traumafachberaterin DeGTP. Angestellt in der Fachberatungsstelle Zornrot e. V., Hamburg-Bergedorf. Beratung und Therapie für direkt und indirekt von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche, für Angehörige und für Fachkräfte, ebenso Prävention und Intervention sowie Fortbildung und Fall-Supervision. www.zornrot.de / [email protected]. 2 www.kinderschutz-zentren.org. 3 Genauer: Fachkräfte aus Beratungsstellen, die auf sexuelle Gewalt spezialisiert sind (n=9) und eine auf das Thema spezialisierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (davon ein Mann) sowie Fachkräfte aus Kinderschutz-Zentren (n=7) und Erziehungsberatungsstellen (n=2) und eine Fachberatungsstelle angesiedelt im Jugendamt (davon zwei Männer). 119 birgit maschke Telefoninterview zu machen, fanden wir durch berufliche Kontakte, Mundpropaganda und Internetsuche. Die gestellten Fragen sind unterteilt in drei Themenabschnitte mit jeweils einem offenen und einem geschlossenen Fragekomplex. Im ersten Themenkomplex geht es um die Formulierung eigener allgemeiner Grundhaltungen. Im zweiten um spezifische Merkmale – ggf. auch in Abgrenzung zur anderen fachlichen Ausrichtung. Der dritte Themenkomplex befasst sich spezifisch mit den Grabenkriegen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre und der Frage nach den Auswirkungen, die diese hoch emotional geführte Debatte auf fachliches Handeln damals und heute hatte. Frau Roden interviewte die Fachkräfte der auf sexuelle Gewalt spezialisierten Beratungsstellen, ich die Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren und Erziehungsberatungsstellen.4 Ergebnisse der Telefonbefragung An dieser Stelle geht unser Dank an die Fachkräfte, die uns ihre Haltungen und Erfahrungen in den Interviews zur Verfügung stellten. Die geführten Interviews waren durchweg auf einem fachlich hohen Niveau, reflektiert und anregend und für unsere eigene fachliche Entwicklung ein Gewinn! Bevor ich im letzten Teil dieses Artikels, die für mich herausragenden Lernerfahrungen formuliere, gebe ich in diesem Abschnitt einen Überblick über die Ergebnisse, die uns bei der Auswertung und dem Vergleich der Antworten beschäftigten. Dabei verwende ich aus Gründen der Lesbarkeit im Folgenden die Bezeichnungen Spezialisierte Beratungsstellen und KinderschutzZentren. Auf die Frage nach handlungsleitenden Theorien und Grundüberzeugungen im Themenfeld Vorgehen bei Verdacht der sexuellen Gewalt gegen Mädchen und Jungen durch eine Bezugsperson5 springt die unterschiedliche Häufung von Begrifflichkeiten ins Auge. Während Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren bei 4 Bis auf jeweils eine Ausnahme. 120 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? den ersten zwei offenen Fragen häufiger Hypothesenvielfalt und ein nicht zu schnelles Festlegen hervorheben – betonen die spezialisierten Beratungsstellen vermehrt den Schutzaspekt (das Wort Schutz wird von diesen z. B. doppelt so häufig genannt wie bei den Kinderschutz-Zentren (10 zu 5). Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren: … Interessen aller Beteiligten im Blick halten und berücksichtigen … … Sexuelle Übergriffe kommen vor – wir müssen aber sehr genau hingucken. Aus professioneller Sicht ist es richtig, sich einem Verdacht nicht sofort anzuschließen. Selbstverständlich kann es sein – selbstverständlich kann es auch andere Gründe geben … … Wir dürfen nicht zu schnell festgelegten Begrifflichkeiten folgen … … Grundsätzlich ist der 1. Schritt, die Aussagen ernst nehmen. Im 2. Schritt alternative Hypothesen prüfen, wie lässt sich das, was das Kind gesagt hat, vielleicht auch anders erklären? 3. Schritt: das Umfeld des Kindes genauer anschauen und im 4. Schritt schauen, wen man zur Klärung noch mit einbeziehen kann. … eher nicht der parteiliche Ansatz, sondern insgesamt, die Familie im Blick haben und eher ein umfassendes Konzept … … Oberstes Prinzip ist es, Ruhe zu bewahren, nicht überstürzt handeln – Ausnahmen sind hier natürlich die klaren Aussagen eines Kindes, ich will nicht mehr nach Hause – aber das ist ja nicht die Regel … an der Seite des Kindes bleiben und die anderen mit einbeziehen … … Nicht gleich in Panik geraten, erst in Ruhe schauen, welche Erklärungen noch für die Verhaltensauffälligkeiten infrage kommen, keine Vorverurteilung, offene Herangehensweise. Da geht es ja schon gleich los … was ist handlungsleitend, und was ist Theorie? … Es geht darum, erstmal in Kontakt zu kommen … wer hat was, wo erlebt und worum geht es? … es gibt immer unterschiedliche Konstellationen und Kontexte. Ausgewählte Zitate spezialisierte Beratungsstellen: … zielorientiert zum Schutz des Kindes mit individuellem Vorgehen … … immer erst nehmen; wer zu uns kommt, egal, bei was, wird ernst genommen … 5 Fragen 1.1 und 2.1. 121 birgit maschke … Ich arbeite parteilich für die betroffenen Kinder -> äußere Sicherheit, d. h. der Missbrauch muss aufhören, der Schutz der Kinder muss gewährleistet werden … … Es geht primär um den Schutz der Kinder, erstes Prinzip unabhängig vom Verdacht und davon, ob es real oder unbegründet ist … … Oberste Priorität: Schutz des Kindes, immer individuell … … Der zentrale Punkt ist der Schutz der betr. Kinder: Äußere Sicherheit geht vor … Gleichzeitig lassen sich aus jeder Richtung auch Gegenbeispiele finden, die zum Teil gleichzeitig wieder relativiert werden: Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren: … Kinder müssen geschützt sein … … Ziel ist immer, in Sicherheit aufwachsen, so sicher, wie möglich. … zunächst mit den Betroffenen sprechen … … Ich gehe davon aus, Missbrauch hat stattgefunden, wenn ich davon höre – und prüfe auch andere Möglichkeiten … … Ich nehme zwar, was das Kind sagt, ernst – heißt nicht, dass ich es wortwörtlich übernehme, trotzdem eine klare Haltung gegenüber der Tat, also was ich als solche bezeichnen würde – … Ausgewählte Zitate spezialisierte Beratungsstellen: … Grundüberzeugung: Wertschätzung, Transparenz, größere Zusammenhänge betrachten, Druck nehmen, Ressourcen aktivieren … … und immer haben wir auch im Blick, dass mehrere Institutionen sich im Hilfenetz befinden; auch: aus der Distanz heraus betrachten, bei einer Verdachtsbewertung schlagen die Wogen mitunter sehr hoch, trotz Parteilichkeit nicht auf eine Seite ziehen lassen, auf jeden Fall unterstützen und beraten. Das andere Prinzip ist, dass wir so viele Informationen erhalten und in alle Richtungen orientiert sind, wir öffnen uns … … Nach Einholen aller verfügbaren Informationen: Erstellung Plan A, immer auch Plan B, Plan A wird fortwährend überprüft anhand von neuen Informationen … … ‚Das Denken in Beziehung‘; Verdachtsfall in Bezug sehen und nicht 122 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? vereinzelt, und: alle Faktoren und Personen sehen; …vielleicht ist das der Unterschied zu rein parteilich arbeitenden… Dennoch: ich arbeite in einer parteilichen Beratungsstelle und vertrete die Interessen meiner Klientin; aber die strikte Trennung zwischen Täter und Opfer ist meiner Meinung nach nur Theorie, eine Ausblendung der Realität … … Wir integrieren parteiliche und systemische Arbeit; wir haben immer das Ganze im Blick und arbeiten nicht dogmatisch systemisch. Wir arbeiten vernetzt und sensibilisieren die Erwachsenen, ebenso arbeiten wir geschlechterorientiert … Mit der ersten geschlossenen Frage baten wir die 20 befragten Fachkräfte darum, sich dem methodischen Vorgehen der Kategorie zuzuordnen, welche am ehesten ihrer methodischen Haltung entspricht. Dabei konnten sie auswählen zwischen: a)parteilich b)systemisch und c) keine der beiden, sondern … Fünf Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren ordnen sich hierbei der Kategorie „systemisch“ zu. Zwei der Antwort „parteilich“. Drei wählen c) als Antwort, wovon zwei ausführen, dass sie sich beiden Kategorien zuordnen, und eine Fachkraft eine dritte Kategorie benennt: c) Das ist kein Widerspruch: parteilich für Opfer und systemisch drauf gucken, es geht nicht darum, es allen Recht zu machen. Kinder sind die schwächsten Glieder, es ist selbstverständlich dass sie parteilichen Schutz genießen. c) parteilich und systemisch systemisch = es betrifft immer alle im System, die Verschiebungen, die es gibt, müssen berücksichtigt werden und gleichzeitig parteilich für das Kind. c) keines der beiden – das sind Schlagworte, hinter denen ideologisches Kon strukt steht, ich würde eher etwas Beziehungspsychodynamisches wählen. Nur drei Fachkräfte der spezialisierten Beratungsstellen ordnen sich selbst ausschließlich der Kategorie „parteilich“ zu“, ebenso viele wählen die Kategorie „systemisch“, fünf wählen keine der beiden Kategorien: 123 birgit maschke a) parteilich seit 20 Jahren und b) systemisch neu als wichtige Bereicherung c) keines der beiden, sondern: mittlerweile arbeiten wir integrativ, also eher beides c) keines der beiden, sondern: nein, beides! Das kann ich gar nicht trennen! Insgesamt wird deutlich, dass die befragten Fachkräfte die von uns vorgegebenen Kategorien als allgemeine Zuschreibungen eher ablehnen und wenig hilfreich finden, sondern die Wichtigkeit von Methodenvielfalt betonen. Im zweiten Teil der ersten Frage geht es um herausragende Merkmale im Vorgehen bei der Verdachtsbewertung, die sich ggf. von anderen unterscheidet. Hier betonen die Kinderschutz-Zentren vermehrt die Eigenverantwortung, insbesondere auch von Müttern und Jugendlichen selbst, sowie die Vermutung, dass bestimmte Settings in spezialisierten Beratungsstellen nicht zustande kommen: … Ich versuche immer, die Elternteile mit einzubeziehen – soweit der wirksame Schutz der Kinder dadurch nicht gefährdet wird. Das diskutieren wir Fachkräfte immer wieder untereinander rauf und runter in jedem Einzelfall. Eine vernünftige Diagnostik ist ohne Umfeld meiner Ansicht nach nicht möglich … … wir sprechen auch mit dem Beschuldigten, das macht dann eine andere Fachkraft, das machen die parteilichen eher nicht. Und … wir schauen eher, was hat im Gesamtgefüge dazu geführt, was hat (bei lange Jahre andauernden Übergriffen) ggf. die Mutter dazu beigetragen durch nicht Hingucken, warum musste sie wegschauen? Insgesamt gehen wir nicht so sehr von einem schematischen Machtgefüge aus, sondern sehen systemische Gesichtspunkte, jeder im Personenkreis trägt etwas dazu bei, dass es zu Missbrauch kam … … die Mutter will ggf. auch nicht wahrhaben, braucht vielleicht die missbrauchende Bezugsperson, weil diese sich besser ums Kind kümmert. Die nicht missbrauchende Bezugsperson hat einen wichtigen Anteil im Gefüge, wir müssen herausfinden, kann sie überhaupt schützen? … … bei Jugendlichen: in welcher Entwicklungsphase ist das Kind? Ist es gehört oder eigenes Erleben? Wie ist das familiäre System? 124 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? … Also dass wir grundsätzlich in unserer Arbeit die Möglichkeit bieten, mit sowohl Opfer und Täter zu sprechen. … Möglichkeit für Gespräch einräumen … grundsätzlich Respekt gegenüber allen … Die spezialisierten Beratungsstellen äußern sich auch zum Thema „unterschiedliche Settings“, mit verschiedenen Haltungen: … Bei den pro-systemisch arbeitenden Beratungsstellen kann es passieren, dass alle an einen Tisch kommen, also auch ‚Täter‘ und ‚Opfer‘; bei der parteilichen Arbeit geht das nicht (Die Opfer gehen dann Kompromisse ein, das ist eine Bagatellisierung; und auch: Retraumatisierung; … … Wir in der parteilichen Arbeit behalten den Fokus auf der vermutlich Betroffenen, egal, wie interveniert wird … … Wir nähern uns eher an. Wo es z. B. heute stark zum Ausdruck kommt, ist, dass wir auch (für die Diagnostik) den oder die ‚Tatverdächtige_n‘ einladen und mit ihr/ihm sprechen; dieses immer nur zu zweit. So haben wir früher nie gearbeitet … Im „geschlossenen“ Teil des zweiten Fragekomplexes lasen wir unseren Interviewpartner(inne)n insgesamt zehn Aussagen vor und baten sie, sich jeweils zu entscheiden, ob diese Aussage ihrer fachlichen Meinung nach zutrifft, eher zutrifft, eher nicht zutrifft oder sie gar keine Antwort darauf geben wollen. Insgesamt wird hier in den zusätzlich gegebenen Ausführungen die Unterschiedlichkeit des Einzelfalls betont. Gleichzeitig wird sich zum Teil auch positioniert, sodass ein Vergleich der beiden Befragungsgruppen möglich wird. Eine relativ hohe Einigkeit finden wir in den Antworten auf die Aussagen 3, 4, 6, 7 und 96. Eine deutliche Mehrheit der Fachkräfte stimmt (eher) nicht der Aussage 3 zu, sie würden dazu raten, nicht mit dem Kind über die eventuell erlebte Gewalt zu reden (11) oder entscheiden sich für die letzte Kategorie (7) und machen in ihren Ausführungen deutlich, warum sie hierauf keine geschlossene Antwort geben wollen: 6 Vgl. Auswertung: Übersicht zu den Antworten 2.2.* 125 birgit maschke … Wenn ein Kind reden möchte, muss es Raum haben. Nicht puschen. Es braucht jemanden, der das Kind begleitet. Sehr individuell … …Puschen nein, Raum geben ja … … Manchmal rate ich Fachkräften, das nicht zu tun, z. B. wenn sie nicht in der Lage sind, offene Fragen zu stellen oder kein guter Kontakt besteht zum Kind. In die Therapie gehört es hinein, und auch die Strafverfolgungsbehörden müssen mit dem Kind reden … … Ist wichtig, um die subjektive Perspektive des Kindes einzusammeln, was ist gut, was nicht. Kann sein, dass es manchmal wichtig ist, mit dem Kind zu reden, dann ist zu prüfen, wer ist die richtige Person hierfür und wie sprechen wir mit dem Kind. Da gibt es keinen Automatismus. Kommt drauf an … ich rate dazu, nicht auszufragen – und ich rate immer dazu, Augen und Ohren offen zu haben, wenn das Kind etwas sagen möchte, offen dafür zu sein, dem Kind signalisieren, die nehmen mich ernst, denen kann ich das erzählen, ich bitte Eltern immer darum, achten Sie darauf – wie signalisieren Sie Ihrem Kind: wenn du etwas erzählen möchtest – erzähle … … Kommt drauf an – wenn Kind selbst das Bedürfnis äußert – ja – aber nicht ständig nachfragen. Es kann entlastend für ein Kind sein und belastend, wenn der Erwachsene sich entlasten will + das Thema immer wieder anspricht … … Wenn es reden möchte, ist das immer gut, wenn ein Gegenüber da ist, was dafür offen ist … … Wem rate ich das und wann? Natürlich ist es gut, mit dem Kind zu reden, wenn es das möchte – es sei denn, auf ungute Weise: neugierig, eindringend oder bagatellisierend … … Grundsätzlich ist es gut, mit dem Kind zu reden … 18 der 20 interviewten Fachkräfte bringen die Perspektiven derjenigen, die sie beraten mit deren Einverständnis in Helferkonferenzen ein (Aussage 4). Bis auf eine sind alle Fachkräfte der Meinung, dass es zu den Aufgaben der Jugendhilfe gehört, in diesem Themenfeld Einschätzungen zu machen (vgl. Aussage 6). In den Ausführungen wird hier häufig auf die hierfür notwendige Erfahrung und Fachkompetenz verwiesen und das Jugendamt als hierfür zuständig benannt. 126 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? … Kommt drauf an, ob sie dafür ausgebildet sind. Irgendeine Fachkraft im Jugendamt ohne Erfahrung eher nicht, die sollte sich dann von erfahrenen Menschen, Kollegen, Fachberatung holen … … Das Jugendamt kommt aus der Nummer nicht raus, die müssen schauen, wie kommen sie zu der Einschätzung. Freie Träger brauchen Unterstützung dabei, eine Einschätzung zu treffen, hier sind die Beratungen durch die Insofas sehr gut … … Ist ja ihre Aufgabe, dass sie das machen. Sie müssen dafür natürlich Erfahrungen haben, sich möglicherweise Unterstützung holen … keine Position zu entwickeln fänd ich fatal – in der Realität machen sie das ja viel, manchmal holen sie dafür nicht die fachliche Unterstützung und haben trotzdem eine Einschätzung… … Doch, das müssen sie, sie müssen sich hierfür qualifizieren … … Doch natürlich. Das müssen sie doch, das ist doch ihr Job! Ausreichend ausgebildet müssen sie natürlich sein, kompetent in der Wahrnehmung … Auffallend bei den Ausführungen zu dieser Aussage ist die häufig gewählte Formulierung „sie müssen“ oder „sie sollen“ (in 9 von 11 Ausführungen). Dies erweckt den Eindruck, dass sich die Fachkräfte selbst nicht in der Verantwortung sehen, Einschätzungen zu formulieren und/oder sich nicht als Teil der Jugendhilfe betrachten. Das also für die Einschätzungen, die ja alle notwendig finden, die öffentliche Jugendhilfe zuständig wäre, weniger sie selbst. Nur zwei Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren sprechen in diesem Zusammenhang von „jeder“ oder „wir“: … Ohne Einschätzung können wir nicht hilfreich tätig werden. Manchmal braucht es eine klare Haltung. Das heißt nicht, dass wir uns als Gutachter präsentieren … … Um zu einem Ziel zu kommen, muss jeder seinen Eindruck schildern … Alle Fachkräfte widersprechen der Aussage 9, wer nach den Ursachen für sexuelle Übergriffe forsche, suche nach Entschuldigungen für die Täter(innen). (Einmal keine Antwort.) 127 birgit maschke Ähnlich einheitlich sind mit 15 Verneinungen die Antworten auf die Annahme 10, in systemisch orientierten Einrichtungen würden die Taten und deren Auswirkungen eher verharmlost. Immerhin drei Fachkräfte spezialisierter Einrichtungen antworten hier aber auch mit (eher 2) „ja“. … Nicht verharmlost, dennoch: der reine systemische Ansatz birgt das Risiko, zu wenig bzw. weniger grenzgebend zu sein … Eine eher unterschiedliche Streuung finden wir in den Positionierungen auf die restlichen Aussagen: Der Aussage 1: „Sexuelle Übergriffe sollten nicht durch Dritte bewertet werden. Entscheidend ist das subjektive Befinden der Betroffenen.“ stimmen 7 Fachkräfte der spezialisierten Beratungsstellen zu (davon eher 4), Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren verneinen dies dagegen klar (6) oder eher (1). Zitate aus den begleitenden Ausführungen der Kinderschutz-Zentren: … In Bezug auf die Konsequenzen, Bewertung nicht alleine durch Betroffene … … Die Verortung des Wahrheitsgehaltes muss passieren, dass kann nicht im Subjektiven belassen werden … … Subjektives Erleben ist wichtig, aber es sollte auch fachlich bewertet werden … … Was ist das für eine Aussage! Kommt auf den Kotext an: wenn es um therapeutische Bearbeitung geht: stimmt. Wenn es um strafrechtliche Verfolgung oder um familiengerichtliche Entscheidungen geht, muss bewertet werden … … Das subjektive Erleben der Betroffenen ist wichtig … Frage ist, wer bewertet und wofür? Klar bewerte ich, wenn mir z. B. ein Kind erzählt, es wurde an die Brust gefasst, dann nehme ich das sehr ernst – heißt trotzdem nicht, dass der Mann gleich aus dem Verkehr gezogen werden muss … immer das Kind und seine subjektive Bewertung ernst nehmen … … Hängt vom Alter der betroffenen Person ab. Bei Kindern müssen andere bewerten. Bei Erwachsenen ist das was anderes. Hängt von den Umständen und der Person ab. Natürlich steht das subjektive Empfinden immer im Vordergrund – aber es hängt vom Kontext ab – es kann nicht allgemeingültig beantwortet werden. Wenn der Missbrauch nachweislich stattgefunden hat, habe ich nicht zu bewerten … 128 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? … Wenn sie gar nicht durch Dritte bewertet werden, würden sie ja nie nach außen dringen. Ist ja Blödsinn, dann bliebe ja alles unter der Decke. Eine Gesellschaft, die Kinder zu Objekten sexueller Lust macht, ist nicht erstrebenswert … Auch unterscheiden sich die fachlichen Haltungen zum Thema Strafanzeige (Aussage 2): „Eine Anzeige ist in der Regel nicht ratsam.“: Während 5 Fachkräfte der spezialisierten Einrichtungen (davon eher 4) der Aussage zustimmen, sind 6 Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren (davon eher 2) nicht dieser Meinung. Die Zahl der Fachkräfte, die sich auf keine Antwort festlegt, ist hier mit der Anzahl 4 und 3 verhältnismäßig hoch. Insgesamt wird in den begleitenden Ausführungen auch hier von vielen die Besonderheit jedes Einzelfalls betont: … Anzeige ist ja ganz oft problematisch, in jedem Fall nicht der erste logische Schluss. Vorher genau überlegen mit den Betroffenen, was hat es für Folgen? Wozu soll es dienen? Wenn die Betroffenen das wollen, kann es hilfreich sein. Oft sind die Folgen anders, als man bezwecken wollte … … Ist in jedem Fall abzuwägen … … Die Frage ist wann? In vielen Fällen kann es auch ein Teil der therapeutischen Aufarbeitung sein. Auch gesellschaftlich ist wichtig, dass das bekannt wird, auch damit wir im Strafrechtssystem weiterkommen. … Eine Schnellschussanzeige ist nicht gut, dann sind wir eher beim stimmt … … Auch wieder schwierig … kommt drauf an, was passiert ist und was will das Kind? Eher würde stimmen, eine Anzeige muss gut überlegt werden. Bei einer Vergewaltigung und sichtbaren Verletzungen – da – ja klar – aber bei vagen Aussagen … da wird das Kind später durch ein Gerichtsverfahren eher belastet und es geht aus wie das Hornberger Schießen und das ist dann eine unnötige Belastung, da würde ich eher abraten von einer Anzeige… … Pauschal so nicht richtig. Durchaus Fälle erlebt, in denen Anzeige sehr sinnvoll war. Das ist differenziert zu betrachten: Was will das betr. Kind/Jugendliche(r). 129 birgit maschke Während sich die spezialisierten Einrichtungen einig zu sein scheinen, dass Täter(in) und Betroffene sich nach der Gesprächsöffnung über die sexuelle Gewalthandlungen nicht mehr begegnen dürfen und die Betroffenen vor so einer Belastung geschützt werden müssen (Aussage 7 ja (davon eher 1)), stimmen nur fünf Befragte der Kinderschutz-Zentren dieser Aussage zu (davon eher 3). Auch hier werden zum Teil sehr differenzierte Ausführungen gemacht: (eher ja) … Zumindest während der Klärungsphase … … Wär gut, wenn das immer funktionieren würde und dieser Schutzraum organisiert würde. Es kommt darauf an, ob es eine starke, schützende Person in der Nähe gibt. Wünschenswert ist, dass sie sich nicht begegnen, das passiert aber oft in der Realität … … Schwierig so eine Konstellation hinzukriegen ohne dass die Kinder/ Jugendlichen immer wieder getriggert werden. Jugendliche wollen oft weiter Kontakt, sie wollen selbst über ihr Leben entscheiden und gleichzeitig tut es ihnen nicht gut … … Kommt drauf an. Wenn Betroffene das wünscht, kann das hilfreich sein, wenn es gut begleitet und vorbereitet ist – nur auf Wunsch der/des Betroffenen … … Kommt drauf an … wenn Kinder sagen, wir möchten den sehen, dann müssen wir die Möglichkeiten der Begegnung schaffen, ohne, dass Übergriffe stattfinden können. Wir müssen den Wunsch der Kinder respektieren … … Hängt auch von Betroffenen ab, kann nicht verallgemeinert beantwortet werden, genau gucken, wer möchte was … Frage: wie wäre ein Zusammentreffen zu organisieren? … … Würd ich erstmal zunächst so zustimmen aber nicht ausschließlich – zu einem bestimmten Prozentsatz kann es Fälle geben – Verantwortungsübernahme … nach einer bestimmten Zeit …und viele Dinge geschehen, mit eigener Sexualität und Taten auseinandergesetzt … und therapeutischer Behandlung – kann auch wieder Kontakt möglich sein. Ich reduziere das Opfer nicht nur auf das Opfersein und den Täter nicht nur auf das Tätersein … es braucht viel Zeit und Vorbereitung, damit ein Zusammenkommen nicht zu einer Fortsetzung von Manipulation und Gewalt führt. Je länger und intensiver die Übergriffe waren, desto seltener wollen Kinder wieder den Kontakt. Kinder mit vitalen Ressourcen, die die 130 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? Übergriffe selbst gestoppt haben, wollen eine Begegnung manchmal schnell wieder herstellen – ist aber nicht oft der Fall … Deutlich unterscheiden sich die Antworten bei der Aussage 5: „Parteilich orientierte Beratungsstellen hinterfragen die Angaben und Interpretationen von Betroffenen nicht.“ Die speziellen Beratungsstellen halten diese Aussage mehrheitlich (6) für falsch (davon eher 2), vier (davon 1 eher) sind der Meinung, diese Aussage trifft zu. Bei den Kinderschutz-Zentren ist die Streuung nicht so hoch, hier Stimmen 7 (davon eher 6) der Aussage zu und nur zwei verneinen klar. Gleichzeitig wird die Positionierung von einigen aber auch wieder relativiert: … Vielleicht ist das auch ein Vorurteil. Ich hoffe … … Mit Einschränkungen, ich kenne Kolleginnen, die das schon tun … … Hab ich schon erlebt. Gibt auch welche, die das tun … Zur offenen Frage des dritten Fragekomplexes gab es die ausführlichsten Rückmeldungen. Wir fragten hier danach, wie die Grabenkriege Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre (s. o.) damals das Handeln der Fachkräfte beeinflussten und ob sie ihrer Meinung nach noch heute einen Einfluss auf ihr methodisches Vorgehen hätten. Letzteres wurde insgesamt mehrheitlich verneint. Bei der danach gestellten geschlossenen Frage, ob es noch heute einen Unterschied mache, ob ich mich als Eltern oder Fachkraft mit meiner Bitte nach Beratung und Unterstützung an eine parteilich orientierte Beratungsstelle wende oder an ein KinderschutzZentrum / eine Erziehungsberatungsstelle, waren dann jedoch insgesamt 16 von 20 Fachkräften der Meinung, es mache einen Unterschied (davon 10, also alle, der spezialisierten Beratungsstellen), nur drei Fachkräfte aus den Kinderschutz-Zentren fanden, dass es keinen Unterschied mache. Gehäuft findet sich in den Ausführungen aus beiden Interviewgruppen die Betonung darauf, dass es eher auf die Persönlichkeit der Beraterin ankommt, als darauf, in welcher Institution sie arbeitet: … nein – Ich lehne die Kategorisierung ab. Jede Beratungsstelle hat ihr eigenes Profil. Je nachdem, wo du landest, kriegst du unterschiedliche Unterstützung 131 birgit maschke … das ist auch eher von den Personen abhängig … … hängt von der handelnden Person ab. Ich erlebe sogar in meinem Umfeld Unterschiede – möglicherweise bei Wildwasser denke ich – oh, die sind sehr parteilich, vielleicht ist das aber auch ein Vorurteil … haben sich angenähert … Kind im Zentrum und Kinderschutz-Zentren sind nicht mehr so unterschiedlich im Vorgehen … Auf welche Person treffen die Ratsuchenden? Wichtiger ist aber, wer ist da und wie ausgebildet … … Wenn es spezifisch um sexuelle Gewalt geht, wende ich mich natürlich eher an eine spezialisierte Beratungsstelle. Aber wenn in einem Kinderschutz-Zentrum jemand ist, der gut spezialisiert ist, kann ich natürlich genauso gut dahin gehen. Es kommt eher auf den Menschen an, als auf die Institution … Häufig in beiden Interviewgruppen sind außerdem Äußerungen, die damalige Schwierigkeiten beschreiben und dann feststellen, dass die Kooperation heute gut ist. Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren: … Die alten Hasen der anderen Richtung hatten schon zum Teil ein sehr parteiliches Vorgehen, das war manchmal hinderlich und an vielen Stellen schwer zu lösen. Heute sind die Claims abgesteckt, regional gibt es keine Schwierigkeiten, keine Konkurrenz, wir haben uns arrangiert … … Die Grabenkriege sind nicht mehr so da. Nicht mehr so viel Vorbehalte spielen noch eine Rolle und werden manchmal sichtbar. Wir müssen uns beide fragen: haben wir da blinde Flecken? … … Heute eine hohe Akzeptanz in der unterschiedlichen Vorgehensweise … … Die hitzigen Diskussionen waren oftmals vielleicht interessanter als das Wohlsortierte heute. In einem sehr schnelllebigen Arbeitsalltag bevorzuge ich dennoch eine gewisse Struktur … … die sehr Parteilichen arbeiten heute aber auch nicht mehr so, dass sie nach Bestätigungen suchen, das hat sich sehr angenähert … innere offene Haltung heute … … Ich erinnere mich schon an unschöne Diskussionen. Personelle Anfeindungen, verleumdet als Täter stärkend, mit Blindheit geschlagen, als unfachlich diskreditiert – das hat sich sehr verändert. Heute gibt es eine ganz 132 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? andere fachliche Kooperation. Bei uns hier in der Region gibt es eine gute Kooperation mit parteilichen Einrichtungen … Zitate aus spezialisierten Beratungsstellen: … Ja, damals gab es solche Grabenkriege, die dazu führten, dass die Zusammenarbeit brach lag. Heute gibt es einfach Hürden, allerdings nicht ganz so krass … … Damals waren wir schon eine parteiliche BS und haben uns klar gegen die KSZ positioniert. Heute hat es einen geringen bzw. viel geringeren Einfluss und noch weniger untereinander (Fachkräfte); wir sind mittlerweile in einem akzeptablen Austausch … … heute gibt es mehr Respekt für die Fachkollegen in anderen Fachbereichen; heute ist es weniger ein Kampf … … meiner Meinung nach ist das heute nicht mehr der Punkt der Auseinandersetzung. Und damals, damals haben wir z. B. großen Wert darauf gelegt, dass wir bei häuslicher Gewalt zwischen sexueller Gewalt und körperlicher Gewalt unterscheiden und dieses klar benennen. In Kinderschutz-Zentren wurde damals eher von ‚Schädigungen‘ gesprochen. Heute sind wir mit unseren Fragen näher am systemischen Denken. Heute geht es nicht mehr so sehr um Abgrenzungen … … Ja, das haben sie. Damals: Ich war sauer und ich habe leidenschaftlich den parteilichen Ansatz vertreten. Zudem war ich hochkritisch am systemischen Ansatz und habe bei der Auseinandersetzung damit genau hingeschaut. Damals war es eine Schwarz-Weiß-Malerei, es gab kein Miteinander, und das war wenig hilfreich. Und: Diese ‚Grabenkämpfe‘ sind noch gar nicht so lange her, auch noch vor 7, 8 Jahren fanden sie statt. Heute: Wir sind mittlerweile im Dialog und müssen beides zusammenbringen. Die kritischen Momente sollen angeguckt werden mit einem wichtigen: wie-geht-es-miteinander? … … Heute nicht mehr, seit mehr als 25 Jahren arbeite ich hier in der Beratungsstelle. Am Anfang war es ein Aufbruch, da wurden Sachen/ Dinge mal auf den Tisch gepackt. Klar gab es unterschiedliche Ansätze und Sichtweisen (z. B. kein Kontakt zwischen Täter(in) und Betroffener … … ich habe die Ausläufer von den ‚Grabenkriegen‘ mitbekommen. Der politische Hintergrund war damals anders, das waren andere Leute. Wir fühlen uns eher den parteilichen Beratungsstellen zugehörig. Und in der 133 birgit maschke konkreten Fallarbeit, denke ich, dass sich im Laufe der Jahre die beiden Seiten angeglichen haben, es dient noch der Orientierung … An mehreren Stellen wird von Fachkräften beider Interviewgruppen eine Bedeutung der damaligen Auseinandersetzung reflektiert. Zitate aus Kinderschutz-Zentren: … Diese Bewegung (Frauenbewegung) war ein großes Verdienst. Zunehmend habe ich gemerkt, das passt nicht immer, das gibt mir nicht auf alle Fragen Antwort, diese Grundhaltung alleine funktioniert nicht in der Arbeit mit den Klientinnen. Als ich die Kinderschutz-Zentren kennenlernte, war ich froh über die andere Sichtweise und gleichzeitig skeptisch und misstrauisch: kann man da systemisch drauf gucken … Hilfe statt Strafe? Es ist eben nicht eine Misshandlungsform unter vielen – damit tu ich mich bis heute schwer mit diesem Spannungsfeld … … vorsichtige Haltung gegenüber denen … beeinflusst in dem Sinn, eigenes Handeln zu hinterfragen – sind wir vielleicht zu familienorientiert? In dem Sinne war die Debatte auch positiv … … Das ist ein Spannungsbogen. Parteilich ist eher wie mit dem Holzhammer, erwarten eine Haltung, die ich haben muss, sonst schützen wir nicht – gleichzeitig braucht es die systemische Haltung – aber die kann nicht schützen. Beides hat mir weitergeholfen, um eine individuelle Haltung zu entwickeln … Zitat aus parteilichen Beratungsstellen: … Ja, ich war dabei; natürlich hat es einen Einfluss auf meine Arbeit gehabt; innerhalb meiner persönlichen Entwicklung hat sich etwas verändert, dadurch auch in meiner Arbeit; sie ist offener geworden, ich bin nicht mehr am Polarisieren. Damals war es total wichtig für die Zeit (80/90), ebenso die Frauenbewegung, wie gesagt; sehr wichtig auch damals dieses Polarisieren, dieser Kampf, diese Extreme, um eine Haltung zu entwickeln … Nur zwei Fachkräfte (Gruppe Kinderschutz-Zentren) äußern sich kritisch zur aktuellen Entwicklung: 134 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? … Wie ich anfangs sagte – nicht zu schnell auf eine Seite schlagen. Damals – und mit damals meine ich noch bevor man über Misshandlungen an Jungen sprach – kamen bestimmte Settings gar nicht zustande. Zum Beispiel konnten auch keine Väter eingeladen werden … Grundkonstellationen, die wichtig gewesen wären, wurden ausgeschlossen, das ist auch heute noch so. Systemisch betrachtet handelt es sich ja häufig nicht nur um ein Problem, sondern um viele … z. B. psychische Gewalt, Vernachlässigung, psychische Erkrankungen eines Elternteils, körperliche Gewalt. Die Einschränkung auf eine Gewaltform habe ich immer als problematisch empfunden. Da gibt es auch sowas wie einen Selbsterhaltungstrieb – ich brauche das Thema – das wird auch jetzt wieder mehr aktuell bei den Diskussionen um den Runden Tisch usw. – das Gewaltthema sexuelle Gewalt ist wieder einseitig gestärkt worden, sodass wir heute eher wieder weiter auseinanderrücken. Geht es in der Diskussion um Schutzkonzepte nur um sexuelle Gewalt oder um sichere und demokratische Orte für Kinder? … … Ich erinnere aber auch in jüngster Zeit … eine Kollegin wurde angefeindet, die sich für Täterarbeit stark gemacht hat – das find ich traurig – gibt es immer noch mal – ich hoffe, das wird sich ausschleichen – eine Phase, die zu Ende geht, weil wir mit Alter und Lebensweisheit von ganz harschen alten Positionen lassen können … Persönliches Fazit Wenn ich mir die eingangs – hier in der Überschrift – genannten Fragen anschaue, wie wir sie ursprünglich zur Vorbereitung auf das Werkstattgespräch abgestimmt hatten, stelle ich selbstkritisch fest, dass wir uns – zusammen mit allen 20 Interviewpartner(inne)n – um eine wirkliche Beantwortung der Fragen gedrückt haben. Und vielleicht ist eine wichtige Erkenntnis daraus, dass wir Fachkräfte heute uns weigern, in diesen Kategorien von vermeintlichen Gegensätzen zu denken. Vielleicht verharmlosen wir aber auch die unterschiedlichen Haltungen und Glaubenssätze, die unser Handeln in diesem Themenfeld steuern. Ganz sicher können wir diese Unterschiedlichkeiten nicht mehr in zwei große Schubladen mit der Aufschrift „Kinderschutz-Zentren“ und „parteilich orientierte Beratungsstellen“ sortieren. 135 birgit maschke Eine wichtige Lernerfahrung im Zuge dieser Interviews war die Tatsache, dass sich nur drei der Beratungsstellen selbst als „parteilich“ einordneten, obwohl wir in der Auswahl ja alle zehn dieser Kategorie zugeordnet hatten. Den Kinderschutz-Zentren hatten wir die Kategorie „systemisch“ zugeordnet, wo sich nur fünf der zehn interviewten Fachkräfte wiederfinden konnten. Um diese eindeutig nicht gewollten Kategorien zukünftig nicht weiterzufüttern, sollten wir uns vielleicht angewöhnen, nicht mehr von „parteilichen Beratungsstellen“ zu sprechen, sondern von „auf sexuelle Gewalt spezialisierte Beratungsstellen“. Insgesamt bin ich beeindruckt von den differenzierten und fachlich hoch kompetenten Antworten, die handlungsleitende Prinzipien von fachlich gebotener Ruhe und die Wertschätzung von Perspektivenvielfalt spiegeln. Als (teilzeit) Angestellte in einem Jugendamt haben mich die Ausführungen zu Aussage 6 irritiert, die darauf hindeuten könnten, dass sich nur zwei der 20 Befragten mit der Idee identifizieren, selbst ihre Einschätzungen in den Hilfeprozess einzubringen, sondern hierzu auf das Jugendamt verweisen. Die hierfür nötige Kompetenz kann von den Fachkräften des ASD alleine nicht erwartet werden, denn sie sind nicht diejenigen, die auf dieses Themengebiet spezialisiert sind und die ggf. hierfür notwendige zahlreiche Gespräche mit Eltern und Kindern führen. Sie brauchen, um ihren Job gut machen zu können und nach Sammlung der verschiedenen Perspektiven Hilfeentscheidungen zu treffen – hierfür die Einschätzung der Fachkräfte aus den Kinderschutz-Zentren und den spezialisierten Beratungsstellen, welche ja auch einheitlich das Einbringen der Perspektiven von Eltern und Kindern in den Hilfeprozess zusagten. In den wie im Fallbeispiel oben beschriebenen Fällen braucht es mehr als das „neutrale“ Einbringen der Perspektive von Eltern und Kindern, es braucht zusätzlich so etwas wie eine „fachliche Übersetzung“ der verschiedenen Einzelperspektiven, also auch eine eigene fachliche Einschätzung und Bewertung der Fachkräfte, die mit dem Familienoder Fachkräftesystem arbeiten (selbstverständlich deren Einwilligung vorausgesetzt). Eine andere Möglichkeit der Interpretation wäre die Hypothese, dass sich die Befragten schon durch die Formulierung der Frage selbst nicht als Teil der Jugendhilfe fühlen, sondern mit „Jugendhilfe“ im Kontext dieser Frage selbstverständlich nur die „öffentliche Jugendhilfe“ assoziieren. Bestimmt gibt 136 wie viel parteilichkeit ist kindgerecht? es auch noch ganz andere Interpretationsmöglichkeiten, die wir im weiteren fachlichen Dialog noch einsammeln können. Im Zuge der Interviews habe ich mich auch (wieder) neu mit den verschiedenen Theorien auseinandergesetzt – was heißt denn in diesem Themenfeld „systemisch“ oder „parteilich“ handeln? Selbstverständlich muss es einen Unterschied machen, ob die Beratungsstelle, die ich um Rat frage, „Kind“ einer sozialmedizinischen oder einer gesellschaftspolitischen Bewegung ist. Und trotzdem klingen die Antworten glaubhaft, dass es (inzwischen) mehr auf die Persönlichkeit der/des einzelnen ankommt als darauf, bei welchem Träger ich angestellt bin. Oder machen wir uns da nur etwas vor, weil wir alle glauben wollen, dass wir ganz frei, unabhängig und individuell agieren (können)? In jedem Fall gibt es viel Öffnung und Wertschätzung füreinander, wenn auch die alten Vorwürfe „Kinderschutz-Zentren verharmlosen“ und „Spezialisierte blenden Wesentliches aus“ hin und wieder durchscheinen. Als bekennende Anhängerin humanistischer und systemischer Grundüberzeugungen stimme ich der Aussage einer Interviewpartnerin zu: „… beide Seiten der Medaille anzuschauen, heißt nicht, etwas zu entschuldigen – systemische Haltung heißt auch, klar Position zu beziehen und Übergriffe zu benennen“ … und Schutz zu organisieren. Gleichzeitig achte ich die Verdienste der Frauenbewegung, denn dass das Vorkommen sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder in unserer modernen Gesellschaft jahrelang verschwiegen wurde, ist auch eine Tatsache. Abschließend denke ich, dass es auch heute noch einen Unterschied machen kann, ob ich mich in Fällen des Verdachtes sexueller Gewalt gegen ein Kind als Eltern oder Fachkraft mit meinem Wunsch nach Beratung zunächst an ein Kinderschutz-Zentrum oder eine spezialisierte Beratungsstelle wende. Die Chance, dass ich in beiden auf Fachkräfte treffe, die mich mit hoher fachlicher Kompetenz darin unterstützen, mit fachlich gebotener Ruhe und Hypothesenvielfalt meine Entscheidungen zu treffen, ist sehr viel größer als noch vor 25 Jahren. Und – wir können uns noch so viel Mühe geben, gute fachliche Arbeit in diesen Fällen zu beschreiben – jeder Fall bleibt ein Einzelfall mit zahlreichen Facetten, sodass wir aufhören können, nach allgemeingültigen Antworten zu forschen. In jedem Einzelfall ist ein dialogischer Prozess notwendig – immer wieder neu. 137 birgit maschke Literatur Enders, Ursula (2001): Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. (Erw. Neuausgabe.) Köln: Kiepenheuer & Wisch. Rutschky, Katharina/Wolff, Reinhart (1999): Handbuch Sexueller Missbrauch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag. 138 I michael böwer / britt heinrichs / mareike naß Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe Befunde einer Forschungswerkstatt im Rahmen des Forschungsprojektes „ISkE“ Das soziale Phänomen von Gewalt gegen junge Menschen in Institutionen und die sich daraus ergebende Frage der Ursachen, wie der Verbesserung des institutionellen und fachlichen Umgangs mit Gewalt und Grenzverletzungen, hat im Anschluss an Berichte und Selbstzeugnisse Betroffener und der öffentlichen Aufarbeitung im Rahmen Runder Tische eine wichtige Rolle für die Neuregelungen des Bundeskinderschutzgesetzes und de jure zur Entwicklung institutioneller Präventionsrichtlinien in dessen weiterem Nachgang gespielt. Auf Basis grundlegender und zunehmend auch spezifischer Beiträge zur Diskussion1 scheint es geboten, dem Risiko von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in professionellen Betreuungsverhältnissen, die sich durch strukturelle und alltagsförmige Abhängigkeiten der Adressat(inn)en auszeichnen, institutions- und organisationsbezogen besondere fachliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mit Blick auf erste empirische Analysen und Bestandsaufnahmen des DJI (2011), Fegert et al. (2011), Zimmer et al. (2014) und des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (vgl. UBSKM 2013) sowie unter Berücksichtigung auch kriminologischer, soziologischer und sexualpädagogischer Erkenntnisse2 besteht gegenwärtig ein Forschungsdesiderat dahingehend, welche Strategien und Konzepte in der 1 Vgl. zum Phänomen des Risikos grundlegend Luhmann 2003, zu Kontexten sorgender Arrangements die Beiträge in Thole et al. 2012 sowie systematisierend: Willems/Ferring (2014), Böllert/Watzlawick (2014), Wolff (2012, 2013), transnational vergleichend: Bundschuh (2011), organisationssoziologisch: Bode/Turba (2014). 2 Vgl. nähere Diskussion u. a. bei: Stadler et al. 2012, Wilmers et al. 2002, Sutterlüty 2003, Sielert 2011. 141 michael böwer / britt heinrichs / mareike naß „Tiefe“ organisationaler Praxis Sozialer Arbeit Verwendung finden und welche Erfahrungen in bisheriger Umsetzungspraxis gewonnen wurden. Forschungsprojekt „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe (ISkE)“ Die qualitativ-explorative Studie „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe (ISkE)“ richtet den Blick auf die Umsetzung von (vorhandenen) institutionellen Schutzkonzepten in der alltäglichen Praxis von freien Trägern der Hilfen zur Erziehung und auf ihren organisationalen Umgang mit dem Risiko von bzw. mit erlebter Grenzverletzung. Damit sollen Erfahrungswerte im Feld sichtbar gemacht werden, um Anregungen für die Praxis der Erziehungshilfen anderswo geben zu können und die jedenfalls für den deutschsprachigen Raum erkennbare Forschungslücke zu schließen.3 Dabei kann angeschlossen werden an neure sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu Organisationen, von denen seitens ihrer Umwelt ein hohes Maß an Zuverlässigkeit erwartet wird, obwohl sie mit schwer vorhersehbaren und unklaren Fallkonstellationen konfrontiert sind (vgl. Weick/Sutcliffe 2010, Müller 2012a u. 2012b, Böwer 2012). Parallel andernorts begründeter Fokussierung insbesondere auch der Adressat(inn)en-Perspektive,4 interessiert organisationskulturell gesehen hier der Fokus von Fach- und Führungskräften auf eigene Erfahrungen und Erkenntnisse im Erziehungshilfealltag und in der praktischen Umsetzung (primär-) präventiver Konzepte. Untersucht werden soll, welche fachlichen Akzente, Prämissen und Betrachtungen hinsichtlich lokaler Praxen auch in ihren Herausforderungen, in alltäglichen oder institutionellen Stolpersteinen bzw. Hindernissen im Hinblick auf eine achtsame Organisationskultur (vgl. ebd.) gesetzt werden. Anschließend an eigene Untersuchungen zur Kinderschutzpraxis in bundesdeutschen Jugendämtern (vgl. Böwer 2012, 3 Demgegenüber lässt sich mittlerweile (relativ gesehen) ein breites Spektrum an Publikationen zur historischen Aufarbeitung von Gewalt und Grenzverletzungen u. a. in der Heimerziehung beobachten (vgl. UBSKM 2014). 4 Vgl. Forschungsverbund Ulm/Landshut/Hildesheim (2014) 142 institutionelle schutzkonzepte 2013) wird davon ausgegangen, dass professionale, organisationale bzw. organisationskulturelle Praxen sich in subjektiver und kollektiver Perspektive des Handelns unter Bedingungen loser Kopplung in Prozessen des Organisierens im Expert(inn)enwissen ablichten lassen und daher sinnvoll dort versammelt zu erheben sind.5 Mit dem Blick auf die fachliche Umsetzung in den Einrichtungen vor Ort stellen sich folgende Forschungsfragestellungen: (1.) Wie kann präventiv grenzverletzendem Verhalten im Alltag auf Ebene der einzelnen, meist hinsichtlich von Hilfen differenziert ausgebildeten Einrichtung mit welchen, ggf. auch schon erprobten, sich bewährenden fachlichen Herangehensweisen begegnet werden? (2.) Was kennzeichnet aus Sicht der Expert(inn)en eine gelingende Praxis vor Ort? (3.) Welche Erfahrungswerte zur Umsetzung können ggf. gerade auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen6 an Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung andernorts empfehlend weitergegeben werden, um im Sinne eines gelingenden Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung zu einem gelingenden (bzw. gelingenderen) institutionellen Schutz vor Grenzverletzungen zu kommen? Um dorthin zu gelangen, wurde im Rahmen des 10. Kinderschutzforums ein (offenes7) Expert(inn)en-Hearing in Form einer Gruppendiskussion (vgl. Bohnsack 2004) durchgeführt, um auf Basis der hier vorhandenen Expertise teilnehmender Fach- und Führungskräfte als Expert(inn)en des Feldes institutioneller Schutzpraxis vorliegendes Wissen und vorliegende Erfahrungen sichtbar zu machen. Auf Basis dieser ersten Systematisierung sollen in Ergänzung zur vor- 5 Vgl. näher: Wolff (1981), Weick (1985), Meuser/Nagel (1991), Schein (2003), Böwer/Wolff (2011). 6 Vgl. zur Relevanz als präventiver Faktor: Wolff/Hartig (2013), systematisch Verfahren zusammenfassend: Wolff (2013, 2014). 7 Der Teilnehmer(innen)kreis wurde im Vorhinein nur durch die sicherheitstechnisch zulässige Raumbelegung begrenzt, um angesichts des festgestellten Forschungsdesiderats und des insoweit notwendigen explorativen Zugangs eine i. S. der in qualitativer Forschung interessierenden Expert(inn)enschaft (vgl. Meuser/Nagel 1991) möglichst offene Perspektive zu eröffnen und vielfältige Expertise auf das soziale Phänomen anzureichern. Der Bezug zur Erziehungshilfe wurde erst kurz zum Schluss der Ausschreibung im Tagungsprogramm hergestellt und in drei, grundlegende Positionierungen des UBSKM aufgreifenden Diskussionsimpulsen schrittweise präzisiert. 143 michael böwer / britt heinrichs / mareike naß liegenden Datenbasis und Diskussion vorläufige Eingrenzungen zur Konzeptionierung einer leitfadengestützten Interviewstudie nach Grounded-Theorybasiertem Forschungsstil gebildet werden, mittels derer sodann weiterführend systematisch die lokale Praxis der Umsetzung des institutionellen Schutzauftrags unter die Lupe genommen wird.8 Forschungswerkstatt auf dem 10. Kinderschutzforum: „ISkE“-Expert(inn)en-Hearing Das Angebot des Expert(inn)en-Hearings fand großen und engagierten Zuspruch; während der vom Programm her vorgegebenen Zeit von 90 Minuten nahmen an dem Hearing insgesamt 41 Teilnehmer(innen) des bundesweit ausgeschriebenen und im Fachgebiet etablierten Kongresses in den Räumen der Universität zu Köln teil. Das auf Tonband aufgezeichnete und in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (vgl. Selting et al. 2009) verschriftlichte Material der Gruppendiskussion wurde basierend auf der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2001, 2014) ausgewertet. Dabei lassen sich Sinn- und Bedeutungszuschreibungen rekonstruieren, die kollektives soziales Handeln und Interpretationen der Akteure im organisationalen Kontext begründen (vgl. Friebertshäuser et al. 2010, Bohnsack 2014). Subjektive und gemeinsam mit anderen Diskutant(inn)en geteilte Sinnhaftigkeit sind alsdann zu vergleichen, um kollektive Erfahrungen und Orientierungen aus geteilten Erfahrungshintergründen hinsichtlich von Einstellungen und handlungsleitendem Wissen rekonstruieren zu können (vgl. Bohnsack et al. 2010). Deutlich wurde, dass die Akteure des Feldes über keine in sich abgeschlossenen „fertigen“, schon systematisch-profilierten Einschätzungen zur professionellen Praxis des Schutzes vor Grenzverletzungen verfügen. Vielmehr lässt sich das, 8 Die zweite Erhebungsphase des Forschungsprojektes beginnt im April 2015; die Publikation der Ergebnisse ist 144 für Februar 2016 terminiert. Das Forschungsprojekt insgesamt wird realisiert durch Etatmittel der Senatskommis- sion für Forschungs- und Entwicklungsaufgaben der Katholischen Hochschule NRW. institutionelle schutzkonzepte was „Schutzkonzept“ als Begriff oder Produkt „ist“, „sein soll“ bzw. „sein könnte“, als gegenwärtig (noch) diffus erkennen. Dies und parallel die Prozesshaftigkeit institutioneller Neuerung in „Prozessen des Organisierens“ (Weick 1995) illustriert die Beschreibung einer Teilnehmerin: „Also das hat so`n ganz langen Weg und ich finde wir sind aufm guten Weg und ähm, ja, das ist wie so eine Verlaufsdiagnose, es verl- ne, es läuft und das ist schön, es ist im Fluss.“ [T1/Z. 150–152]. Gleichwohl bestehen vielfältige Praxiskonzepte und unterschiedliche Entwicklungsstände in unterschiedlichen Praxisfeldern und Institutionen. Es lassen sich erste, aber vermutlich noch stärker spezifisch geteilte „Erfahrungsräume“ (re-) konstruieren. So scheint der Bedeutungszusammenhang im Spektrum von der Dynamik Institution – Kollege – Klientel über die baulich-atmosphärischer Beschaffenheit sozialer Orte und sonst interpretativer Muster (z. B. „Mann“ als Fachkraft und Risiko) bis hin zu neuen Settings bzw. Interventionskonzepten (z. B. „Ansprechpartner in Parallelgruppe“, „opferorientierter Tätertherapeut“) zu reichen. Geht man näher in die Analyse des Diskurses, werden zentrale Kategorien erkennbar, innerhalb derer sich institutionelle Schutzkonzepte ablichten lassen: · Schutzkonzepte scheinen spezifisch engagierte Akteure vor Ort („Kümmerer“) als aktiv interessierte Expertise in den Einrichtungen wie auch im trägerübergreifenden Netzwerk zu benötigen. Diese scheint eine gesonderte Ebene gegenüber dem Alltagsgeschäft zu bilden, in separaten Settings oder anderen kompetenzbezogenen Zugängen begründet zu sein. Günstig sei, wenn „die Türen an ganz oberer Stelle ganz weit auf sind“ [T2/Z. 456] – also dass Schutzkonzepte die institutionelle Spitze „interessieren“, d. h. vom Vorstand bzw. der Hierarchiespitze her aktiv gewollt sind. Für zuständig erklärte Mitarbeiter(innen) kennen zugleich angesichts der Größe der Aufgabe ein Gefühl der Verunsicherung bzw. Irritation – sie sehen sich in einer Zwickmühle, wenn sie sich organisational nicht in der Lage sehen, eine Passung herzustellen: „Wir sind ein großer Träger, wir haben offene Einrichtungen, Schulsozialarbeit, offene Ganztagseinrichtungen, also wir sind sehr verschieden, […] und das ist 145 michael böwer / britt heinrichs / mareike naß im Moment so ein bisschen die Quadratur des Kreises, ein Konzept für alle zu schreiben, weil eigentlich klar ist: das geht gar nicht. Aber alles andere sprengt auch den Rahmen, das geht auch nicht.“ [T1/Z. 319–323]. · Schutzkonzepte benötigen offenbar einen spezifischen Aufforderungscharakter: eine klare, regelgeleitete, leicht verständliche Aufmachung jenseits von „Präambeln“, die sie „lebendig“ werden lässt, der einen „Transfer (schafft,) in das Leben der Kinder und Jugendlichen“ [T2/Z. 31] und „Annäherungen“ an das Thema auch für Fachkräfte. Schutzkonzepte müssen sich dadurch auszeichnen, dass sie für den Fall der Fälle konkrete Folgen und Hilfsmöglichkeiten zum Umgang mit grenzverletzenden Personen und Ansprechpartner(innen) benennen, die „Ahnung haben“ [Z. 14]. Diese müssen nicht direkt selbst alle weiteren Schritte einleiten und Handlungspläne abarbeiten können, sondern sollten hinsichtlich von Zuverlässigkeit und Kompetenz ein vertrauensvoller Zuhörer sein, der die Betroffenen erst einmal ernst nimmt. Die Expertise zur Erstellung von Schutzkonzepten erhält man oft aus Kooperationen mit anderen Kolleg(inn)en oder Stellen (u. a. Jugendämtern) – der Nutzen kann aber auch darin liegen, Kinder und Jugendliche als Expert(inn)en zur Formulierung der Schutzkonzepte einzubeziehen: „Was ich ganz wichtig finde, ist der Einbezug der Adressaten- weil der kannder kann sich besser mitteilen: was schützt mich an - als [.] die Kinder oder Jugendlichen selbst.“ [T2/Z. 281–283]. Befragt man nämlich Adressat(inn)en, werden Erkenntnisse möglich, die auf blinde Flecken im Schutzkonzept-Alltag, z. B. zu Dialogchancen und Kompetenzzumessung, verweisen: „Wir haben jetzt mit fünf unterschiedlichen Einrichtungen gearbeitet, von denen wir alle wissen, dass die auch ähm Schutzkonzepte haben oder (.) dabei sind die zu erstellen (.) und die Jugendlichen haben- von fünf Einrichtungen haben vier gesagt: Hm nee, also über sexuelle Gewalt im Internet da würden wir nicht mit den Erzieherinnen drüber sprechen, die haben keine Ahnung, ja sooo- [mehrfache Zustimmung im Plenum] das heißt also, da wurde für mich 146 institutionelle schutzkonzepte noch ma so nen Stück deutlich mh (.) dass eben dieser: Teil der Lebenswelt vielleicht auch noch mal ein Stück ausgeblendet wird- auch im Sinne der Schutzkonzepte (.) ja also so dieses m-h ja da passiert etwas und da ist auch etwas, wo die Jugendlichen mh eigentlich auch gerne mh mit diesem Thema in Beziehung treten wollen- aber sie kriegen eigentlich weniger: das Signal von uns Erwachsenen [..] zu sagen: oh ja da kennen wir uns aus- wir gehen hier auch auf- auf diese Ebene und: Zeig mir, was du da machst.“ [T2/Z. 10–21] · Schutzkonzepte benötigen für ihre Vollzüge reflexive Strukturen, Toleranzen, (ggf. smarte) Rahmungen und An- wie Aufschübe: Zeit, bis sie am Laufen gehalten werdend „durchsickern“ im Sinne organisationalen Prozessierens, damit sich diese „festigen“ und auch „gelebt werden“ [T2/Z.109f.]. In diesem Sinne gilt es, durch eine stets mitlaufende „Kultur der Reflexion“ auf dem Weg zu einer „sexualpädagogischen Haltung“ aller Sorgeleistenden [T1/Z.402-405] und nachlaufende Organisierungen z. B. von „kleinen Steuerungsgruppen“ Vorkehrungen für Nachhaltigkeit zu treffen. Parallel gilt es, die Weite und Unabgeschlossenheit des Themas in insoweit offenen Prozessen auszuhalten und trotz anderer Aufmerksamkeiten andere Institutionen für gemeinsame Prozesse und neue Rahmungen aufzuschließen: „(…) Denn das ist es ja (.) mit der (.) äh (.) Situation: dass, wenn ich damit anfange, (..) dass nicht mehr aufhört, dass ich immer `ne neue Tür aufmache […] - dann auch` Rahmen zu machen, wo mitgearbeitet werden kann (..) äh (.) aber (.) das wird `ne spannende (...) Motivation auch von Einrichtungen, die dann sagen, das ist jetzt gar nicht so wichtig für uns (.) weil wir haben gerade (..) drei andere Sachen (..) also wie- wie kann das trotzdem funktionieren bei uns“ [T2/Z. 229–234]. Perspektiven Auf Basis der gewonnenen ersten Erkenntnisse ist es naheliegend und geboten, spezifischen Bedingungen von Erfahrungsräumen im Feld in einer umfassenderen systematischen Untersuchung nachzugehen. In einer leitfadengestützten Interviewstudie in Einrichtungen der Erziehungshilfe mit Laufzeit 147 michael böwer / britt heinrichs / mareike naß von März 2015 bis Februar 2016 sollen anschließend an die notwendigerweise ersten orientierenden Befunde des Hearings nun systematisch örtliche Praxen, Hindernisse und Lösungsstrategien näher eruiert, reflektiert und betrachtet werden – auch und gerade im Hinblick darauf, welche möglicherweise konkreten Handlungsempfehlungen daraus für die Praxis und Organisation von Prävention in der Erziehungshilfe gegeben werden können. 148 institutionelle schutzkonzepte Literatur Bode, I./Turba, H. (2014): Organisierter Kindesschutz in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. Böllert, K. /Watzlawick, M. (2014): Sexualisierte Gewalt. 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Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonfe renz für Opfer sexueller Gewalt. Weinheim: Beltz Juventa. 151 K mike lenkenhoff Kinderschutz zwischen ASD, SPFH und Familien: Explizite Kontrolle in ambulanten Erziehungshilfen Viele Jugendämter sind im Kontext der aktuellen Diskussion zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen dazu übergegangen, explizite Kontrolle (häufig als Schutzkonzept benannt) an die Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII anzukoppeln. Die Begrifflichkeiten und konkreten Bestandteile sind nicht explizit gesetzlich vorgesehen. Zudem gab es auch kaum fachliche Empfehlungen zu dieser weit verbreiteten Praxis. Einige wenige Veröffentlichungen beschäftigen sich mit möglichen Gegenständen und Modalitäten für Schutzkonzepte (vgl. u. a. Rotering 2008, Lüttringhaus/Streich 2010). Eine fehlende überregionale Fachdebatte zur Legitimation von Anforderungen an Personensorgeberechtigte im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung war Auslöser für ein Forschungsprojekt der Fachhochschule Münster, des LWL-Landesjugendamtes und des Vereins „Kinder haben Rechte“. Unter Leitung von Prof. Dr. Reinhold Schone wurde Kontakt zu einigen Jugendämtern aufgenommen, die die Aktualität des Themas bestätigten. Sechs Jugendämter erklärten sich bereit, an einer qualitativen Studie teilzunehmen. Es fanden sich zahlreiche ASD-Fachkräfte, die mitwirken wollten und entsprechende Fälle identifizierten. Die Fachkräfte nahmen Kontakt mit den jeweiligen Familien auf und fragten deren Bereitschaft zu einem Interview ab. Das Forschungsteam hat sich im Rahmen der Interviews die Erlaubnis eingeholt, auch mit der fallführenden Fachkraft im Jugendamt und der leistungserbringenden Fachkraft des freien Trägers ein Interview durchführen zu dürfen sowie in die Hilfeplanprotokolle Einsicht zu nehmen. Die Vorgaben für die Fallauswahl waren sehr gering. Der Fall sollte abgeschlossen sein oder schon sehr lange laufen, weitere Einschränkungen gab es nicht (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 26f.). Trotzdem wiesen die von den ASD-Fachkräften ausgewählten Fallkonstellationen viele Gemeinsamkeiten auf. In allen Fällen war die Hilfeform eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), die Kinder waren bis auf zwei Ausnahmen 0–6 Jahre alt, die zentrale Gefährdungslage war in allen Fällen Vernachlässigung. 153 mike lenkenhoff Bei über der Hälfte der Familien lag eine Sucht- und/oder psychische Erkrankung mindestens eines Elternteils vor, und bei den Müttern handelte es sich oft um junge, alleinerziehende Frauen (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 27–34). Thematisch knüpft das Forschungsprojekt an die, in der Sozialen Arbeit und insbesondere in der Jugendhilfe bereits intensiv diskutierte, Herausforderung durch das doppelte Mandat von Hilfe und Kontrolle an (vgl. u. a. Urban 2004, S. 9ff.). Der Wandel der Jugendhilfe von der Fürsorge hin zur Lebenswelt- und Dienstleistungsorientierung, zeitgleich mit dem verstärkten Kontrolldiskurs rund um die Einführung des § 8a SGB VIII im Jahr 2005, erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Hilfe und Kontrolle unter dem Fokus dieser neuen Entwicklung. Die Studie betrachtet einen spezifischen Aspekt von Schutz und Kontrolle. Durch die Umsetzung von Hilfen zur Erziehung ist eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen nicht automatisch abgewendet. Um das Kindeswohl zu sichern oder wiederherzustellen, können ergänzende Anstrengungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen erforderlich sein. Dieser Prozess der Kontrolle soll die Grundrechte der Kinder und ein bestimmtes Niveau der Daseinsfürsorge absichern. Die Forschungsfragestellung lautete daher, wie ein solches kontrollierendes Handeln ausgestaltet sein muss, um einen optimalen Schutz für Kinder zu gewährleisten, ohne die individuelle Freiheit von Eltern und Privatheit familiären Lebens in verfassungswidriger Weise einzuschränken (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 6f.). Konkret interessierten das Forscherteam die Anlässe für kontrollierendes Handeln in den Hilfen zur Erziehung. Auch die Kontrollmodalitäten und -verfahren sowie deren Legitimation sollte unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit erforscht werden. Ein besonderer Fokus wurde auf den Aspekt Beteiligung der betroffenen Eltern bzw. Personensorgeberechtigten und der Kinder und Jugendlichen gelegt. Fragen zum Beispiel nach der Berücksichtigung der Eltern-/ Kindperspektive bei der Gefährdungseinschätzung, nach der Beteiligung im Hilfeplanungsverfahren bei Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle oder nach der Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechtes standen beispielsweise im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. 154 kinderschutz zwischen asd, spfh und familien Wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist, haben die Personensorgeberechtigten einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung (gem. § 27 SGB VIII). Eine solche Dienstleistung kann im Rahmen des SGB VIII nur auf der Grundlage des Hilfeplanverfahrens (gem. §§ 36, 37 SGB VIII) mit hohen Partizipationsrechten der Leistungsberechtigten durchgeführt werden. Die Eingangssituation für diese Hilfen, eine fehlende Gewährleistung einer dem Wohl des Kindes entsprechenden Erziehung, ist deutlich zu unterscheiden von einer Kindeswohlgefährdung (insbesondere § 8a SGB VIII und § 1666 BGB). Der Bundesgerichtshof versteht unter Gefährdung „eine gegenwärtige in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH 1956). Das Kindeswohl ist nach § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB demnach dann gefährdet, wenn sich bei Fortdauer einer identifizierbaren Gefährdungssituation für ein Kind eine erhebliche Schädigung seines körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen und begründen lässt (vgl. Schone 2012a, S. 19f.). Die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung ist somit eine fachliche Bewertung beobachtbarer, relevanter Sachverhalte, bezogen auf mögliche Schädigungen, der Erheblichkeit der Gefährdungsmomente und des Grades der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung ist immer eine in die Zukunft gerichtete fachliche Prognose und löst beim Jugendamt die Verpflichtung aus, den Eltern geeignete und notwendige Hilfen zur Abwendung der Gefährdung anzubieten (vgl. § 8a SGB VIII). Bei der Betrachtung der Funktionen und Auswirkungen einer SPFH mit expliziter Kontrolle werden große Unterschiede zwischen den Akteuren deutlich. Perspektive der ASD-Fachkraft Hilfen zur Erziehung anzubieten, bedeutet nach der Einschätzung einer akuten Kindeswohlgefährdung für viele ASD-Fachkräfte Handeln in Unsicherheit. Die Aufgabe, hochkomplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Lebensbedingungen von Kindern wahrzunehmen, erfolgt oft auf einer lückenhaften Datenlage mit teilweise widersprüchlichen Wahrnehmungen. Fehlende 155 mike lenkenhoff objektive Standards zur Beurteilung von Lebenslagen können durch kollegiale Beratung intersubjektiv abgesichert werden (vgl. Schrapper 1994, S. 68). Sozialpädagogische Entscheidungen beruhen bei diesen Fallkonstellationen oft auf Deutungen und Hypothesen und können daher fehlerhaft oder falsch sein. Die sozialpädagogische Fachlichkeit ist daher eher über Qualität des Verfahrens zu bestimmen als über das Ergebnis zu definieren. Die Risikodiagnostik ist eine besonders herausfordernde Form der sozialpädagogischen Diagnostik. Fachkräfte können sich im Ergebnis der Risikodiagnostik u. a. für eine Intervention, durch eine ambulante Hilfe, abgesichert mit expliziter Kontrolle, entscheiden. Dies setzt eine Bereitschaft der Personensorgeberechtigten zur Abwendung der Gefahr voraus. Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle anzunehmen, bedeutet für viele Familien einen massiven Eingriff in ihre Privatsphäre zuzulassen. Die Konfrontation mit der fachlichen Prognose Kindeswohlgefährdung und dem Angebot, Hilfen anzunehmen, die mit expliziter Kontrolle kombiniert sind, trifft Familien meistens unvorbereitet und schlecht informiert. Wahrgenommen wird in der Regel eine Ohnmacht und ein (unterschwelliger) Zwang, diese Hilfen anzunehmen. Oft wurden alternative Interventionen, meistens Fremdunterbringungen, durch die Fachkräfte benannt. Im Rahmen der Studie gaben viele Eltern an, nicht „das Gefühl einer Wahl gehabt zu haben“ und sich nicht als Antragssteller(in) einer Dienstleistung gefühlt zu haben (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 80ff.). Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle anzubieten, bedeutet für die Fachkräfte des Leistungserbringers, die implizite Kontrolle, die staatliche Interventionen in der Privatsphäre von Familien schon immer hatten, nun mit transparentem Mandat ausführen zu können. Der Umfang und die Qualität der Kontrolle scheint nach Angaben von vielen SPFH-Fachkräften zuzunehmen (vgl. Lenkenhoff 2013 et al., S. 107ff.). Die ursprüngliche Konzeption der SPFH (vgl. u. a. Elger 1990, Rothe 1990) hat sich in den meisten Regionen Deutschlands weiterentwickelt. Der generelle Trend geht von der pauschal finanzierten SPFH, die Familien berät bzw. begleitet und gegenüber dem Jugendamt keine Daten weitergibt, hin zu einer SPFH, die über die Hilfeplanung gesteuert wird, oft „smarte“ Aufträge und Ziele bearbeitet 156 kinderschutz zwischen asd, spfh und familien und in der Regel über Fachleistungsstunden im Einzelfall finanziert wird. Diese auch durch die Kinderschutzdiskussionen ausgelösten Veränderungen sind weit entfernt vom ursprünglichen Konzept der SPFH. Die Übernahme von Schutz- und Kontrollfunktionen durch die SPFH wirft die Frage nach der Legitimität einer solchen Intervention tief in der Privatsphäre der Familien auf (vgl. Schone 2012b). In den im Forschungsprojekt vorgefundenen Konstellationen von Eltern und Fachkräften wurden vielfältige Gefährdungssituationen von den Interviewpartnern als Auslöser von Schutzkonzepten beschrieben. · Hierzu zählte bei nahezu allen Familien die Sicherstellung materieller Versorgung, überwiegend waren die Familien im SGB II-Bezug. · Suchterkrankungen, insbesondere THC, Heroin und Alkohol, erschweren es vielen Eltern, die Pflege- und Versorgungsleistungen zuverlässig wahrzunehmen. · Die mangelnde Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse durch die Eltern, oft beeinträchtigt durch psychische Erkrankung oder Behinderung. · Familiäre Gewalt, die sich in der Regel nicht direkt auf das Kind bezog, sondern meistens als Partnergewalt beschrieben wurde. · Im Kontext von Trennung und Scheidung wurden mehrere Schutzkonzepte durch Vorwürfe des Elternteils, bei denen die Kinder nicht leben, ausgelöst (Vorwürfe der Misshandlung oder Vernachlässigung). · Mangelnde oder ausfallende Versorgung aufgrund der familiären oder individuellen Problemlagen. · Mangelnde Sicherheit und mangelnder Schutz von Kindern zielte oft auf die Beaufsichtigung von kleinen Kindern oder auch auf konkrete Gefahren wie das Sichern von Steckdosen, Aschenbechern oder Balkonen und die Aufbewahrung von Substitutionsmitteln ab (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 47–54). Die Gegenstände der vorgefundenen Schutzkonzepte waren sehr unterschiedlich. Auch deren Begrifflichkeiten variierten zwischen Vereinbarung, Aufträgen und Auflagen. Thematisch lassen sich die meisten Gegenstände in vier Themenblöcken zusammenfassen: · Versorgung der Kinder sicherstellen, · Gefahren in der Wohnung abstellen, 157 mike lenkenhoff · Suchtmittelkonsum reduzieren/einstellen, · Auflagen zur Organisation des Familienlebens (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 54–58). Zentrales Instrument der Kontrolle war in der Untersuchung der Hausbesuch. Er wurde angekündigt und unangekündigt sowohl von ASD- als auch von SPFH-Fachkräften durchgeführt. Weitere Kontrollmodalitäten sind der Einsatz von Hebammen oder Familienhebammen als auch die Verwendung von ärztlichen Schweigepflichtentbindungen und Drogentests (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 65–68). Teilweise wurden Schutzkonzepte im Rahmen von Hilfeplangesprächen entwickelt. Meistens bei latenten Gefährdungslagen. In anderen Fällen wurden Schutzkonzepte direkt nach dem Erstkontakt noch vor dem Eintritt in die Hilfeplanung zur Bewältigung akuter Gefährdungslagen eingesetzt. Die Schutzkonzepte waren meistens als unabhängiges Verfahren neben der Hilfe zur Erziehung geplant und zeitlich kürzer befristet als der Hilfeplan. In vielen analysierten Fällen wurden seitens der Sozialarbeiter(innen) keine Konsequenzen für die Nichteinhaltung der Schutzkonzepte benannt. Die meisten Schutzkonzepte setzten vor der unmittelbaren Gefährdungsschwelle (akute Gefährdung) an und lassen noch Spielraum für sozialpädagogische Interventionen unterhalb eines Eingriffes in das Sorgerecht. Es handelte sich in den meisten Fällen somit nicht um die Abwendung von konkreten Gefährdungssituationen, sondern zumeist um klare Erwartungen seitens der Fachkräfte bezüglich potenzieller Gefährdungsrisiken. Häufig bezogen sich Auflagen nicht lediglich auf die unverzichtbaren Erziehungs-, Betreuungs- und Versorgungsmindeststandards zur Abwendung von Gefahren (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 58–65). Die Forschungsgruppe konnte kein überregionales fachliches Konzept sowie keinen gemeinsamen Qualitätsrahmen für die Umsetzung von Schutzkonzepten in der Hilfeplanung erkennen. Dadurch wird den Fachkräften ein relativ breites Tor geöffnet. Die, immer aus den Interessen der Kinder begründeten, Schutzkonzepte werden, je nach Verständnis der Fachkräfte, als klar formulierte letzte Maßnahme vor der Anrufung des Familiengerichtes bzw. im Fami- 158 kinderschutz zwischen asd, spfh und familien liengerichtlichenverfahren oder als letztlich unverbindliches „Druckmittel“ gegenüber den Eltern verwendet (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 108f.). Die Forschungsgruppe hat, abgeleitet aus ihren Ergebnissen, eine Arbeitsdefinition erstellt, nach der sich das Schutzkonzept im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung durch eine konkrete Anforderung an die Personensorgeberechtigten kennzeichnet, um ihre Kinder vor Gefahren für ihr Wohl (im Sinne des § 8a SGB VIII und des § 1666 BGB) zu schützen. Solche konkreten Anforderungen an das Verhalten der Personensorgeberechtigten lassen sich nur aus konkreten Gefährdungsmerkmalen herleiten und können keinesfalls allgemeine Erziehungsanforderungen sein. Es bleibt den Eltern, unterhalb der Schwelle einer Gefährdung, selbst überlassen, wie sie ihre Kinder erziehen und welchen Belastungen sie ihre Kinder ggf. aussetzen wollen. Schutzkonzepte können daher ausschließlich zur Abwendung von konkreten Gefährdungsrisiken eingesetzt werden. Solche Schutzkonzepte können auch vor oder außerhalb einer Hilfe zur Erziehung greifen, wenn es darum geht, dass Eltern bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Gefährdung ihres Kindes nicht an einer Gefährdungseinschätzung mitwirken (vgl. § 8a Abs.1 Satz 2 SGB VIII) oder wenn sie versuchen, identifizierte Gefährdungen ihrer Kinder auch ohne Hilfen zur Erziehung abzuwenden. Ein Schutzkonzept enthält in der Regel drei wichtige Elemente: 1. ein Hilfekonzept (§ 36 SGB VIII), das dazu dient, die Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen nachhaltig zu verbessern (meist mittel- bis langfristig); 2. ein Sicherheitskonzept zur kurzfristigen Sicherstellung des Kindeswohls (bzw. zur kurzfristigen Abwendung von Gefahren, § 8a SGB VIII). Dies steht neben dem Hilfekonzept, da es sich (ungeachtet der Notwendigkeit ihrer Beteiligung) weniger aus individuellen Hilfeerwartungen der Eltern speist, sondern eher aus dem Schutzauftrag des staatlichen Wächteramtes. Dieses Konzept muss sich logisch und nachvollziehbar aus einer Gefährdungsanalyse ableiten lassen und sich genau auf diese Analyse beziehen; 3. ein Kontrollkonzept, welches sicherstellt, dass die zum Schutz des Kindes/ Jugendlichen verabredeten Maßnahmen auch durchgeführt werden und im Sinne des Kinderschutzes greifen (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 112). 159 mike lenkenhoff Für die Umsetzung von Schutzkonzepten in den Erziehungshilfen empfiehlt die Forschungsgruppe, nach mehreren Workshops mit Praxisvertretern, als Qualitätsmerkmale, dass · die Gefährdungsrisiken, auf die sich die Schutzaufgaben beziehen, konkret benannt werden sollten. · eine gemeinsame Risiko- und Gefährdungseinschätzung von Jugendamt und Eltern (und freiem Träger) (im Sinne der §§ 8a SGB VIII und 1666 BGB) vorgenommen und eine Kongruenz der Problemsichten angestrebt wird. · die im Schutzkonzept verankerten Auflagen sich an dem Ziel der Gefährdungsvermeidung bzw. Gefährdungsabwehr orientieren und sich damit die Kontrollaufträge auf genau definierte, abgrenzbare Bereiche beschränken. · die Eltern ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Mitarbeit zeigen und sowohl die Schutzelemente als auch die Kontrollelemente des Schutzkonzeptes möglichst gemeinsam mit den Eltern geplant werden. · die Durchführung des Schutzkonzeptes zeitlich terminiert wird und ggf. Vereinbarungen über Reduzierungen der Kontrolle im Verlauf der Hilfe getroffen werden. · die beteiligten freien Träger ein klares und transparentes Mandat hinsichtlich ihrer Schutz- und Kontrolltätigkeit erhalten und sie sich selbst in dieser Hinsicht permanenter Kontrolle unterziehen lassen (Berichtspflichten, kollegiale Beratung/Kontrolle). · auch die beteiligten Fachkräfte sich an der Erfüllung spezifischer Schutzaufgaben für die Kinder verbindlich beteiligen (eigene Pflichten übernehmen). · alle Aktivitäten im Rahmen des Schutzkonzeptes strengen Begründungsund Dokumentationspflichten unterliegen (Welche Gefährdungslage? Welche Vereinbarungen/Auflagen? Welche Kontrollmodalitäten? Welche Dauer? etc.) (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 58–65). Fazit Ein Verfahren zum Einsatz von Schutzkonzepten in der ambulanten Jugendhilfe sollte kommunal, losgelöst vom Einzelfall, zwischen den Fachkräften von freien und öffentlichen Trägern ausgehandelt werden. Dann können Schutz- 160 kinderschutz zwischen asd, spfh und familien konzepte, unter Berücksichtigung einiger Qualitätsstandards, zur Verbesserung der Transparenz, in ambulanten Hilfen zur Erziehung mit Kontrollanteilen durch den freien Träger, beitragen. In der Praxis können Anforderungen, Aufgaben, Zuständigkeiten und Konsequenzen in einem Schutzkonzept übersichtlich und für alle Beteiligten nachvollziehbar dokumentiert werden. 161 mike lenkenhoff Literatur Elger, Wolfgang (1990): Sozialpädagogische Familienhilfe. Neuwied: Luchterhand. Lenkenhoff, Mike/Schone, Reinhold/Knapp Heidi/Adams, Christina (2013): Schutzkonzepte in der Hilfeplanung. Eine qualitative Untersuchung zur Funktion und zur Wirkungsweise von Schutzkonzepten im Rahmen ambu lanter Erziehungshilfen. Münster: LWL. Lüttringhaus, Maria/Streich, Angelika (2011): Kinderschutz durch den All gemeinen Sozialen Dienst. In: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS) (Hg.): Der Allgemeine Soziale Dienst. Aufgaben, Zielgruppen, Standards. Ernst Reinhardt Verlag, S.125–140. Rotering, Beate (2008): Schutzkonzept: Gemeinsam können wir es schaffen – Kontrolle des Kindeswohls im Kontext der Hilfen zur Erziehung. In: Jugend hilfe aktuell, 5.Jg., Heft 2, S. 5-9. Rothe, Marga (1990): Sozialpädagogische Familien- und Erziehungshilfe. Eine Handlungsanleitung. Stuttgart: Kohlhammer. Schone, Reinhold (2012a): Kindeswohlgefährdung – Was ist das? In: Schone/ Tenhaken (Hg.): Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugend hilfe. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Schone, Reinhold (2012b): Erziehungshilfe im Wandel? – Schutz- und Kontroll konzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. In: Forum Erziehungs hilfen, 18. Jg. Heft 5, S. 260–266. Schrapper, Christian (1994): Der Hilfeplanungsprozess – Grundsätze, Arbeits formen und methodische Umsetzung. In: Institut für Soziale Arbeit e. V. (Hg.): Hilfeplanung und Betroffenenbeteiligung. Münster: Votum Verlag, S. 64–78. Urban, Ulrike (2004): Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Sozialpädagogische Entscheidungsfindung in der Hilfeplanung. Weinheim: Juventa Verlag. 162 N bernd reiners Neue Ansätze in der Arbeit mit Kindern: Kinderorientierte Familientherapie Wenn Kinder Symptome oder „Störungen“ zeigen, herrscht seit Langem ein sogenannter „unerklärter Krieg“ (Mc Dermott/Char 1974, S. 74), ob die Therapie mittels Kindereinzeltherapie oder Familientherapie geschehen soll. Für die Kindertherapie spricht, dass sich das Kind auf seine Weise (z. B. im Spiel) ausdrücken kann und so den therapeutischen Prozess stark steuern kann. Für die Familientherapie spricht, dass die Eltern als wichtigste Bezugspersonen in den Veränderungsprozess stärker einbezogen werden. Gerade bei Vorschul- und Grundschulkindern stellt sich aber die Frage, ob Kinder sich am Familiensetting genügend beteiligen können. Die Kinderorientierte Familientherapie bietet hier ein Setting, das eine Verknüpfung der beiden Ansätze und ihrer Vorteile bereithält. Sie vereint die Möglichkeit, dass sich Kinder im Spiel ausdrücken – und zwar sowohl ihr innerpsychisches Innenleben als auch die Interaktion mit ihren Eltern – mit dem Einbezug der Eltern in den kindlichen Veränderungsprozess. Kinderorientierte Familientherapie wurde in den 1980er Jahren von dem norwegischen Psychologen und Kindertherapeuten Martin Soltvedt (2005) entwickelt. Ihm war wichtig, den Kindern die Möglichkeit zu belassen, ihre eigene Sicht auf Probleme und ihre Veränderung zu demonstrieren. Hierzu hielt er es für entscheidend, dass die Eltern diese Sicht der Kinder selbst erleben und verstehen können. So sollen die Eltern dem kindlichen Spiel in einem ersten Schritt zuschauen. Häufig wird freies Rollenspiel mit Figuren gespielt, aber auch andere Varianten des Spiels sind möglich. Soltvedt geht von diesen kindlichen Ausdrucksformen aus und versucht, sie gemeinsam mit den Eltern zu entschlüsseln. So kann sich das Kind auf seinem gewohnten Kommunikationsweg, dem Spiel, ausdrücken, wie es in der Kindertherapie seit ihrer Entstehung genutzt wird (z. B. Freud 1927, Axline 1972, Oaklander 1978). 165 bernd reiners Soltvedt (2005) hat einen idealtypischen Ablauf der kinderorientierten Familientherapie entwickelt, der nicht zwanghaft einzuhalten ist, sondern lediglich als Orientierung dienen soll. Ablauf der Kinderorientierten Familientherapie 1. Zwei bis drei Vorgespräche mit den Eltern (Auftragsklärung, Joining; Erläu terung des Settings) Selbstverständlich findet in der kinderorientierten Familientherapie zu Beginn der Therapie systemisches Grundwissen seine Anwendung. So ist die Auftragsklärung (vom Anlass über Anliegen zu Auftrag und Kontrakt, z. B. Schlippe/ Schweitzer 2010) ein zentraler Aspekt dieser ersten Phase. Daneben ist es wichtig, eine veränderungsförderliche Beziehung zu den Klient(inn)en/Patient(inn) en zu gestalten. Klient(inn)en sollten sich verstanden und mit ihrer Problemsicht ernst genommen fühlen. Gleichzeitig kann Hoffnung auf Veränderung gefördert werden. In der Kinderorientierten Familientherapie wird zudem die Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung und Therapie erklärt. Zudem werden die Eltern informiert, dass die Therapeutin1 das Kind im Spiel kennen lernen möchte, dass dieses Spiel auf Video aufgenommen werden soll und anschließend mit den Eltern analysiert werden soll. 2. Erste Spielsequenz mit Videoaufzeichnung (ca. 15 min) – Therapeutin und Kind spielen, Eltern schauen zu Die Therapeutin spielt mit dem Kind, während die Eltern in einigem Abstand zusehen. Zunächst baut die Therapeutin ein Haus mit einem Zaun darum auf. In das Gelände setzt sie ihre Alter-Ego-Figur (wörtlich: Zweites-Ich-Figur) und deren Haustier. (Beim Verfasser sind dies Björn und sein Hund Hasso.) Das 1 Es wird jeweils die weibliche Form verwendet. Männliche Kollegen sind jedoch selbstverständlich mitgedacht. 166 neue ansätze in der arbeit mit kindern Kind wird gefragt, ob es ebenfalls ein eigenes Zuhause aufbauen möchte. Björn beginnt sofort, sich mit Hasso darüber zu „unterhalten“, was auf der Seite des Sandkastens geschieht. Kommen neue Nachbarn, wie sieht es dort aus, was tun die Nachbarn etc. Im Spiel erhält die Therapeutin ein eigenes Bild von der kindlichen Entwicklung, seinem Kommunikationsvermögen und seinen Fähigkeiten zum Zusammenspiel. Außerdem fungiert sie als Vorbild für die Eltern in folgenden Spielsequenzen, wenn es zum Beispiel um die Art der Grenzsetzung geht etc. 3. Video-Nachgespräch mit den Eltern (ca. 60 min) Das Nachgespräch wird in der Regel nur mit den Eltern ohne das Kind durchgeführt. Hier wird besprochen, wie das Kind Kontakt zu der Therapeutin aufgenommen hat. Ist es ihm gut gelungen? War es schwierig? Durch welche Handlungen der Therapeutin fiel es dem Kind leichter etc.? Was erkennen die Eltern aus ihrem Leben mit dem Kind wieder? Was im Spiel könnte mit dem Anliegen der Therapie zusammenhängen bzw. dieses spiegeln? Wenn im ersten Spiel der Kontakt zum Kind nicht von allen als „hinreichend gelungen“ angesehen wird, folgen weitere Spielsequenzen zwischen Therapeutin und Kind – ansonsten geht es weiter mit Punkt vier. 4. Zweite Spielsequenz mit Videoaufzeichnung (ca. 15 min) – Familie und Therapeutin spielen gemeinsam Jedes Familienmitglied baut sich idealerweise ein eigenes Zuhause. Die therapeutische Spielfigur nimmt dabei am Spiel teil. Sie versucht, gemeinsame Handlungen in der Familie zu unterstützen oder zu ermöglichen. Dabei kann sich mit ihrer Tierfigur darüber unterhalten, was um sie herum geschieht, oder einen Rundgang machen, in dem sich alle Mitspieler vorstellen etc. So entsteht ein Bild des Zusammenspiels zwischen Eltern und Kind und zwischen den Eltern. Wie behandeln die Eltern ihr Kind? Wie geht es mit seinen Eltern um, wie ist die Interaktion des Paares? Gibt es Unterschiede zum ersten Spiel mit der Therapeutin etc.? 167 bernd reiners 5. Video-Nachgespräch mit den Eltern (ca. 60 min) Dieses Gespräch, erneut ohne Kind, ähnelt dem ersten Nachgespräch: Welche Parallelen (diesmal auch der Interaktion) zum Alltag der Familie finden sich? Welche Verhaltensweisen der Eltern oder der Therapeutin begünstigen das erwünschte Verhalten des Kindes? 6. Zwei bis drei Wiederholungen der familiären Spielsequenz mit Nachgespräch Nach jeder Spielsequenz findet ein Nachgespräch statt, in dem reflektiert wird, wie die veränderten Verhaltensweisen der Eltern sich im Verhalten des Kindes niederschlagen bzw. welche neuen Verhaltensweisen die Eltern im nächsten Spiel ausprobieren wollen. So werden von den Eltern Ziele für die nächste Spielsituation formuliert, z. B.: · „Wie könnte es gehen, mit dem Krokodil zu reden, das so plötzlich den Zaun plattgemacht hat?“ · „Wie können wir Kevin dazu bekommen, etwas länger bei einem Treffen zu bleiben?“ 7. Bilanzgespräch mit den Eltern Soll weiter gespielt werden, gilt es eher andere Wege zu verfolgen, zeigen sich die Veränderungen im Spiel auch im familiären Alltag etc. Insgesamt sind sechs bis zehn Spielsequenzen mit der ganzen Familie üblich. Von diesem Vorgehen können immer wieder Abweichungen auftreten, dass sich z. B. Paarprobleme zeigen, die in einem anderen Setting bearbeitet werden sollen, ein weiteres Nachgespräch gewünscht wird etc. 168 neue ansätze in der arbeit mit kindern Indikation Besonders geeignet ist die Kinderorientierte Familientherapie für Familien mit einem Kind im Vorschul- oder Grundschulalter bzw. einem entsprechenden Entwicklungstand, also Kinder, die es gewohnt sind, sich im Spiel auszudrücken. Bei folgenden Problemfeldern sollte an die Behandlung mit Kinderorientierter Familientherapie gedacht werden (vgl. Brolin-Bjurmark/ Nilsson 1996): · Eltern verstehen ihr Kind nicht, · Tempo- und Aktivitätsunterschiede zwischen Eltern und Kind z. B.: · schüchterne, ängstliche, zurückhaltende Kinder, · Kinder, die aggressive Verhaltensweisen zeigen, · hyperaktive Kinder, · Kontaktprobleme (als besondere Formen: Autismus oder selektiver Mutismus), · Konzentrationsprobleme, ADS, · Diagnostik der familiären Beziehungen, · Anbahnung von Adoption oder Pflegefamilien, Rückführung in die Herkunftsfamilie, Umgangsanbahnung. Eine nähere Beschreibung dieser Anwendungsfelder gibt es bei Reiners (2013). Theoretischer Hintergrund Soltvedt (2005) beschreibt drei theoretische Eckpfeiler: · Die psychodynamische Kindertherapie mit ihrem Wissen um Entwicklungspsychologie, dem kindlichen Spiel mit der Symbollehre, der Bindungstheorie und der neueren Säuglingsforschung. · Die systemische Therapie mit ihrem Blick auf das ganze System, seine Beziehungen, seine Interaktionsmuster und seine Kommunikation. Besonders betont er Allparteilichkeit und Neutralität als Grundhaltungen sowie Auftragsklärung und Joining als wesentliche Methoden. 169 bernd reiners · Die Verhaltenstherapie mit ihrer Betonung der konkreten Handlungen, der Möglichkeit, verändertes Verhalten auszuprobieren und einzuüben, sowie der Lerntheorie als Hintergrund. Die genauere Beschreibung dieser Theorien ist in der Grundlagenliteratur zu finden. Angewendet auf die Kinderorientierte Familientherapie sind sie bei Reiners (2013) beschrieben. Aufgrund der Unterschiede zu humanistischen und psychoanalytischen Spieltherapien soll die Interaktionsorientierung im vorliegenden Text näher erläutert werden. Die Interaktion als Fokus der therapeutischen Aufmerksamkeit Während die klassische Kindertherapie (beispielhaft Freud 1923, Axline 1972, Oaklander 1978, Kalff 1979) das Innenleben des Kindes betont und daher besonderen Wert darauf legt, dem Kind zu ungehindertem Selbstausdruck zu verhelfen, liegt das Augenmerk bei der Kinderorientierten Familientherapie eher auf der Interaktion. Dieser Unterschied hat weitreichende Konsequenzen, insbesondere folgende: a. Die Therapeutin ist wesentlich aktiver. (Unterbrechen von Wiederholungen, ausschweifenden Inszenierungen, sie lässt ihre Figur und die der Mitspieler/Eltern nicht töten etc.) b. Die Eltern haben die „Deutungshoheit“ über das Spiel. c. Die Eltern spielen mit. Zu a) In der klassischen Kindertherapie hält sich die Therapeutin im Spiel zurück, um den Selbstausdruck des Kindes nicht zu beschränken. Wenn Interventionen der Therapeutin beschrieben werden, dann in der Regel eher als Unterstützung des Selbstausdrucks (z. B. Axline 1972, Oaklander 1978). In neueren Ansätzen interveniert die Therapeutin auch etwas direktiver (z. B. Schmidtchen 1999). Eine gespielte Geschichte wird mithilfe der Therapeutin durch das Kind zu einem guten Ende gebracht (Brächter 2010), die andauernde Reinszenierung eines Traumas wird unterbrochen (Weinberg 2005) etc. In der Kinderorientierten Familientherapie nimmt die Therapeutin eine aktiv mitspielende Rolle ein. 170 neue ansätze in der arbeit mit kindern Ihre Interventionen zielen darauf ab, mit dem Kind eine gelungene, für alle Beteiligten befriedigende Interaktion zu gestalten. Dabei folgt das Verhalten der Therapeutin weitgehend den Regeln einer spontanen gelungenen Interaktion, wie es z. B. auch im Improvisationstheater gefordert wird (Johnstone 1993). Dabei geht es darum, grundsätzlich jedes Verhalten des Gegenübers als Interaktionseinladung anzunehmen und positiv darauf einzugehen (s. u.). Auch hier werden ausschweifende Inszenierungen oder andauernde Wiederholungen unterbrochen. Wenn z. B. das Kind immer wieder beim Versteck-Spielen schummelt, könnte die therapeutische Alter-Ego-Figur mit ihrem Haustier oder mit der kindlichen Figur darüber sprechen, dass sie lieber Verstecken spielt, wenn die andere Person nicht schon vorher weiß, wo sie sich versteckt. Dabei geht es nicht darum, zu moralisieren und dem Kind den Spaß zu nehmen, sondern im Gegenteil darum, den Spaß im Spiel zu erhöhen. Eine Besonderheit der therapeutischen Figur ist, dass sie Tote im Spiel verhindert. Hierin wird vermutlich die Interaktionsorientierung besonders deutlich. Es kann hilfreich für ein Kind sein, im Spiel Figuren zu töten und durch dieses Ausleben seiner Aggression innere Konflikte zu lösen. In der Kinderorientierten Familientherapie wird jedoch nicht zugelassen, dass Mitspielende getötet werden. Wie soll eine befriedigende Interaktion mit toten Figuren gelingen? Es wäre zwar möglich, die tote Figur wieder von einem Zauberer zum Leben erwecken zu lassen. Zwei zentrale Gründe sprechen gegen Tötung der Figur. Der erste ist pragmatischer Natur: Wir als Therapeut(inn)en sind möglicherweise erfahren und finden Tötungen nicht schlimm. In der Kinderorientierten Familientherapie sollen jedoch auch die Eltern mitspielen, bei denen man eine solche Toleranz nicht voraussetzen kann. Der zweite Grund ist, dass sich in der Aggression des Kindes gegen seine Mitspielenden auch seine Form der Interaktion zeigt. Hier geht es um Grenzziehung, um Umgang mit kindlichen Aggressionen etc. Vermutlich wird ein Kind, das ein solches Spiel inszeniert, auch im Alltag aggressive Ausbrüche zeigen. Das Spiel in der Kinderorientierten Familientherapie soll modellhaft den Alltag zeigen und Veränderungen auf der Probebühne des Spiels ermöglichen. Sich umbringen zu lassen, sprich die Aggressionen des Kindes im Alltag zu erdulden, ist meistens nicht wirklich die heilende Option. Eher könnte es darum gehen, die Aggression durchaus anzu- 171 bernd reiners nehmen, ihr aber so zu begegnen, dass die eigene Freiheit nicht beschnitten wird. Im Alltag würde das z. B. bedeuten, darauf zu bestehen, dass Kinder ins Bett gehen, obwohl sie darauf keine Lust haben und möglicherweise die Eltern anschreien oder sogar nach ihnen schlagen. Im Spiel ist es sinnvoll, das Töten zu unterbinden ohne das Kind für den Impuls zu bestrafen. Dies soll durch eine kleine Fallvignette erläutert werden: Der fünfjährige Tobias2 kommt mit seinen Eltern zur Therapie, weil er sich zu Hause sehr zurückzieht. Die Eltern, insbesondere der Vater, kommen kaum „an ihn heran“. Außer Haus falle er durch plötzliche Aggressionen auf. Im Spiel wählt Tobias sich einen Dinosaurier und einen kleinen Hund aus. Der Dinosaurier gräbt zunächst einen tiefen Graben im Sand und versteckt sich dann hinter dem entstandenen Hügel. Den Hund versteckt Tobias hinter einem Baum. Als sich Björn mit Hasso dem Hund nähert, kommt der Dinosaurier aus seinem Versteck und läuft mit lautstarken Drohgebärden schützend vor Tobias’ Hund umher. Björn murmelt zu Hasso, dass er noch nie einen Dino gesehen habe, dieser aber offenbar sehr stark sei und gerade irgendetwas beschützen müsse; er würde den Dino gerne mal anfassen, um zu fühlen, wie er sich anfühlt, aber das mache er jetzt lieber nicht. Als sich Hasso dem Hund nähert, nachdem sich der Dinosaurier etwas beruhigt hat, sagt Björn zu Hasso, dass dieser wohl mit dem Dino spielen wolle. Der Dinosaurier kommt näher und will den Hund auffressen. Björn stellt sich ganz schnell davor und meint: „Oh, oh, oh, stopp, stopp!“ Ich nehme meine Hand hinzu und halte sie zwischen Hund und Dino. Björn zum Hund: „Puh, das war knapp! Du willst doch bestimmt nicht gefressen werden?“ Als der Hund nicht antwortet, spricht er zu dem Dino: „Hast du Hunger?“ Der Dinosaurier bestätigt dies mit einem Grunzen. Björn: „Hm. Du bist offensichtlich ein Fleischfresser … Vielleicht habe ich noch was Fleisch in der Tiefkühltruhe …?“ Da sich der Dinosaurier abwartend verhält, geht Björn zurück zu seinem Haus und holt etwas Fleisch (einen Glasperlen- 2 Namen und andere Erkennungsmerkmale sind so verfremdet, dass ein Wiedererkennen der Personen nicht 172 möglich ist. neue ansätze in der arbeit mit kindern stein). Mit diesem füttert er anschließend den Dino. Doch nach einem Fleischstück ist der Dinosaurier nicht satt – nach zweien auch nicht. Björn bittet ihn, noch einen Moment zu warten, da er noch etwas Fleisch kaufen müsse. Darauf lässt sich der Dinosaurier ein und wartet in Ruhe ab. Dies ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu seinem ursprünglichen Gebaren. Nachdem Björn vom Einkaufen zurückkehrt, wirft er dem Dinosaurier drei weitere Fleischstücke zu, bis Tobias murmelt: „Jetzt ist genug.“ Björn wendet sich nun wieder dem Hund zu. Im weiteren Verlauf gelingt es Hasso, mit Tobias’ Hund fangen und schließlich sogar gemeinsam mit Björn verstecken zu spielen. Im Fallbeispiel gelang es mit einigen Hilfsmitteln, die Aggressionen des Jungen zu befriedigen und eine gelungenere Interaktion mit einer anderen Figur (man könnte sagen, einem anderen Anteil) des Jungen zu initiieren. Zu b) Auch im Nachgespräch liegt der Fokus auf der Interaktion im Spiel. Es wird versucht, zu verstehen, warum sich das Kind auf eine bestimmte Weise verhält. Dabei wird der Blick sowohl auf die Eigenheiten des Kindes als auch auf die Besonderheiten der Situation gelenkt. Das kindliche Spielverhalten zu analysieren ist dabei kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste des Verständnisses des kindlichen Alltagsverhaltens. Da die Eltern das Kind aus dem Alltag kennen, die Therapeutin jedoch nur aus der Spielsituation, sind hier die Eltern gefragt: Kennen sie dieses Verhalten aus dem Alltag? Immer wieder wird so eine Parallele zum Alltag hergestellt. Tobias’ Eltern wurden gefragt, wie sie Tobias’ Verhalten verstehen. Beide konnten die verschiedenen Anteile ihres Sohnes, hier dargestellt in verschiedenen Tieren, gut im Alltag wiederfinden. Der Vater fand beeindruckend, dass man an den „lieben Hund“ erst herankommen kann, wenn der „böse Dino“ beruhigt ist. Befragt, wofür denn das Fleisch im Alltag stehen könne, fiel der Mutter ein, dass sich ihr Sohn oft mit etwas Süßem, noch besser aber mit der Ankündigung seines Lieblingsspiels (ein Tischspiel) „bestechen“ lasse. Dann sei es oft möglich, dass er seine vorherige aggressive Verweigerung aufgebe. 173 bernd reiners Zu c) Die Interaktionsorientierung zeigt sich noch deutlicher im familiären Spiel. Dies ist gerade die Besonderheit der Kinderorientierten Familientherapie. Dabei werden sowohl die Eigenheiten der einzelnen Familienmitglieder aber eben auch ihre Interaktion deutlich. Die Therapeutin versucht, das Zusammenspiel der Familie zu unterstützen. Dazu kann sie einzelnen verhelfen, sich am Spiel der anderen zu beteiligen oder auch den anderen Zeit für sich zu lassen. Sie kann auch auf Mitspielende zugehen und eigene Vorschläge machen etc. Im Gegensatz zu eher „diagnostischer“ Spieltherapie, die möglichst viel über das Innenleben der Kinder erfahren möchte, interessiert in der Kinderorientierten Familientherapie auch, wie das Kind auf seine Umwelt reagiert. Jedes Verhalten wird in der systemischen Therapie als kontextbezogen betrachtet. Das bedeutet, ein Kind zeigt sein Verhalten nicht „von sich heraus“, sondern auch als Reaktion auf seine Umwelt. Natürlich haben Kinder (und Erwachsene) Eigenheiten, sie reagieren häufig auf bestimmte Weisen. Sie zeigen aber dieses Verhalten eben nicht in jeder Situation gleich. So kann z. B. ein Kind, das als schüchtern beschrieben wird, in bestimmten Situationen durchaus frech sein. Es reagiert aber vielleicht häufiger schüchtern als andere Kinder. Im Spiel der Kinderorientierten Familientherapie soll deutlich werden, wie die Umwelt, also z. B. die Eltern, den Kontext beeinflussen können, sodass dieses Kind sich seltener schüchtern zeigt. Dazu ist es sinnvoll, dass die Eltern auch im Spiel mit dem Kind interagieren. Wenn man die Interaktion als zirkulär mitursächlich für Veränderungen betrachtet, wie es die systemische Therapie tut, ist es sinnvoll, die Interaktion zu betrachten und nicht ausschließlich das Innenleben einer Person. Wirkfaktoren in den verschiedenen Phasen In den verschiedenen Phasen der Kinderorientierten Familientherapie sind verschiedene Faktoren therapeutisch wirksam. Das erste Spiel von Kind und Therapeutin inklusive seinem Nachgespräch verhilft den Eltern insbesondere, ihr Kind auch mit dem Verhalten, das sie selbst so problematisch erleben, besser zu verstehen. Sie können dieses Verhalten besser als nicht ausschließlich 174 neue ansätze in der arbeit mit kindern kindgesteuert sondern interaktionsbedingt erkennen. So verstehen sie das Verhalten und das Innenleben des Kindes besser. Für manche Eltern ist dieser erste Schritt bereits ausreichend. Sie verstehen ihr Kind besser und können ihr eigenes Verhalten daraufhin so verändern, dass die Interaktion hinreichend befriedigend erlebt wird. Nicht zuletzt ist das erste Spiel für das Kind selbst heilsam, wie es in der Kindertherapie seit Beginn ihres Bestehens genutzt wird. Tobias‘ aggressive Seite könnte durch das Spiel ein Stück beruhigt worden sein, sodass er sie im Alltag nicht mehr so ausgeprägt zu zeigen braucht. Im ersten familiären Zusammenspiel und seinem Nachgespräch erkennen die Eltern ihr eigenes Verhalten und seine Auswirkungen auf das Kind. Bei Tobias fällt zunächst auf, dass sein Zuhause mit dicken Mauern geschützt wird. Im Nachgespräch fragten sich die Eltern, warum er diesen Schutz aufbaute, wenn er mit ihnen, nicht jedoch, wenn er mit mir spielte. Sie hatten den Eindruck, ihr Sohn habe mehr Angst vor ihnen als vor mir. Im Verlauf des Spiels zeigt sich jedoch, dass die Mauern den Dinosaurier „ersetzen“. Der Dinosaurier aus dem ersten Spiel konnte anders verstanden werden: Er war nicht in erster Linie aggressiv, sondern tatsächlich eher zum Schutz des Hundes. Im familiären Spiel schützten die Mauern den Hund. Tobias verteidigt sich in verschiedenen Situationen auf verschiedene Weisen. Zu Hause tut er dies eher mit stillem Rückzug, bei Fremden (hier: in der Spielsituation mit mir, im Alltag: in der Kindertagesstätte) eher durch Angriff. Im weiteren Spiel zeigt sich auch die Strategie des Vaters als wenig hilfreich, der in Erinnerung an das erste Spiel selbst einen Dinosaurier gewählt hat. Er geht auf seinen Sohn zu, der wieder den Hund, aber diesmal kein zweites Tier genommen hat. Als der Dinosaurier ihm zu nahe kommt, winselt der Hund und vergräbt sich im Sand. Der Dinosaurier zieht sich daraufhin in sein eigenes Land zurück. Die Mutter, die sich hinter einem Zaun mit einer dichten Baumreihe davor versteckt hält, wird von ihrem Sohn immerhin besucht – kurz nachdem der Vater dem Hund zu nahe gekommen ist. Zu einem fröhlichen Zusammenspiel aber kommt es auch hier nicht. 175 bernd reiners Im Nachgespräch zeigten sich beide Eltern über das Spiel insgesamt etwas frustriert. „Genau so“ sei es auch zu Hause immer. Ihr Sohn gehe ihnen aus dem Weg etc. Das Weglaufen des Hundes zu der mütterlichen Figur ärgerte den Vater. Tatsächlich hole Tobias häufig völlig unnötig bei seiner Frau Schutz. Tobias Mutter erwiderte, dass ihr Mann tatsächlich häufig etwas grob sei. Deutlich wurde, wie die unterschiedlichen Umgangsformen der Eltern einen Kontakt zum Sohn erschweren und sie sich gegenseitig „boykottieren“. Hier wurde eine Abweichung des üblichen Vorgehens vorgenommen. Zunächst fanden einige Gespräche ausschließlich mit den Eltern statt, um ihren Konflikt zunächst besser zu verstehen und schließlich zu verändern. In weiteren familiären Spielsituationen können die Eltern andere Verhaltensweisen ausprobieren und erhalten auf Spielebene eine Art Feedback oder Erfolgskontrolle. Tobias‘ Vater hatte sich in den Elterngesprächen vorgenommen, vorsichtiger auf seinen Sohn zuzugehen. Tobias’ Mutter hingegen wollte weniger Angst vor ihm haben. Dies sei im Alltag sehr schwierig, daher wünschten sie eine erneute Spielsituation mit expliziter Unterstützung durch Björn. Im zweiten familiären Spiel etwa zwei Monate nach dem ersten Spiel wählte Tobias nicht mehr den Hund, sondern einen Hasen und einen Menschen zum Spielen. Seine Mutter nahm ebenfalls einen Hasen, sein Vater einen Menschen mit einem Papagei. Unterstützt durch Björn gelang es, dass alle drei Figuren miteinander spielten. Die Eltern waren sehr zufrieden. Auch wenn in diesem Fall das Spiel nun eine gelungene Steuerung durch die Eltern erfahren hat, ist noch unklar, ob diese Steuerung im familiären Alltag auch gelingt. Der Transfer in den Alltag gelingt vielen Eltern wie von selbst. Tobias’ Eltern hatten nun erlebt, wie ihr Sohn mit ihnen in Kontakt geht, wenn sie vorsichtig und einander ähnlich auf ihn zugehen. Dies gelang ihnen in der Zukunft auch im Alltag besser. In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, mit Eltern darüber zu sprechen, was es für Hindernisse gibt, das im Spiel erfolgreiche Verhalten auch im Alltag zu 176 neue ansätze in der arbeit mit kindern zeigen. Dies können biografische Gründe, innere Überzeugungen oder auch bislang nicht verstandene Details in der Interaktion sein. Manche wollen das veränderte Verhalten auch wiederholt im Spiel „einüben“, um im Alltag leichter darauf zurückgreifen zu können. Fazit Kinderorientierte Familientherapie wird von vielen Familien als enorm bereichernd erlebt und macht auch den Therapeut(inn)en häufig Spaß. Sie kann dabei helfen, ein Kind besser zu verstehen, da sie insbesondere in den Spielsequenzen das emotionale Erleben anspricht, das gemeinsam mit den Eltern reflektiert wird. So werden Sterns (1991) zwei Wege der Veränderung beschritten: Die Veränderung der elterlichen inneren Bilder im Nachgespräch und die Veränderung der tatsächlichen Handlungen zunächst im Spiel als Probebühne und später im Alltag der Familie. 177 bernd reiners Literatur Axline, V. (1972, 1999): Kinderspieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. 9. Aufl. München: Reinhardt. Brächter, W. (2010): Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spieltherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Brolin-Bjurmark, G./Nilsson, G. (1996): Arbete med barnorienterad familjeterapi – BOF. Stockholms läns landsting, omsorgsnämndens rapportserie, S. 96–103. Freud, A. (1923, 1995): Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 7. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer. Johnstone, K. (1993): Improvisation und Theater. Berlin: Alexander. Kalff, D. M. (1979): Sandspiel. Genf: Rentsch. McDermott, J./Char, W. F. (1974): The undeclared war between child and family therapy. Journal of the American Academy of Child & Adolescend Psychiatry, 13 (3), pp. 422–436. Oaklander, V. (1978, 1999): Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. 11. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Reiners, B. (2013): Kinderorientierte Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schlippe, von A./Schweitzer, J. (2010): Systemische Interventionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schmidtchen, S. (1999): Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie. Weinheim: Beltz. Soltvedt, M. (2005): BOF. Barnorienterad Familjeterapi. Falun/Schweden: Mareld. Stern, D. (1991): Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. München: Piper. Weinberg, D. (2005): Traumatherapie mit Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta. 178 K peter mosser Kinder schützen – auch vor Kindern! Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt Um die Sexualität unserer Kinder gruppieren sich gesellschaftliche, kulturelle und fachöffentliche Debatten, die häufig eher unter vorgehaltener Hand geführt werden und nur zum Teil geeignet sind, zuverlässige Orientierungen und tragfähiges Handlungswissen zu vermitteln (für einen aktuellen Überblick siehe Quindeau/Brumlik 2012). Kinder sind sexuelle Wesen. Sie leben ihre Sexualität auf eine Weise, die manchmal für Erwachsene sichtbar ist, manchmal nicht (Bancroft/Herbenick/Reynolds 2003). Für Eltern und pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen stellt sich die Frage der erzieherischen Einflussnahme. Sie stellt sich auf andere Weise als bei anderen kindlichen Entwicklungsaufgaben. Der Umgang mit Sexualität ist nämlich mit einem Umgang mit Intimität assoziiert und somit einer diskursiven Verhandlung im Alltag nur begrenzt zugänglich. Weil der Raum des selbstverständlichen Dialogs aber begrenzt ist, sind Erwachsene – sowohl als Eltern als auch als pädagogische Fachkräfte – in hohem Maße auf eigene Emotionen und häufig nicht ausreichend reflektierte Einstellungen zurückgeworfen, wenn sie sich mit kindlicher Sexualität konfrontiert sehen. Sexualpädagogik ist die praktische Disziplin, die den Raum für Dialoge öffnet und auf diese Weise die kindliche Sexualität einer verantwortungsvollen und handlungsorientierten Erziehungspraxis zugänglich macht. Aber Sexualität wird auch als gefährdend wahrgenommen, sodass häufig der Schutz vor sexualisierter Gewalt in das Zentrum pädagogischen Handelns gerückt wird. Das ist der Bereich der Prävention. Wie verträgt sich das? Übersieht Sexualpädagogik das schädigende Potenzial sexuellen Handelns? Reduziert Prävention die kindliche Sexualität auf etwas, was eigentlich verhindert werden muss? Das Problem manifestiert sich besonders deutlich im Bereich der sexuellen Grenzverlet- 181 peter mosser zungen zwischen Kindern. Sind Kinder für andere Kinder tatsächlich gefährlich, oder besteht das Problem hauptsächlich darin, dass Kinder vor allem von der übertriebenen Besorgnis Erwachsener in ihren sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden? Sexualisierte Grenzverletzungen zwischen Kindern Das Problem ist nicht neu, aber es findet erst in den letzten Jahren zunehmend Eingang in die psychosoziale Praxis und in den wissenschaftlichen Diskurs (Mosser 2012). Schon Sigmund Freud sprach von „Akten sexueller Aggression“, die Kinder gegen andere Kinder ausüben (Freud 1896, zit. n. Masson 1995). Sexuelle Grenzverletzungen zwischen Kindern lösen bei Erwachsenen in der Regel starke Emotionen und erhebliche Verunsicherungen aus. Im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch, den Erwachsene gegen Kinder verüben, sind sexuelle Handlungen zwischen Kindern prinzipiell einem gewissen Interpretationsspielraum zugänglich: Ist das noch in Ordnung? Was ist hier normal? In welchem Ausmaß werden Kinder dadurch geschädigt? Fälle sexualisierter Grenzverletzungen zwischen Kindern ziehen bei Erwachsenen häufig Leugnungs- und Bagatellisierungstendenzen nach sich. Eltern, deren Kinder der sexuellen Grenzverletzung bezichtigt werden, reagieren nicht selten mit Abwehr: „Mein Kind macht so was nicht!“, „Das ist doch ganz normal!“ „Wollen Sie mein Kind als Sexualtäter abstempeln?“ Auch Einrichtungen, in denen es zu solchen Vorfällen kommt, gehen häufig in Deckung: „Wir haben davon nichts mitbekommen.“, „Wir wissen nicht genau, was passiert ist (bzw.: „Wir können es nicht in Worte fassen.“), „Wir können doch nicht alle Kinder rund um die Uhr beaufsichtigen!“ Solche Reaktionen folgen der Logik des Selbstschutzes und zeigen, dass die Unsicherheiten, die mit sexuellem Verhalten von Kindern assoziiert sind, erheblich sind. Im Untergrund lauern existenzielle bzw. existenzbedrohende Fragen wie: „Haben die Eltern ihr Kind sexuell missbraucht?“ oder „Ist die Einrichtung ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen?“ Wichtig ist, dass in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Ebenen in Augenschein genommen werden müssen: (1) Das sexuelle Verhalten der Kinder und (2) Die Bewertung dieses Verhaltens durch (interessengeleitete) Erwachsene. 182 kinder schützen – auch vor kindern! Die zentrale Bewertungskategorie äußert sich in der Frage: „Was ist normal?“ Ein damit verbundenes Problem besteht in der Vermischung unterschiedlicher Dimensionen von Normalität (Araji 1997, Lamb/Coakley 1993, Schuhrke 2002): Geht es um Fragen der Gesundheit? („Ist das Verhalten für die Kinder schädigend?“), um Fragen der Moral („Ist das Verhalten der Kinder anständig bzw. anstößig?“), um Fragen der Entwicklung („Ist das Verhalten der Kinder altersangemessen?“) oder um Fragen der Statistik? („Ist das Verhalten deshalb abnormal, weil es selten vorkommt?“). Hier wird deutlich, wie kompliziert eine zutreffende Einschätzung sexuellen Verhaltens von Kindern ist. Dabei sind mindestens folgende Kriterien in Betracht zu ziehen (Johnson/Feldmeth 1993): Eigenschaften der beteiligten Kinder (Alter, körperliche Größe, …), Beziehungsfaktoren (Status in der Gruppe, …), emotionale Qualität bei der Ausübung der sexuellen Handlungen (Affekt), Art der Handlung (kindliches Verhalten vs. Praktiken der Erwachsenensexualität). Der Charakter sexuellen Verhaltens von Kindern ist nicht anhand eines Entweder-Oder-Schemas einzuordnen („Entweder es ist in Ordnung oder es ist ganz schlimm“), sondern auf einem Kontinuum anzusiedeln, auf dem unterschiedliche Ausmaße an Grenzverletzung Berücksichtigung finden. Bettina Schuhrke (Schuhrke 2013) hat auf einer Tagung der KinderschutzZentren im Jahr 2013 in Kiel die Frage aufgeworfen: Wie sexuell sind eigentlich sexuelle Grenzverletzungen? Im Zusammenhang mit dieser Frage sind zwei Tatsachen zu berücksichtigen: (1) Kinder können anderen Kindern Schaden zufügen. (2) Kinder sind sexuelle Wesen. Dies bedeutet zunächst, dass die Art und Weise, wie Kinder anderen Kindern Schaden zufügen (Demütigung, Beleidigung, Bedrohung) auch sexuell gefärbt sein kann. Nicht die Sexualität des Kindes ist gefährlich. Aber die Verletzungen, die Kinder anderen Kindern zufügen, können mit sexuellen Mitteln geschehen bzw. sexuell konnotiert sein. Gesellschaftliche Hintergründe und psychiatrische Störungsbilder Es können keine gesicherten Angaben dazu gemacht werden, ob sexualisierte Grenzverletzungen zwischen Kindern tatsächlich häufiger vorkommen als in früheren Zeiten (König 2011), aber es existiert ein gesellschaftliches Risikopo- 183 peter mosser tenzial, welches dazu beitragen könnte, dass es zu einer Häufung entsprechender Fälle kommt. Dieses Risikopotenzial entspricht demjenigen, das bestimmten Diagnosen wie ADHS, Bindungsstörungen und PTBS bei Kindern in den letzten Jahren zu einer auch jenseits der Fachöffentlichkeit wahrgenommenen Prominenz verholfen haben. Es handelt sich hier um pathologische Phänomene, die etwas mit Vernachlässigung, Entfremdung, Grenzenlosigkeit und Beschleunigung zu tun haben. Der Traumatherapeut Lutz Besser (Besser 2012) hat im Rahmen einer Fortbildung die allgemeine Beobachtung geäußert, dass viele Kinder bindungsgestört, traumatisiert und reizüberflutet wirkten. Solche Einschätzungen sind global und verallgemeinernd, aber sie verweisen auf eine Veränderung kindlicher Lebenswelten, die kritisch in Augenschein genommen werden muss. Gesellschaftliche Imperative sind nicht gemeinschaftsorientiert, sie befördern Ich-Orientierungen viel stärker als Beziehungsorientierungen. Lebensprojekte Erwachsener beziehen sich primär auf den eigenen Erfolg, auf die eigene Attraktivität und auf ein Nicht-abgehängt-Werden auf dem Arbeits- und Beziehungsmarkt. Zentral ist hier das Problem der zeitlichen Desynchronisation zwischen kindlicher und Erwachsenenwelt (Rosa 2013). Es ist zu bezweifeln, ob Erwachsene ihre Geschwindigkeiten noch kindgerecht organisieren, d. h. ob die Erfüllung kindlicher Bindungswünsche strukturell vereinbar ist mit dominanten erwachsenen Handlungsmustern. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, unter welchen Bedingungen Kinder, die von Bindungsstörungen, Traumatisierungen und/oder Reizüberflutungen bedroht und betroffen sind, ihre Sexualität organisieren. Hier sind zumindest gesellschaftliche Risiken in Betracht zu ziehen, die sich unter anderem auch in einem erheblich veränderten Konsum elektronischer Medien manifestieren (Quayle/Taylor 2006). Probleme der Einvernehmlichkeit Pädagogische Initiativen, die darauf abzielen, Kinder zu stärken und ihnen Kompetenzen zum Umgang mit Grenzüberschreitungen zu vermitteln, beinhalten unter anderem zwei zentrale Botschaften, die mit folgenden Formeln beschrieben werden können: (1) „Du musst lernen zu spüren, was dir gefällt bzw. was dir nicht gefällt!“ (2) „Wenn dir etwas nicht gefällt, dann musst du 184 kinder schützen – auch vor kindern! ‚Nein!‘ sagen!“ Diese Anforderungen wirken zunächst relativ einfach. Bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich allerdings als hochkompliziert, weil sie die Frage der Einvernehmlichkeit sexueller Handlungen betreffen. Um einer sexuellen Handlung zuzustimmen, bedarf es komplizierter Voraussetzungen im Sinne eines „informed consent“ (Cunningham/McFarlane 1996): (1) Der Vorschlag muss verstanden werden. (2) Es muss ein Wissen über gesellschaftliche Standards im Zusammenhang mit dem, was vorgeschlagen wird, existieren. (3) Mögliche Konsequenzen der vorgeschlagenen Handlungen müssen antizipierbar sein. (4) Es muss von der Annahme ausgegangen werden, dass eine Ablehnung des Vorschlags in gleicher Weise akzeptiert wird wie eine Zustimmung. Dies bedeutet, dass einer sexuellen Handlung genau genommen nur in Form einer willentlichen Entscheidung auf der Basis einer ausreichenden kognitiven Kompetenz zugestimmt werden kann. Dies kann bei Kindern klarerweise nicht vorausgesetzt werden, aber es ist wichtig, Behauptungen von Freiwilligkeit im Zusammenhang mit kindlichen sexuellen Interaktionen kritisch zu hinterfragen. Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt – ein Widerspruch? Pädagogisches Handeln, das sich auf kindliche Sexualität bezieht, muss sensibel sein für die Vereinbarkeit institutioneller und familiärer Kulturen (Larsson/ Svedin 2002, Friedrich/Trane 2002). Es ist daher wichtig, dass Eltern und Fachkräfte diesbezüglich miteinander ins Gespräch kommen. Dabei ist auch die strukturelle Unterschiedlichkeit zwischen Institution und Familie als öffentlicher Raum einerseits und privater Raum andererseits zu berücksichtigen. Öffentlichkeit und Privatheit sind zentrale Kriterien für die Angemessenheit sexuellen Verhaltens – auch bei Kindern. Es ist daher die Frage zu diskutieren, inwieweit Institutionen (z. B. Kindertagesstätten) sich überhaupt als Raum verstehen sollten, innerhalb dessen sexuelles Verhalten von Kindern befördert wird. Zumindest müssen sich Institutionen aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wo sie sich zwischen den Extrempolen eines „offenen sexuellen Experimentierfeldes“ einerseits und einer strengen Sanktionierung jeglicher sexueller Äußerung andererseits verorten wollen. Dies führt zu der Frage, welche pädagogischen Akzente zu setzen sind: Sexualpädagogik, um Kinder bei ihrer 185 peter mosser sexuellen Entfaltung zu begleiten – oder Prävention vor sexualisierter Gewalt, um Grenzverletzungen zu verhindern? Es taucht dabei auch die Frage auf, ob es sich hierbei nur um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen handelt oder gar um gegenläufige Zielrichtungen. In der Praxis ist zu beobachten, dass hinter den jeweiligen pädagogischen Ansätzen häufig auch unterschiedliche Berufskulturen mit unterschiedlichen Ideologien zu Kindheit und Sexualität stehen. Die Grundausrichtung besteht in einem Fall in der Entfaltung, im anderen Fall im Schutz. Dabei wird oft übersehen, dass die Schnittmenge durchaus groß ist und darin besteht, dass Kinder in einer Weise (auch körperlich) in Beziehung zu treten lernen, die möglichst wohltuend ist und möglichst keine Grenzen verletzt. Was ist zu tun? Inhaltliche Klärung Im Sinne einer pädagogischen Selbstverortung sollten sich Einrichtungen mit folgenden Fragen auseinandersetzen: (1) Sehen wir unsere Aufgabe primär darin, die sexuelle Entwicklung der Kinder pädagogisch zu begleiten? Oder aber (2) geht es uns vor allem darum, die Kinder vor sexuellen Grenzverletzungen zu schützen? Es ist evident, dass es sich hier um kein inhaltliches Gegensatzpaar handelt, dass solche Schwerpunktsetzungen aber dennoch in hohem Maße die pädagogischen Herangehensweisen modulieren und mit persönlichen Einstellungen und Haltungen des Personals mehr oder weniger korrespondieren. Um die eigene Position zuverlässig zu reflektieren, ist es sinnvoll, die oben gestellten Grundfragen noch weiter zu differenzieren und (exemplarisch) folgende Fragen zu diskutieren: Welche Kultur vertreten wir? Was ist uns wichtig? Ermuntern wir zu sexuellen Handlungen oder reagieren wir auf das, was uns innerhalb der Einrichtung begegnet? Was wollen unsere Auftraggeber? Was wollen wir nach außen vermitteln? Welche Bedeutung messen wir der Sexualität in der kindlichen Entwicklung zu? Welche Rolle weisen wir uns selbst im Zusammenhang mit der sexuellen Entwicklung der uns anvertrauten Kinder zu? Was können wir im Rahmen unserer Ressourcen leisten? 186 kinder schützen – auch vor kindern! Differenzierungen vornehmen Zumindest für die Kinder- und Jugendhilfe schreibt das Bundeskinderschutzgesetz die Entwicklung von Konzepten zum Schutz von Mädchen und Jungen vor (sexualisierter) Gewalt vor. Analog dazu sollen auch Kindertagesstätten ihrem Schutzauftrag durch die Entwicklung und Implementierung entsprechender Konzepte nachkommen. Entsprechende gesetzliche Vorgaben legen bestimmte pädagogische Schwerpunktsetzungen nahe. Sie befördern ein Primat des Schutzgedankens gegenüber einer sexualpädagogischen Herangehensweise, die zunächst von einem positiv besetzten Sexualitätsbegriff ausgeht und auf eine wohlwollende Begleitung kindlicher Sexualität fokussiert. Schutzkonzepte müssen sensibel sein für Unterschiede. Die Verhinderung von sexuellem Missbrauch eines Erwachsenen gegen ein Kind erfordert andere Interventionsmaßnahmen als sexuelle Grenzverletzungen zwischen Kindern. Für jede Gefährdungskonstellation müssen daher passende Verhaltensrichtlinien entwickelt werden. In Bezug auf die Prävention von Grenzverletzungen zwischen Kindern muss unter anderem die Frage der Beurteilung von Einvernehmlichkeit in den Mittelpunkt gerückt werden. Schutzkonzepte bedürfen daher (1) klarer Regelungen darüber, was innerhalb der Einrichtung erlaubt ist und was nicht und (2) für alle Fälle, die von diesen Regelungen nur unzureichend erfasst werden, die Beschreibung eines Modus, wie Einvernehmlichkeit festgestellt werden kann. Der Diskurs über die Frage der Einvernehmlichkeit berührt die Präventionspraxis genauso wie die Sexualpädagogik. Schutzkonzepte funktionieren nicht, wenn sie allein auf die Verhinderung sexualisierter Übergriffe abzielen und keine Differenzierungen vornehmen. Und Sexualpädagogik greift zu kurz, wenn die Frage der Einvernehmlichkeit sexuellen Handelns nicht ausreichend Berücksichtigung findet. Fazit Aus dem Gesagten lassen sich gemeinsame Anforderungen an Sexualpädagogik und Präventionsarbeit ableiten, die die Basis für eine Integration beider Zugänge bilden könnten: 187 peter mosser (1) Konzepte sind grundsätzlich als prozesshaft zu verstehen. Sie müssen einen Modus beschreiben, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben können. Sie müssen auch Angaben darüber enthalten, wie aktuelle Entwicklungen Berücksichtigung finden und Verhaltensregeln immer wieder evaluiert werden können. (2) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten eigene Haltungen in Bezug auf kindliche Sexualität offen legen und zur Diskussion anbieten. Dadurch findet eine Entideologisierung und Entdogmatisierung der pädagogischen Arbeit zugunsten eines authentischen, reflektierten und fachlich fundierten Zugangs statt. (3)Einrichtungen müssen sich im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen über ihren Auftrag und inhaltliche Schwerpunktsetzungen klar werden und dies gegenüber Auftraggebern und Eltern deutlich kommunizieren. Dadurch soll ein kooperatives Klima in der sexualpädagogischen und präventiven Zusammenarbeit zwischen Einrichtung und Eltern entstehen. Nachdem die Notwendigkeit der Entwicklung von Schutzkonzepten allgemein erkannt wurde, besteht der nächste – und schwierigere – Schritt darin, Kriterien für zuverlässige Implementierungspraxen zu identifizieren. Eines dieser Kriterien besteht in einer sinnvollen Verbindung sexualpädagogischen und präventiven Handelns. Hierfür bedarf es noch weiterer praktischer Erfahrungen und theoretischer Begründungen. 188 kinder schützen – auch vor kindern! Literatur Araji, S. K. (1997): Sexually aggressive children: Coming to understand them. Thousand Oaks: Sage Publications. Bancroft, J./Herbenick, D. L./Reynolds, M. A. (2003): Masturbation as a marker of sexual development. In: Bancroft, J. (Ed.): Sexual development in childhood. Bloomington: Indiana University Press, pp. 156–191. Besser, L. (2012): Persönliche Mitteilung im Rahmen des Ausbildungscurriculums „Trauma- und bindungszentrierte Therapie mit Kindern und Jugendlichen“. Cunningham, C./Mc Farlane, L. (1996): When children abuse. Brandon: Safer Society Press. Friedrich, W. N./Trane, S. T. (2002): Sexual behavior in children across multiple settings. Child Abuse & Neglect, 26, pp. 243–245. Johnson, T. C./Feldmeth, J. R. (1993): Sexual behaviors: A continuum. In: Gil, E./ Johnson, T. C. (Eds.): Sexualized children: Assessment and treatment of sex ualized children and children who molest. Rockville: Launch Press, pp. 39–52. König, A. (2011, Oktober): Sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche. Expertise im Auftrag der Geschäftsstelle AG I des runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“. Lamb, S./Coakley, M. (1993): ”Normal“ childhood sexual play and games: differentiating play from abuse. Child Abuse & Neglect, 17, pp. 515–526. Larsson, I./Svedin, C. G. (2002): Teachers´ and Parents´ Reports on 3- to 6-year- old Children´s sexual Behavior – a Comparison. Child Sexual Abuse & Neglect, 26, pp. 247–266. Masson, J. M. (1995): Was hat man dir, du armes Kind, getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Freiburg: Kore. Mosser, P. (2012): Sexuell grenzverletzende Kinder – Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen. Eine Expertise für das Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung (IzKK). Verfügbar unter: http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/izkk/IzKK_Mosser_Expertise.pdf Quayle, E./Taylor, M. (2006): Young people who sexually abuse. The role of the new technologies. In: Erooga, M./Masson, H. (Eds.): Children and young people who sexually abuse others. Current developments and practice responses. London: Routledge, pp. 115–127. 189 peter mosser Quindeau, I./Brumlik, M. (2012): Kindliche Sexualität. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Schuhrke, B. (2013): Erklärungsmodelle zur Entstehung sexuell auffälligen Verhaltens. Vortrag auf dem Fachkongress „Sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche. Fachliche Herausforderungen und Wege der Hilfe“. Die Kinderschutz-Zentren, Kiel, 19.06.2013. 190 B gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / Bindungs- und traumasensibel arbeiten: Traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinderund Jugendhilfe Abstract Traumatische Belastungen stellen Mitarbeiter(innen) der stationären Kinderund Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Werden traumatisierte Kinder und Jugendliche jedoch adäquat unterstützt, kann ihre Überlebenskraft und -kreativität jedoch eine Reihe konstruktiver Kräfte entfalten. Traumapädagogische Konzepte bieten hier, so zeigt eine gemeinsame Studie der Einrichtung „Tabaluga“ mit der Donau-Universität Krems, Lösungsangebote. Durch spezifische Fort- und Weiterbildungen und durch die Schaffung tragfähiger Strukturen können die Fachkräfte bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe unterstützt werden. Bei der Implementierung von Traumapädagogik erweisen sich die bereits publizierten Standards der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (BAG-TP) zudem als hilfreich. Der Artikel veranschaulicht die erfolgreiche Arbeit an einem Fallbeispiel aus der Studie. Einleitung In der „Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe“ wird Kindern und Jugendlichen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in den Herkunftsfamilien leben können, ein Aufwachsen in familienähnlichen Wohngruppen geboten. Die zumeist sozial benachteiligten und traumatisierten Kinder werden im überwiegenden Fall über einen langen Zeitraum hinweg von Tabaluga begleitet. Dabei bieten die dortigen Einrichtungen eine geordnete und sichere Alltagsstruktur sowie ein breites pädagogisches und therapeutisches Angebot. Dies alles soll dem übergeordneten Ziel der Entwicklung eines individuell abgestimmten Lebenskonzeptes dienen, das sich für die Zeit nach der Kinder- 193 gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / und Jugendhilfemaßnahme als tragfähige und realistische Basis erweist. Tabaluga Kinderhäuser gibt es in Tutzing, Schongau und Peißenberg. Für die älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen steht außerdem betreutes Wohnen zur Verfügung. Aber was nützt den Kindern und Jugendlichen dieser Aufenthalt? Eine gemeinsame Studie der Einrichtung „Tabaluga“ gemeinsam mit der Donau-Universität Krems ist dieser Frge nachgegangen. Ein Forschungsteam begleitete eine über drei Jahre hinweg in der Stiftung durchgeführte traumapädagogische Schulungsreihe, deren Ergebnisse in die Qualitätsstandards der Einrichtung implementiert wurden. Die Studie zeigt, wie sehr traumatische Folgeerscheinungen durch adäquate traumapädagogische Begegnungs- und Behandlungsstrategien, die zuvor durch eine Schulung vermittelt wurden, mitgestaltbar sind und wie viele Chancen das Hilfesystem darüber ermöglichen kann. Traumapädagogische Intervention Im Zentrum der Traumapädagogik: Trauma biografisch verstehen Ausmaß und Ausformung von Traumafolgen sind abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer der traumatischen Einwirkung, v. a. aber vom Entwicklungsstand, in dem sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt befindet (Gahleitner 2011). Zu den Umständen zählt insbesondere, ob es vor, während oder nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat. Der unumstritten wichtigste Schutzfaktor sind „schützende Inselerfahrungen“ (Gahleitner 2005, S. 63). Bei früher Vernachlässigung oder Gewalt ohne schützende Inseln kommt es daher nicht selten zur Ausbildung „desorganisierter Bindungsmuster“, häufig ein Prädiktor für spätere psychische Erkrankungen (vgl. Brisch 2009). Auf diese Erfahrungszusammenhänge, die durch entwicklungsbedingte Verletzlichkeiten sowie individuelle Vorerfahrungen geprägt sind, treffen die jeweiligen Umfeldfaktoren. Die traumatischen Erlebnisse werden dabei ständig aktualisiert und modifiziert (Becker 2012). Bei frühen und schweren 194 bindungs- und traumasensibel arbeiten Einwirkungen resultiert daraus eine „komplexe Traumafolgestörung“ (Sack et al. 2013) oder „Traumaentwicklungsstörung“ (Schmid et al. 2010), die als Verarbeitungsstrategie gegen die traumatische Einwirkung zu verstehen ist. Man spricht auch von sequenzieller Traumatisierung (Keilson 1979). Insbesondere bereits früh in desolate Verhältnisse eingebundene Kinder- und Jugendliche sind daher existenziell auf soziale Ressourcen angewiesen, die als positive Gegenhorizonte stabile psychosoziale Geborgenheit verbürgen (Keupp 1997). Der nächste Schritt: Verstehend Beziehung ermöglichen Traumatisierte Kinder benötigen daher möglichst viele „Alternativ-Erfahrungen“, d. h. möglichst viele Räume des Verstehens und immer wieder neu Anknüpfens an konstruktive Veränderungsmöglichkeiten. Dazu haben sie das Potenzial, es muss jedoch professionell geweckt und begleitet werden. Trauma- und bindungskompetente Interaktionen stellen auf diese Weise einen Mikrokosmos von Veränderungspotenzialen zur Verfügung. Gelungene Begegnungen mit bedeutsamen Personen – als Basis für die (Neu-)Strukturierung der inneren, beängstigenden, evtl. traumatischen Erfahrung – werden auf diese Weise insbesondere für komplex traumatisierte Klient(inn)en Stück für Stück zu einem grundlegenden Prinzip der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung. Voraussetzung dafür ist jedoch eine umfassende biopsychosozial angelegte Diagnostik (vgl. ausführlich Gahleitner 2011, Gahleitner et al. 2014). Bereits Bowlby (1988/1995, vgl. auch Holmes 1993/2002) betonte die Bedeutung der professionellen Bindungsbeziehung sowie ihre Funktion als sichere Basis für freies Explorieren, das konstruktive Lernerfahrungen ermöglicht und negative Bindungserfahrungen revidieren hilft. Auch nach den Ergebnissen der Psychotherapieforschung gilt die therapeutische Beziehung als stärkster allgemeiner Wirkfaktor (Orlinsky et al. 1994, vgl. bereits Alexander/French 1946). In der Traumapädagogik wurden diese Überlegungen zu einem komplexen Konzept des sog. „sicheren Ortes“ (Gahleitner 2011, Kühn 2006, Weiß 2013) weiterentwickelt, der Kindern und Jugendlichen in den bestehenden Einrichtung zur Verfügung gestellt werden muss. 195 gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / Im sicheren Terrain traumapädagogisch intervenieren Nach dem Verständnis der Traumapädagogik sind Folgeerscheinungen also nicht nur als Konsequenz traumatischer Ereignisse zu verstehen, sondern v. a. als Versuche, das traumatische Ereignis möglichst gut zu verarbeiten. Bei aller scheinbarer Absurdität und Dysfunktionalität stehen sie – zunächst – im Dienst des Überlebens (Birck 2001). Traumapädagogische Konzepte bauen auf dieser Grundlage auf und etablieren daher auf Basis der zwischenmenschlichen Beziehungen zunächst innere wie äußere Sicherheit. Diese wiederum ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte, um dann als Brücke zur Außenwelt zu fungieren und auch dort Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Im Unterschied zur Psychotherapie bemüht sich die Traumapädagogik jedoch bewusst nicht um eine dyadische Ausschließlichkeit. Denn bei den betroffenen Kindern bedarf es nicht nur einzelner dyadischer Beziehungen, sondern umfassender Beziehungsnetzwerke aus stabilen Bindungsverhältnissen – bis hinein in gezielte Elternarbeit und konstruktive Vernetzungssettings unter Institutionen (vgl. Gahleitner 2011, vgl. auch Weiß 2011), um gelungene Hilfeprozesse zu ermöglichen. Auf dieser Basis ist es möglich, mittels kontrollierter Rekonstruktion des Traumas und eines Verständnisses der Wirkung vergangener Erfahrung auf die momentanen Gefühle und Verhaltensweisen gemeinsam mit den Kindern einen differenzierteren Umgang mit Symptomen und belastenden Gefühlen zu erarbeiten. Auf diese Weise entsteht für die Kinder die Chance, andere Muster der Selbstwahrnehmung und damit ganz konkrete Selbstheilungsmöglichkeiten zu entwickeln und alltagsnah ein Mehr an Handlungskompetenz, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit zu erreichen. Das geschieht über Interventionen zur Selbstbemächtigung entlang neurophysiologischer Konzepte (dreigliedriges Gehirn), des Umgangs mit Triggern und übertragungsrelevanter Vorgänge. Voraussetzung dafür jedoch ist, dass die Gedanken und Gefühle auf die oben beschriebene Weise professionell diagnostiziert, verstanden und angenommen werden (vgl. auch das Curriculum von DeGPT und BAG 2011). Auf diese Weise zu einer Annahme des Traumas zu verhelfen, zu einer Einsicht in die Grenzen und Möglichkeiten der Bearbeitung und der damit verbundenen Veränderun- 196 bindungs- und traumasensibel arbeiten gen, erleichtert eine Zuwendung zu aktuellen Lebens- und Alltagsthemen im umgebenden Kontext und eine Annäherung an die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen für das zukünftige Leben. Für ein junges Mädchen bei Tabaluga, nennen wir sie Anna, ist dies scheinbar recht gut gelungen. „Also, ich finde es schön hier auch. Weil, hier ist es also etwas anders wie zuhause“ – Fallbeispiel Anna, 9 Jahre Aufbau einer unterstützenden Beziehung Das Leben vor Tabaluga war für Anna mit einer großen Anzahl an Problemen verbunden: „Und, ja dann hatte ich auch meistens Probleme“ (A. 78). Die Mutter konnte nicht viel bei den Kindern sein, und die Betreuung von Anna und ihren Geschwistern gestaltete sich problematisch. Annas Leben war daher von unterschiedlichen Betreuungspersonen geprägt: „Hat sich bisschen verändert, weil hier habe ich eigentlich jetzt nicht mehr so viele Probleme. Aber auch selten noch welche. Bei meiner Mutter hatte ich eher ein bisschen mehr, weil meine Mutter ja auch immer arbeiten musste. Dann hatte ich immer jemand anders, der auf mich aufpasst und so, dann hatte ich schon ein Problem“ (A. 80). Auch Hilfe in schulischen Angelegenheiten war vor ihrer Zeit bei Tabaluga wenig vorhanden: „Also, wenn ich früher, als ich bei meiner Mama noch war, ... da musste meine Mama auch viel meinen Geschwistern helfen, weil ich ja mehrere Geschwister noch hab. Und die ja jetzt schon in einer größeren Klasse sind, und die haben dann immer viel mehr Hilfe bekommen“ (A. 55). Bei Konflikten wurden Anna und ihre Geschwister sich selbst überlassen: „Bei meiner Mama war es so, wir mussten es meistens eigentlich selber klären“ (A. 56). Anna besucht das Tabaluga Kinderhaus vor ihrem Einzug mehrfach. In der Anfangszeit, als noch keine engen Kontakte zu andern Kindern bestehen, vermisst sie v. a. ihre Mutter und ihre Geschwister. Der erste Anknüpfungspunkt bei Tabaluga für Anna sind die anderen Kinder dort und die Tiere: „Es haben mir die anderen Kinder geholfen“ (A. 326). „Dann haben wir auch die Hasen bekommen. 197 gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / Dann war es auch, dann haben sie mich auch beruhigt, weil man auf die Tiere aufgepasst hat“ (A. 328). Der in der Einrichtung übliche Umgang mit Tieren spielt für Anna eine sehr wichtige Rolle: „Also, toll finde ich, dass man mit Tieren, wenn man andere Tiere auch kennenlernt. Also nicht immer aus Büchern lesen oder im Internet schauen oder Bilder drucken, dass man so richtige Fotos oder so machen kann“ (A. 50). Im Rahmen des Therapieprogramms erhält Anna Reittherapie. Auch die Ergotherapie bewertet Anna als hilfreich: „Toll, weil wir auch schreiben oder lesen, das ist besser für mich“ (A. 140). Der Vertrauensaufbau kann so Stück für Stück wachsen. Das Verhältnis zu den Pädagog(inn)en beschreibt Anna als sehr gut. In vielen Dingen erhält Anna Unterstützung von ihren Betreuer(inne)n: „Und hier kriege ich halt so viel, also zuerst muss ich alleine probieren, aber dann krieg‘ ich Hilfe, kommt drauf an, bei was ich nicht verstehe“ (A. 54). Hilfreich für Anna ist auch die Unterstützung in Konfliktsituationen durch die psychosozialen Fachkräfte: „Wenn wir irgendwie Streit oder so haben, dann helfen die eigentlich auch, weil dann wird immer gemacht: ‚Mit wem möchtest du spielen?‘ oder so. Und dann wird geredet“ (A. 56). Annas kleines Geschwisterkind lebt ebenfalls bei Tabaluga. Die Betreuung hilft, die Geschwisterbeziehung angemessen zu gestalten: „Wenn sie immer in mein Zimmer wollte, und nie rausgeht. Dass ich sie dann geholt habe“ (A. 100). Auch für die Gruppenphänomene, die sich in Kindergruppen entfalten können, bedarf es eines regulierenden Eingreifens durch die Betreuer(innen). Anna erzählt: „Ja, wenn man, also meistens wenn die Großen dabei sind, wenn man sich verletzt oder so, oder wenn man irgendwie runterfällt, dass die im ersten Augenblick lachen, aber dann nicht mehr lachen“ (A. 66). Hilfreich für Anna ist auch, dass die Einrichtung die Ursprungsfamilie stetig in die Betreuung einbezieht. Der Kontakt zu Annas Mutter erfolgt in regelmäßigen Intervallen: „Und, eigentlich jedes zweite Wochenende, also ein Wochenende holt sie mein Geschwisterchen ab, dann das Wochenende darauf mich“ (A. 146). Zu ihren anderen Geschwistern hat Anna ebenfalls Kontakt: „Die kommen auch manchmal hierher, um mich abzuholen. Oder wir machen auch mal hier was. Oder wir fahren zu ihnen. Oder zu meiner Mama“ (A. 300). Die anschließende 198 bindungs- und traumasensibel arbeiten Trennung ist dann manchmal nicht so leicht: „Aber meistens finde ich es auch schlecht, dass ich Mama manchmal nicht sehe oder so. Aber, oder meine Geschwister“ (A. 312). Traumapädagogische Lernerfolge Angesprochen auf die traumapädagogische Schulung, die in der Einrichtung durch das Zentrum für Traumapädagogik Hanau durchgeführt wurde, nennt Anna die drei verschiedenen Gehirnbereiche nach dem Konzept des dreigliedrigen Gehirns, die sie dort vermittelt bekam: Denker, Alarmzentrale und Reptiliengehirn. Den Bereich des Denkens und die Alarmzentrale beschreibt sie wie folgt: „Also, wenn man irgendetwas haben möchte oder so, weil da darüber kann ich nachdenken, oder es sich einfach nimmt, da ist der Denker mal weg. Oder wenn man nachdenkt, dann kommt der Denker wieder. Und wenn man irgendwie: ‚Jetzt brennt es!‘ oder ‚Da ist Feuer!‘, da braucht man diese Alarmzentrale, dass man weiß: ‚Da musst du jetzt schnell weggehen‘ oder so: ‚Das sollst du nicht machen‘“ (A. 188). Anna konnte die Grundlagen dieses Konzepts bereits im Alltag anwenden und beschreibt dies anhand eines Beispiels, welches sich auf den Bereich des Denkers bezieht: „So, wie zum Beispiel: ‚Räum jetzt des, räum jetzt dein Zimmer auf‘ oder: ‚Saug jetzt dein Zimmer‘ oder: ‚Wisch dein Zimmer‘ oder: ‚Räume es wieder auf‘ oder: ‚Räume die Bücher in dein Regal‘ – und dass man manchmal auch ausflippt, ... aber man denkt dann eigentlich auch wieder nach, ob man es machen soll, weil eigentlich bringt es ja gar nichts“ (A. 196). Auch bei Konflikten mit ihrem Geschwisterkind hilft Anna das Konzept des dreigliedrigen Gehirns: „Wenn sie mir irgendetwas geklaut hat und ich ihr überhaupt nichts getan habe, und dann hilft es manchmal“ (A. 262). Die erlernte Selbstbemächtigung beschreibt Anna als die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen: „Wenn du jetzt ausrastest, dass du dich dann wieder beruhigst“ (A. 222). Anna greift auf diese Fähigkeit bewusst zurück. Sie erzählt, dass ihr in solchen Situationen ein Kissen hilft, dessen Duft Erinnerungen an einen Baum im Garten ihrer Mutter weckt. „Wenn ich, ich hab so ein Kissen, wenn ich das in die Mikrowelle tu, dazu gehört ein Kuscheltier, wenn man das drauf legt, dann 199 gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / duftet es“ (A. 226). „Also, nach Orange“ (A. 228). „Weil, wir haben auch einen kleinen Baum im Garten bei meiner Mama“ (A. 230). Anna ist auch bewusst, dass sie nicht in allen Situationen diese Strategie anwenden kann: „Also, wenn ich jetzt so richtig ausflippe, dass ich was machen muss, was ich eigentlich gar nicht machen will, was eigentlich für Größere ist, aber ich es trotzdem machen muss und ja, und dann flipp ich manchmal aus, da hilft‘s mir nicht. Wenn es jetzt ist, was ich machen sollte, was ich dir auch versprochen habe, dass ich es mache und dann doch nicht mache, dann hilft es“ (A. 236). Für Situationen, in denen das Duftkissen sie nicht mehr beruhigen kann, hat Anna eine weitere Strategie gefunden, die ihr hilft, ihre Wut in den Griff zu bekommen: „Ich hab so ein Kissen, gegen das haue ich immer. Das kann ich“ (A. 238). Auch zwischenmenschliche Kontakte helfen ihr, belastende Situationen zu bewältigen. Anna beschreibt, dass eine Fachkraft ihr in diesen Situationen hilft, indem sie sich mit Anna beschäftigt: „Entweder wir gehen zusammen raus oder spazieren, oder wir setzen uns auf den Balkon“ (A. 252). Auch ihr Geschwisterkind kann ihr durch sein Handeln in solchen Situationen helfen: „Also, meistens leiht sie mir Comics. Die les’ ich meistens dann halt schon, weil sie eigentlich spannend sind. Oder wir spielen irgendwas zusammen“ (A. 250). Gezielte Übungen zur Traumapädagogik findet Anna dagegen nicht immer angenehm, weil sie für sie dann keine geeignete Situation treffen: „Eigentlich mittel. ... Weil jedes Mal irgendetwas anderes ausprobieren, das hat manchmal auch genervt“ (A. 256, 258). Ausblick Stationäre Jugendhilfeeinrichtungen wie die Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe (www.tabalugakinderstiftung.de) haben sich als professionelle Antwort auf die Problematiken schwer in ihrer Entwicklung oder Persönlichkeit beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher entwickelt, um den Anforderungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nach angemessener und qualifizierter Hilfe zu entsprechen. Mit der umfassenden Traumapädagogikschulung durch das Zentrum für Traumapädagogik Hanau betont die Einrichtung Tabaluga 200 bindungs- und traumasensibel arbeiten die Zielsetzung, auch Kinder mit komplexen Traumata (laut Studien 80 % fremduntergebrachter Kinder, vgl. Schmid et al. 2010, S. 48) in ihrer Einrichtung angemessen zu unterstützen (vgl. Lang et al. 2013, Weiß 2013). Für die Durchführung einer traumapädagogischen Schulung war zentral, den pädagogischen Alltag in den Einrichtungen von Tabaluga noch stärker und auch gezielter als stabilisierenden, geschützten und wirksamen Ort für den sicheren Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen sowie für die Behandlung der Traumata zu nutzen. Ebenso wurde auf eine veränderte pädagogische Grundhaltung der Mitarbeiter(innen) abgezielt. Tabaluga steuert die gesamte dezentrale Einrichtung zudem seit 2006 mit einem Qualitätsmanagement, das an die Stelle der pädagogischen Konzeptionen getreten ist. Die Qualitätsstandards werden unter Beteiligung der Mitarbeiter(innen) im Rahmen von Qualitätszirkeln erstellt. Im Prozess der Implementierung von Traumapädagogik wurden und werden bei der Erstellung bzw. Revision der Standards traumapädagogische Inhalte berücksichtigt. Der Aufwand und die Mühen scheinen sich gelohnt zu haben. Die Ergebnisse der Begleitforschung (Informationen und Hinweise auf den Bericht unter www. donau-uni.ac.at/de/department/psymed/forschung/projekt/id/20322) zeigen beeindruckende Ergebnisse, nicht nur aus Sicht der Mitarbeiter(innen), sondern auch aus Sicht der Kinder selbst. 201 gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich / Literatur Alexander, Franz G./French, Thomas Morton (1946): Psychoanalytic therapy. Principles and application. New York: Ronald. Becker, David (2012): Traumageschichte(n). supervision, 30 (2), S. 4–13. Birck, Angelika (2001): Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psychotherapie. Berlin: Behandlungszentrum für Folteropfer. Bowlby, John (1995): Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Therapeu tische Aspekte der Bindungstheorie. Heidelberg: Dexter (englisches Original erschienen 1988). Brisch, Karl Heinz (2009): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie (9., vollständ. überarb. und erw. Aufl.). 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Um im internationalen Bildungsvergleich mithalten zu können, sollten Kitas daher nicht länger bloß Verwahranstalten sein. Durch eine Fachkräfteausbildung auf Universitätsniveau gilt es, Kleinkinder optimal zu fördern und auszubilden. Die Kita als Bildungsstätte verfügt über ein gesteigertes Anforderungsprofil, in dem professionelles Know-how und didaktisches Handwerkszeug von wesentlicher Bedeutung sind. So gestalten sich kindliche Bildungsprozesse heute wesentlich komplexer als früher, da sie stärker hinsichtlich sozialer, religiöser, ethnischer oder kultureller Herkunft divergieren. Besondere Aufmerksamkeit verlangen dabei Kinder mit Migrationshintergrund, Entwicklungsverzögerungen, Beeinträchtigungen und aus sogenannten fernen Bildungsschichten. Die Förderung dieser Kinder sollte daher zum konstitutiven Bestandteil der allgemeinen Fort- und Weiterbildungen bzw. des Studiums werden. Zudem ist es wichtig, die Bildungsangebote für unter Dreijährige durch qualifiziertes Fachpersonal auszubauen. Getreu dem Leitbild „Lieber früh investieren, als spät (wesentlich teurer) zu reparieren“, muss dieser Entwicklungsphase besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bei unter Dreijährigen sind andere entwicklungspsychologische Aspekte zu betrachten als bei Kindern aus Elementargruppen, denn ihre Bedürfnisse sind an divergente pädagogische Anforderungen geknüpft. Optimalerweise würden die U3-Gruppen noch in Altersgruppen von 0 bis 1½-Jahre und 1½ Jahre bis 3 Jahre aufgesplittet werden, um die bestmögliche pädagogische Betreuung zu gewährleisten. Mit der Initiative „Aufstieg durch Bildung“ reagiert der Bund zwar auf die Forderung der Fachkräfteprofessionalisierung, doch von einer gelungenen Umsetzung der Programminhalte ist man noch weit entfernt. 80.000 Mitarbeiter und 205 ilse wehrmann Mitarbeiterinnen aus dem Bereich der Kindertagespflege sollen demnächst an Weiterbildungsprogrammen und Präsenzangeboten teilnehmen können. Auch die frühkindliche Bildung für unter Sechsjährige soll mit dem Programm verbessert werden. Die Realisierung dieser Initiative ist jedoch Landessache, und so wird das Resultat letztlich eher einem föderalen Flickenteppich ähneln. Die anzustrebenden strukturellen Reformen für die Professionalisierung der Fachkräfte verlangen eine Förderung der Kooperationsmodelle zwischen Fachschulen und Fachhochschulen, um einen Ausbildungsabschluss auf Hochschulniveau zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte die Grundausbildung mit einem Bachelor-Abschluss angesiedelt werden, in dessen Anschluss z. B. Kita-Leitungen einen Master-Abschluss erstreben können. Da sich die Betreuungsbereiche zwischen Kita und Schule am Ende der Elementarphase überschneiden, sind gemeinsame Ausbildungsabschnitte für Erzieher(innen) und Lehrer(innen) obligatorisch. Hier sollte ein Basisjahr mit Praxisanteilen in Kitas und Schulen absolviert werden. Letztendlich ist ein bundesweit anerkanntes und koordiniertes Qualifizierungssystem unerlässlich, in dessen Rahmen Ausbildungsinhalte standardisiert werden. Gebraucht wird ein Bundes-Kerncurriculum, das Inhalte, Kompetenzen und Methoden verbindlich formuliert. Im täglichen Kita-Betrieb sollten schließlich die eingeführten Qualitätskriterien ständig weiterentwickelt und evaluiert werden. Dies bedarf zusätzlicher externer Qualitätskontrollen, in denen unabhängige Inspektorenteams die Angebotsqualität, Ressourcenausstattung und Betriebsorganisation in regelmäßigen Abständen von bis zu fünf Jahren kontrollieren. Nur so können wir unseren Kindern die bestmöglichen Entwicklungs- und Bildungsbedingungen ermöglichen. 206 B anne katrin künster / ute ziegenhain Krippenbetreuung – eine Frage der Qualität Ein Kommentar zu „Risiken der Krippenbetreuung aus tiefenpsychologischer Sicht von Ann Kathrin Scheerer“ 1 Zusammenfassung Die frühe familienergänzende Betreuung von kleinen Kindern in Einrichtungen ist ein in der (Fach-) Öffentlichkeit kontrovers diskutiertes Thema. Internationale Forschungsbefunde belegen sowohl positive wie auch negative Effekte auf die kindliche Entwicklung. Eine kritische Diskussion dieser Befunde führt zu dem Schluss, dass insbesondere der Qualität der frühkindlichen Betreuung in vielerlei Hinsicht Aufmerksamkeit gezollt werden sollte, ist doch die familienergänzende Kinderbetreuung nicht mehr aus der Lebensrealität zahlreicher Familien wegzudenken und kann u. U. sogar Defizite der familiären Betreuung kompensieren. Hintergrund Die familienergänzende Betreuung von Kindern und dabei insbesondere die Betreuung von Kindern unter drei Jahren wurde und wird in Deutschland nach wie vor kontrovers diskutiert. Dabei werden mögliche negative Auswirkungen früher Fremdbetreuung angeführt wie hohe Stressbelastung bzw. chronische Überforderung des Kindes, das Risiko einer unsicheren Bindung mit der Mutter sowie Risiken für seine weitere sozial-emotionale Entwicklung. Ann Kathrin Scheerer behandelt in ihrem Beitrag diese Risiken familienergänzender Betreuung bei Krippenkindern. 1 Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Künster, A. K./Ziegenhain, U (2014): Kommentar zu A. K. Scheerer „Risiken der Krippenbetreuung“, päd. prax. Nr. 82, S. 381–386. München: Hans Marseille Verlag. 209 anne katrin künster / ute ziegenhain Tatsächlich verläuft die Debatte um frühe Krippenbetreuung gewöhnlich eher polarisiert. Dies lässt sich auch historisch nachzeichnen. In der Vorgeschichte der beiden deutschen Staaten fand nachgerade ein ideologisierter Systemstreit darüber statt, inwieweit die Betreuung von Kleinkindern vorrangig der Verantwortung in der Familie oder der gesellschaftlichen Verantwortung unterliege. Kursorisch genannt seien hier etwa die ideologisch und kontrovers geführten Debatten in den 1970er und 80er Jahren, in denen „linke“, von der 68er-Bewegung gespeiste Haltungen (Kinderläden) auf konservative familienpolitische Haltungen prallten, die damals noch die ausschließliche mütterliche Betreuung vertraten, oder die heftig geführte Diskussion nach der Wende um die Krippenerziehung in der ehemaligen DDR Anfang der 1990er Jahre, die Anfang 2000 mit einer empirisch fragwürdigen Verknüpfung von Krippenerziehung in der DDR und Gewalt bei Jugendlichen noch einmal aufflammte. Der folgende konsequente Ausbau von Krippenplätzen verbunden mit einem Rechtsanspruch für die Betreuung von unter Dreijährigen (TAG, KiFöG) lässt sich nicht zuletzt durch die demografische Entwicklung und die sinkenden Geburtenzahlen und die damit verbundene steigende gesellschaftliche Bedeutung jedes einzelnen Kindes interpretieren. Daraus dürfte sich die vermehrte Verantwortungsübernahme der Politik und der Gesellschaft für das Aufwachsen von Kindern erklären lassen. Die Debatte wird dadurch erschwert, dass (fach-) politische Überzeugungen und die Argumentation auf der Basis von abgesicherten Forschungsbefunden wenig voneinander demarkiert sind bzw. Forschungsbefunde in ihrer Aussagefähigkeit bzw. Verallgemeinerbarkeit nicht selten auch überzogen, gefärbt und/ oder eher kontextfrei interpretiert werden. Dies ist z. B. in der Diskussion um die Befunde der groß angelegten Studie des National Institutes of Child Health and Human Development (NICHD-Studie) der Fall und dabei insbesondere in der Diskussion um die Befunde zur Stressbelastung von Krippenkindern. Die dort berichteten Ergebnisse lassen sich, im Übrigen auch nach Ansicht der Autoren der hochrangig publizierten Originalarbeit, noch eher vorläufig interpretieren (Roisman/Susman/Barnett-Walker/Booth-LaForce/Owen/Belsky/Bradley/ Houts/Steinberg/NICHD/ECCRN 2009). Sie können nicht als Beleg dafür herangezogen werden, Fremdbetreuung in den ersten Lebensjahren grundsätzlich zu verwerfen, wie dies im Zusammenhang mit den Befunden gefolgert wurde (Böhm 2012). 210 krippenbetreuung – eine frage der qualität Vielmehr bedarf es für eine Einschätzung möglicher Risiken von früher Fremdbetreuung einer übergreifenden Sichtung und sorgfältigen Abwägung der vorhandenen Studien. Dabei sind die Auswirkungen früher Fremdbetreuung insbesondere auch aus bindungstheoretischer Perspektive international mittlerweile gut, wenn auch sicher nicht abschließend erforscht, wie z. B. der Stand der oben erwähnten physiologischen Daten zeigt. Die Forschung verlagerte sich in den vergangenen Jahren zunehmend von Fragen nach möglicher Schädigung früher Fremdbetreuung auf die Entwicklung von Kindern hin zu Fragen nach Qualitätskriterien von familienergänzender Betreuung. Dabei stützte sich die Argumentation zunächst auf die Annahme, dass eine Trennung von der Bindungsperson das Kind verunsichert und ängstigt und, damit verbunden, das Vertrauen des Kindes in die emotionale Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Mutter geschmälert bzw. die mit dem Krippenbesuch verbundenen alltäglich wiederkehrenden Trennungserfahrungen vom Kind als Zurückweisung erlebt würde und dies in der Folge zur Etablierung einer sogenannten unsicher-vermeidenden Bindung führe (Barglow/ Vaughn/Molitor 1987, Sroufe 1988). Tatsächlich ist dies eine grundlegende und empirisch gut belegte Annahme, die sich aus der biologischen Angewiesenheit von Säuglingen und Kleinkindern nach Schutz und Sicherheit ableiten lässt. Allerdings gilt diese Annahme in erster Linie für Situationen abrupter Trennung und dann, wenn Situationen für Kinder unvertraut sind und keine vertraute Bezugsperson zur Verfügung steht. Einige frühe Untersuchungen belegten einen korrelativen Zusammenhang zwischen außerfamiliärer Betreuung im ersten Lebensjahr und unsicher-vermeidender Bindung zur Mutter (Vaughn/Gove/Egeland 1980, Schwartz 1983, Barglow et al. 1987, Belsky/Rovine 1988). In diesen Studien war die Entwicklung unsicherer Bindung insbesondere mit frühem Betreuungsbeginn und langer täglicher Betreuungsdauer verknüpft. In folgende Studien wurden diese und andere Qualitätsindikatoren dann zunehmend systematischer einbezogen und kontrolliert sowie in ihrem Zusammenwirken mit anderen Einflussfaktoren wie insbesondere den Beziehungsvorerfahrungen mit engen Bindungspersonen, aber auch Merkmalen der familiären Situation (z. B. soziale Unterstützung, psychosoziale Belastungen) und Faktoren auf Seiten des Kindes (z. B. Temperament) berücksichtigt. Im Folgenden werden Studien zu Qualitätsaspekten früher Fremdbetreuung 211 anne katrin künster / ute ziegenhain in ihrem Zusammenhang zu Bindungsvorerfahrungen und elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen diskutiert. Die Frage nach der Qualität Die sogenannte Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der Frühen Kindheit, NUBBEK, verglich Krippenbetreuung, Betreuung von kleinen Kindern in altersgemischten Kindergartengruppen, Kindertagespflege sowie häusliche Betreuung in Deutschland miteinander und zeigte, dass die Betreuung von Kindern in Institutionen in Deutschland in nur weniger als 10 % der Fälle eine gute Qualität im Sinne von Bildung, Erziehung und Betreuung aufwies (Tietze/Becker-Stoll/Bensel/Eckhardt/Haug-Schnabel/Kalicki/Keller/Leyendecker 2012). Andere Studien zeigten bei schlechter Betreuungsqualität stets einen negativen Zusammenhang mit Aspekten wie der Qualität der frühen Mutter-Kind-Bindung, der Schulbildung oder Problemverhaltensweisen des Kindes. Die Effekte, die eine gute oder auch minderwertige Betreuung auf die Entwicklung der Kinder hatten, schienen zudem lange anzuhalten, zeigte doch die groß angelegte amerikanische NICHD-Längsschnittuntersuchung, dass noch im Alter von 15 Jahren eine bessere akademische Leistung der Jugendlichen mit einer besseren Qualität der außerfamiliären Betreuung zusammenhing (Vandell/Belsky/Burchinal/Steinberg/Vandergrift/NICHD Early Child Care 2010). Dennoch ist hervorzuheben, dass insgesamt familiäre Aspekte einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hatten als die jeweilige Betreuungssituation. Die Ergebnisse der NICHD-Studie belegten, dass frühe Tagesbetreuung für sich alleine genommen die Bindungsqualität mit der Mutter nicht beeinflusste. Gemäß mehrerer Studien, die Kinder im ersten Lebensjahr bis zu einem Alter von 30 Monaten untersuchten, bestand zwischen der außerfamiliäre Betreuung von kleinen Kindern und der Wahrscheinlichkeit, eine sichere oder unsichere Bindung an die Mutter zu entwickeln, kein Zusammenhang (NICHD ECCRN 1997, Erel/Oberman/Yirmiya 2000). Allerdings beeinflusste eine schlechte Betreuungsqualität und eine unregelmäßige Betreuungssituation die Entwicklung einer unsicheren Bindung. Die Wahrscheinlichkeit, dass fremd- 212 krippenbetreuung – eine frage der qualität betreute Kleinkinder eine unsichere Bindung entwickelten, stieg außerdem dann, wenn Mütter sich wenig feinfühlig mit ihnen verhielten. (NICHD 1997, Ziegenhain/Rauh/Müller 1998). Auch der Bildungs- und Entwicklungsstand der Kinder hing in der aktuellen NUBBEK-Studie im stärkeren Maße von Merkmalen der Familien als von Aspekten der außerfamiliären Betreuung ab (Tietze et al. 2012). Zudem interagierten, wie bereits angeführt, familiäre Aspekte mit denen der außerfamiliären Betreuung. Dabei lässt sich eine sichere Bindungsbeziehung als Schutzfaktor beim Krippeneintritt anführen, da, so die Interpretation, Mütter von sicher gebundenen Kindern in der Regel feinfühliger auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und sie besser bei der Regulation ihrer Belastungen und Gefühle unterstützen (Ahnert/Gunnar/Lab/Barthel 2004). Zudem profitierten Kinder aus sehr belasteten Familien in einigen Entwicklungsbereichen wie etwa der sozial-emotionalen Entwicklung von einer familienergänzenden Betreuung bereits im ersten Lebensjahr (Cote/Borge/Goeffroy/Rutter/Termblay 2008, Vandell et al. 2010). Eingewöhnung in die Krippe – Übergang und Vertraut-Werden Insbesondere aus bindungstheoretischer Perspektive ist die Gestaltung des Übergangs in das neue, zunächst unvertraute Setting der Krippe von besonderer Bedeutung für die Anpassung und die weitere positive Entwicklung des Kindes. Trennungen von der primären Bezugsperson stellen per se eine Anforderungssituation für kleine Kinder dar, in der sie Unterstützung brauchen. Dies gilt sowohl für die Kinder, die bei einer Trennung von der Mutter laut und vernehmlich protestieren, als auch für die Kinder, die vermeintlich keine Reaktion auf die Trennung zeigen. Spangler und Grossmann zeigten, dass auch bei den Kindern, die in Trennungssituationen keine oder kaum äußerliche Reaktionen zeigten, sowohl Herzrate als auch Cortisolspiegel nachweislich ebenso anstiegen wie bei den Kindern, die deutlich protestierten (Spangler/ Grossmann 1993). In Bezug auf die Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten wurde zunehmend begonnen, Kinder seit den 1980er Jahren „sanft einzugewöhnen“. Nach diesem Konzept können Kinder schrittweise und über mehrere Wochen hinweg mit der neuen Bezugsperson (Erzieherin) vertraut 213 anne katrin künster / ute ziegenhain werden, die dann zunehmend in Abwesenheit der primären Bindungsperson zur Verfügung steht und die Bedürfnisse des Kindes – auch nach Körperkontakt und Geborgenheit – erfüllen kann. Rauh und Ziegenhain untersuchten in zwei Studien den Übergang von Säuglingen und Kleinkindern in die Krippe (sanfte vs. abrupte Eingewöhnung, Ziegenhain/Wolff 2000, Rauh/Ziegenhain/ Müller/Wijnroks 2000). Es zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die nach einigen Monaten Krippenerfahrung sicher an ihre Mütter gebunden waren, signifikant bedeutsam häufiger sanft eingewöhnt worden waren. Entwicklungspsychologisch interessant war dabei, dass dieser Zusammenhang zwischen Bindung und Qualität der Eingewöhnungsgestaltung nur bei Kindern ab dem ersten Lebensjahr, nicht aber bei jüngeren Säuglingen belegt werden konnte (Ziegenhain/Wolff 2000, Rauh et al. 2000). Dies lässt sich mit den noch fehlenden kognitiven Voraussetzungen jüngerer Kinder interpretieren, Erlebnisse im Setting Krippe mit ihren Erfahrungen im familiären Setting mit der Mutter zu verknüpfen. Kinder sind erst gegen Ende des ersten Lebensjahres ansatzweise fähig, sich der abwesenden Bindungsperson aktiv zu erinnern und sie somit zu vermissen. Sie dürften auch erst dann in der Lage sein, ihre „Erwartungen“ an die Mutter emotional zu bewerten. Verhaltensauffälligkeiten und Krippenbetreuung Ein weiterer häufig diskutierter Aspekt im Zusammenhang mit der Betreuungssituation in der frühen Kindheit sind Verhaltensauffälligkeiten von Kindern. Es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob die Kinder, die fremdbetreut wurden, mehr Verhaltensauffälligkeiten zeigten als die Kinder, die in ihrem häuslichen Umfeld betreut wurden. Auch hier lohnt sich ein Blick in die Details aktueller Befunde, da sich sowohl negative als auch positive Effekte auf das sozial-emotionale Verhalten von Kindern nachweisen ließen, die jeweils komplexen Wechselwirkungen zu unterliegen scheinen (Linkert/Bäuerlein/ Stumpf/Schneider 2013). Sowohl eine Metaanalyse aus dem Jahr 2000 als auch neuere Befunde der großen amerikanischen NICHD-Längsschnitt-Untersuchung zur frühkindlichen Betreuung zeigten, dass insbesondere ein Zusammenhang zwischen der Fremdbetreuung von Kindern im ersten Lebensjahr in einer Einrichtung 214 krippenbetreuung – eine frage der qualität und der Entwicklung von Problemverhalten wie externalisierenden Verhaltensweisen oder impulsivem Verhalten bestand (Violato/Russell 2000, NICHD ECCRN 1998/2003a/2003b/2005, Belsky/Vandell/Burchinal/McCartney/ClarkeStewart/Owen 2007, Vandell et al. 2010). Linkert und Kollegen arbeiteten aus diesen Befunden heraus, dass komplexe Zusammenhänge zwischen der Betreuungsdauer, der Betreuungsqualität und den Problemverhaltensweisen der Kinder bestanden: Externalisierende Problemverhaltensweisen bei Kindern waren umso wahrscheinlicher, je länger ein kleines Kind täglich fremdbetreut wurde sowie bei schlechter Betreuungsqualität in Kombination damit, dass die Kinder viel Zeit in einer großen Gruppe verbrachten (Linkert et al. 2013). Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von externalisierenden Problemverhaltensweisen stieg zudem mit der Anzahl an unterschiedlichen Betreuungskontexten, in denen das Kind betreut wurde (Bacharach/Baumeister 2003). Demgegenüber stehen Befunde, die die Vorteile einer Fremdbetreuung in einer Gruppe von kleinen Kindern für ihre sozial-emotionale Entwicklung belegen. Die EPPE-Studie, die in Großbritannien mit mehr als 3.000 Kindern durchgeführt wurde, zeigte beispielsweise, dass eine längere Betreuung der Kinder mit mehr Kooperation und Selbstvertrauen bei den Kindern einherging und eine frühere Fremdbetreuung mit mehr prosozialem Verhalten im späteren Entwicklungsverlauf der Kinder assoziiert war (Melhuish/Sammons/SirajBlatchford/Taggart 2001, Sammons/Sylva/Melhuish/Siraj-Blatchford/Taggart/ Barreau/Grabbe 2007). Krippenbetreuung und Stressbelastung Im Rahmen der Erforschung der familienergänzenden Betreuung von kleinen Kindern werden seit den 1990er Jahren zunehmend auch biologische Parameter zur Erfassung der Stressbelastung von Kindern wie die Herzrate und der Cortisolspiegel untersucht. Besondere Beachtung fanden jüngst die Ergebnisse aus mehreren Untersuchungen, die Kinder in Familienbetreuung und in famlienergänzender Betreuung hinsichtlich Cortisol miteinander verglichen. Dabei wurden vordringlich zwei Phänomene berichtet und kontrovers diskutiert: Zum einen berichteten Forschergruppen davon, dass Kinder, die fremdbetreut wurden, entgegen der üblichen circadianen Rhythmik einen Cortisolanstieg 215 anne katrin künster / ute ziegenhain über den Tag aufwiesen. Dies wurde als akute Stressreaktion gewertet (z. B. Watamura/Kryzer/Robertson 2009). Solche Anstiege zeigten sich insbesondere dann, wenn das Gruppengeschehen in der Krippe nicht gut gesteuert war (Geoffrey/Cote/Parent/Seguin 2006, Vermeer/van IJzendoorn 2006). Andere Untersuchungen befassten sich hingegen mit dem morgendlichen Cortisolspiegel, der – wenn er niedriger als üblich ist – als Indiz für eine chronische Stressbelastung diskutiert wird, insofern als die Aktivität der HPA-Achse dauerhaft auf niedrigem Niveau reguliert ist. Dieses Phänomen berichtete beispielsweise die NICHD-Forschergruppe. Sie begleitete die Kinder ab der Geburt bis zur sechsten Klasse und untersuchte sie nochmals im Alter von 15 Jahren. Hier zeigte sich, dass ein niedriger Morgencortisolspiegel sowohl mit frühem nicht-feinfühligem Verhalten der Mutter assoziiert war sowie – unabhängig vom Fürsorgeverhalten der Mutter – mit einer längeren Zeit (im Sinne von mehr Monaten) der Fremdbetreuung in einer Einrichtung. Die Autoren selbst diskutierten ihre Befunde kritisch in mehrerlei Hinsicht: Zum einen erklärte das mütterliche Verhalten sowie die Fremdbetreuung nur 1 % des Zusammenhangs mit einem niedrigen Cortisolspiegel, und dies bei einer sehr großen Untersuchungsgruppe, was Zufallsbefunde begünstigt bzw. zumindest zu einer Überakzentuierung von marginalen Zusammenhängen führen kann. Zudem wurden im Rahmen der Längsschnittuntersuchung keine Morgencortisolwerte von den Kindern genommen, als sie noch klein waren. So ließ sich nicht herausarbeiten, ob diese Kinder schon immer einen sehr niedrigen Morgencortisolspiegel hatten oder dieser erst im Lauf der Entwicklung auftrat (Roisman et al. 2009). Diese Befunde und auch die anderer Autor(inn)en bezüglich des Cortisols bei kleinen Kindern erscheinen auf dem heutigen Wissenstand noch nicht eindeutig interpretierbar. Sie zeigen jedoch, dass es nach wie vor wichtig ist, die Bedingungen möglicher Stressbelastung bei kleinen Kindern detailliert zu untersuchen, will man die Entwicklungschancen und -risiken für unsere Kinder differenziert betrachten und Wirkzusammenhänge herausfinden, die letztlich individuelle Lösungen für jedes einzelne Kind ermöglichen können. 216 krippenbetreuung – eine frage der qualität Diskussion Die häufig kontroverse und zuweilen sogar polemische Diskussion in Deutschland um eine frühe familienergänzende Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen spiegelt die berechtigte Sorge junger Eltern um eine gelingende Entwicklung ihrer Kinder außerhalb der Familie wider. Tatsächlich ist der Bereich der außerfamiliären Betreuung und deren Bedeutung für die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern, insbesondere der Aspekt der Bindungsbeziehung mit der Mutter, einer der empirisch am besten untersuchten Bereiche in Bezug auf die familienergänzende Betreuung kleiner Kinder (wenn auch nach wie vor sicher nicht abschließend untersucht – siehe beispielsweise Stress und Cortisol). Danach zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit der untersuchten Kinder in qualitativ guter außerfamiliärer Tagesbetreuung gut zurechtkam. Darüber hinaus profitierten Kinder aus psychosozial belasteten Familien von guter außerfamiliärer Tagesbetreuung. Familienergänzende Tagesbetreuung an sich beeinflusste die Sicherheit der Bindung mit der Mutter weder negativ noch förderte sie sie. Allerdings erhöhten bestimmte Bedingungen außerfamiliärer Betreuung in Kombination mit der Qualität elterlichen feinfühligen Verhaltens die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder eine unsichere Bindung mit ihrer Mutter entwickelten. Schlechte Betreuungsqualität, wechselnde Betreuerinnen, ein schlechter Personalschlüssel, mehr als zehn Stunden Betreuung pro Woche oder Wechsel der Betreuungseinrichtungen wirkten sich nur dann negativ auf die Bindungssicherheit aus, wenn die Mütter wenig feinfühlig waren (NICHD 1997). Die Dauer des täglichen Aufenthaltes schließlich stand im Zusammenhang mit häufigeren Problemverhaltensweisen bei Kindern, die von der frühen Kindheit bis ins Kindergartenalter fremdbetreut wurden. Dieser Effekt war statistisch nicht bedeutsam und das beschriebene Verhalten klinisch nicht auffällig (NICHD 2003a). In Deutschland ist gemäß den Ergebnissen der oben erwähnten NUBBEKUntersuchung die Qualität der Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern in Einrichtungen eher mittelmäßig (Tietze et al. 2012). Im Zusammenhang mit dem quantitativen Ausbau von Krippenplätzen in der Folge des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz für Kinder ab einem Jahr besteht zudem die berechtigte Sorge, dass dieser auf Kosten der Qualität vorangetrieben 217 anne katrin künster / ute ziegenhain wurde. Demgegenüber hat der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen in seinem Betreuungsgutachten (www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/ publikationen,did=110292.html 2008) schon sehr früh deutlich darauf hingewiesen, dass Kennzahlen wie Betreuungsschlüssel und Beziehungsqualität zentrale Merkmale bei der Umsetzung des Kita-Ausbaus sein müssen. Fegert (2012) forderte kürzlich ein Betreuungsqualitätsgesetz, um entsprechende Standards zu sichern und Impulse für eine gezielte Qualitätsentwicklung in der außerfamiliären Betreuung zu geben. Die familiären und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern in der Familie haben sich in den vergangenen 50 Jahren in vielerlei Hinsicht geändert (Walper 2004). Zu diesen Veränderungen gehören die eingangs erwähnten demografischen Veränderungen mit einer sinkenden Zahl von Geburten, aber auch ein hoher Anteil nichtehelicher Geburten, eine steigende Scheidungsquote und damit verbunden die Anzahl von vermehrt Alleinerziehenden bzw. Stieffamilien. Längst wachsen zahlreiche Kinder in vielfältigen Familienkonstellationen auf, die nur teilweise dem Modell der „klassischen“ Ehe entsprechen. In diesem Zusammenhang ist auch familienergänzende Tagesbetreuung und dabei auch Krippenbetreuung ein wichtiger Faktor in der Unterstützung junger Familien geworden. Aber gerade auch deswegen ist die Qualitätsfrage in der außerfamiliären Betreuung zentral. Tatsächlich dürfte es auch eine gesellschaftspolitische Frage sein, wie viel uns unsere Kinder wert sind. In einer Gesellschaft, in der Wertschätzung und Anerkennung weitgehend über Geld alloziert werden, ist etwa die schlechte Ausbildung und Vergütung von Erzieherinnen und Erziehern im internationalen Vergleich durchaus verräterisch. Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für eine gelingende Entwicklung und Förderung von Kindern ist die Qualität außerfamiliärer Tagesbetreuung sicher nur ein Aspekt, um junge Familien in der Betreuung, Erziehung und Bildung zu unterstützen. Insgesamt geht es darum, mit gut aufeinander abgestimmten und aufeinander aufbauenden Maßnahmen Familien mehr Optionen und Wahlfreiheit für ihre Lebensgestaltung im Sinne einer individuellen Lösung für jedes Kind und jede Familie zu ermöglichen. Die Entwicklungen und Initiativen, die im Rahmen der sogenannten Frühen Hilfen in den vergangenen Jahren 218 krippenbetreuung – eine frage der qualität stattgefunden haben, zeigten, dass viele junge Familien Unterstützungsangebote unterschiedlichster Art benötigen. Dies sind meist Hilfen, die sich interdisziplinär aus Leistungen unterschiedlicher Systeme zusammensetzen, aufeinander bezogen sind und sich ergänzen. Strukturelle Probleme liegen darin, bestehende Versäulungen und fehlende Durchlässigkeit zwischen den Versorgungssystemen (insbesondere des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe) aufzuheben. Hinzu kommen Herausforderungen, die Angebotsstrukturen an die individuellen Bedürfnisse von Familien anzupassen. Dies bedeutet etwa, Familien durch flexible Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen und Schulen in ihrer Alltagsorganisation zu entlasten und eine familienfreundliche Alltagsgestaltung zu fördern. Flexible Arbeitszeitregelungen können zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Nicht zuletzt müssen Familienleistungen auch finanziell anerkannt werden. Familien wirtschaftlich zu stabilisieren, bedeutet auch der Armut von Kindern entgegenzuwirken. Insofern kann Familienpolitik konkrete inhaltliche (Versorgungs-) Angebote für Familien gestalten und eine angemessene Infrastruktur zur Verfügung stellen. Auch wenn Betreuungsqualität und weitergehend eine intelligente Familienpolitik Geld kostet, wären alleinige Lösungen in finanziellen Investitionen zu kurz gedacht. Sichere Bindungen für Kinder bedeuten emotionales Engagement, Verlässlichkeit und Zeit. Sie sind aber zentrale Voraussetzung für bestmögliche Entwicklungsbedingungen von Kindern und Voraussetzung, sich der Umwelt offen zuwenden zu können. Damit sind sie im Übrigen auch Grundbedingung von Lernen und Bildung. Die Frage danach, was uns unsere Kinder wert sind, beinhaltet einen verstärkten und breiteren gesellschaftspolitischen Diskurs um die Bedingungen und die Qualität des Aufwachsens von Kindern, und zwar gleichermaßen im häuslichen Umfeld als auch in der familienergänzenden Betreuung. 219 anne katrin künster / ute ziegenhain Literatur Ahnert, L./Gunnar, M. R./Lamb, M. E./Barthel, M. (2004): Transition to child care: associations with infant-mother attachment, infant negative emotion, and cortisol evaluations. Child Development, No. 75, pp. 639–650. Bacherach, V. R./Baumeister, A. A. (2003): Child care and severe externalizing behavior in kindergarten children. Applied Developmental Psychology, No. 23, pp. 527–537. Barglow, P./Vaughn, B. E./Molitor, N. (1987): Effects of maternal absence duo to employment on the quality of infant-mother attachment in a low-risk sample. Child Development, No. 58 (4), pp. 945–954. Belsky, J./Rovine, M. J. 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Anders als für die bis etwa 1980 Geborenen haben sie die „Digitale Revolution“ nie als eine Revolution kennengelernt. Sie wurden in eine Welt hineingeboren, in der ein Internetzugang genauso selbstverständlich ist wie Kabelfernsehen oder fließendes Wasser. Der Umgang mit digitalen Informationstechnologien ist für diese Gruppe folglich ganz selbstverständlich. Wegen ihrer unterschiedlichen Mediensozialisation, so legen die beiden Labels nahe, gehen sie auch fundamental anders mit zeitgenössischen Informationstechnologien um. An dieser Stelle hilft es, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf die mediale Umwelt zu werfen, die Jugendliche heute prägt. In diesem Zusammenhang sind vor allem vier Phänomene von Bedeutung, auf die in Folge näher eingegangen werden soll. Digitalisierung und Konvergenz Die Digitalisierung medialer Inhalte hat dazu geführt, dass ehedem getrennte Medien zunehmend miteinander verschmelzen; ein Phänomen, das als 225 philipp ikrath Konvergenz bezeichnet wird. Wurde vor nicht allzu langer Zeit noch zwischen schriftlichen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Büchern etc.), Audiomedien (Radio, Tonträger wie CDs etc.) und audiovisuellen Medien (Fernsehen, Kino) klar unterschieden, so fällt diese Unterscheidung heute nicht mehr ganz so einfach. Gedruckte Zeitungen bieten einen Webauftritt an, den „Tatort“ vom Sonntagabend kann man sich zeitversetzt in den Mediatheken des öffentlichrechtlichen Rundfunks (oder sogar auf der Videoplattform YouTube) ansehen, moderne Fernsehgeräte sind mit dem Internet verbunden und Kinofilme stehen spätestens zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Netz zum Download parat. Das hat auch zu einer Veränderung der Erwartungshaltungen junger Menschen an die Anbieter von Inhalten geführt. Aufgrund der technischen Möglichkeiten des Internets, in dem Schrift, Videos und Audioclips parallel angeboten werden können, erwarten sich die Jugendlichen inzwischen auch, dass die Anbieter multimedial informieren. Multimedial bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die Anbieter ihre Botschaften über unterschiedliche Kanäle verbreiten, sondern vor allem auch, dass sie sich im Internet aller zu Verfügung stehenden Möglichkeiten bedienen, also schriftliche Elemente mit Audio und vor allem Video kombinieren. Wer auf lange Texte setzt, wird in der Kommentarspalte mit einem süffisanten „TLDR“ (Too Long, Didn’t Read) abgestraft. Jugendgerechte Online-Kommunikation beruht auf dem Primat des (bewegten oder unbewegten) Bildes über das Wort. Kernbotschaften dürfen sich nicht in langen Texten verstecken, sondern werden idealerweise über ein ausdrucksstarkes Bild kommuniziert. Kommunikation im Internet ist Kommunikation, die auf Emotionen setzt, die mittels Bildern verführt, anstatt mit Worten zu überzeugen. Das bedeutet auch, dass ästhetische Fragen hier eine besonders wichtige Rolle spielen. Jeder Inhalt muss schön verpackt sein, um von Jugendlichen überhaupt wahr- und ernstgenommen zu werden. Pluralisierung, Diversifizierung und Segmentierung von Publika Aufgrund der Digitalisierung steht den jungen Medienkonsumentinnen und -konsumenten heute eine unübersehbare Vielfalt von Informationskanälen zu Verfügung. Konnten sich die Menschen in Österreich in den 1970er Jahren noch zwischen einer Handvoll Zeitungen und zwei Fernsehsendern entschei- 226 die überforderung in der digitalen kultur den, so findet heute jede/r passgenaue Inhalte für den eigenen spezifischen Geschmack wieder. So klein eine Subkultur auch sein mag, im Internet gibt es zahllose Angebote für jede nur denkbare Vorliebe, und sei sie auch noch so obskur. Durch diese Vielfalt fällt es dem einzelnen Anbieter umso schwerer, ein in zahllose Subgruppen diversifiziertes, also aufgesplittertes, Publikum zu erreichen. Dies gilt insbesondere für all jene Institutionen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, nicht nur eine klar definierte Subkultur, sondern ein möglichst breites Publikum zu erreichen – wie etwa öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder auch andere Institutionen der öffentlichen Hand, die nicht unmittelbar mit Medien zu tun haben. Denn jede Subgruppe verfügt über jeweils spezifische Kommunikationsvorlieben. Eine Webseite für Heavy-MetalFans sieht ganz anders aus also eine für Anhänger(innen) des Hip-Hop. Das EINE Angebot für alle gibt es nicht mehr. Die Webseite für Heavy-Metal-Fans signalisiert allen anderen alleine durch ihre Gestaltung: „Ich bin nicht für euch gemacht!“ Verdichtung und Beschleunigung der Information Eine weitere Konsequenz der Digitalisierung ist der Umstand, dass Medien auf aktuelle Ereignisse unmittelbar reagieren können. Ein Beispiel dafür sind die Liveticker großer Nachrichtenportale, die ein Geschehen in Echtzeit kommentieren, angefangen beim weltgeschichtlichen Ereignis über eine Nationalratssitzung bis hin zum Fußball-Länderspiel. Ohne an dieser Stelle auf die Nachteile einer solchen Beschleunigung eingehen zu können, lässt sich hier lediglich festhalten, dass insbesondere junge Menschen das Tempo, das digitale Medien diesbezüglich vorgeben, als normal empfinden. Die Tageszeitung, einst Sinnbild aktueller Berichterstattung, ist in den Augen vieler junger Menschen ein langsames, schwerfälliges Medium. Mediatisierung Der Begriff der Mediatisierung bezeichnet die Omnipräsenz medialer Angebot in allen Lebensbereichen und Situationen. In der Früh meldet sich als erstes der 227 philipp ikrath Radiowecker, in der U-Bahn hört man über das Smartphone Musik, während man auf dem Bildschirm im Waggon den neuesten Klatsch liest. In der Schule ist das Internet zum wichtigen Lehrmittel geworden. Zurück zu Hause wird vor dem Fernseher „gechillt“, also entspannt, parallel dazu wird Facebook gecheckt. Während der Hausaufgaben läuft nebenbei ein Chat-Programm auf dem Computer, der Fernseher wird währenddessen auf stumm geschaltet, läuft aber weiter. Vor dem Zubettgehen spielt man schließlich noch eine Partie des OnlineMultiplayer-Shooters „Call of Duty“, vor dem Einschlafen meldet man sich noch mal über Facebook, um allen eine gute Nacht zu wünschen. Unter den zehn am häufigsten ausgeübten Freizeitbeschäftigungen österreichischer Jugendlicher im Alter von 15 bis 19 Jahren finden sich sechs, die sich um die Beschäftigung mit Medien drehen (vgl. T-Factory 2012). Der Prozentwert in der Klammer bezeichnet den Anteil der Befragten, die die jeweilige Freizeitbeschäftigung „häufig“ ausüben. Es sind dies in absteigender Reihenfolge: Musikhören (81 Prozent), die Beschäftigung mit dem Internet (60 Prozent) bzw. mit sozialen Netzwerken wie Facebook (55 Prozent), Fernsehen (44 Prozent), Filme und Serien im Internet Schauen (29 Prozent) sowie Radiohören (28 Prozent). Nicht zwangsläufig mit Medien zu tun haben: Unternehmungen mit Freunden (70 Prozent), Sport (40 Prozent), Faulenzen (38 Prozent) und das Draußensein (32 Prozent). Eine vollständige Trennung in „mediale“ und „nicht mediale“ Freizeitbeschäftigung ist jedoch schwer möglich, da man davon ausgehen kann, dass mediale Angebote gerade beim Entspannen und auch bei Treffen mit Freunden oder beim Sport (etwa im Fitnesscenter oder beim Laufen) meistens mit an Bord sind. Über die Mediennutzung im jugendlichen Alltag An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, wie sich das jugendliche Mediennutzungsverhalten im Detail gestaltet. Welche Medien sind für Jugendliche überhaupt noch relevant? Welche Endgeräte nutzen sie, um ins Internet einzusteigen? Antworten darauf geben die Ergebnisse der deutschen JIM-Studie, durchgeführt vom Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest sowie jene der T-Factory Trendstudie TIMESCOUT, die sich beide seit vielen Jahren im Rahmen einer Zeitreihenanalyse unter anderem mit jugendlichem Mediennutzungsverhalten auseinandersetzt und dessen Veränderung aufzeigt. 228 die überforderung in der digitalen kultur Fernsehen und Zeitungen sind out Das Internet ist innerhalb der letzten 20 Jahre zum jugendlichen Leitmedium Nummer 1 geworden und hat damit den Fernseher abgelöst. Das belegen unter anderem die Daten der ORF Medienforschung. Sehen Österreicherinnen und Österreicher über 60 am Tag noch durchschnittlich 257 Minuten fern, sinkt die Fernsehnutzung auf 207 Minuten bei den 50- bis 59-Jährigen und weiter auf 146 bzw. 133 Minuten unter den 40- bis 49-Jährigen bzw. den 30- bis 39-Jährigen. Die 12- bis 29-Jährigen sehen mit lediglich 88 Minuten täglich noch einmal deutlich weniger fern, nämlich nur in etwa halb so lange wie der österreichische Durchschnitt, der bei 158 Minuten täglicher Fernsehzeit liegt (vgl. ORF Medienforschung 2013). Das bedeutet aber nicht, dass Jugendliche Inhalte aus dem Fernsehen gar nicht mehr rezipieren würden. Aufgrund der zunehmenden Medienkonvergenz weichen sie lediglich auf andere Kanäle aus: Inhalte, etwa des ORF, sieht man über die Mediathek des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Serien und Filme rezipiert man über – einmal mehr, einmal weniger legale – Seiten im WWW. Die abnehmende Bedeutung des Fernsehens belegen auch die Zahlen der JIM-Studie. Während rund drei Viertel der 12- bis 19-Jährigen einen Computer oder Laptop besitzen, verfügt lediglich etwas mehr als die Hälfte über ein eigenes Fernsehgerät. Die Internetsättigung, also der Anteil jener, die über einen eigenen Internetzugang verfügen, liegt sogar bei über 90 Prozent. Besonders schwierig haben es in diesem Umfeld Printmedien. Tageszeitungen und Magazine haben über die letzten Jahren hinweg maßgeblich an Gunst verloren. So greift heute nur mehr jede/r Dritte zumindest mehrmals die Woche zu einer Tageszeitung, damit wird in jungen Zielgruppen sogar schon weniger Zeitung gelesen als Bücher, in denen zumindest vier von zehn der 12- bis 19-Jährigen regelmäßig lesen. Diese Tendenz zeigt sich auch daran, dass Jugendliche und junge Erwachsene die Mediengattung „Print“ als solche als nicht besonders zukunftsträchtig wahrnehmen. Jeweils rund 40 Prozent sagen, Tageszeitungen und Magazine würden in der Zukunft an Bedeutung verlieren, rund ein Viertel prognostiziert einen Bedeutungsverlust des Fernsehens (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2011). Interessant ist, dass sowohl Tageszeitungen als auch Bücher wenn, dann noch bevorzugt auf Papier und nicht in elektronischer Form gelesen werden. Denn sowohl Online-Zeitungen als auch -Magazine wer- 229 philipp ikrath den von jeweils weniger als 15 Prozent der Jugendlichen mehrmals pro Woche oder täglich genutzt, E-Books sind mit lediglich 5 Prozent noch ein Randphänomen in der ansonsten sehr online-affinen jungen Zielgruppe. Smartphones und Tablets verdrängen Laptop und PC Besonders wichtig im Rahmen der hier vorliegenden Fragestellung rund um das Thema Apps ist die Frage, wie viele Jugendliche ein internetfähiges mobiles Gerät ihr Eigen nennen. Beträgt dieser Anteil bei Tablet PCs noch lediglich 20 Prozent, so besitzen 90 Prozent der Mädchen und 87 Prozent der Jungen ein eigenes Smartphone (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014, S. 6). Das bedeutet also, dass inzwischen mehr Jugendliche mobil als über ein Standgerät ins Internet gehen. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass auch die Tabletnutzung in den kommenden Jahren deutlich zunehmen wird. Denn betrachtet man die Verbreitung von Smartphones, so zeigt sich, dass im Jahr 2012 weniger als die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen ein solches in ihrem Besitz hatten, der Anteil der Smartphonebesitzerinnen und -besitzer hat sich in den letzten zwei Jahren also fast verdoppelt (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014, S. 45). Im Rahmen der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und, wenn auch in geringerem Ausmaß, Tablets, hat sich auch die Art und Weise des Zugangs zum Internet grundlegend verändert. Waren im Zeitalter der Standgeräte noch Browser (wie der Internet Explorer von Microsoft oder der Mozilla Thunderbird) und Suchmaschinen das Tor zum Internet, so sind es heute kleine, bunte, durch eine Berührung mit der Fingerspitze aktivierbare Icons auf den kleinen Bildschirmen, Apps. Die „Startseite des Internets“ ist für viele Jugendliche heute nicht mehr Google, sondern das soziale Netzwerk Facebook. Die Facebook-App ist die mit Abstand beliebteste, gefolgt von der des Instant-Messaging-Dienstes WhatsApp und der des Google-Kalenderdienstes Doodle. Die anderen Google-Dienste (Maps und die Suchmaschine) liegen mit deutlichem Abstand dahinter. Eine Zwischenstellung nehmen hier die äußerst populären Instant-Messenger-Dienste wie WhatsApp ein, die zwar internetbasiert sind, von den Jugendlichen selbst aber eher wie SMS/MMS-Dienste genutzt werden. Zentral ist hier die Eins-zu-einsKommunikation bzw. der Austausch innerhalb von Kleingruppen. 230 die überforderung in der digitalen kultur Darüber hinaus ist die Frage relevant, für welche Zwecke man das mobile Internet und für welche man PCs oder Laptops bevorzugt. Hier zeigt sich ganz eindeutig, dass das mobile Internet vor allem für die Kommunikation und die Unterhaltung genutzt wird, während die Internetnutzung an PC oder Laptop deutlich informationszentrierter ausfällt. Nachrichten an Freunde werden demnach zu 90 Prozent über mobile Endgeräte verschickt. Die gezielte Suche nach Informationen findet hingegen nur zu 33 Prozent am Smartphone und zu 10 Prozent am Tablet, aber zu 54 Prozent zu Hause am Computer oder Laptop statt. Mobile Endgeräte werden also vor allem für die Kommunikation und Unterhaltung benutzt, während der herkömmliche Stand-PC/Laptop immer noch die bevorzugte Wahl darstellt, wenn es um die Informationssuche geht. Das Unbehagen in der digitalen Kultur All das erweckt den Eindruck, als wäre jede Nische jugendlicher Lebenswelten, und sei sie noch so klein, vollständig von digitalen Medien, vor allem Kommunikations- und Unterhaltungsangeboten, kolonialisiert. Jugendliche befänden sich willenlos am Gängelband einer globalen Unterhaltungskultur, in der für Reflexion und stille Einkehr kein Raum mehr übrig bliebe, der nicht sofort von den ständig sendenden und empfangenden mobilen Geräten gestört und nachgerade vernichtet wird. Welt- und Selbstverlust seien die Konsequenz einer Kaskade immer neuer Twitter-Nachrichten, Facebook-Meldungen und neuer Kommunikationsangebote, die über den unter Jugendlichen hochgradig populären Instant-Messaging-Service WhatsApp fließen. Unwillkürlich denkt man an das Gedicht Rainer Maria Rilkes von 1902 über den Panther im Pariser Jardin des Plants, hinter dessen Gittern von tausend Stäben die Welt aufgehört hat zu existieren. Was dem Zootier die Stäbe sind, ist dem zeitgenössischen Jugendlichen die auf Dauer gestellte Ablenkungsmaschine der digitalen Medien. Die US-amerikanische Psychologin Sherry Turkle hat sogar festgestellt, dass junge Menschen inzwischen sogar schon das Telefonieren als überfordernd erleben, da man sich dabei mit den mehr oder weniger angenehmen Emotionen eines unmittelbar (wenn auch medial vermittelten) Anwesenden auseinandersetzen muss – eine Herausforderung, die in der zeitversetzten Kommunikation 231 philipp ikrath über soziale Netzwerke, SMS oder Instant Messenger weniger drängend ist (vgl. Turkle 2012). Und auch in Deutschland stimmen zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen und mehr als die Hälfte der 20- bis 29-Jährigen dem Statement „Ich schreibe lieber SMS, Facebook- und Chat-Nachrichten oder Mails, statt jemanden anzurufen.“ tendenziell zu (vgl. jugendkulturforschung.de e. V. 2013). Fraglos ist „das Internet“ zum jugendlichen Leitmedium geworden. Plakativ befragt, ob Bücher oder das Internet besser zum eigenen Lebensstil passen, entscheidet sich ein Fünftel der befragten 16- bis 19-jährigen Jugendlichen für Bücher, 6 von 10 für das Internet. Der Rest gibt sich unentschieden. Überraschend stark, nämlich zu rund einem Drittel, identifizieren sich weibliche Jugendliche eher mit Büchern, unter den Jungs beträgt dieser Anteil lediglich 10 Prozent (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2011). Weniger gewiss ist aber, ob dieser Fixierung auf das Internet eine unkritische Umarmung dieses hochgradig ambivalenten Mediums zugrunde liegt oder ob es sich dabei um eine mehr oder weniger einverständliche Unterwerfung unter die davon geschaffene Macht des Faktischen handelt. Offensichtlich schafft auch die digitale Kultur ein spezifisches Unbehagen in ihr selbst. Soziale Netzwerke wie Facebook schaffen Gefühle der Vereinsamung und der Entfremdung, etwa von der Emotionalität des unmittelbaren menschlichen Kontakts, wie an dem von Sherry Turkle festgestellten Beispiel. Obwohl die sozialen Netzwerke, auf den ersten Blick, vor lauter Emotionalität aus allen Schaltkreisen platzen, darf man dabei nicht aus den Augen verlieren, dass der Selbstdarstellung hier keineswegs eine herkömmliche Auffassung von Authentizität zugrunde liegt. Vielmehr basiert sie auf dem Prinzip einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der Informationen und Emotionen strategisch, also ganz gezielt, eingesetzt werden, um eine bestmögliche Außenwirkung in den relevanten Zirkeln zu erreichen. Welche Musik man mag oder wen man in der eigenen Freundesliste führt, muss mit den eigenen Vorlieben nicht unbedingt übereinstimmen. So wird man sich etwa davor hüten, den heimlich verehrten Schlagersänger Hansi Hinterseer als Lieblingskünstler anzugeben, wenn es um die Anerkennung innerhalb von progressiven jugendkulturellen Gruppierungen geht. Die Inszenierung des Individuums erfolgt hier also vor allem in Gestalt mächtiger Realfiktionen, die in Folge auch auf die nicht-digi- 232 die überforderung in der digitalen kultur tale Welt zurückstrahlen. Deswegen verfängt auch die von Erwachsenen strikt vollzogene Trennung in eine „reale“ und eine „virtuelle“ Welt für Jugendliche nicht. Da postmoderne Lebenswelten, für jung wie für alt, total mediatisierte Welten sind, durchschauen sie in weit höherem Ausmaß die Wechselwirkungen zwischen den von Erwachsenen oft noch künstlich separierten Sphären (vgl. Heinzlmaier/Ikrath 2014). Antidigitaler Eskapismus Das Ressort des Digitalen gilt gemeinhin als Fluchtpunkt vor den Wirren eines überfordernden Alltags. Nun haben wir gesehen, dass die Anforderungen der digitalen Sphäre zwar andere, dabei aber nicht weniger kompliziertere sind als die der nicht-digitalen Welt – vorausgesetzt, dass eine solche Trennung überhaupt noch aufrechtzuerhalten ist. Hier geht es explizit nicht nur um ganz offensichtlich spezifisch digitale Problemlagen wie das Cybermobbing, Identitätsdiebstahl oder Viren und Trojaner, sondern ganz allgemein um neue Herausforderungen für das total vernetzte Individuum. Die Entfremdungsdynamiken der „realen Welt“ perpetuieren sich lediglich in der digitalen Sphäre. Facebook & Co. sind nicht Ursache, sondern vielmehr reinster Ausdruck einer Welt, in der sämtliche Lebensbereiche längst bis auf das letzte durchrationalisiert, transparent gemacht und dem Diktat der Ökonomie unterworfen sind. Angesichts dessen kehren sich auch die Vorzeichen des Eskapismus um – anstatt sich in digitale Welten zu flüchten, in denen die Gesetze des Marktes noch unbarmherziger regieren als überall sonst – entsteht unter jungen Menschen zunehmend das Bedürfnis der Flucht zurück in die nicht-digitale Sphäre. Selbstgestrickte Schals, selber eingekochte Marmeladen und eine Inflation des Retrodesigns als eine Referenz an eine vermeintlich weniger vernetzte Welt geben davon Zeugnis. Gerade unter Jugendlichen wächst das Bedürfnis, sich dem Digitalen zu entziehen, und sei es auch nur vorübergehend. So gibt rund ein Viertel der 14- bis 29-Jährigen an, schon einmal eine digitale Diät gemacht, also ganz gezielt auf Smartphone, Computer, iPad und Laptop verzichtet zu haben. Auch unter jenen, die damit noch keine Erfahrungen gesammelt haben, können sich zwei Drittel vorstellen, das Experiment einmal zu wagen. In die Tat umgesetzt oder nicht, die Zahlen zeigen jedenfalls, dass sich gerade junge 233 philipp ikrath Menschen den Zumutungen der digitalen Kultur, zumindest vorübergehend gerne, entziehen würden – durch eine Flucht ins Nicht-Digitale. Und mehr als 40 Prozent haben schon einmal über „digitalen Selbstmord“, also den totalen Ausstieg aus den sozialen Netzwerken nachgedacht (vgl.jugendkulturforschung.de e. V. 2013). Besonders auffällig wird die zunehmende Skepsis etwa auch daran, dass lediglich 24 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland die Datenbrille „Google Glass“ für eine gute Erfindung halten, auch dem „next big thing“, dem „Internet der Dinge“, in dem, ganz zu schweigen von Kühlschränken und Fernsehgeräten, noch jeder Staubsauger ständig online ist, können nur knapp 3 von 10 Befragten etwas abgewinnen. Aber 60 Prozent sagen, dass sie das Gefühl plagt, der technischen Entwicklung nicht mehr hinterherzukommen (vgl.jugendkulturforschung.de e. V. 2013). Wohlgemerkt, wir sprechen hier über Jugendliche und junge Erwachsene, also jene Bevölkerungsgruppe, die von technischen Neuerungen, glaubt man der öffentlichen Meinung, nicht genug bekommen können. Fazit: Die antidigitale Revolution bleibt aus, die Skepsis wächst Aus all dem kann wohl nicht abgeleitet werden, dass wir in der näheren Zukunft einen Exodus aus dem weltumspannenden Netz erleben werden. Ein total entnetztes Leben ist für die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wohl genauso utopisch wie es die Eremitenidylle eines Henry David Thoreau für Generationen begeisterter Leserinnen und Leser von „Walden“ ist. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die „Digital Natives“ heute eine noch wesentlich heterogenere Gruppe sind, als sie es vorher schon waren, dem eingängigen Label zum Trotz. Die gegenwärtige Jugendgeneration wächst nicht mehr in einer Zeit auf, in der das Digitale Lösung für jedes Problem und das Internet eine Utopie kurz vor ihrer Verwirklichung ist. Die Internetgiganten und die NSA haben der Utopie den Rest gegeben, und man darf, wenn man optimistisch ist, erwarten, dass die Nachwachsenden einen differenzierteren Umgang mit digitalen Medien lernen als die, die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der das Internet seine Unschuld noch nicht verloren hatte. 234 die überforderung in der digitalen kultur Literatur Heinzlmaier, Bernhard/Ikrath, Philipp (2013): Generation Ego. Die Werte der Jugend im 21. Jahrhundert. Wien. Institut für Jugendkulturforschung (2011): Jugend und Zeitgeist: Wie denken und leben 16- bis 19-jährige? Wien. jugendkulturforschung.de e. V. (2011): Jugend_Macht_Medien. Hamburg. jugendkulturforschung.de e. V. (2013): Die Anti-Digitalen. Hamburg. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2014): JIM-Studie 2014. Jugend, Information, (Multi-Media). Stuttgart. ORF Medienforschung: TV-Nutzungszeiten 2013 in Altersgruppen und Minuten pro Tag. Abgerufen unter http://mediaresearch.orf.at/c_fernsehen/console/ console.htm?y=1&z=4 (Stand 16.1.2015). o. O. T-Factory (2012): TIMESCOUT Welle 17. Tabellenband. Wien. Turkle, Sherry (2012): Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. München. 235 F catarina katzer Facebook, WhatsApp & Co: Neue Welten für Kommunikation und Selbstdarstellung Risiko für Grooming und Cybermobbing? Mediale Lebenswelten werden von Jugendlichen immer stärker als Raum für die eigene Selbstdarstellung genutzt. Privatheit und Intimität wird über Facebook, Instagram, Snapchat oder WhatsApp zur Schau gestellt und Trends wie Sexting („Sex“ und „Texting“) entstehen (Buchegger 2011, Döring 2012). Die Suche nach emotionaler Nähe, Aufmerksamkeit oder die Steigerung des Selbstwertgefühls sind häufige Motive (s. Döring 2012; Sexting-Beitrag, Frau-TV, WDR, 26. Juni 2014). Allerdings fehlt meist der Weitblick, was solche Einblicke in die Privatsphäre auslösen können und welche Risiken dabei entstehen. Cybermobbing, sexuelle Erpressung oder Grooming können die Folge sein (Katzer 2010, 2013, 2014a; Wachs et al. 2014). Auch Schutzmechanismen, Empathie-Fähigkeit oder Unrechtsbewusstsein sind oft nicht vorhanden. Im Umgang mit diesen Entwicklungen stellen sich somit neue Herausforderungen an die Bereiche Erziehung, Schule, Kinder- und Jugendschutz sowie Beratungsstellen und Opferhilfen. 1. Kommunikation und Selbstdarstellung von Kindern und Jugendlichen im WorldWideWeb WhatsApp, Facebook und Youtube waren die drei beliebtesten Apps bei den 12–19-Jährigen im Jahr 2013 (JIM-Studie 2013). Allein wenn wir diese Zahlen betrachten, wird deutlich, dass Kommunikations- und Selbstdarstellungsplattformen im WorldWideWeb für Kinder und Jugendliche eine immer größere Rolle spielen. Hierdurch wird allerdings noch eine andere wichtige Entwicklung sichtbar: Kinder und Jugendliche nutzen heute immer häufiger das Internet mobil, quasi von der Hosentasche aus, über ihr Smartphone. So ist die Verbreitung von Smartphones in der Altersgruppe der 12–19-Jährigen in den letzten drei Jahren rasant angestiegen: von 14 % im Jahr 2010 auf 72 % im Jahr 2013. Da- 237 catarina katzer mit gehen mittlerweile rund 2/3 der 12–19-Jährigen regelmäßig per Smartphone ins Netz (Jim-Studie 2013). Eine aktuelle Studie aus den USA zeigt sogar, dass im Jahr 2013 bereits 75 % der 0- (!) bis 8-Jährigen einen mobilen Internetzugang zur Verfügung hatten, 63 % besaßen schon ein eigenes Smartphone und 38 % der unter 2-Jährigen nutzten schon mobile Endgeräte (https://www.commonsensemedia.org/zero-to-eight-2013-infographic). Das Smartphone wird also immer mehr zum alltäglichen Begleiter unserer Jugend. Diese Entwicklungen haben natürlich Folgen, z. B. für die Erziehung. So gerät die Internetnutzung immer stärker aus dem Blickfeld der Eltern. Kinder können ihre Handlungen leicht verbergen, wenn man ihnen zu Hause nicht über die Schulter schauen kann und sie alles von unterwegs aus machen: Chatten, Fotos posten, Webseiten besuchen, die eigentlich nicht für sie geeignet sind und auf denen z. B. Hardcorepornos und Gewaltvideos gezeigt werden, sowie das Surfen auf rechtsradikalen oder islamistischen „Rekrutierungsplattformen“. Es fehlt somit immer mehr die Möglichkeit der Kontrolle, Verbotenes zu tun wird kinderleicht. Schaut man sich genauer an, was Kinder und Jugendliche im Netz machen, wird deutlich, dass Facebook, WhatsApp und Co. aus ganz unterschiedlichen Motiven und Bedürfnissen heraus genutzt werden: Ob Alltägliches oder Belangloses besprochen wird, man einfach Smalltalk hält, Freunde kontaktiert, neue Freundschaften findet oder einfach nur wissen möchte, was „los ist“. Allerdings üben gerade die Bereiche Identitätssuche und Selbstdarstellung, die in der Pubertät eine wichtige Rolle spielen, auch online eine starke Faszination aus (s. auch Katzer 2013, Renner et al. 2005, Döring 2002). So zeigen auch eigene Studien, dass 1/3 der 10–19-Jährigen online austesten, wie sie bei anderen ankommen (s. Cyberlife im Spannungsfeld zwischen Faszination und Gefahr 2013, Bündnis gegen Cybermobbing e. V. und ARAG SE). Dies geschieht immer häufiger über das eigene Facebookprofil oder sogenannte Selfies, also Fotos und Videos, die sie z. B. von sich in privaten Situationen, beim Sport, beim Ausüben von Hobbys oder beim Einkaufen machen. So veröffentlichten im Jahr 2013 bereits 2/3 der 12–19-Jährigen (JIM 2013) und 30 % der 6–12-Jährigen Fotos oder Videomaterial von sich im Netz (KIM 2013). Der Trend der Selfies bzw. der Selfie-Manie sollte somit stärker auch in den 238 facebook, whatsapp & co Fokus von Erziehungsberechtigten, Pädagog(inn)en und Beratungsinstitutionen gerückt werden. Doch wie sieht diese Selbstdarstellung im WorldWideWeb nun genau aus? 2. Trends jugendlicher Selbstdarstellung: Neknomination, Spornosex und Sexting Schaut man sich an, welche Art von Fotos und Videos Kinder und Jugendliche von sich online verbreiten, wird deutlich, dass diese eben nicht nur lustige oder alltägliche Szenen von zu Hause, der Schule, aus dem Sportverein, mit Familie oder Freunden abbilden. Immer häufiger zeigen sich neuartige Trends der Selbstdarstellung und Selbstpräsentation, so z. B. Neknomination. Hierbei handelt es sich um Mutproben, die unter Alkohol durchgeführt, dabei gefilmt und dann online gestellt werden. Es ist eine Art Wettbewerb, bei dem die verschiedenen „Stunts“ auch noch von anderen bewertet werden (s. auch Russell 2014). Auch der Begriff „Spornosex“ (zusammengesetzt aus Sport und Sex), in Deutschland noch recht unbekannt, macht die Runde, gerade bei jungen sportlich aussehenden Männern und wird auch von Jugendlichen immer häufiger aufgegriffen. Hierbei wird der gut gestylte und trainierte Sixpack wirkungsvoll nackt oder halbnackt in Szene gesetzt, fotografiert und z. B. auf Instagram veröffentlicht (Reichert 2012). Ein weiterer Trend jugendlichen Online-Verhaltens ist das sogenannte Sexting. Der Begriff kam sogar 2009 bei der vom New Oxford American Dictionary ausgerichteten Wahl zum „Wort des Jahres 2009“ unter die Finalisten. Sexting, das Veröffentlichen von Fotos in sexy, aufreizenden Posen in Bikini oder Unterwäsche, das zeigen nackter Brüste, der Genitalien oder ganzer Nacktfotos, ist ein Verhaltenstrend, der in den USA seit Längerem diskutiert wird (Chalfen 2009, 2010; Calvert 2009; PewResearchCenter 2009; Katzman 2010; Ferguson 2010; The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2009). In Deutschland ist Sexting erst in letzter Zeit stärker in den Blick der Öffentlichkeit geraten, insbesondere durch publik gewordene Vorfälle an Schulen (Berendsen 2014). 239 catarina katzer Formen der Online-Selbstdarstellung In den Medien werden Sexting und Spornosex häufig als Problemverhalten diskutiert. Dabei wird allerdings meist ausgeblendet, dass solche Verhaltensweisen auch bestimmten Motiven und Bedürfnissen pubertierender Jugendlicher entsprechen. Deshalb sollten wir hier nicht nur die Risikogefährdung diskutieren, sondern auch versuchen zu verstehen, warum Jugendliche dies überhaupt machen. Sozialpsychologisch stellen sich demnach auch Fragen nach den Hintergründen solchen Verhaltens, nach dem „Warum“. Schaut man zu Beginn erst einmal darauf, wer Sexting überhaupt ausübt, zeigt sich, dass es sich hierbei nicht nur um einen Trend unter Jugendlichen handelt. Auch Erwachsene sind in diesem Bereich aktiv und verschicken regelmäßig sexy Bildmaterial an andere. In den USA sind es unter den 20–26-Jährigen immerhin 1/3 (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Unter den erwachsenen Frauen zwischen 30 und 45 Jahren sind es immerhin 25 % der Smartphone-Besitzerinnen, die Nacktfotos an ihre Partner senden (https://www.netnanny.com/blog/adult-smartphoneusers-are-sexting-too-yes-really). Blickt man auf Kinder und Jugendliche wird deutlich, dass es sich auch bei den jugendlichen minderjährigen Sextern und Sexterinnen nicht nur um eine Minderheit handelt: Studien aus den USA sprechen von 20 % der 13–19-Jährigen, die regelmäßig „Nude-Fotos“ von sich selbst versenden (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2009) bzw. von 18 % in dieser Altersgruppe, die solche Fotos erhalten (Knowledge Networks 2009). Eine französische Publikation spricht von 15 % der 15–24-jährigen Mädchen, die sich nackt fotografieren oder filmen (Generation YouPorn, mythe ou realité?, enquete lfop 2013). Und in der Gruppe der 13–16-Jährigen, die zum Teil ja noch zu den Kindern (unter 14 Jahren) zählen, zeigt sich in den USA, dass bereits jedes 10. Mädchen Sexting ausübt (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2009). Für Deutschland liegen konkrete Sexting-Daten für Kinder und Jugendliche aktuell noch nicht vor. Allerdings zeigt die erste ausführliche deutsche Studie, dass ca. 19 % der 18–27-jährigen jungen Erwachsenen Sexting-Material regelmäßig erhalten und 16 % selbst verschicken (Döring 2012). 240 facebook, whatsapp & co Dabei wird insgesamt auch ein Genderaspekt deutlich: Mädchen sind häufiger unter den Absenderinnen zu finden als Jungen (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2008, Döring 2012). Dies ist allerdings nicht unbedingt überraschend. So hat gerade die Körperlichkeit für Mädchen eine ganz besondere Bedeutung: Das Gefühl, hübsch, begehrenswert und attraktiv zu sein, ist gerade bei Mädchen in der Pubertät stark ausgeprägt. So antwortet die Mehrheit der Sexterinnen auch auf die Frage, warum sie sexy Fotos von sich an andere verschicken: „Weil man von anderen Aufmerksamkeit bekommen möchte, man sich ‚interessant‘, ‚besonders‘ und sexy fühlen will.“ (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2008). Welche Motive stecken hinter Sexting? Insgesamt sind die Motive und Bedürfnisse, die hinter Sexting stecken, vielfältig. Fragt man Jugendliche, warum gerade Mädchen Fotomaterial in sexy Posen verschicken, dann hört man vor allem Antworten wie: um Aufmerksamkeit von Jungen zu bekommen, um überhaupt beachtet zu werden, weil sie flirten wollen, um von einem bestimmten Jungen gemocht zu werden, sich sexy zu fühlen oder Komplimente und ein positives Feedback zu bekommen (Buchegger 2011). Allerdings scheint auch Gruppendruck oder der Druck vom eigenen Freund eine Rolle zu spielen. Dieser Meinung sind immerhin 20 % der 14–19-jährigen Befragten einer Studie aus den USA (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl. com 2009). Möchte man nun die verschiedenen Motive, die hinter Sexting-Verhalten stecken können, einander zuordnen, so lassen sich fünf grobe Motiv-Kategorien bilden: 1. Spaß und Flirt, 2. Beziehungspflege und Beziehungsaufbau bzw.suche (s. auch Döring 2012), 3. Stärkung des Selbstbewusstseins und sexuelle Identitätsfindung, 4. Ausgleich emotionaler Vernachlässigung und 5. Druck und Zwang. 241 catarina katzer (1) Spaß und Flirt Die Motive „Spaß haben“ und „flirten wollen“ erweisen sich für Sexting-Verhalten in fast allen Studien als wichtigste Motive (s. Buchegger 2011, The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Spaß, z. B. auch unter Freundinnen, auf der Pyjama-Party oder dem Sleepover untereinander sexy Fotos zu machen oder das Abchecken zwischen Freundinnen „Findest du die neue Unterwäsche cool?“ sind wichtige Handlungsfaktoren. Auf der anderen Seite spielt das Experimentieren mit der eigenen Sexualität, dem lockeren Flirtverhalten, ohne dabei „etwas Festes“ zu wollen, gerade in der Pubertät eine wichtige Rolle. So geben auch rund 20 % der Jugendlichen, die sich aktiv an Sexting beteiligen, als Adressaten reine Online-Bekanntschaften oder unverbindliche Flirt-Kontakte an (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009, Knowledge Networks 2009). Allerdings bleibt dieses leichte Flirtverhalten nicht immer ohne Auswirkungen auf das Image der Sexter(innen). So werden insbesondere Mädchen, die Sexting ausüben, von der Mehrheit Gleichaltriger als flirty (65 %) oder sogar als regelrecht verzweifelt bei der Kontaktaufnahme zu Jungen beurteilt (65 %). Vor allem Sexterinnen werden häufig stigmatisiert, als „slutty“ (Schlampe) bezeichnet und bekommen somit ein negatives Image bzw. einen schlechten Ruf verpasst (72 %) (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Auch wenn die Stigmatisierung von Sexterinnen durchaus häufiger ist als die Stigmatisierung von Sextern, zeigt sich in geschlechtsgetrennten Schülerworkshops zum Thema Sexting: auch Jungs, die Nacktfotos von sich verschicken, sind nicht unbedingt beliebt bei den Gleichaltrigen. Oft fällt bei der Beurteilung der Sexter durch andere Jungen der Begriff, das ist doch „schwul“ (s. Katzer 2014b). (2) Beziehungspflege, Beziehungsaufbau bzw. -suche Das richtige „Verliebtsein“, als Grund für Sexting-Verhalten, spielt bei rund 1/5 der Sexter und Sexterinnen die wichtigste Rolle. Typisch für Sexting in diesem Bereich ist z. B., dass man seinem Freund ein sexy Foto als Geschenk machen möchte. So benennen insgesamt 70 % der Sexter und Sexterinnen als Adressaten 242 facebook, whatsapp & co auch den aktuellen festen Freund oder die feste Freundin (Cox Communication 2009, The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009, Knowledge Networks 2009). Dabei verschicken auch 1/3 der Sexterinnen Fotos an einen Jungen, mit dem sie gerne zusammen sein möchten, in den sie also aus der Ferne verliebt sind. Ein sexy Foto oder StripVideo hat hier also die Funktion einer Liebesbotschaft und ist Teil der Intimkommunikation (s. auch Döring 2012). (3) Stärkung des Selbstbewusstseins und sexuelle Identitätsbildung Sexting hat hier die Funktion, die Suche nach Aufmerksamkeit, Bewunderung und Bestätigung zu unterstützen. Jugendliche, insbesondere Mädchen, wollen sich sexy fühlen und auch als solche wahrgenommen werden. Sie möchten in erster Linie erproben und herausfinden, wie andere sie einschätzen und beurteilen: Ist man in den Augen der anderen hübsch, sexuell attraktiv, und was denken sie über den Körper bzw. das gesamte Erscheinungsbild usw.? Diese Informationen beeinflussen dann in bestimmtem Maße auch das eigene Selbstbild. Das gilt immerhin für 1/3 der Sexterinnen (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Komplimente zu bekommen und sich interessant zu fühlen, sind also wichtige Handlungsmotive (Buchegger 2011) und ist typisch für Verhalten von Jugendlichen in der Pubertät. (4) Ausgleich emotionaler Vernachlässigung Ein weiteres Motiv für Sexting ist auch der Ausgleich emotionaler Vernachlässigung, des Gefühls, allein und unverstanden zu sein, also die Suche nach emotionaler Nähe. So antworten auf die Frage, warum gerade Mädchen Sexting ausüben, 65 % der 14–17-jährigen Jugendlichen einer europäischen Vergleichsstudie: „Damit sie überhaupt beachtet werden!“ (Buchegger 2011). Um aus der Vernachlässigung, der gefühlten Missachtung und dem Ignoriertwerden durch die Gleichaltrigen, herauszukommen, bedienen sich diese Mädchen dann der eigenen Darstellung in sexy Posen. Dabei ist das zeigen des eigenen Körpers 243 catarina katzer auch ein starker Vertrauensbeweis. Man zeigt sich jemandem völlig hüllenlos und damit auch schutzlos, weil man glaubt, diese Person will einem nur Gutes tun, wird einen beschützen, versteht die eigenen Sorgen und ist ein guter Freund (auch wenn man diesen nur online kennt). Dass ein solches Verhalten auch Risiken wie Erpressungen, Grooming oder Cybermobbing bergen kann, werden wir später noch diskutieren. Allerdings macht die Aussage einer europäischen Studie, dass sich nur die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren der Gefahren bewusst ist, deutlich, wie wichtig hier Präventionsarbeit ist (Buchegger 2011). (5) Druck und Zwang Sexting geschieht allerdings nicht immer ganz freiwillig. Auch Druck, der durch den festen Freund ausgeübt wird, kann Mädchen dazu bringen, sexy oder „Nude“-Fotos von sich zu machen und zu verschicken. Denn gerade Nacktfotos auf Handy oder Smartphone gelten bei Jungs als Trophäe: Je mehr man hat, desto cooler ist man. Aber auch der Gruppendruck aus dem gesamten Umfeld, also auch von Freundinnen, nach dem Motto: „Das macht doch jeder! Stell dich nicht so an!“, können der Grund für Sexting-Verhalten sein. Dies bestätigen rund 20 % befragter Jugendlicher zwischen 14 und 19 Jahren (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Dabei kann Zwang allerdings auch auf andere Art und Weise ausgeübt werden: Online-Bekanntschaften freunden sich mit einem Mädchen oder Jungen an. Mit der Zeit kennt man sich immer besser, und der „Fremde“ fragt irgendwann nach einem Foto in Bikini oder am Strand. Der Jugendliche fühlt sich geschmeichelt, willigt ein und schickt diese. Danach folgen Erpressungen nach immer mehr kompromittierenden Aufnahmen. Immer mit der Drohung, man würde Eltern oder den Freunden die Fotos, die man schon hat, zeigen oder auf Facebook veröffentlichen, falls die Jugendlichen nicht einwilligen. Dies kann durch Einzelpersonen (www.srf.ch/news/schweiz/sexting-faelle-halten-richter-auftrab), aber auch durch ganze Sexting-Erpresserbanden geschehen (http://www. fr-online.de/panorama/sexting-interpol-verhaftet-bande-von-sex-erpressern,1472782,27006506.html) 244 facebook, whatsapp & co 3. Mögliche Risiken und Gefahren sexueller Selbstdarstellung im Netz: Grooming und Cybermobbing Sexting-Verhalten als Mittel der Selbstdarstellung und Kommunikation der Jugendlichen untereinander ist durchaus als wichtiger Jugend-Trend einzuschätzen. Allerdings sehen Jugendliche selbst auch Risiken in solchen Verhaltensweisen z. B. darin, sexuelle Übergriffe zu erleben (45 %), auf gefährliche Leute zu treffen (57 %), aber auch in möglichen Problemen mit den Eltern (49 %) oder späteren Arbeitgebern (30 %) (Buchegger 2011). Der Sexting-Trend birgt also durchaus Gefahren, die diskutiert werden müssen. So können Sexter und Sexterinnen wie bereits angesprochen Opfer von Sexting-Erpressungen oder Grooming werden. Gerade wenn man bedenkt, dass rund 15 % der Sexter(innen) ihre Fotos an vollkommen Fremde schicken, dann ist hier doch verstärkt Vorsicht geboten (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). So zeigen Studien auch aus Deutschland, dass 20 % bis 1/3 der 12–19-Jährigen online ungewollt Sexgespräche aufgezwungen werden, sie nach ihrem Körper oder sexuellen Erfahrungen gefragt werden usw. (Katzer 2008, 2009a, 2010, Katzer/Fetchenhauer 2007; Ybarra/Mitchell 2004, et al. 2011). Jugendliche sollten somit bedenken, dass sexy Fotos auf Instagram und Co. durchaus solches Verhalten provozieren können. Aber auch Cybermobbing (engl. Cyberbullying) ist nicht selten die Folge eigenen Sexting-Verhaltens. Möchte man gerade als Außenseiter durch Sexting auf sich aufmerksam machen, kann dies genau das Gegenteil bewirken: Andere machen sich lustig darüber und fangen an, den- oder diejenige zu mobben, auch im Netz z. B. durch die Verbreitung eines „Schlampenimage“. Cybermobbing kann aber auch durch die Fremdveröffentlichung zuvor gesendeter Nacktfotos geschehen, d. h. wenn z. B. aus Rache der Verlassene es seiner Ex-Freundin heimzahlen möchte, ein abgeblitzter Verehrer gekränkt ist oder es in einer Mädchenfreundschaft Streit gibt:„…eine Freundin von mir hat Nacktfotos, weil wir die aus Spaß gemacht haben. Jetzt erpresst sie mich damit, sie allen weiterzuschicken …“ (Döring 2012). Dabei wird den Opfern solcher Cybermobbing-Fälle häufig selbst die Schuld zugeschoben, das soge- 245 catarina katzer nannte victim-blaming (s. auch Fein 2011): „Warum ist die denn so blöd und verschickt solche Fotos? Die ist doch selber schuld, dass ihr sowas passiert.“ (s. Grimm/Rhein 2007, Katzer 2014). Insgesamt zeigen Studien weltweit, dass 20 % bis 1/3 der 10–19-Jährigen Opfer von Cybermobbing werden (s. auch Cyberlife zwischen Faszination und Gefahr 2013; Grimm et al. 2008; Katzer 2005, 2009b, 2011a,b, 2013; Katzer/Fetchenhauer 2007, Katzer et al. 2009a, b; Patchin/Hinduja 2013; Pfetsch et al. 2014; Riebel et al. 2009; Schultze-Krumbholz/Scheithauer 2009; Techniker Krankenkasse 2011). Die Bedeutung der Cybermobbing-Problematik ist somit nicht wegzudiskutieren. Cybermobbing: „[…] jedes Verhalten, das von Individuen oder Gruppen mittels elektronischer oder digitaler Medien ausgeführt wird und wiederholt feindselige oder aggressive Botschaften vermittelt, die die Absicht verfolgen, anderen Schaden oder Unbehagen zu bereiten“ (Tokunaga 2010). Grooming: „Gezieltes Ansprechen von Personen im Internet mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakte. Besondere Form der sexuellen Belästigung im Internet“ (Wikipedia, 06.09.2012). In Deutschland auf minderjährige Opfer bezogen, d. h., es wird versucht, Vertrauen zu Minderjährigen aufzubauen (z. B. über soziale Netzwerke), um später reale sexuelle Handlungen auszuüben (auch Vergewaltigungen, Sadomaso-Sex, Cybersex vor Webcam etc.). Sexuelle Selbstdarstellung kann also durchaus dramatische Folgen für Sexter(innen) oder Spornosexler haben. Auch wenn die eigenen Bilder aus Versehen in falsche Hände geraten, z. B. wenn man beim Versenden die falsche E-Mail-Adresse oder den falschen Kontakt anklickt. Somit bieten Sexter(innen) oder auch Spornosexler sehr schnell eine Angriffsfläche für Straftaten wie Erpressungen, Drohungen oder auch Cybermobbing (denn auch viele Cybermobbingformen fallen unter das StGB). Dabei können Jugendliche aber auch unbewusst in den Bereich von Straftaten gelangen, nämlich dann, wenn sie z. B. fremde Nacktfotos einfach an andere weiterverschicken. So geben rund ¼ der 246 facebook, whatsapp & co Jugendlichen an, Fotos bekommen zu haben, die gar nicht für sie bestimmt waren, sondern einfach an sie weitergeschickt wurden (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Hier besteht also durchaus Handlungsbedarf, auch auf pädagogischer Seite. 4. Psychische und rechtliche Auswirkungen von sexueller Selbstdarstellung über Internet, Handy & Co. Betrachtet man die möglichen negativen Folgen z. B. von Sexting-Verhalten, müssen auch mögliche psychische Effekte sowie rechtliche Auswirkungen diskutiert werden. So können die Folgen von Sexting den emotionalen Belastungsdruck deutlich erhöhen. Psychosomatische Folgen, wie sich häufende Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Unwohlsein usw. wie auch dauerhafte Belastungszustände werden von Jugendlichen berichtet, gerade wenn Grooming oder Cybermobbing hinzukommen (zu Cybermobbing s. auch Katzer/Fetchenhauer 2007; Katzer 2007a, b, 2013; Katzer et al. 2009a, b; zu Unwanted Sexual Exploitation oder Grooming auch Ybarra et al. 2011). Dabei geraten immer häufiger auch Fälle von Suiziden/ Suizidversuchen oder selbst-verletzendem Verhalten an die Öffentlichkeit. So hatte sich bereits im Juli 2008 die 18-jährige Jessica Logan aus Ohio, Cincinnati, das Leben genommen, nachdem ihr Ex-Freund private Handyfotos verbreitet hatte und sie ebenfalls in der Schule als „Hure“ beschimpft und attackiert wurde (Celizic 2009). Auch wenn der Suizid zum Glück der Ausnahmefall ist, sollten wir die steigende Zahl suizidaler Versuche im Zusammenhang mit Cybermobbing durchaus ernst nehmen (Brunner 2012). Schaut man auf rechtliche Folgen, so ist in Deutschland die grundsätzliche Verbreitung eigener Nacktfotos durch Jugendliche an andere erlaubt. In den USA hingegen gibt es seit einigen Jahren ein Gesetz, dass die generelle Verbreitung von Nacktbildern unter Strafe stellt. Einige Jugendliche sind diesbezüglich bereits verurteilt worden (http://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/ Teenager-schickt-Freundin-Penis-Video-von-sich-Ihm-droht-Gefaengnisid30673647.html). Allerdings sollte man überdenken, ob eine solche Kriminalisierung Jugendlicher, die durchaus ein typisches pubertäres Verhalten zeigen, 247 catarina katzer nicht zu weit führt. Hingegen ist das Weiterleiten von Fotos/Videos ohne Einverständnis der Abgebildeten durchaus eine Straftat nach § 201a StGB (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches), hinzukommt das Recht am eigenen Bild (KunstUrhG § 22). Bezüglich Cybermobbing, das durchaus als Folge von Sexting auftreten kann, ist klar, dass es sich in vielen Fällen um Straftaten gemäß dem StGB handelt. Cybermobbing ist also kein Kavaliersdelikt. Allerdings wird seit 2013 auf Bundesebene diskutiert, inwiefern ein neues Gesetz bzw. die Erweiterung des bereits bestehenden Straftatbestandes um die Bereiche des Mobbings im „Internet und über andere Technologien“ sinnvoll ist (http://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/ article129519241/Justizminister-wollen-Cybermobbing-haerter-bestrafen.html). 5. Wie gehen wir mit neuen Jugend-Phänomenen wie „Sexting“ um? Insgesamt sehen wir deutlich, dass die neuen Jugend-Phänome, ob Sexting oder Spornosex, die im Internet ausgelebt werden, uns alle vor neue Aufgaben und Herausforderungen stellen. Hier sind insbesondere die individuelle Ebene (Kinder, Jugend, Eltern), der Bereich der Schule (umfassendes Präventionsmanagement, neue Schulstrukturen, Beratungsteams in allen Schulen, peer to peer und peer to parent-Konzepte usw.), die psychologischen Beratungsstellen und Opferhilfen sowie die Institutionen des Kinderschutzes gefordert: Aufzuklären, zu sensibilisieren und neue Konzepte auf den Weg zu bringen. Allerdings sollte auch diskutiert werden, inwiefern die Anbieter der Onlineplattformen wie Facebook, Youtube, Instagram usw. zukünftig stärker in die Pflicht zu nehmen sind. So könnten sie z. B. qualifizierte Online-Hilfsangebote und Beratungen anbieten oder finanzieren bzw. auf solche Portale und Angebote hinweisen. Auch könnten sie vor Problemverhalten schon auf der Startseite z. B. in Form von Buttons oder Pop-ups warnen oder auch psychologische Erkenntnisse nutzen (s. Warnhinweise oder Erinnern an das eigene Verhalten s. http://www. businessinsider.com/google-science-fair-trisha-prabhu-cyberbullying-2014-8). In Zukunft ist somit eine differenzierte Auseinandersetzung mit neuen Netzphänomenen und Jugendtrends dringend notwendig. 248 facebook, whatsapp & co Literatur Berendsen, E.-M. (2014): Sexting unter Jugendlichen. Ich will was von dir sehen. Faz.[Als Online-Dokument: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ sexting-unter-jugendlichen-ich-will-was-von-dir-sehen-12804044-p4.html ] Buchegger, B. (2011):Sexting: Nude Pictures And Internet Results Of Pan Euro pean Insafe Youth Panel Survey Sept/ Oct 2011, presentation at saferinternet.at, Vienna, Nov.5 2011. Brunner, R. (2012): Prävention und frühe Intervention bei selbstverletzenden und suizidalen Handlungen bei Jugendlichen im sozialen Kontext Schule, Ergeb nisse einer schulbasierten Interventionsstudie. Calvert, C. 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Häufig sind wir erste Ansprechpartner, wenn es um Hinweise auf sexuelle Übergriffe geht. · Fokus ist dabei primär der Schutz des Kindes vor erneuten Übergriffen. Es geht um Fälle von innerfamiliärem Missbrauch durch Vater, Stiefvater oder Partner der Mutter an Kind und/oder Geschwistern, aber auch um Personen aus dem sozialen Nahfeld (Sporttrainer, Schulbetreuer, Nachhilfelehrer, Freizeitpädagogen o. Ä.) – in seltenen Fällen um Personen, denen die Kinder nur einmal begegnet sind und zu denen keinerlei soziale Bezüge bestanden haben. In all diesen Fällen sind wir als Berater(innen)/ Therapeut(inn)en manchmal noch in der Situation der Klärung nächster Schritte beteiligt, die therapeutische Begleitung setzt dann oft erst nach dieser ersten Phase der Verunsicherung, möglicher Anzeigenerstattung oder z. T. erst nach einem Gerichtsverfahren ein. · Pro Jahr sind es etwa 40–60 Fälle, in denen die Thematik sexueller Übergriffe im Vordergrund steht. Zusätzlich sind es jährlich etwa 30 Fälle, in denen wir als Fachberaterinnen in der Rolle der „Insoweit erfahrenen Fachkraft“ hinzugezogen werden, um Einschätzungen möglicher Kindes- 255 teresa siefer wohlgefährdung aufgrund von Anzeichen für sexuellen Missbrauch zu klären und die Fachkräfte hinsichtlich nächster Schritte zu beraten. Hier stehen wir nicht im Kontakt mit den betroffenen Kindern / Jugendlichen und deren Familien. · Auch etliche Verfahren, die vor Gericht verhandelt werden und in denen Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden sind (pro Jahr etwa 10–20 Fälle), werden von uns begleitet, d. h. hier erhalten die Kinder/Jugendliche in Schleswig-Holstein ein auf den juristischen Prozess zugeschnittenes Unterstützungsangebot psychosozialer Prozessbegleitung (gesamter Landgerichtsbezirk Lübeck, von Fehmarn bis Lauenburg). Dieses Modell der über die Justizministerien finanzierten Unterstützung kindlicher Opferzeugen soll zukünftig übrigens bundesweit umgesetzt werden. In all diesen Verfahren gab es reale Täter, die in direktem Kontakt zu ihrem Opfer gestanden haben. Neu ist im digitalen Zeitalter für uns das Phänomen sexueller Übergriffe, ohne dass es eine Realbegegnung gibt, der Täter möglicherweise auch nie identifiziert wird. Erpressung von Kindern/Jugendlichen in Internet-Kontakten ohne Realbegegnung und dennoch fatalen, z. T. traumatisierenden Folgen für die Opfer. Veränderungen, mit denen wir in unserem Alltag mehr und mehr zu tun haben, möchte ich an den folgenden drei Beispielen kurz erläutern: 1. 2 006: Manuela, damals 8 Jahre, SM-Handy-Fotos mit sexuellem Inhalt, die möglicherweise im Internet gelandet sind. 2. 2008: Jessica, 13 Jahre: Sexueller Missbrauch über Chat-Kontakt. 3. 2012: Lara, 11 Jahre, Cyber-Grooming über Online-Spiele-Portal (Moviestarplanet MSP und initiierten Skype-Kontakt). Fallvignette Nr. 1: Manuela, 8 Jahre Manuela lerne ich kurz vor Pfingsten im Jahre 2006 kennen, sie ist zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt. Ihre Mutter hatte sich spontan an das Kinderschutz-Zentrum gewandt, aufgrund des Verdachts des sexuellen Missbrauchs durch ihren getrenntlebenden Mann an ihrer eigenen Tochter. 256 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten Lebenssituation Alleinerziehende Mutter mit 8-jähriger Tochter und 4-jährigem Sohn in Lübeck nach Trennung vom Vater ein Jahr zuvor. Vater der Kinder lebt ca. 700 km entfernt in Süddeutschland. Mutter selber ist 29 Jahre alt und Steuerfachgehilfin. Der Mann ist 31 Jahre, Informatikkaufmann. Die Mutter berichtet, dass ihre Tochter bei ihrer Freundin übernachtet habe. Dort habe die Mutter der Freundin ein Gespräch zwischen den beiden Mädchen im Badezimmer ‚mitbekommen‘. Manuela habe gesagt, dass ihr Vater „einiges von ihr verlange“ und „Ob Sabine auch den Pimmel des Vaters lecken müsse?“. Die Mutter der Freundin habe dann Manuela angesprochen und gefragt, ob denn ihre Mutter darüber Bescheid wisse. Manuela habe daraufhin gesagt, dass der Papa ihr gesagt hätte, dass die Mama das nie wissen dürfe (Schweigegebot). Die Mutter der Freundin habe Manuela dann noch mitgeteilt, dass ein Vater so etwas nicht tun dürfe. Manuelas Mutter kam ins Kinderschutz-Zentrum, um dabei Unterstützung zu erhalten, wie sie mit dieser Situation am besten umgehen kann und ob sie eine Anzeige machen solle. Unser erster Beratungskontakt mit der Mutter fokussiert also darauf, · wie sie der Tochter die Möglichkeit bieten kann, ihr mitzuteilen, was passiert ist, · dass sie als Mutter ihrer Tochter Glauben schenkt, · dass sie Schutz herstellen wird, · dass der geplante Kontakt zum Vater um Pfingsten herum zunächst ausgesetzt wird und · dass sie sehr stolz darauf ist, dass ihre Tochter einen Weg gefunden hat, ein nicht preiszugebendes Geheimnis trotzdem jemandem mitzuteilen. → Anzeigenerstattung bei der Polizei. · Das Mädchen war zu dem Zeitpunkt fähig, eine verwertbare Aussage bei der Polizei zu machen. · Es ging darum, dass ihr Vater zum damaligen Zeitpunkt mit einem Handy Fotos von ihr gemacht hatte, Fotos auf denen sie unbekleidet war, 257 teresa siefer auch Fotos davon, dass sie sein Genital anfassen musste. · Diese Aussagen führten dann zu einer unmittelbaren Überprüfung des Vaters, Konfiszierung seines Laptops und des besagten Handys in der Wohnung und schließlich zu einer Eröffnung des Hauptverfahrens. · Über 1¾ Jahre später kam es letztlich erst zu einer Verurteilung des Mannes, zu einer Haftstrafe von vier Jahren, die er dann zum Großteil auch abgesessen hat. Zur Situation der Auswirkungen dieser Missbrauchshandlungen auf das Mädchen: · Es folgten ein Dreivierteljahr Spieltherpiekontakte aufgrund deutlicher psychosomatischer Belastungsanzeichen, · Bearbeitung ihrer Ambivalenz-Konflikte, aufflackernde Schuldgefühle, · Stärkung hinsichtlich der Wahrnehmung eigener, auch ambivalenter Gefühle (Papa ist böse …, ich mag Papa aber auch ...), · klare Normorientierung, dass Erwachsene Verantwortung tragen müssen, für Dinge, die Kindern wehtun, schaden, nicht erlaubt sind …, · Stärkung hinsichtlich der Einordnung eigener Grenzen und Überschreiten dieser, · Gestattung des Ausdrucks der gesamten Gefühlspalette, · Förderung ihrer gesunden Anteile, Interessen (Sport, Musik), · Stärkung ihrer Sozialkompetenz mit zunehmender Integration in Klassenverband und Festigung von Freundschaften. Ich lernte Manuela als ein kontaktoffenes Mädchen kennen, das allerdings kurze Zeit nach Anzeigenerstattung mit psychosomatischen Beschwerden reagierte. In spieltherapeutischen Kontakten wurden erhebliche Ambivalenzkonflikte mit sich entwickelnden Schuldgefühlen offenkundig. Es traten bei ihr Verunsicherung durch Schuldübernahme auf, das Gefühl, „wegen mir kommt Papa jetzt ins Gefängnis“, konnte spieltherapeutisch gut aufgearbeitet werden; sie hatte Vorstellungen darüber, dass der Vater im Gefängnis nichts zu essen bekäme, es traten sprachliche Regressionen auf, sie wechselte in Babysprache. Sie konnte es gut ausdrücken (in Bildern, kreativ), dass sie es böse fand, was der Papa gemacht hat und es ging eben auch darum, ihr Gefühl, dass sie auch gute Anteile an ihrem Vater erinnerte, zuzulassen. Dieser Konflikt offenbarte sich in Schlafstörungen, in nächtlichen Träumen, 258 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten die sie aufweckten und durchaus als psychotraumatische Folgeerscheinungen durch Öffnung des sexuellen Missbrauchs zu begreifen waren, da sie unter einem enormen Geheimhaltungsdruck über einen langen Zeitraum gestanden und der zu einer Kommunikationssperre geführt hatte. Zwei Jahre reifer in ihrer Entwicklung, hatte sie letztendlich dann den Ausweg gefunden, sich zunächst einer Gleichaltrigen anzuvertrauen, damit sie dem Gebot, der Mama nichts zu sagen, Folge leisten konnte. Sehr entscheidend neben der Bearbeitung ihrer Ambivalenzkonflikte in der Spieltherapie sind Stärkung ihrer eigenen Wahrnehmung, Erlaubnis zum Ausdruck der gesamten Gefühlspallette, und eine Stärkung hinsichtlich der Einordnung von eigenen Grenzen und Überschreitung dieser Grenzen mit psychoedukativem Anteil, dass Erwachsene Verantwortung für Dinge, die nicht gut sind für Kinder, tragen müssen. Zu einer deutlichen Entlastung des Kindes trug die Tatsache bei, dass vor allem ihre Mutter, aber auch die weitere Umgebung ihrer Mitteilung Glauben schenkte, sie ernst nahm und klar normativ reagierte – insgesamt für den Heilungsprozess immer eine gute Prognostik. Manuela entwickelte zunehmende Sicherheit und Autonomie, sie wurde offener im Kontakt zu Klassenkameraden, knüpfte Freundschaften und entwickelte sich hinsichtlich ihres emotionalen und sozialen Verhaltens stabil. Da Manuela insgesamt viele positive Fähigkeiten (breitgefächerte Interessen) mitbringt, dieses Trauma zu verarbeiten, haben wir die erste Phase der therapeutischen Begleitung auf ein Dreivierteljahr begrenzt. So weit, so gut. Typischerweise kommt es zu kritischen Phasen, etwa, als es in der Schule im Alter von 10 Jahren um Themen der Sexualaufklärung geht, auch um das Thema „Missbrauch“, und sie sich plötzlich „beschmutzt“ fühlt. Neu ist allerdings, dass im Alter von 14 Jahren eine neuerliche Verunsicherung auftritt, als sie mit zunehmender Nutzung des Internets und den Erfahrungen im schulischen Kontext realisierte, dass möglicherweise auch die von ihr gemachten Fotos inzwischen im Internet kursieren könnten. Diese Dimension war für sie zum Zeitpunkt des ersten Outings überhaupt nicht in ihrem Vorstellungsrahmen gewesen. 259 teresa siefer Dies führte zu einer kurzfristigen Destabilisierung mit depressiven Episoden. Erneute ambulante Kontakte im Kinderschutz-Zentrum mit einem therapeutischen Angebot und Methoden des EMDR führten zur Wiedererlangung der Kontrolle über sich. Mithilfe von Stabilisierungstechniken verblassten ihre belastenden Vorstellungen und damit einhergehenden Ängste. Das Anknüpfen an ihr reales, mittlerweile recht erfolgreiches Leben als sehr gute Schülerin, die für den Realschulabschluss vorgeschlagen war, gelang insoweit, als die depressive Symptomatik verschwand, sie sich in ihren sozialen Beziehungen gut unterstützt fühlte und sie sich außerschulisch im Sport engagierte – allein das Wissen um ihre Sorge bezüglich des möglichen Verbleibs der Fotos im Netz konnte auch ich nicht wirklich verändern. Fallvignette Nr. 2: Jessica, 13 Jahre Sexueller Missbrauch (?) nach Chat-Kontakt Ein Fall, der zunächst in den Medien Schlagzeilen macht, da es um ein 13-Jähriges Mädchen geht, das vermisst und kurz darauf bundesweit gesucht wird. Einen Monat lang bleibt Jessica verschwunden, bis sie durch Handy-Ortung 500 km entfernt ihres Wohnortes bei einem 35-jährigen Mann in dessen Wohnung – die dieser mit seiner Mutter teilt – von der Polizei aufgegriffen wird. Dieser Mann ist bereits einschlägig verurteilt gewesen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und hat bereits eine Haftstrafe abgesessen. Jessica wird als „gerettet“ zunächst in die Obhut der zuständigen Jugendbehörde übergeben, dann den Eltern überstellt. Der Mann wird direkt in U-Haft genommen, da bestätigt wird, dass es zu sexuellen Kontakten gekommen ist. Jessica wird wenige Tage nach der Inobhutnahme durch das örtliche Jugendamt ihrer Mutter und deren Lebensgefährten wieder „übergeben“. Jessica betonte, dass sie sich nicht „gerettet“ vorkäme, eher widerwillig mit zur Familie zurückkehre. Was war hier geschehen, dass es zu einer solchen Entwicklung gekommen war? Über das für die Eltern zuständige Jugendamt kommt auch das KinderschutzZentrum Lübeck mit der Familie in Kontakt. Jessica betont zunächst, dass sie 260 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten eigentlich nicht zur Familie zurückwollte, sie habe sich „geliebt“ gefühlt bei ihrer neuen Chat-Bekanntschaft. Sie hatte ihren neuen Freund in einem Chat-Forum für Jugendliche, „die schon mal an Selbstmord gedacht hätten“, als vermeintlich einfühlsamen 17-Jährigen kennengelernt. Sie fühlte sich von ihm verstanden, konnte ihm ihre Lebenssituation, in der sie sich als Älteste in einer neuen Patchwork-Konstellation ihrer Mutter und deren neuen Lebensgefährten nicht wahrgenommen fühlte, gut anvertrauen. Ihre zwei jüngeren Halbbrüder beanspruchten die gesamte Aufmerksamkeit der Mutter, die als Flugbegleiterin immer wieder über längere zeitliche Etappen nicht für sie zur Verfügung stand. Da Jessica den neuen Partner der Mutter ablehnte, sie sich in ihrem Elternhaus an den Rand gedrängt fühlte, kamen erstmals Suizidgedanken auf. Sie beschrieb später, dass sie sogar einmal eine ganze Schachtel Tabletten geschluckt hätte, im Gedanken, sich das Leben nehmen zu wollen, aber es hätte nicht geklappt und eigentlich hätte keiner etwas gemerkt. Das Online-Forum für Jugendliche schien da ein wohltuender Ort, höchst Privates anderen anvertrauen zu können und sich gleichzeitig seelisch gestärkt zu fühlen. Dass ein 17-Jähriger so viel Interesse an ihr zeigte, war sehr selbstwertfördernd. Dies war letztendlich auch der Impuls dafür, den neuen Freund, der sich ihr so intensiv und einfühlsam im Chat genähert hatte, real kennenzulernen zu wollen und von zu Hause „wegzulaufen“. Jessica berichtet mir bei unserer ersten Begegnung, sie habe gar nicht zurück zu ihrer Familie gewollt. Es komme ihr so vor, als habe die Mutter sich einfach eine neue Familie geschaffen, in der für sie halt kein Platz sei. Dass sie sich eigentlich das Leben habe nehmen wollen, ungefähr acht Wochen zuvor, sei dort keinem wirklich aufgefallen. Sie hatte eine Überdosis Tabletten genommen. Ihr Vater? Den kenne sie eigentlich nicht, sie sei wohl bei einem One-Night-Stand ihrer Mutter entstanden. Sie wisse nur, dass der Vater eine eigene Familie in Berlin habe, sie dort auch nicht zugehöre und er nie Interesse an ihr gezeigt habe. In ihrem Aufzug, der für die sommerlichen Temperaturen eher düster und etwas martialisch wirkt (schwarze Kleidung, ein paar Piercings) und gelegentliche, 261 teresa siefer unnahbar wirkende Gesten, signalisiert Jessica mir eine gewisse ‚Abgeklärtheit‘, versucht auszudrücken, eigentlich alles „im Griff zu haben im Leben“, die Menschen durchschaut zu haben und sich durch nichts mehr verletzten lassen zu wollen. Dass sie erst 13 Jahre alt ist, könnte man übersehen – sie wirkt tatsächlich äußerlich älter im flüchtigen Hinschauen, ist groß gewachsen, hat nichts Kindliches mehr an sich, außer wenn man es schafft, ihr kurz in die Augen zu blicken, dort ahnt man flüchtig die Traurigkeit eines kleinen, zurückgelassenen Mädchens. Die mediale Aufmerksamkeit, die „ihr Fall“ bekommen hat, scheint sie auf eine bedrückende Art zu genießen, berichtet stolz, man habe sogar in der Bravo über sie berichtet, während sie immer wieder betont, nicht „vergewaltigt“ worden zu sein, das hätten die alle nicht verstanden. Überhaupt fragt sie mich gegen Ende unserer zweiten Begegnung sehr verunsichert, was denn nun eigentlich mit XX (dem Beschuldigten) geschehe – sie wolle nicht, dass er bestraft würde; er habe ihr doch gar nichts getan; eigentlich sei er der Einzige, der sie richtig verstehe. Das macht auch deutlich, wie stark die Opfer von sexuellem Missbrauch im Internet in einen Ambivalenzkonflikt geraten, den Täter im Nachhinein womöglich noch schützen zu wollen! Wir können im weiteren Verlauf darüber sprechen, dass der Beschuldigte ihr durchaus das Gefühl gegeben habe, wichtig zu sein und ernst genommen zu werden in ihren Gefühlen, er sich aber verlassen habe darauf, dass sie sich älter gemacht habe. (Bei der Realbegegnung war ihr doch aufgefallen, dass er nicht 17, sondern deutlich über 30 Jahre alt war, so hätte er auch merken können, dass sie nicht 16 Jahre, sondern erst 13 Jahre alt war.) Er als Erwachsener hätte schon die Verantwortung dafür, wenn er sich ehrlich um ihr Wohlergehen hätte kümmern wollen, dass sie als Schülerin nicht allein durch die Republik fahren könne, er auch über die Medien eigentlich hätte erfahren müssen, dass sie in Wirklichkeit 13 Jahre alt war, bundesweit gesucht wurde und er in diesem Alter zu ihr keine sexuellen Beziehung hätte aufnehmen dürfen. Eigentlich nur die Tatsache, dass der Beschuldigte bereits wegen sexuellen Miss- 262 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten brauchs an Kindern eine Strafe hatte absitzen müssen, lässt Jessica erkennen, dass er sie möglicherweise für seine Interessen benutzt hat und dass er sie wohl auch nicht freiwillig hätte gehen lassen. Dies wird im Verlaufe deutlich, denn es hatte wohl Momente gegeben, in denen sie versucht hatte, doch wieder nach Lübeck zu fahren, er sie aber geschickt an sich binden konnte – spürbar wird natürlich, wie sehr sich Jessica einfach nach Zuwendung und Interesse an ihrer Person gesehnt hat, sodass sie die erhaltene Zuwendung durchaus bereit ist, als „Liebe“ zu verklären. Hier können wir sehen, wie sehr das Internet Online-Täter schützt, die sich hinter einer Maske der Gutmütigkeit verstecken können und die Kinder in eine manipulative Verstrickung ziehen. Dass sich Online-Täter „sicher“ fühlen und von ihren Opfern sogar nach öffentlichem Bekanntwerden nicht unbedingt ablassen, zeigte sich im weiteren Verlauf noch auf unterschiedlichen Ebenen: Über einen Anruf einer Mitarbeiterin des örtlichen Jugendamtes, die sich im Auftrage eines Herrn X., der angeblich die Familie sehr gut kenne und sich für die kürzlich doch bundesweit gesuchte Jessica einsetze, wird mir nahegelegt, doch bitte mehr auf die Bedürfnisse des Mädchens zu achten – man würde über eine mögliche Unterbringung in einer Jugendwohngemeinschaft nachdenken, das würde dem Mädchen nicht guttun. Aufgrund meiner Nachfrage bzgl. des Namens des angeblich sich so für die Familie einsetzenden Bekannten wird offenkundig, dass Besagter der beschuldigte Tatverdächtige ist, der weiterhin mit Jessica im Chat-Kontakt stand und auf sie manipulativen Einfluss zu nehmen versuchte. Der Kollegin des Jugendamtes war dies nicht aufgefallen. Es zeigt aber auch, wie intensiv eine Einflussnahme in einem derartigen Fall gehen kann und dass über die neuen Medien eben durchaus weiter auf einem anderen Kanal „Kontakt gehalten oder gesucht werden kann“ und Missbrauch fortgesetzt wird. (In welch manipulative Verstrickungen selbst ein Jugendamt geraten kann, zeigt dies allerdings auch!) Jessica allerdings entwickelt Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (erhebliche Aggressivität gegenüber Mitschülern, Konzentrations- und 263 teresa siefer Schlafstörungen, gepaart mit wiederaufflackernder Suizidalität), sodass wir der Mutter zu einem stationären Klinik-Aufenthalt für die Tochter raten, um diese aus dem sehr instabilen häuslichen Milieu zu ziehen und ihrer eigenen Problematik die notwendigen Behandlungsintensität zukommen zu lassen. Nach einem dreimonatigen stationären Aufenthalt erhält Jessica im Anschluss ambulante Einzelgespräche und stabilisiert sich relativ gut. Ihre familiäre Situation hat sich verändert, die Mutter hat sich vom Partner getrennt, selber eine Therapie begonnen, wird in die Gespräche mit ihrer Tochter eingebunden. Sechs Jahre nach diesem Vorfall habe ich noch einmal Kontakt zur Familie aufgenommen. Die Mutter berichtet, dass Jessica den Realschulabschluss gut absolviert habe. Mittlerweile lebe sie in Berlin und hätte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin begonnen. Für ihre jüngeren Halbgeschwister sei die damalige familiäre Krise durchaus in vielen Situationen sehr präsent, gerade wenn es um Mediennutzung, Facebook-Kontakte, Selbstdarstellung, Profileinstellung, Kontaktdaten-Preisgabe etc. ginge. Die Mutter berichtet, dass in der Rückschau der Ausbruch von Jessica damals zwar der falsche Weg – in ihren Worten – „noch einmal glimpflich abgegangen sei“, aber für sie als Mutter eigentlich ein wichtiges Alarmsignal gewesen sei! Sie hätte zum damaligen Zeitpunkt als Frau in einer tiefen Lebenskrise gesteckt und ihre Tochter gar nicht mehr gesehen, sondern komplett überfordert, hätte sie eher als Erwachsene behandelt, die ihre (mütterliche) Zuwendung so nicht mehr brauche. Sie sei mit ihrer damaligen Lebensplanung und der Partnerkrise falsch umgegangen und habe jegliche Anzeichen ihrer Tochter, sich mehr um sie zu kümmern, sich für sie zu interessieren, komplett ignoriert. Spät vielleicht diese Einsicht, dennoch zumindest eine Sicht, die eigenen Anteile an der Entwicklung der Tochter nicht zu verleugnen. Das eingeleitete Strafverfahren endete nach einigen Monaten mit einem Freispruch für den Beschuldigten. Er konnte dem Gericht gegenüber darstellen und es davon überzeugen, den Kontakt zur 13-Jährigen Jessica, die sich ihm gegenüber als 16-Jährige ausgegeben habe, nicht erzwungen zu haben, sondern mit ihr eine Beziehung auf gegenseitiger Freiwilligkeit eingegangen zu sein. 264 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten Fallvignette 3: Lara, 11 Jahre: Cyber-Grooming Lara hat sich in der Schule ihrer Lehrerin anvertraut, nachdem diese deutliche Verhaltensveränderungen (einerseits Rückzug, andererseits unvermittelt aggressive Ausbrüche gegenüber Mitschülern) beobachtet hatte. Die Lehrerin riet ihr dazu, sich den Eltern anzuvertrauen und evtl. Anzeige zu erstatten, da sie das, was Lara erlebt habe, als sexuelle Übergriffe einstufte. Die 11-jährige Lara berichtet, wie sie einen vermeintlich 13-jährigen Freund (der offenbar in Wirklichkeit 26 Jahre alt ist) in einem Chat-Forum kennengelernt hat, zu dem schnell täglicher Chat-Kontakt über ein Internet-Spiel (MovieStarplanet-Online Spiel für 8–12-Jährige) entsteht, der dann auch zu Skype-Kontakten führt. Über Schmeicheleien entsteht zunehmend ein „vertrauensvolles“ Verhältnis, in dem der spätere Täter viel über das reale Leben des Mädchens erfährt (z. B. dass eigentlich ein Verbot für Lara bestehe, mit Menschen zu skypen, die sie nicht kennt). Das Wissen über die reale Situation nutzt der Chat-Partner schnell zu erpresserischen Drohungen aus: Lara solle ihm ein Nacktfoto von sich schicken, sonst würde er sie aufsuchen – Lara reagiert mit Panikgefühlen, spürt einen enormem Druck, und schickt die Fotos von sich in Slip und Bustier. Aus Scham mag sie sich keinem Erwachsenen anvertrauen. Der Chat-Partner lässt aber nicht nach, sendet ihr Fotos seiner Genitalien und zwingt sie, Sätze wie „Ich möchte so gern an deinem Penis lecken“ nachsprechen. Sobald Lara online geht, meldet sich der vermeintliche Freund und schickt ihr weitere Aufforderungen, ihm Nacktbilder zu senden, da er sie sonst veröffentlichen würde und ihre Eltern aufsuchen werde. Der Druck bei Lara wächst, aber selbstständig findet sie keinen Ausweg, bis sich die Lehrerin ihr zuwendet. Lara wendet sich an die Eltern (Arzt und Krankenschwester), die – tatsächlich zunächst – mit Schuldvorwürfen reagieren („wie konntest Du, wir hatten es Dir doch verboten …“), dann aber klar signalisieren, dass sie ihre Tochter unterstützen wollen. Lara hatte aus Scham alle Chat-Protokolle auf dem PC gelöscht, allerdings konnte die Polizei, nachdem die Eltern dann umgehend eine Anzeige erstattet hatten, alles rekonstruieren, sodass man über die IP-Adresse letztendlich auf den potenziellen Täter Zugriff nehmen konnte. 265 teresa siefer Allerdings handelt es sich um einen Tatverdächtigen außerhalb Schleswig-Holsteins, sodass eine andere Staatsanwaltschaft zuständig wurde, die bis heute (1,5 Jahre nach Anzeigenstellung!) noch kein Hauptverfahren eröffnete. Welche Auswirkungen hat dieser Übergriff? · Die therapeutische Begleitung von Lara zielt zunächst darauf, die eigene Wahrnehmung und Grenzerleben zu stärken, · die Ambivalenzkonflikte zu lösen (Täter solle nicht bestraft werden …, „ich hätte ja eigentlich nicht skypen dürfen“.), · Verantwortlichkeiten deutlich zu machen und ihre Selbstzweifel sowie pubertäre Verunsicherungen so aufzugreifen, · dass an ihren Stärken und Kompetenzen angesetzt wird und · sie in der Realwelt positive Beziehungserfahrungen machen kann. Die Einbeziehung der Eltern in familientherapeutische Gespräche lässt schnell deutlich werden, dass Lara als „Nachzüglerin“ mit einem 10-Jahre älteren Bruder häufig überschätzt und in den Sorgen der Eltern über die berufliche Entwicklung des Sohnes „aus dem Blick geraten war“ und sich emotional „vernachlässigt“ fühlte → ein Boden, auf dem viele Mädchen im Internet Gefahr laufen, Opfer zu werden. Nach gut einem Dreivierteljahr Begleitung hat sich Lara emotional deutlich stabilisiert, wirkt insgesamt sicherer, ist weniger stimmungslabil und hat freundschaftliche Beziehungen zu zwei Mädchen in ihrer Klasse aufgebaut. Zusammenfassung in Stichpunkten Besonderheiten bei Online-Missbrauch · Direkter und ungestörter Kontakt zum Opfer möglich, → enorm hohe Manipulationsfähigkeit, · Täter kann sich individuell ohne Rücksicht auf Ablenkungen durch äußere Welt ideal und permanent auf sein Opfer einstellen, · analoge Korrektiv-Kommunikation bleibt für die Kinder und Jugendlichen ausgeschaltet, 266 aufwachsen in mediatisierten lebenswelten · subjektiv empfundene Anerkennung / Bestärkung des Opfers führt zu extremer Überlegenheit des Online-Täters, · Scham und Schuldgefühle verhindern bei den Opfern rechtzeitiges Einbeziehen von Vertrauenspersonen. Besonderheiten nach sexuellem Missbrauch im Internet Immer spielen folgende Kriterien eine Rolle für den individuellen Verarbeitungsprozess: · die Reaktionen der nächsten Bezugspersonen nach Eröffnung, · das subjektiv erlebte Ausmaß des Missbrauchsgeschehens, · die Beziehung zwischen Missbraucher und seinem Opfer, · das Alter zu Beginn des sexuellen Missbrauchs, · die Dauer/Häufigkeit des Missbrauchs, · das Mitgefühl gegenüber Opfern von Internet-Missbrauch ist deutlich geringer, auch bei Peers, ·Endlosviktimisierung, · Schutzlosigkeit der Opfer (Täter gelangen bis ins Kinderzimmer, sogar nach Öffnung des Missbrauchs). Folgen von Missbrauch im Internet · Auch nach Beendigung des Missbrauchs kann möglicherweise Bildmaterial im Netz verbleiben (Fall Lara, Fall Manuela), · auch wenn das aktuelle Missbrauchsgeschehen beendet ist, kann – oft unentdeckt – ein Täter auf gleiche Art weitermachen (Fall Lara), · mit entwicklungspsychologischer Reifung kann die Traumatisierung ggf. noch zunehmen, da Dauerviktimisierung (durch Verbleib der Bilder im Netz) erst mit entsprechendem Reifegrad erfasst wird, · die Qualität missbräuchlicher Ausbeutung kann durch internetbasierte Maskierung des Täters das Opfer weiter im Glauben lassen, nicht missbraucht worden zu sein (Fall Jessica). Was heißt dies für uns als Helferinnen und Helfer? · Was müssen wir in der Prävention berücksichtigen? · Was wünschen wir uns im justiziellen Kontext? · Wie können wir therapeutische Hilfe sicherstellen? 267 E dorett funcke Entschleunigte Familien? Auswege und Strategien gegen die Beschleunigung sozialen Lebens 1 1. Einleitung An die Stelle des erträumten Zeitwohlstandes ist in den westlichen Gesellschaften ein gravierender und sich verschärfender Zeitnotstand getreten. Eine Zeithungersnot und ein Zeitdruck. Bestimmend ist die Grunderfahrung einer ungeheuren Beschleunigung der Welt und des Lebens. Die Familie als eine für relativ stabil gehaltene Institution ist durch eine zunehmende Dynamisierung auf die Probe gestellt. Kann diese alte Institution Familie den Beschleunigungskräften widerstehen? Oder ist Familie offensichtlich doch keine Gegenwelt mehr gegen das Rationalisierungsprinzip des Wirtschaftslebens? Sondern ist Familie, „der Hafen in einer herzlosen Welt“ – so hat es der Soziologe Christopher Lasch (1987) einmal formuliert –, doch eher zu einer Keimzelle des Marktes geworden? Um diese Fragen wird es gehen. Zu erwarten sind allerdings keine Rezepte oder handfeste Handlungsanleitungen für ein gutes und richtiges Leben in unserer beschleunigten Zeit. Die Rede wird sein von Licht- und Schattenseiten. In dem folgenden Teil werde ich zuerst in eine soziologische Zeittheorie einführen. Diese Zeittheorie enthält eine Diagnose über unsere Zeit. Sie besagt, dass wir in einer „Beschleunigungsgesellschaft“ leben, so der Soziologe Hartmut Rosa (2005). Die Erfahrung der Modernisierung sei eine Erfahrung der Beschleunigung. Diese Theorie ist sicherlich richtig, aber sie für die ganze Wirklichkeit zu nehmen, ist fraglich. Ich werde in einem dritten Punkt am Beispiel der Familie zeigen, dass die Zeitstruktur von Familie nicht jener der 1 Der Beitrag basiert weitestgehend auf einem Vortrag gehalten am 11. September 2014 anlässlich des 10. Kinder schutzforums in Köln. 269 dorett funcke umfassenden Beschleunigung entspricht. Die gelebte Zeit des innerfamilialen Austausches gehört einer eigenen sozialen Ordnung an. Doch es gibt einige Indizien, die den Verdacht aufkommen lassen, dass die Familie als einer der Stabilitätskerne unserer Gesellschaft wehrlos der Beschleunigung ausgeliefert ist. Im vierten Punkt werde ich von konventionellen und unkonventionellen Strategien berichten, wie Familie der Logik des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems standzuhalten, der Zeitfalle versucht zu entkommen. Doch was nun, wenn die Beschleunigung auch diese Strategien zunehmend bedroht? Ich werde im fünften Teil mit einigen alternativen Bewältigungsformen Auswege aus der Beschleunigung vorstellen. Ich schließe mit der Frage: Die Familie – eine antiquierte Institution? 2. Eine soziologische Zeitdiagnose: Die „Beschleunigungsgesellschaft“ Die Diagnose scheint evident. In allen Bereichen wird alles schneller. Schnelleres Essen hat einen eigenen Namen erhalten: Fast Food. Der Mittagsschlaf lässt sich angeblich schneller und genauso effektiv gestalten mit Power Napping. Ein allgemeiner Zeitverlust soll durch Zeiten intensiveren Zusammenseins kompensiert werden, man nennt das „Quality Time“. Unter „Qualitätszeit“ versteht man die Zeit, in der man seinen Kindern und seinem Partner besondere Aufmerksamkeit widmet. Gefühlsbindungen sollen hier in kurzer, knapp bemessener Zeit, aktiv, gezielt und von ganzem Herzen betrieben werden. Beim Speed-Dating, eine Form der Partnervermittlung, kann man im Minutentakt gleichsam am Fließband seinem neuen potenziellen Partner begegnen. Allerdings wird heute tendenziell der Lebenspartner durch den sogenannten Lebensabschnittspartner ersetzt. Die lebenslange Monogamie wird immer öfter durch eine neue Form der „seriellen Monogamie“, das „Liebespaar auf Zeit“, abgelöst. Der Online-Händler Amazon, seit vielen Jahren gefürchtet und verhasst als übermächtiger Konkurrent des stationären Buchhandels, plant Pakete künftig noch schneller auszuliefern. Kleine Drohnen sollen die bestellte Ware in 30 Minuten liefern. Die Drohne lässt dann die Box vor der Haustür fallen. Noch unklar ist allerdings, wie das bei Apartmenthäusern und Bürogebäuden funktionieren soll. 270 entschleunigte familien? Auch im Personenverkehr soll alles schneller gehen, sollen in kürzeren Zeiten längere Strecken zurückgelegt werden. Die Magnetschwebebahn, eine Hochgeschwindigkeitsbahn, die eine 30 km lange Strecke in 7 Minuten und 18 Sekunden zurücklegt, gibt es bereits. Sie fährt in China (Shanghai), übrigens stammt die Technik dazu aus Deutschland. Das Neueste planen die Amerikaner, den sogenannten „Hyperloop“, eine Art Hochbahn, die Passagiere in Aluminiumkapseln durch eine Stahlröhre transportieren soll. Dieses futuristische Transportmittel soll Passagiere von Los Angeles nach San Francisco in 30 Minuten bringen, eine rund 650 km lange Strecke. Dass die Welt sich in einem atemberaubenden Tempo wandelt, ist besonders auch in der modernen Arbeitswelt spürbar. Mobilität und Termindruck führen dazu, dass Angestellte keine Zeit mehr haben. Neue Beschäftigungsverhältnisse und damit verbundene Präsenzzumutungen am Arbeitsmarkt lassen die Grenze zwischen Arbeit und Familie verschwimmen. Feste Arbeitszeiten, Dienstschluss, den sogenannten Feierabend, gibt es nicht mehr. Die „Projektförmigkeit der Arbeit“ (Burkart 2013, Vortrag auf dem 4. Europäischen Familienkongress) verlangt im Beruf den ganzen Menschen. Berufliche Flexibilität ist zum Gebot der Stunde geworden. Das hat Auswirkungen auf die Privatsphäre und das Familienleben. Partnerschaften und Familienbeziehungen passen sich dem Berufsleben an. Der Binnenraum der Familie schrumpft zur bloßen Verabredungszentrale, aus der Familie wird eine „Verhandlungsfamilie“ (Lenz 2009), wenn – wie Arlie Hochschild, eine amerikanische Soziologin, es formuliert – „die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet“ (Hochschild 2006) oder es schließlich dazu führt, dass „Arbeit die Liebe ersetzt“ (Wimbauer 2012). Eine grundlegende Erfahrung unserer Moderne ist, dass die eigenständige Strukturierung von Zeit, die gestiegenen Anforderungen an Autonomie, Selbstverantwortung und Eigeninitiative manchmal nur schwierig zu realisieren sind. Die Folge, so behauptet der Pariser Soziologe Ehrenberg, ist „Das erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg 2004). Psychische Erkrankungen und Depressionen nehmen zu. Nicht selten ist in diesem Zusammenhang vom sogenannten Burnout die Rede. „Ein Volk der Erschöpften“, so schrieb der Spiegel im Januar 2011, und die Wochenzeitschrift „Zeit“ schloss den Reigen im Dezember 2011 mit der 271 dorett funcke rhetorischen Frage: „Noch jemand ohne Burnout?“. Besorgniserregende Statistiken und erschütternde Fallgeschichten wechseln sich ab. Der Burnout-Diskurs wird getragen von Sprachbildern, in denen die widersprüchlichen Konturen der Zeitkrankheit und der von ihr gezeichneten deutlich hervortreten. Adressiert werden die Menschen im Burnout-Diskurs als leere Akkus und seelenlose Roboter, als Langzeitgefangene im Hamsterrad, aber auch als Wartungsingenieure ihres Lebensmotors. Allerdings, so eine Gegendiagnose, nicht nur zu viel Arbeit macht krank, sondern auch keine Arbeit zu haben. Laut einer Analyse der Bundespsychotherapeutenkammer (2010) stieg die Zahl der psychischen Erkrankungen vor allem bei Arbeitslosigkeit dramatisch an, sie sei 3–4 Mal so hoch wie bei Beschäftigten. Einigkeit besteht in der Forschungsliteratur darüber, dass es zwei bedeutsame Beschleunigungswellen gab. Unbestritten ist, dass die Jahrhundertwende vor und nach 1900 infolge der industriellen Revolution eine Geschwindigkeitsrevolution in allen Bereichen brachte. Auch wenn sich erst im 20. Jahrhundert dank der Luftfahrt und der Verbesserung des Straßenverkehrs die Transportgeschwindigkeit dramatisch erhöhte, so bedeuteten die Eisenbahn und der Telegraf den entscheidenden Bruch mit der früheren Geschichte. Sie waren schneller als die schnellste Pferdekutsche und der schnellste Postreiter. Den zweiten großen Beschleunigungsschub kann man am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert ausmachen. Die Geschwindigkeitssteigerung ist hier hervorgerufen vor allem durch die digitale und politische Revolution von 1989. Im Jahr 2000 hat der Medienwissenschaftler Gundolf Freyermuth die Beschleunigungsdiagnose wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wir sind Zeitgenossen eines Beschleunigungsschubs, der in der Geschichte der Menschheit einmalig ist und die Industrialisierung im Nachhinein geradezu gemütlich erscheinen lässt“ (Freyermuth 2000, S. 74). Auf einen technischen Beschleunigungsschub folgt aber nun immer ein Entschleunigungsdiskurs. Auf die Erfahrung der Beschleunigung folgt der Ruf der Entschleuniger. ‚Zeitratgeber‘ und ‚Lebenshilfen‘ zum verbesserten Zeitmanagement finden reißenden Absatz. Hier nur einige Titel: „Faulheit adelt. Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun“; „nichts tun. vom flanieren, pausieren, blaumachen und müßiggehen“, „Anleitung zum Müßiggang“, „Vom Glück des Nichtstuns“, „Das Sofa-Universum“. Bücher und Bewegungen, die 272 entschleunigte familien? sich der bewussten Verlangsamung verschrieben haben: der Bestseller „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny oder der „Verein zur Verzögerung der Zeit“. Am originellsten hat vielleicht der Schriftsteller Walter Benjamin seinem Geschwindigkeitsprotest Ausdruck verschafft. Er forderte dazu auf, in den Pariser Straßen Schildkröten spazieren zu führen. Warum macht uns der Umgang mit der Zeit aber so zu schaffen? Was ist das Problem mit der Zeit? Eine Antwort ist folgende: Unhintergehbar ist für uns Menschen die Aufgabe, ganz verschiedene Zeitstrukturen nicht bloß zu reflektieren. Sondern es geht darum, verschiedene Zeitstrukturen auch so miteinander in Verbindung zu setzen, dass daraus für uns als Person eine eigene glaubwürdige und vertretbare Geschichte entsteht. Eine Geschichte, die uns als unverwechselbare, einzigartige, nicht austauschbare Person ausmacht. Damit das gelingt, sind wir herausgefordert, drei unterschiedliche Zeitperspektiven immer wieder neu zu reflektieren. Wir müssen immer wieder drei Zeitebenen miteinander in Einklang bringen: die Alltagszeit, dann unsere Lebenszeit und auch die Zeit unserer Epoche, die Weltzeit. Ich will die drei Zeitebenen kurz erläutern. Zur Alltagszeit: Wenn von Zeitstrukturen des Alltags die Rede ist, dann sind damit zum Beispiel wiederkehrende Routinen und Rhythmen von Arbeit und Freizeit, Wachen und Schlafen gemeint und die damit verbundenen Probleme, dass alles irgendwie zu synchronisieren: Wie schaffe ich es, meine Arbeit im Büro zu erledigen und meine Tochter rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen? Soll ich vor oder nach dem Schwimmen einkaufen gehen? Will ich erst die Gartenarbeit machen und dann die Hausarbeit erledigen? Essen wir zu Abend vor dem Elternabend oder danach? Die Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, stellt sich aber nicht nur hinsichtlich unseres Alltags, sondern auch hinsichtlich unseres ganzen Lebens. Ich komme zur Lebenszeit: Es geht hier um die zeitliche Perspektive auf das ganze Leben: Wie lange will/darf ich studieren? Bleibe ich als Mutter ganz zu Hause oder gehe ich Teilzeit arbeiten? Will ich wirklich mein ganzes Leben lang Jurist sein? Wann gehe ich in den Ruhestand? Zum anderen erleben wir unsere Alltags- und Lebenszeit auch als eingebettet in die übergreifende Zeit unserer Epoche, Generation und unseres Zeitalters. 273 dorett funcke Heinz Abels, ein deutscher Soziologe, hat das in einer seiner Vorlesungen am Beispiel des Begrüßens durch Küsschen rechts und links auf die Wange geschildert, ein Phänomen der neueren Zeit, für manche – wie die Verabredung übers Handy oder Smartphone – vielleicht keine selbstverständliche Praktik. Das Gespür, dass sich die Zeiten geändert haben, wird deutlich, wenn ältere Leute sagen „zu meiner Zeit war das noch anders“, oder „in unserer heutigen Zeit, gelten diese Traditionen nicht mehr“. ‚Unsere Zeit‘ ist daher stets zugleich die Zeit unseres Alltags, unseres Lebens und unserer Epoche. Diese drei Zeitperspektiven müssen wir als Menschen in Einklang miteinander bringen. Das machen wir über das Erzählen, meistens das Erzählen von Geschichten. In diesen setzen wir Alltagszeit, biografische Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung, kritisieren sie und rechtfertigen sie auch. Eine Studentin der FernUniversität in Hagen könnte sagen: ‚Die Kinder sind jetzt erwachsen, die freie Zeit neben meinem Beruf widme ich dem Studium der Geschichte und englischen Sprache, das ich damals wegen der Familie nicht beendet habe, die FernUni ist für mich eine Alternative, um die Karten jetzt noch einmal neu zu mischen und eine berufliche Neuorientierung zu versuchen.‘ In solchen narrativen Entwürfen ist von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Rede. Wer man ist, bestimmt sich immer auch dadurch, wie man es geworden ist, was man war und hätte sein können und was man sein wird und sein möchte. Wir konstruieren unsere Lebensgeschichte, indem wir nicht nur auf unsere Vergangenheit schauen, sondern damit zugleich unsere Gegenwart deuten und für uns eine mögliche Zukunft entwerfen. Wenn nun aber alles schneller wird, wir aber als Menschen in alles Sinn hineinlegen müssen, um eine für uns verträgliche Ordnung mit der Welt herzustellen, dann bekommen wir ein Problem. Wir haben das Gefühl, die sozialen Veränderungen nicht mehr über Deutungsprozesse, die eben auch Zeit brauchen, verarbeiten zu können. Diese Eigenschaft des Menschen, alles mit Sinn versehen zu müssen, um seine Identität zu erhalten, macht ihn angesichts der bewegenden modernen Zeiten zu einem antiquierten Wesen. Das Lebenstempo, mit dem er nicht Schritt halten kann, untergräbt seine Autonomie, verschafft ihm den Eindruck, über die Gesamtrichtung seines Lebens nicht entscheiden zu können. Ein klassischer Typ der Spätmoderne ist der „Wellenreiter“ (Hartmut Rosa), der 274 entschleunigte familien? seine Chancen situativ zu nutzen weiß, langfristige Pläne ganz vermeidet. In der Soziologie gibt es für die Diagnose, dass die Zeiträume sich verkürzen, in denen das Wissen von gestern heute noch gültig ist, den Begriff der Gegenwartsschrumpfung (Lübbe 1994). Gegenwartsschrumpfung meint, dass das konkrete Ereignisjetzt kleiner und begrenzter wird. Vergangenheit und Zukunft müssen in immer kürzeren Abständen umgeschrieben werden. Das, was gestern noch galt, hat morgen keinen gültigen Orientierungswert mehr. Das Haltbarkeitsdatum von stabilen Wissensbeständen ist verkürzt. Doch kehren wir noch einmal zu einer zentralen Aussage der soziologischen Beschleunigungstheorie zurück. Die soziologische Beschleunigungstheorie beschreibt unsere Spätmoderne als eine Epoche, in der Beschleunigungsprozesse alle Lebensbereiche durchdringe. Zeitressourcen sind knapp. Aus der erlebnisreichen Gesellschaft wird durch die Nicht-Übersetzbarkeit in Erfahrung eine erfahrungslose Gesellschaft. Das ist insgesamt gesehen eine negative Zeitdiagnose. Ich habe am Anfang des Beitrages allerdings schon eine Skepsis gegenüber der Behauptung angedeutet, dass die Beschleunigung ungeteilten Einfluss auf alle Gesellschaftsbereiche hat. 3. Die Zeit der Familie – ein Ort mit einer anderen Zeitstruktur Wer jetzt annehme, ich würde von der Familie als einer Lebensform berichten, die ganz unabhängig von der Gesellschaft zu betrachten sei, der irrt. Familie hat einen Doppelcharakter (vgl. ins. Funcke/Hildenbrand 2009, S. 21–26). Sie ist einerseits auf die Gesellschaft bezogen, andererseits von ihr abgegrenzt. Mit Bezogenheit auf die Gesellschaft ist gemeint, dass Familien dazu da sind, Gesellschaftsmitglieder zu sozialisieren, sodass sie dann als Beschäftigte oder Bürger eines Gemeinwesens die Gesellschaft mit gestalten. In der Abgrenzung von der Gesellschaft schafft die Familie einen Raum, in welchem das Kind sich abgeschirmt von den gesellschaftlichen Zumutungen entwickeln kann. Kinder nutzen diesen Rahmen, um in Muße Erfahrungen zu machen. So gesagt, die Familie ist ein Ort, von dem aus Kinder den Rest der Welt besichtigen können. Anpassung an die Gesellschaft und Integration nach innen gehören zusammen. Zwischen Familie und Gesellschaft besteht – man könnte auch sagen – eine 275 dorett funcke Grenze. Eine Grenze, die zugleich verbindet und trennt. Um diese Familiengrenze, die einen Raum schafft, in dem eine andere Zeitstruktur als im Wirtschaftsund Beschäftigungssystem herrscht, geht es im Folgenden. Die Frage lautet: Was geschieht im Inneren von Familien, wenn sie sich von der Gesellschaft abgegrenzt haben? Im abgegrenzten Raum bietet die Familie ihren Mitgliedern einen Satz von modellhaften Erklärungen für sich und die Welt an. David Reiss, ein amerikanischer Psychiater und Familienforscher, nennt das Familienparadigma (Reiss 1981). Dabei geht es um drei grundlegende Themen: um die Trennung der Familie von ihrer Umgebung, um den Erhalt einer über Generationen weitergegebenen Familienkultur und schließlich darum, dass Familien in unterschiedlicher Weise ihre Beziehung zu ihrer Umwelt gestalten. Die familienspezifischen Vorstellungen von sich und der Welt werden durch zwei Mechanismen aufrechterhalten: einmal durch Rituale und durch das Familienmuster. Rituale wie Geburtstage, aber auch Beerdigungen stellen die Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft her. Familienmuster organisieren die zwei grundlegenden Ressourcen des Alltagslebens: Zeit und Raum. Bei der Zeit geht es um Zeitregulierung im Familienablauf: Wer bringt die Kinder zur Schule, holt sie ab, macht die Wäsche und wer kocht und wer putzt zu Hause? Es geht aber auch um die Orientierung in der Zeit, sowohl kurz- wie auch langfristig. So stecken beispielsweise hinter den Handlungsmustern des Sparens bzw. Schuldenmachens ganz unterschiedliche Zeitmuster. Auch bedarf es Zeit, die am gemeinsamen Ort verbracht wird. Denn Familie ist mehr als ein bloßes Nebeneinander von Individuen, die sich nur die Klinke in die Hand geben. Zum Beispiel finden Trösten und Zuhören während der gemeinsamen Mahlzeiten statt. Ein „gutes Gespräch“ kann sich ergeben, wenn ein Elternteil das Kind mit dem Auto zur Schule bringt. „Vermischtes Tun“ ist charakteristisch für Sorgeleistungen in Familien. Beim Raum geht es um Regulationsprozesse an den innerfamilialen Grenzen sowie an jenen zwischen Familie und Außenwelt. Innerhalb der Familie bedeutet Grenzarbeit, Privatheit zu etablieren: Welche Türen sind wann geschlossen, wann geöffnet? Wer hat einen Schlüssel für die Haustür? Wer darf zu welchen Zeiten anrufen und wann gehört es sich nicht? Jenseits der Familiengrenzen geht es darum, wie sich die 276 entschleunigte familien? Familie den öffentlichen Raum erschließt: Ob sie sich eher weltoffen oder eher weltabgewandt verhält, ob die Familie beispielsweise Geburtstage zu Hause oder in der Öffentlichkeit feiert. Familien stellen demnach gegenüber der Außenwelt ihre relative Autonomie her und erhalten sie aufrecht. Die Mittel dazu entnehmen sie der Welt, die sie umgibt und passen sie der Besonderheit ihrer eigenen Welt an. Dazu kommen innerfamiliale Kommunikationsprozesse, die von Klarheit, Offenheit und Kooperation geprägt sind. Den Chef kann man auf Distanz halten, wenn er einen in seine privaten Angelegenheiten hineinziehen will, den eigenen Partner nicht. Denn für den Chef ist man ein Rollenträger, für den Partner eine ganze, ungeteilte Person. Es gibt nichts, was nicht thematisiert werden kann. Auf der Grundlage maximaler thematischer Offenheit besteht in Familien ein Anspruch auf die Mitteilung von Freude, Trauer und Leid. Der Soziologe Niklas Luhmann hat es einmal so formuliert: In der Familie besteht die „Erwartung, dass man hier für alles, was einen angeht, ein Recht auf Gehör, aber auch eine Pflicht hat Rede und Antwort zu stehen. Man kann erzählen, man darf auch fragen […]. Man kann eine Kommunikation [aber] über sich selber nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an! Man hat zu antworten und man darf sich nicht anmerken lassen, mit welcher Vorsicht man auswählt, was man sagt […].“ Wer bereit ist – so Luhmann weiter – „sich dieser Regel zu fügen, ist bereit zu heiraten“ (Luhmann 2009, S. 199). Gesichert wird der Familienrahmen durch Solidaritäten. Gemeint sind damit zum einen die Unkündbarkeit der Beziehungen und zum anderen die NichtErsetzbarkeit der Personen. Familie ist auf Dauer angelegt und nicht auf eine befristete Zusammengehörigkeit. Wenn zwei als Paar zusammenkommen, dann weil sie ineinander verliebt sind. Das gilt selbst für solche Paarbeziehungen, in denen der ökonomische Besitz eine Rolle spielt, der erhalten und vielleicht bei Aufwärtsheirat noch vermehrt werden kann. Romantische Verliebtheit, selbst wenn sie vergänglich ist, ist auch grundlegend für moderne bäuerliche Paarbeziehungen, wo neben dem Paar auch Güter verschmelzen. Geht die Paarbildung allerdings allein auf ein Kalkül zurück, etwa die Versorgung oder ein gemeinsames Geschäft, so ist das zumindest in der westlichen Welt erklärungsbedürftig. 277 dorett funcke Was macht eine Paarbeziehung noch aus? Es gilt das Kriterium der Ausschließlichkeit – nur der oder die eine –, Seitensprünge sind i. d. R. nicht vorgesehen. Liebe ist – in den Worten des Soziologen Niklas Luhmann – „wechselseitige Komplettannahme im Modus der Höchstrelevanz“ (Luhmann 1982, S. 40). Weiterhin gilt für Paarbeziehungen: Attraktivität, Vertrauen und ein gemeinsamer Lebensweg – „bis das der Tod euch scheidet“. Trennung und Scheidung sind – auch wenn sie immer häufiger vorkommen – auch in der moderneren Definition nicht einfach hinzunehmende Tatsachen, sondern Katastrophen. Wenn aus dem Paar eine Familie wird, aus dem Paar Eltern werden, dann gelten ebenfalls die Kriterien der Unbegrenztheit der Beziehungen und des Vertrauens. Vom Partner oder von der Partnerin kann man sich trennen, von den eigenen Kindern nicht. Selbst wenn das Elternpaar sich trennt und sich mit neuen Partnern zusammentut – was heute zunehmend der Fall ist – dann gilt es als geschiedene Mutter bzw. Vater, Zeit mit den leiblichen Kindern zu verbringen. Aus der Forschungsliteratur über Stieffamilien und Patchworkfamilien ist bekannt, wie anstrengend es sein kann, verschiedene Familienwelten, die alte und die neue, miteinander zu synchronisieren. Ich habe bisher versucht, Folgendes zu zeigen: Die zeitliche Ordnung der Familie kann nicht einfach der zeitlichen Ordnung außerfamilialer Welten gegenübergestellt werden. Die Logik der Familie, die auf Dauer angelegt ist, entspricht nicht der Logik des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems. Kann die Familie nun angesichts der zunehmenden Beschleunigung sich der gesellschaftlichen Dynamik zur Wehr setzen? Einige Indizien sprechen dagegen: Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild (2006) hat sich in einer Studie mit der Zeitproblematik von Familien befasst. Sie hat dafür Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines US-amerikanischen Konzerns interviewt. Das Besondere an diesem Konzern: Er war für eine familienfreundliche Politik landesweit ausgezeichnet worden. Diese Politik konnte allerdings nicht verhindern, dass die Doppelbelastung von Berufsarbeit und Familie zu einer Umkehrung der Verhältnisse führte. Es war das Unternehmen, in dem gelebt und die Familie, in der gearbeitet wurde. Der müde Vater oder die müde Mutter flieht aus der Welt der ungelösten Konflikte und ungewaschenen Wäsche in die verlässliche 278 entschleunigte familien? Ordnung, Harmonie und gute Laune der Arbeitswelt. Arbeitsplätze ersetzten die häusliche Geborgenheit, da zu Hause auch nur Arbeit wartet. Die modernen Arbeitsbedingungen, die Flexibilität, Mobilität, eben den „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) erwartet, kommen ungebundenen Personen entgegen, also etwa Single-Männern und Frauen ohne Kinder. Neue Studien zeigen, dass junge Erwachsene heute später ausziehen. 72 Prozent der Männer in der Altersgruppe der 18–25-Jährigen leben noch zu Hause, bei den Frauen sind es 56 Prozent (vgl. Koppetsch 2013, S. 365). Auch kann man einen Trend in der Familienpolitik beobachten: Eltern, vor allem Mütter, von Kindererziehungsaufgaben zu entlasten und stattdessen Angebote öffentlicher Kinderbetreuung bereitzustellen. Ich erinnere an die zahlreichen Gründungen von Privat- und Ganztagsschulen. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung war am 25. Februar 2014 von einer Hamburger Ganztagsschule die Rede, an der 93 Prozent der Eltern für eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder an drei Tagen von 13 bis 18 Uhr stimmten. In dem Maße, so der Soziologe Tilmann Allert, wie die Eltern sozialisatorisch verschwinden, wandelt sich die Hypothese von der „vaterlosen Gesellschaft“ zur „elternlosen Gesellschaft“. Diese Indizien stimmen bedenklich hinsichtlich der Frage, wie es Familien gelingt, sich gegen die zunehmende gesellschaftliche Beschleunigung zur Wehr zu setzen. Ich werde im Folgenden von Ressourcen bzw. Resilienzpotenzialen der Familie berichten. Diese zeigen, dass sich Familien Reservate schaffen, um gegen Zumutungen der Geschwindigkeit ihre eigene Zeitstruktur zu behaupten. 4. Konventionelle und unkonventionelle Strategien, der Zeitfalle zu entkommen Ganz individuelle Strategien, um das Zeitregime zu beeinflussen, sind: „Arbeitszeit reduzieren, Abstriche im Berufsleben machen, eine eigene Firma gründen und so das Zeitregime selbst bestimmen, Bedürfnisse radikal zurückfahren oder gar ganz aus dem System aussteigen und sich aufs Land zurückziehen“ (Hildenbrand 2009, S. 271). Weitere Möglichkeiten, der Zeitfalle zu entgehen, beziehen sich auf die Nutzung von medialer Erreichbarkeit. Viele kennen womöglich den Kampf gegen den täglichen E-Mail-Wahnsinn. Einige Unternehmen 279 dorett funcke haben darauf reagiert. So stellt der Konzern Volkswagen von 18.15 bis 7.00 Uhr auf den Smartphones der beschäftigten Mitarbeiter(innen) die E-Mail-Funktion ab. Daimler-Mitarbeiter(innen) können E-Mails, die sie im Urlaub erhalten, automatisch löschen. Bei Henkel geht der Chef mit gutem Beispiel voran. Er lese am Wochenende grundsätzlich keine E-Mails. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Doppelcharakter der Familie. Die Familie kann beschrieben werden als eine Gruppe von Menschen, die sich gegenüber ihrer Umgebung abgrenzt, gleichzeitig aber auf die Umwelt, die Gesellschaft bezogen ist. Ihre Aufgabe ist, zum einen Gesellschaftsmitglieder zu sozialisieren, also Anpassung an die Gesellschaft, und zum anderen die Integration aller Familienmitglieder, das meint die Abschirmung nach innen. Wenn wir diesen Doppelcharakter bedenken, also Integration nach innen und Anpassung nach außen, dann scheiden zwei Auswege aus, um in der Beschleunigungsgesellschaft mit dem Zeitproblem zurechtzukommen. Keine Alternativen sind zum einen die Flucht aus der Gesellschaft in den Binnenbereich der Familie. Auch keine Alternative ist zum anderen die Auflösung der Familiengrenze und die Totalöffnung hin zur Gesellschaft. „Wo der Eskapismus nicht in ein gesellschaftliches Abseits führt, sondern sich die Akteure mit den Mühen der Ebenen auseinandergesetzt haben, wie zum Beispiel die Zurück-aufs-LandBewegung, sind die früheren Aussteiger Tourismusunternehmer, Landwirte, Zwischenhändler ländlicher Produkte, Genossenschaftsmitglieder, Bürgermeister etc., die ihren Weg zwischen Rückzug und kapitalistischer Betriebsamkeit suchen und dabei zu einem beachtlichen Faktor des Erhalts ländlicher Strukturen geworden sind“ (Hildenbrand 2009, S. 277). Ein Beispiel: In Süddeutschland haben Unternehmer(innen), Wissenschaftler(innen) und Angestellte einen Ort gegründet, in dem das Leben sozial gerecht, nachhaltig und demokratisch zugehen soll. Tempelhof ist ein Aussteigerdorf. Eine Ansammlung von Häusern im bayerisch-baden-württembergischen Grenzgebiet. Zur Gruppe der Gründer gehören 20 Frauen und Männer aus München. Sie feilten an der Dorfsatzung, arbeiteten ein Geflecht aus Stiftung, Genossenschaft und Verein aus. Bei Google, der Suchmaschine im Internet, gaben sie „Dorf kaufen“ ein. Sie fanden den Tempelhof: ein Schlossgut mit 30 ha Land, was einmal ein Behindertenheim war, dann stand es einige Jahre leer. Heute leben 85 Erwachsene und 27 Kinder im Dorf. Auf dem Tempelhof finden sich Imkerei, Bäckerei, Käserei, Schreinerei, Schlosserei, 280 entschleunigte familien? Dorfcafé, Waldkindergarten, bald auch eine Schule. Also: Ein funktionierendes Dorf. Doch taugt es deshalb als Modell für die echte Welt? Riskant ist das Unternehmen deshalb, da der Aussteiger riskiert, alle Anschlüsse zu verpassen. Wenn er nach einigen Jahren zur Rückkehr in die Mainstream-Gesellschaft bereit ist, sind seine Ressourcen hoffnungslos veraltet. Auch die Erwartung, sich auf dem Tempelhof der Beschleunigungsgesellschaft zu entziehen, ist eine Illusion. Von Entschleunigung und Ruhe sprechen die Tempelhofbewohner nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Da es im Dorf urdemokratisch zugeht, gibt es viele Sitzungen, Ausschüsse und Plenen. Das hat Folgen: Ein Bauer berichtet, er sei sehr müde. Die Schulbeauftragte erzählt, sie stehe kurz vor einer Erschöpfungsdepression. Ein Dritter erklärt, er wolle nach seinem Urlaub noch ein bisschen allein sein, nicht sofort in den „Strudel des Getriebenseins“ geraten – also kein Ferienidyll und keine „Entschleunigungsoase“ (Rosa 2005), in der man Ruhe vor der hektischen Betriebsamkeit der Welt findet. Ein anderes Extrem, mit dem auf die Beschleunigungsgesellschaft reagiert werden kann, ist die Auflösung der Familiengrenze. Die Auflösung der Familiengrenze führt zur Abwesenheit der Eltern in der Familie. Dazu zwei Beispiele: zum einen die kollektive Kindererziehung. Die kollektive Kindererziehung ist uns aus der Kibbuz-Bewegung bekannt, die zur Aufbauzeit des israelischen Staates zählt. Die Kibbuz-Bewegung ist bekanntlich „mit dem Ziel angetreten, die Erziehung von Kindern der Gemeinschaft zu überlassen“ (Hildenbrand 2009, S. 277). Die Kinder im Kibbuz sahen ihre Eltern regelmäßig, aber eben nur in der Kibbuz-Öffentlichkeit und am Wochenende. „Diese Struktur der öffentlichen Erziehung hat ihre charismatische Gründerzeit nicht überstanden“ (ebd.). Ein Grund dafür: Da es im Kibbuz-Kollektiv keine Privatheit, eben keinen Abschluss der Familie nach innen geben kann, gibt es auch keine Geborgenheit.2 Zunehmend rückt noch eine andere alternative Form in den Vordergrund, um das familiale Zeitregime zu steuern. Die Auslagerung der Familienarbeit an professionelle Dienste. So wie es Firmen tun, so tun es Arbeitnehmer(innen) mit Teilen ihres Familienlebens, um Zeit zu gewinnen. Familiäre Aktivitäten werden quasi outge- 2 Empfohlen werden kann hier der Roman von Amos Oz „Unter Freunden“, Suhrkamp 2013. 281 dorett funcke sourct. Viele dieser Dienstleistungen werden ganz selbstverständlich in Anspruch genommen: zum Beispiel die Kinderbetreuung, das Sommercamp oder die Putzfrau, die nicht selten aus dem Ausland kommt. Und für die wirklich Vermögenden gibt es Haushaltsmanager, die eine ganze Mannschaft von Helfern steuern. Wenn aber nun die Flucht aus der Gesellschaft einerseits (siehe Tempelhof), aber auch die Auflösung der Familiengrenzen andererseits als Auswege nicht anzuraten sind, dann stellt sich folgende Frage: Über welche Strategien verfügen Familien, um der Beschleunigung zu entkommen bzw. um dem beschleunigten Tempo der Gesellschaft stand zu halten? 5. Alternative Auswege aus der Zeitfalle Von den konventionellen Wegen habe ich mit Bezug auf Bruno Hildenbrand schon berichtet. Dazu zählen u. a. „ein solides Grenzregime, Bezogenheit auf Nachbarschaft und Verwandtschaft“ (ebd.), Arbeitszeit reduzieren. Was aber nun, wenn die Beschleunigung diese konventionellen Strategien zunehmend bedroht? Welche anderen Strategien sind denkbar? Bruno Hildenbrand verweist hier auf den Philosophen Herrmann Lübbe, der zwei Bewältigungsstrategien beobachtet hat (vgl. Hildenbrand 2009, S. 278). Was sich in unsicheren und schnellen Zeiten herauszubilden beginnt, ist ein Konservatismus, eine Rückkehr zur Konformität. „Wir kehren kompensatorisch hervor, was im Wandel der Dinge den Vorzug größerer zeitüberdauernder Konstanz hat“ (Lübbe 1994, S. 162). Dieser Konservatismus trete dann hervor, wenn uns die prekären Nebenfolgen des Fortschritts zu schaffen machen. So ist zum Beispiel interessant zu beobachten, dass die intakte Kleinfamilie zum höchsten Ideal der Lebensführung erklärt wird. In der Jugend-Shellstudie 2012 geben 75 Prozent der weiblichen und 65 Prozent der männlichen Befragten an, eine Familie zum Glücklichsein zu brauchen. Auch kann man einen „Traditionalisierungsschub im Geschlechterverhältnis“ (Koppetsch 2013) beobachten. In Zeiten der Unsicherheit und Beschleunigung erscheint die klassische Familie mit ihren klaren Rollenvorgaben als „Garant für Stabilität und Grenzerhaltung“ (ebd.). Alternative Lebensformen erfahren eine Entwertung. 282 entschleunigte familien? Ein weiteres für die Familie relevantes Moment – so der Philosoph Hermann Lübbe – sei die Historisierung. Beispiele dafür sind das Interesse an Familiengeschichte, an Stammbäumen und an anderen Zeugnissen aus der Vergangenheit der Familie. Wenn das Bild einer mehrere Generationen umfassenden Familie zu Stammbäumen gerinnt, dann wird der Fluss der Zeit aufgehoben. Die Familie saugt als generationenübergreifende Größe die Zeit ein. Die Zeit ist still gestellt durch die vordergründige Thematisierung von Zeit. Wer schon einmal einen eigenen Stammbaum gezeichnet hat oder Daten dafür zusammengetragen hat weiß, was gemeint ist. „Wir erhalten auf diese Art, sich mit der Familie zu beschäftigen, unsere eigene, uns immer rascher fremd werdende Vergangenheit als eigene Vergangenheit aneignungsfähig, und halten so erzählbar, wer wir sind“ (Lübbe 1994, S. 162). Mit Bezug auf den Erziehungswissenschaftler Michael Winkler sollen noch drei weitere Strategien genannt werden. Erstens, sich mit anderen Familien zusammentun. Erleichterung kann verschaffen, wenn Eltern und Kinder in „mitleidender Solidarität“ sich über die „pädagogische Kunst des Ausbalancierens unterschiedlichster Ansprüche“, die anstrengen, zur Übermüdung und Überforderung führen können, sich wechselseitig austauschen (Winkler 2012, S. 139). Zweitens, professionelle Hilfsangebote pragmatisch in Anspruch nehmen. Die Jugendämter und Erziehungsberatungsstellen verfügen mittlerweile über ausdifferenzierte Hilfeformen, die keineswegs generell mehr als prekär und diskriminierend erfahren werden. Ohne die „Aktivitäten und Wirkungen der Erziehungshilfen […] schön zu reden […], zeigen [sich – D. F.] beeindruckende Ergebnisse“. Drittens, „reflexive Elternschaft“ (Burkart 2007). Hier geht es um ein Nachdenken der Eltern über ihre familiäre Lebenspraxis. Zu resümieren, was über den Tag hinweg in der Familie geschehen ist, ermögliche ein „Innehalten gegenüber idealisierten Normalitätserwartungen und gegenüber Optimierungsvorstellungen“ (vgl. ebd., S. 153). Und schließlich: Resistenz bzw. Widerständigkeit gegen Beschleunigung ist Grenzsicherung. Grenzsicherung geschieht in Interaktionen, die Zeit brauchen. Ein wesentliches Medium der Interaktion ist das Gespräch (Berger/Kellner 1965). Das alltägliche Gespräch schafft Ordnung. Das, was wir erlebt haben, wird durch die Erzählung in Form einer Geschichte als Erfahrung verankert 283 dorett funcke und bleibt in der Erinnerung weitgehend erosionsbeständig. So haben zum Beispiel Tischgespräche als eine Form des geselligen Beisammenseins eine stabilisierende Funktion. Denn, wenn man sich zu einer „Mahlzeit“ zusammenfindet, dann konsumiert man nicht nur Speisen und Getränke, sondern man widmet sich der Konversation und Diskussion, man tauscht Informationen und Meinungen aus, erzählt Geschichten und/oder vollzieht vielleicht auch religiöse Zeremonien (Hirschman 1997). Aber Gespräche brauchen Zeit. Die Gesprächspartner müssen sich koordinieren. Zeitpläne müssen abgestimmt werden, Muße ist notwendig. Nur so können emotionale Bindungen, Vertrauen und Fürsorge entstehen. 6. Die Familie – eine antiquierte Institution? Familie ist ein auf Interaktion, Kommunikation angelegter Zusammenhang. Familien agieren nicht auf ein Ziel hin. Sondern Familien haben ihr Ziel in sich selbst, u. a. Kindern einen Rahmen zu bieten, in dem sie angemessen aufwachsen und in Muße beim Entdecken ihrer Welt Krisenerfahrungen machen können. Dazu brauchen Familien Zeit. Diese Zeit steht in Konkurrenz zu anderen Zeitregimen. Diese Konkurrenz, die zum Beispiel das Berufsleben mit sich bringt, ist auch mit flexiblen und sogenannten bedarfsorientierten Kinderbetreuungsangeboten nicht zu beseitigen. Die Frage ist, in welche Richtung sich die deutsche Gesellschaft entwickeln wird. Wie wird die Realität von Familien in einer flexibilisierten Arbeitswelt aussehen? Wird die Arbeitswelt über die Familie dominieren? Kommt es zum Schwund von Familie und Gemeinschaft? Oder kommt es zu einer Reformulierung des Problems der Balance von Arbeit und Leben? Das Kräftefeld und dessen Dynamik, in dem der Wandel von Zeitstrukturen stattfindet, sind nur schwer abzuschätzen. „Familie zählt“ könnte heißen, zugunsten einer „Einheit der Vergemeinschaftung“ (Günter Burkart) Einschränkungen im Beruf zu akzeptieren, Geselligkeit praktizieren, die sich um Tempomaximierung nicht kümmert. Anstatt „Elternschaft als universalisierte[r] Hektik“ (Tilmann Allert) zu betreiben, soll dem Kind eine Erkenntnisbildung in der Entrücktheit der Zeit erlaubt sein. Also was ist sozialisatorisch geboten? Singen, Tanzen, Springen, vielleicht auch Beten. Eine 284 entschleunigte familien? Elternschaft, die behutsam drei Dinge enthält: Liturgie, d. h. Zeremonien wie das allabendliche Vorlesen einer Geschichte; Riten, wie gemeinsame Gespräche bei den Mahlzeiten; Trost und Muße als atmosphärische Rahmung der moralischen Reifung; Ernst statt Clownerie und Verkleidung. Letztlich liegt auch viel daran, wie viel Widerständigkeit die Akteure gegen den Sog der Beschleunigung aufzubringen imstande sind und auch daran, welche Kosten sie dafür bereit sind zu zahlen. Die Frage danach, wie wir leben möchten, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen. Vielleicht können wir von einigen Familien das „Projekt vom guten Leben“ (Burkart 2013, S. 404) lernen, in dem „Lebenssinn weniger als Selbstverwirklichung im Beruf, sondern eher als Eingebundensein in der privaten Lebenswelt – Familie, Freunde, Verwandtschaft – verstanden wird“ (ebd). 285 dorett funcke Literatur Burkart, Günter (2007): Eine Kultur des Zweifels: Kinderlosigkeit und die Zukunft der Familie. In: Konietzka, Dirk/Kreyenfeld, Michaela (Hg.): Ein Leben ohne Kinder. In: Kinderlosigkeit in Deutschland. Burkart, Günter (2013): Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungstrends für Familie und private Lebensformen der Zukunft. In: Krüger, Dorothea/ Herma, Holger/Schierbaum, Anja (Hg.): Familie(n) heute. Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen. Beltz Juventa Verlag, S. 392–411. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus. Freyermuth, Gundolf S. (2000): „Digitales Tempo. Computer und Internet revolutionieren das Zeitempfinden. In: c’t, magazin für computer technik, Heft 14, S. 74–81. Funcke, Dorett; Hildenbrand, Bruno (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag Hildenbrand, Bruno (2009): Familie und Beschleunigung. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Jg. 10, Bd. 2, S. 265–281. Hochschild, Arlie (2006): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. VS. Koppetsch, Cornelia (2013): Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Campus. Lasch, Christopher (1987): Geborgenheit. Die Bedrohung der Familie in der modernen Welt. München: dtv. Lenz, Karl (2009): Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft? In: Burkart, Günter (Hg.): Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien. Verlag Barbara Budrich. Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6, S. 73–90. Lübbe, Hermann (1994): Gegenwartsschrumpfung. In: Backhaus, K./Bonus, H. (Hg.): Die Beschleunigungsfalle oder Der Triumph der Schildkröte. Stuttgart, S. 131–164. Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 7. Aufl. 2003. Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2009): Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. 4. Aufl. Wiesbaden: VS. 286 entschleunigte familien? Oz, Amos (2013): Unter Freunden. Suhrkamp. Reiss, David (1981): The Family's Construction of Reality. Harvard University Press. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp. Wimbauer, Christine (2012): Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit. Campus. Winkler, Michael (2012): Erziehung in der Familie. Innenansichten des pädago gischen Alltags. Kohlhammer. 287 U bettina hünersdorf (Un)sichtbar kindgerecht Privatheit und Öffentlichkeit von Familie Frauen und Kinder wurden in einer bürgerlichen Familie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der Erwerbsarbeit freigestellt, um den Fokus auf die Reproduktion und damit auf Erziehungs- und Sorgeaufgaben zu legen (Baader 1996). Dadurch wird Familie in der bürgerlichen Gesellschaft in die Privatsphäre verbannt und der Öffentlichkeit entzogen. Insofern Erziehung und Sorge immer schon gesellschaftliche Erwartungen reproduzierte, muss diese säuberliche Trennung von privat und öffentlich infrage gestellt werden. „Der Staat nimmt ,[…] eine zentrale Rolle in der Kontrolle der Erziehungstätigkeit ein, in dem er eine normalistische Lebensweise fordert und die Abweichungen überwacht“ (Demirovic 2004, S. 1), denn bei Kindern finden Ereignisse, die die Normalitätsvorstellungen verletzen, vorwiegend in der Familie statt (Bode/Turba 2014, S. 17). Dabei fallen insbesondere benachteiligte Familien in den Blick, da bei diesen häufiger Gefährdungseinschätzungen aufgrund von Vernachlässigung beobachtet werden und der Bereich der Überforderung gerade hier eine große Rolle spielt. Inobhutnahmen haben insbesondere aufgrund von ‚Überforderung‘ zugenommen, wobei dieses eine Kategorie ist, die einen hohen Interpretationsspielraum hat (vgl. Gadow u. a. 2013, S. 171).1 Ich werde bei meinen folgenden Ausführungen auch den Fokus auf Fälle der Vernachlässigung legen, die 2/3 aller Fälle von Kindeswohlgefährdung ausmachen.2 1 „Offensichtlich gibt es, was das Aufwachsen von Kindern betrifft, ein sich permanent erneuerndes lebensweltliches Krisenpotenzial. Insofern bestehen in der Gegenwartsgesellschaft, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht, „Probleme ohne Ende“ (Bode/Turba 2014, S. 21). Zwar wird in verstärktem Maße auf diese Endlosigkeit der Probleme reagiert, aber offen bleibt, ob damit der Kinderschutz besser geworden ist (Höynck/Haug, 2013, S. 171). 2 Unter Vernachlässigung ist ein chronisches „Ausbleiben eines andauernden oder wiederholt lebensnotwendigen fürsorglichen Handelns von sorgeverantwortlichen Personen für die Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes [zu verstehen, B. H.]. In Deutschland gab es 2012 insgesamt 106.623 Verfahren zur Gefähr- dungseinschätzung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, dies entspricht (inklusive Mehrfachmeldungen) 289 bettina hünersdorf Im Kontext öffentlich werdender Fälle von Kinderschutz wird das romantische Bild des schutzbedürftigen Kindes hochgehalten und die Familien als abweichende Familien in die Öffentlichkeit gerückt und damit für jede(n) sichtbar gemacht. Eltern werden als Täter(innen) und das Kinder als Opfer dargestellt, vor allem, wenn es sich um tödliche Kinderschutzfälle handelt. Dem Kind gerecht scheint es zu sein, wenn minutiös das Grauen des Mords an den Kindern dargestellt wird. Diesem Grauen möchte ich im Folgenden, wenn ich über den Kinderschutzfall Lea-Sophie aus Schwerin spreche, auf keinen Fall leugnen. Ich möchte vielmehr nach den gesellschaftlichen und situativen Bedingungen fragen, die dazu führten, dass Eltern das Verhungern ihres Kindes nicht verhindern konnten. Diese Frage muss gestellt werden, um eine Wiederholung zu verhindern. Analog zur Hannah Arends Ausführungen über den Eichmannprozess in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Bericht zur Banalität des Bösen“ möchte ich darauf hinweisen, dass eine isolierte und detaillierte Schilderung des Grauens das Geschehen soweit aus dem Alltagsleben der Menschen rückt, dass kaum jemand mit einem solchem Kinderschutzfall etwas zu tun haben könnte, weil es zunächst als ein isolierter Einzelfall gesehen wird, obwohl die Gewalt gegenüber den Kindern zum deutschen Alltag gehört. Dass die Sorge der Eltern zum Wohl des Kindes nicht gänzlich selbstverständlich ist, wie es in der bürgerlichen Familie unterstellt wird, wird durch die Institutionalisierung der Hilfen zur Erziehung, welche rechtlich im KJHG grundgelegt ist, zum Ausdruck gebracht. Eltern werden Unterstützungsleistungen im Hinblick auf Erziehung geboten und Kindern ein Recht auf Erziehung zugesprochen. Im Kontext des Kinderschutzes wird dieses Sorgeverhältnis häufig der „Logik des Verdachts“ (Hildenbrand 2009) unter- 290 0,8 % der unter 18-Jährigen in Deutschland (vgl. StaBu 2013). Bei gut 2/3 dieser Fälle handelt es sich um Fälle von Vernachlässigung. Als Ursachen werden folgende Risikofaktoren angegeben: „materielle Belastungen (Armut), soziale Belastungen (Isolation), persönliche Belastungen der Eltern (ungewollte Schwangerschaft, Sucht, eigene Deprivationserfahrungen), familiale Belastungen (anhaltende Paarkonflikte) oder auch die Persönlichkeit des Kindes (z. B. Krankheitsanfälligkeit“ (Kinderschutzbund 2014). (un)sichtbar kindgerecht worfen.3 Das heißt, Eltern werden verdächtigt, nicht hinreichend gut oder sogar schädlich für das Wohl des Kindes zu sein. Die damit einhergehende Viktimisierung der Kinder und Infragestellung, bisweilen auch Pathologisierung der Eltern haben nicht nur Auswirkungen darauf, dass Kinder selbst nicht sprechen dürfen, sondern es wird den Eltern auch noch das anwaltschaftliche Sprechen für die Kinder teilweise entzogen, da sie als die Kinder gefährdend wahrgenommen werden. Stattdessen sollen die Expert(inn) en des Jugendhilfesystems die Sozialarbeiter(innen), Psycholog(inn)en etc. dieses übernehmen. Deswegen verwundert es nicht, dass gleichzeitig mit dem neuen Aufflammen des Kinderschutzes in den 90er Jahren auch die Kinderrechte zunehmend zum Thema wurden: Denn die neue Form der Thematisierung des Kinderschutzes nimmt die Kinder – noch weniger als dies vorher bei den Hilfen zur Erziehung der Fall gewesen war – als mit Rechten ausgestattete Akteure wahr. So wird aber von der Kinderrechtsbewegung die abhängige Stellung der Kinder von den Erwachsenen kritisiert und von einer strukturellen Diskriminierung von Kindern ausgegangen. Die generalisierte Perspektive der Erziehungs- und Schutzbedürftigkeit von Kindern würde der Gerechtigkeitsperspektive insofern widersprechen, da sie verhindert, Kindheit als eigenen Status zu betrachten. Trotz der UN-Kinderrechtskonvention würde aber die Jugendhilfe die Rechte der Kinder über die Rechte der Eltern und deren Erziehungs- und Betreuungskompetenzen stärken (vgl. Liebig 2013, S. 34).4 Stattdessen bedeute Kindergerechtigkeit, die Kinder als Subjekte wahrzunehmen, damit Kinder durch den Schutzauftrag nicht von weiten Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden und gerade dadurch geschwächt werden (Liebig 2013, S. 83). Erwachsene 3 Seit einigen Jahren wird aber einerseits gefordert, dass möglichst frühzeitig und hart eingegriffen wird, ande rerseits wird das Jugendamt aber auch kritisiert, da es sich in die Privatsphäre einmischt. 4 „Nach dem neuen Kindschaftsrecht müssen Kinder zwar in sorgerechtlichen Verfahren angehört werden (was nach gängiger Rechtspraxis ab dem 4. Lebensjahr geschieht) und ab 14 Jahren können sie gegen familienge- richtliche Entscheidungen Beschwerde einlegen, aber sie haben keine eigene Entscheidungskompetenz. Dies bedeutet eine Einschränkung der Gerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung mit Erwachsenen und der Überwindung von Benachteiligung bei der Gewährung und Ausübung politischer und bürgerlicher Rechte“ (Liebel 2013, S. 34). Auch alle anderen Reformen wie das Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz von 2008 und das Bundeskinderschutzgesetzt haben daran nichts geändert. 291 bettina hünersdorf sollten aber nicht aus der Verantwortung für die Kinder entlassen werden, sondern Kinder sollten nicht entmündigt werden.5 Aus der Perspektive von Liebig bedeutet Gerechtigkeit aber nicht nur Rechte zu haben und diese selbst in Anspruch zu nehmen (vgl. Liebig 2013, S. 21), sondern Gerechtigkeit muss auch als ein relationales Verhältnis verstanden werden6 (ebd.). Das bedeutet aber, dass eine starke Kinderrechtsposition mit der Gefahr einhergeht, die Kinderrechte gegen die Elternrechte auszuspielen. Gerade weil das Elternrecht an die Kompetenzen der Eltern gebunden ist, erhalten auch die Eltern nur eine bedingte Anerkennung. Sie haben die Möglichkeit, Unterstützung zur Erziehung zu erhalten, müssen aber dann entscheiden, was sie im Kern über ihr Privatleben veröffentlichen, um die Unterstützung zu bekommen, die sie für ihr Kind brauchen. Das bedeutet, dass Eltern sich eingestehen müssen, nicht gut genug zu sein, d. h. keine ausreichende Fähigkeit als Eltern zu haben. Falls sie auch nicht fähig sind, diese an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen und die damit einhergehenden Fähigkeiten zu lernen, sogar die Bereitschaft haben, das aktive Elternrecht abzugeben. Gerade darin würden sie sich als verantwortlich gegenüber dem Kind zeigen. Dabei wird aber davon ausgegangen, dass jede(r) die Fähigkeit hat, dieses zu lernen, aber nicht jede(r) die Lernbereitschaft hat. Lernbereitschaft bedeutet, den gesellschaftlichen Erwartungen guter Elternschaft entsprechen zu wollen. Damit wird Elternschaft pädagogisiert und dem Jugendhilfesystem unterworfen. 5 Aber wie viel Verantwortung haben Kinder, wenn sie auf Augenhöhe mit Erwachsenen sich auseinandersetzen, und was ist hier mit Verantwortung gemeint? Liebel sieht eine Lösung darin, „nicht vorwiegend“ die Schutzbedürftigkeit von Kindern an sich infrage zu stellen, aber den Blick auf deren Bewältigung durch aktives Handeln zu richten (vgl. Liebel 2013, S. 94). Zugleich wird diese Perspektive auch wieder relativiert, wenn er schreibt, „dass dieses nicht allen Kindern gegenüber in gleichem Maße möglich“ sei und möglicherweise auch Kindern in Obhut genommen werden sollten. 6 Dabei grenzt er sich von Elisabeth Holzleithner ab, die Gerechtigkeit dadurch bestimmt, dass diese primär für Beziehungen unter Menschen relevant sei und angebe, „was wir einander wechselseitig schulden: an Verhalten, an Gütern und Lasten, an Rechten und Pflichten […] sie kommt dann ins Spiel, wenn menschliche Bedürfnisse und Interessen divergieren oder sich auf dieselben knappen Güter richten“ (Holzleithner 2009, S. 7 in Liebel 2013, S. 21). Liebel wendet gegen diese Definition ein, dass es nicht um subjektive oder objektive Zustände ginge, sondern vielmehr um gerechte Verhältnisse zwischen den Menschen und was sie einander schulden (vgl. ebd. f.). 292 (un)sichtbar kindgerecht Die Jugendhilfe trägt dazu bei, dass sich Eltern für die verantwortete Elternschaft qualifizieren, um sie dann in der Familie auszuüben. Elternschaft ist aber nur bedingt Privatsache, sondern vielmehr staatliches Anliegen, weil Eltern, insbesondere Mütter, als Anbieter einer Ware auftreten: der „Reproduktionskraft“ in einem Sozialstaat. Im Kontext eines sozialinvestiven Staates werden Kinder als potenzielles Humankapital und damit als „öffentliches Gut“ begriffen, in das es gesellschaftlich zu investieren gilt (Olk 2011, S. 161, Nave-Herz 2012, S. 36), sodass die Verfügungsgewalt des Staates über die Sorgeverhältnisse gegenüber den Kindern steigt. Entsprechend heißt es bei der OECD: „Die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Investitionen auf die frühkindliche Phase und auf sozial schwache Kinder dürfte auch mit hoher Wahrscheinlichkeit ein wirksames Mittel sein, um der Abhängigkeit der Erfolgschancen der Kinder von der Situation ihrer Eltern – das heißt der intergenerationalen Transmission von Benachteiligungen – entgegenzuwirken, was in vielen Ländern ein Anliegen ist (http://www.oecd.org/dataoecd/10/15/43554489.pdf). Damit wird aber strukturell die Möglichkeit eröffnet, die Rechte der Eltern zu schwächen. So heißt es in § 6 BGB, § 1 Abs. 2 BKiSchG „Pflege und Erziehung der Kinder und Jugendlichen sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Bestätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Ich vertrete aber die These, dass das Ziel, zukünftig Kinder aus benachteiligten Familien die Möglichkeit zu geben, selbst nicht mehr benachteiligt zu sein, nicht gegen, sondern nur mit den Eltern gelingen kann. Das setzt aber voraus, dass Eltern Gelegenheitsstrukturen und Verwirklichungschancen haben, gute Eltern zu sein (vgl. Sen 2002, S. 31). Nach dem libertären Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit ist aber die Handlungsfreiheit sowohl im instrumentellen Sinne als auch als Selbstzweck von zentraler Bedeutung (Oelkers/Schrödter 2010, S. 157). Bei einem Elternrecht als ein bedingtes Recht kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen für eine Befähigungsgerechtigkeit gegeben sind. Eltern haben weder in der Verfassung noch im Kontext des Kinderschutzes ein eindeutig verbürgtes aktives Elternrecht, wenn auch das KJHG weitestgehend das Leistungsrecht für Eltern betont. Sobald aber ordnungsrechtlich eingegriffen wird, erlischt das Leistungsrecht (vgl. Münder et al. 2003, S. 82). Darüber hinaus kann mit den Einsparungen in den öffentlichen Kassen der Grundgedanke des Leistungsrechts des KJHGs kaum noch befriedigt ausgeübt 293 bettina hünersdorf werden, sodass Leistungsrechte zurückgedrängt und zugleich die Notwendigkeit des Kinderschutzes betont wird. Das macht es Eltern gegenüber der Jugendhilfe schwerer, über Probleme der Sorge oder der Erziehung zu sprechen, da sie um ihren potenziellen Verlust des Elternrechts und – wie ich gleich noch zeige – um ihre potenzielle Kriminalisierung wissen, die dann eintritt, wenn sie nicht bereit sind, ihre Elternrechte zugunsten des Wohls des Kindes teilweise aufzugeben. In diesem Moment werden sie nicht mehr als die Kinder schützende, sondern sie gefährdende Personen wahrgenommen. Als solche, dürfen sie zwar sprechen, aber durch die Logik des Verdachts werden sie häufig nicht gehört. Dabei ist die Nachricht, die an sie gerichtet wird, paradox: Zeige, dass du Verantwortung übernimmst, indem du aufzeigst, dass du Hilfe brauchst; aber je mehr du an Hilfe erwartest, desto mehr musst du das Leben führen, wie es von uns erwartet wird. Anders gesagt, für Benachteiligte, die mehr Hilfe zur Autonomie brauchen, konstituiert gerade diese Hilfe insbesondere eine Abhängigkeit von anderen (Heteronomie), die mit der Kindzentrierung tendenziell schon in jeder Familie zu beobachten ist. Das eigene Leben wird dann als Geführtes gelebt (Nassehi 2003) (Konformitätsdruck). Eltern können dann nur ihren Anspruch auf das aktive Elternsein aufgeben, oder sie müssen akzeptieren, kriminalisiert zu werden. Die Eltern haben als potenzielle Täter(innen) kaum Fürsprecher(innen), geschweige denn, dass ihnen eine Chance gelassen wird, für sich selbst zu sprechen. Wird das den Kindern aus benachteiligten Familien gerecht? Oder entsteht Gerechtigkeit nicht gerade dadurch, dass Verwirklichungschancen der Kinder auf eine gute Kindheit und der Eltern auf eine gute Elternschaft erhöht werden, indem beiden eine Befähigungsgerechtigkeit zuteil wird, was deren Handlungsfreiheit sowie die objektiven Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen, voraussetzt. Anders gesagt, erscheint es zur Förderung des Wohls der Kinder notwendig zu sein, eine intersektionale Perspektive einzunehmen. Es stellt sich auch die Frage, ob jedes zu Sehen-Geben und entsprechend Gesehen-Werden emanzipativ ist, wie es im Kontext der sozialen Rechtsbewegung häufig zu sein scheint, oder ob es besonderer Bedingungen dafür bedarf. Wie kann die (stellvertretende) „Forderung nach Anerkennung einer gesellschaftlichen und gesellschaftlich relevanten, d. h. mit Rechen und politischer/gesellschaftlicher Macht ausgestatteter Existenz“ (Schaffer 2010, S. 12) gelingen? Im Folgenden wird im ersten Schritt dargestellt, was unter Sichtbarkeit und 294 (un)sichtbar kindgerecht Unsichtbarkeit oder Sagbarkeit und Schweigen zu verstehen ist, um daraus eine methodische Perspektive auf den Fall Lea-Sophie zu ermöglichen. Im zweiten Schritt wird am Beispiel eines Zeitungsartikels die Falldarstellung von Lea-Sophie in der Öffentlichkeit problematisiert. Im dritten Schritt wird der Fall Lea-Sophie so dargelegt, dass es ermöglicht wird, die Eltern und Lea-Sophie anerkennend sichtbar zu machen. Zum Schluss stelle ich die strukturellen Probleme dieses Falles dar. 1. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Diskurs Der Diskurs zeichnet sich nach Foucault durch implizite Regeln aus, die definieren, was für ein bestimmtes Wissensgebiet gesagt und was nicht gesagt werden kann. Dabei wird auch definiert, von wem etwas gesagt werden kann und in welcher Form. So macht es z. B. einen Unterschied, ob ein(e) Wissenschaftler(in) von Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern spricht, verantwortungsvolle Eltern zu sein, oder ob die Eltern es selbst sagen. Die gleiche Aussage kann durch die Ausstattung mit der Autorität des Wissens eher Gehör bekommen und auch die Form, wie dieses gesagt wird, durch den Verweis auf wissenschaftliches Arbeiten erhöht die Wahrscheinlichkeit, als relevant wahrgenommen zu werden. Da Diskurse Realität erzeugen und strukturieren, ist es wichtig, eine Diskursanalyse durchzuführen, die aufzeigt, was zu einem bestimmten Zeitraum gesagt werden kann (vgl. Foucault 1981, S. 74). Der Diskurs reduziert die Pluralität von Möglichkeiten zu einer, die sich als wahr begreift und andere Möglichkeiten ausschließt. So ist es z. B. sehr brisant, im Kontext von Kinderschutzfällen Kinder nicht nur als Opfer zu betrachten, sondern ihren Beitrag an der Eskalation mit in den Blick zu nehmen; umgedreht scheint es moralisch schwierig zu sein, auch die Eltern als Opfer zu betrachten. Diese Stimmen, die das Andere des Diskurses repräsentieren, stehen in der Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Häufig wird mit der Möglichkeit zu sprechen Emanzipation verbunden, aber ich werde aufzeigen, dass es auch gegenteilige Effekte haben kann. Denn durch Geständnispraktiken wie in der Sozialen Arbeit, im Gericht etc. kann überprüft werden, inwieweit die Adressaten den Erwartungen entsprechen, die z. B. durch das Jugendhilfesystem an sie herangetragen werden. Und ggf. kann bei Abweichung interveniert werden 295 bettina hünersdorf (vgl. Schaffer 2008, S. 52). Häufig wird nicht mehr wahrgenommen, dass das, „was sichtbar ist, zugleich Produkt diskursiver Prozesse des Zu-Sehen-Gebens ist“ (Schaffer 2008, S. 53). Es geht dann eher um eine Zwangsdiskursivierung marginalisierter Lebensweisen und damit um eine bedingte Anerkennung eben an bestimmte Voraussetzungen gebunden Form der Anerkennung (vgl. Schaffer 2008, S. 21). Mit der Zwangsdiskursivierung geht einher, das Schweigen zu verbieten. Das zwanghafte Einführen privater Erfahrungen in dem öffentlichen Raum, das marginalisierte Personen bisweilen selbst betreiben, trägt zur Privatisierung des Politischen bei, wodurch die Bedingungen, die zur Marginalisierung führen, entpolitisiert werden (vgl. Schaffer 2008, S. 57). Das Sprechen der Eltern wird häufig für stereotypisierende Darstellungen hervorgebracht. Es kommt also nicht nur darauf an, ein Recht zu sprechen zu haben, das ist den betroffenen Eltern in den Kinderschutzfällen durchaus möglich, sondern, dass die Eltern so positioniert sind, dass sie in ihrem Anliegen gehört werden (vgl. Spivak 1996, S. 306). Es geht dann darum, mit den marginalisierten Eltern zu sprechen und ihnen subversiv zuzuhören, sodass das Ungesagte erscheinen kann (vgl. Dhawan 2005, S. 6, Lyotard/Thebaud 1985, S. 72). Ich werde zunächst die Sichtbarkeit der Kinder und Eltern als eine stereotypisierende und pathologisierende Darstellungsform in den Medien beschreiben, mit der nur eine bedingte Form der Anerkennung im Sinne des Gesehen-Werdens einhergeht. Vielmehr stellt diese Form des öffentlichen Darstellens eine Form des Elendsvoyeurismus dar. Diese Darstellungsform ist insofern affirmativ, als sie eine vorherrschende Repräsentation über Familien in Kinderschutzfällen wiederholt. Ich werde im Folgenden am Beispiel aus einem Spiegel-Online-Artikel exemplarisch diese Form der Repräsentationsordnung am Beispiel von Lea-Sophie aufzeigen. Es geht um die Analyse, wie uns von wem etwas zu sehen gegeben wird. 2. Zur stereotypisierenden Darstellung von Eltern und Kindern in den Medien am Beispiel einer Berichterstattung der Verurteilung der Eltern Lea-Sophies im Gericht Jörg Diehl schreibt als Headline des Artikels „Mörderisches Prinzip Hoffnung“: Der Autor betitelt den Bericht mit Hoffnung. Durch das Prädikat mörderisch, 296 (un)sichtbar kindgerecht wird die Hoffnung so klassifiziert, dass das, was Hoffnung normalerweise ausmacht, eben eine zuversichtliche innere Einstellung mit einer positiven Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes in der Zukunft eintritt, desavouiert. Damit wird das, was die Eltern ‚vermeintlich‘ geleitet hat, schon im Titel des Berichtes bloßgestellt. Der Bericht selbst beginnt in der Headline mit „Vor ihren Augen verhungerte ihre fünfjährige Tochter Lea-Sophie, doch Stephan T. und Nicole G. sahen tatenlos zu. Wegen Mordes durch Unterlassen müssen die Schweriner nun für mehr als elf Jahre in Haft. Dabei hatten die beiden allen beweisen wollen, was für gute Eltern sie sind“. Sehenden Auges, d. h. sich dem Risiko des Sterbens ihrer Tochter bewusst, die Gefahr kommen sehend, lassen sie tatenlos ihr Kind verhungern, suggeriert eine Absichtlichkeit der Unterlassung, dem Kind zu helfen. Deswegen verwundert es auch nicht, wenn im folgenden Satz genau dieses auf den Punkt gebracht wird: „Mord durch Unterlassung“. Die Höhe der Strafe von elf Jahren spricht bezüglich der Schwere der Tat eine eigene Sprache. Indem das gute Eltern-Sein-Wollen neben die Schwere der Tat gestellt wird, wird es ins Lächerliche, genauer gesagt in Zynische gezogen. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache definierte 1999 zynisch als „eine [...] Haltung zum Ausdruck bringend, die besonders in bestimmten Angelegenheiten, Situationen als konträr, paradox und als jemandes Gefühle missachtend und verletzend empfunden wird“. Missachtet und mit Füßen getreten werden hier die Worte der Eltern, die in einen Kontext gestellt werden, indem ihre Anerkennbarkeit nicht möglich ist, da die scheinbare Folge der guten Elternschaft der Mord an Lea-Sophie sowie die hohe Strafe für diese Tage gleich vorangestellt wurde. Im ersten Absatz heißt es „Selbst jetzt, in diesem entscheidenden Augenblick, in dem besiegelt wird, was sie getan haben und was deshalb mit ihrem Leben geschehen wird, sind sie wie erstarrt“. In dem „selbst jetzt“ wird auf die Zeitlichkeit des Geschehens hingewiesen, mit „in diesem entscheidenden Augenblick“ wird sehr deutlich der Wendepunkt als Entscheidungsmöglichkeit markiert. Aber wer entscheidet hier? Haben in diesem Moment die Eltern noch etwas zu entscheiden, oder ist es nicht gerade der Punkt, wo durch das Urteil über sie entschieden wird. Die Angststarre wird den Eltern 297 bettina hünersdorf als Handlungsunfähigkeit ausgelegt und nicht als Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Gericht. Weiter heißt es „Stefan T., 26, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, stiert auf die Anklagebank vor ihm. Seine ehemalige Freundin Nicole G., 24, blasses Gesicht, die Wangen feucht von Tränen, faltet ihre Hände und schaut zu Boden.“ Das Vor-sich-Hinstieren transformiert die Erstarrung des Vaters und macht ihn zu einem ‚wilden potenziell gewaltvollen Tier‘, das zwar gerade nichts tut, aber das Potenzial hat, etwas Gefährliches tun zu können, indem es das Gegenüber mit seinen Hörnern aufspießt. Dadurch wird der Vater als ‚tierisch‘ und damit als unberechenbar stilisiert. Zugleich wird dieses in Kontrast zu seiner guten Kleidung – einem schwarzen Anzug – gesetzt, durch den er sich als Geschäftsmann darstellt. Auch hier werden Gegensätze von Irrationalität und Rationalität hervorgebracht und die Wahrheit im Sinne der ‚richtigen‘ Klassifikation des Täters als ‚wildes Tier‘ der falschen Selbstdarstellung eines harmlosen, rationalen Geschäftsmanns gegenübergestellt. Trotz der Darstellung der Mutter als verletzliche Person, wird diese auch durch das Falten der Hände als jemand repräsentiert, die sich dem Irdischen abwendet und die Erlösung von Gott erwartet. Damit wird auch sie als jemand dargestellt, die sich entzieht, wenn sie auch weniger gefährlich wirkt als der Vater, obwohl im Urteil für beide elf Jahre Haftstrafe verhängt wurden. Diese Darstellungen sind sexistisch stereotypisierend aufgeladen. Mitleid kann dabei für keinen von beiden so richtig aufkommen. Das kurze Schluchzen der Mutter bei der Urteilsverkündigung durch das Voranstellens des Fokuspartikels ‚nur‘ als relational unbedeutsam gegenüber dem Mord durch Unterlassung dargestellt. Damit wird die Anerkennbarkeit, selbst verletzlich zu sein, infrage gestellt. Durch das Zitieren der höchsten Rechtsinstanz des Landes MVP „Mord durch Unterlassen – nennt das die Große Strafkammer 2 des Schweriner Landgerichts“ wird Bezug auf eine unbeteiligte, aber das Recht repräsentierende Autorität genommen, die diese Verletzlichkeit als das aufdeckt, was es eigentlich ist „Mord durch Unterlassung“. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird jegliche Identifikationsmöglichkeit mit den Eltern verhindert. 298 (un)sichtbar kindgerecht „T. und G. hätten aus Angst, das Jugendamt könnte ihnen das Sorgerecht für Lea-Sophie und deren kleinen Bruder Justin entziehen, keine Hilfe für ihre abgemagerte, verwahrloste Tochter geholt“. Es sei ihnen wichtiger gewesen, die Kinder bei sich zu behalten, als das Leben der Fünfjährigen zu retten, so Piepel. Die Eltern hätten daher aus niedrigen Beweggründen getötet, also: „Mord“. Als problematisch wird hier das Nicht-Holen von Hilfe beschrieben, sowie, dass der Wunsch nach dem eigenen Großziehen ihrer Tochter größer gewesen sei als das Wohl ihrer Tochter. Die Angst vor dem Jugendamt wird als lächerlich und dadurch unberechtigt aufgezeigt. Dramatisiert wird die Aussage durch das Zitieren des Richters, der dabei ein naturalistisches Bild von Familie als eigentlicher Familie entwirft: „Beide haben sehenden Auges tatenlos zugelassen, dass ihr eigen Leib und Blut jämmerlich dahinsiecht“. Das „Dahinsiechen“ und damit das unumkehrbare Leiden wird dem bewussten Sehen gegenübergestellt. Es wird nicht nur übersehen, dass der tödliche Verlust eines Kindes sehr schmerzhaft ist, sondern vielmehr wird eine Absichtlichkeit unterstellt, wodurch das Schlimmste, was Eltern erleben können, ihr Kind zu verlieren, in eine gnadenlose Brutalität transformiert wird. Den so als ‚mörderisch‘ klassifizierten Eltern wird das Leid des Kindes gegenübergestellt, indem dessen körperlicher Zustand genau beschrieben wird. „Das 95 Zentimeter große Mädchen magerte immer weiter ab, bei seinem Tod wog es schließlich noch 7375 Gramm, gerade einmal halb so viel wie eine gesunde Fünfjährige. Ihr Körper war von Hungerödemen gezeichnet, an Gesäß und Rücken hatte sie kotverschmutzte Durchliegegeschwüre bis auf die Knochen.“ Es wird der Richter mit der Frage zitiert: „Was sind das für Menschen, die so etwas zulassen?“ Es seien persönlichkeitsgestörte Menschen, was ein psychiatrisches Gutachten belege. Das wird dann sehr anschaulich ausgeführt. „Stefan T. sei ein unsicherer Mensch, dem es vor allem um sich gehe und der wegen seiner verminderten Empathiefähigkeit nicht in der Lage sei, eine gesunde Partnerschaft zu führen.“ Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Details eingehen, sondern nur zusammenfassend deutlich machen, wie ein Einblick in das Privatleben dieser Familie gegeben wird. Zugleich wird dieser Einblick aber nicht als Möglichkeit der Empathie mit den Eltern genutzt, sondern vielmehr 299 bettina hünersdorf werden diese Aussagen gegen die Eltern gerichtet, um die Verantwortungslosigkeit und Brutalität der Eltern zu unterstreichen.7 Wurde der Fall zunächst als Mord durch unterlassene Hilfe klassifiziert, ist es nun „Totschlag mit bedingtem Vorsatz“. Als weiteres Gegenargument gegen diese Verurteilung könnte die systemische Perspektive eingeführt werden, indem der Bezug zu den Eltern der Kindesmutter angeführt wird. „Auch die Eltern von Nicole G. spielten wohl keine vollkommen glückliche Rolle. Wahrscheinlich in guter, fürsorglicher Absicht belagerten sie das junge Paar, brachten Essen, gaben Tipps, informierten schließlich das Jugendamt, als sie immer häufiger vor verschlossenen Türen standen und sich sorgten“. T. und G., die schon von ihren Eltern verkuppelt worden waren, blieb laut Piepel jedoch kaum noch „Luft zum alleine Atmen“. Es wird die fürsorgliche und vom Ansatz her richtige8 aber dennoch übergriffe Art der Großeltern dargestellt. Mit dem Zitat, dass die Eltern aber „kaum noch Luft zum alleine Atmen“ bekommen hätten, wird die Stimme der Eltern scheinbar erhört, indem das großelterliche Verhalten problematisiert wird, aber letztendlich doch als bedeutungslos dargestellt wird. Die anschließende Selbstaussage der Eltern „Wir hatten das Gefühl, alles falsch zu machen“, wird nicht nur als falsche 7 Zwar gibt es viele junge Erwachsene, die mit einer Playstation spielen, aber in diesem Falle wird durch den Kontrast zu dem leidenden Kind das Spielen mit der Playstation pervertiert und der Vater als nicht verant- wortungsvoll auf das Kind bezogen handelnd dargestellt. Die Mutter wird ebenfalls als nicht erwachsene Person beschrieben, die verwöhnt gewesen ist und in ihrer Hilflosigkeit sich nicht wehren kann. Es wird trotz dieser Darstellung aber nicht die Frage gestellt, ob die beiden überhaupt schon Erwachsen seien, sondern vielmehr wird das Erwachsensein der Eltern als selbstverständlich genommen, obwohl genau das deutlich infrage zu stellen ist, denn bei der Geburt von Lea-Sophie waren die Eltern 18 und 19 Jahre alt, hatten keinen eigenständigen Haushalt und waren nicht ins Erwerbsleben eingestiegen. Stattdessen wird deren Verhalten als Persönlich- keitsstörung dargestellt, wodurch er und die Mutter zu anderen, eben Ver-rückten konstituiert wurden, die zum Totschlag mit bedingtem Vorsatz fähig seien. Die Persönlichkeitsstörung ist so, dass sie zwar nicht psychiatrisiert werden, aber noch die volle Verantwortung für ihre Tat haben, d. h. voll schuldfähig sind und entsprechend eine elfjährige Gefängnisstrafe einbüßen müssen. Im Fokus steht das Sich-an-den-Eltern- Rächen für die Tat, die sie ihrer Tochter angetan haben. Je höher die Strafe, desto eher kann das Böswillige durch Einsperren ins Gefängnis aus der Welt gesperrt werden. 8 Dass die Großeltern damit einem Grundsatz der Jugendhilfe ambulant vor stationär gefolgt sind, wird verschwiegen. 300 (un)sichtbar kindgerecht Selbsterkenntnis dargestellt, sondern mit dem abschließenden Zusatz „Wir wollten allen beweisen, dass wir keine schlechten Eltern sind“ angesichts der Tat ins Absurde geführt. Darauf wird die Irrationalität des Handelns mit vielfältigen Substantiven zum Ausdruck gebracht. „Es entstand eine verhängnisvolle Melange aus Unvernunft, Unfähigkeit und Unlust, angereichert mit Trotz, Scham und Angst.“ Der Artikel wird letztendlich damit abgeschlossen, dass zitiert wird, was auf dem Marmorstein, der mit Schmetterlingen verziert sei, geschrieben ist. „Ich wollte leben so wie ihr, doch das Schicksal versagte es mir“. Es wird gezeigt, dass die Eltern sich nicht schuldig sprechen, sondern mit der Stimme des Kindes eine höhere Macht anrufen, die die Entscheidungsfreiheit der Eltern relativiert. In dem Kontext des Artikels wird damit aber noch einmal auf die Irrationalität der Eltern verwiesen, die die Stimme des Kindes für ihr eigenes Anliegen, nicht schuldig sein zu wollen, missbrauchen. Damit wird die Aussichtslosigkeit des Falles und die Eltern als hoffnungslose Fälle zum Schluss zur Darstellung gebracht und damit der Bezug zum Anfang „Mörderisches Prinzip Hoffnung“ hergestellt, da jegliche Anliegen der Eltern im Kern degradiert sind. Der Bericht versucht also, mithilfe des ‚Einfühlungsgedankens‘, d.h. dem Aufzählen, was dem bzw. der/die Leser(in) für die Eltern einnehmen könnte, die Ereignisse möglichst adäquat wiederzugeben. Ergebnis ist eine Berichterstattung, die jegliche Rückschlüsse auf die Gegenwart anderer Kinderschutzfälle bewusst vermeidet, da der Fall als in sich abgeschlossen dargestellt wird. Es handelt sich um eine Berichterstattung der Sieger, da es jene sind, in die sich der Berichtschreiber einfühlt: Es sind der Richter, die Großeltern, der Psychiater etc., die alle anwaltschaftlich für das Kind sprechen und die Tat der Eltern rächen. Durch die Pathologisierung und Dämonisierung der Eltern wird „der Normbereich in ungetrübter Reinheit sichtbar sowie der Normbrecher als taugliches Objekt für Entrüstung und Bestrafung, an dem dann exemplarisch die Wiederherstellung der Geltung der Norm demonstriert werden kann“ (Bock 2003, S. 181). Dadurch werden gesellschaftliche Normen zur Geltung gebracht: Lea-Sophie wird als verwundbare Person und als Opfer dargestellt. Dass Eltern, 301 bettina hünersdorf die sich dieses Ansehen können, keine Hilfe holen, obwohl diese mit dem Jugendhilfesystem doch möglich wäre und noch immer keine Schuld empfinden, macht die Geschichte gegenüber dem Publikum zu einem Skandal. Das ermöglicht dem Publikum, sich zugleich als gute Eltern davon distanzieren zu können, da es sich in diesem Fall um Ver-rückte handelt, die zu Recht eingesperrt werden müssen, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Die Stimmen der Eltern werden in einen Diskurs übersetzt, indem sie eine neue Bedeutung gewinnen, da er es verhindert, diese anerkennend zu hören, obwohl ihre Stimme zitiert wird. Begründet wird die Klassifikation der Eltern mit Expert(inn)en, Psychiater(inne)n und Jurist(inn)en, die dieses Urteil durch Objektivität und Wissen rechtfertigen (vgl. Afinidad Rebelde 2011, S. 11–12 übersetzt und zitiert von Herranz Rodriguez 2012, S. 11) und die Eltern in ihren Widerstandsstrategien ignorieren. Im Folgenden möchte ich diese Fallgeschichte anders darstellen und zwar so, dass auch die Bedingungen geschaffen werden, die Stimme der Eltern und die Möglichkeit und Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit zu hören und damit das, was in den Medien aber auch in den Urteilen der in dem Bericht zitierten Expert(inn)en zum Schweigen gebracht wurde, sichtbar wird. Es handelt sich um ein „konstruktives Prinzip“ der Falldarstellung. Verantwortung heißt dann im Sinne von Derrida, die Fähigkeit zu antworten, zu hören, wobei es ein Spiel von Zuhören und Sprechen ist (vgl. Dhawan 2005, S. 3). Dabei werde ich einerseits die Leidensgeschichte darstellen, andererseits die darin latent liegenden Widerstandsformen herausarbeiten. 3. Zur anerkennenden Darstellung des Falles Lea-Sophie Aufbauend auf den Informationen des Buches von Kay Biesel und Reinhart Wolff „Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie“ werde ich im Folgenden eine alternative, den herrschenden Diskurs infrage stellende Falldarstellung vornehmen. Dabei geht es mir um den „Unterschied zwischen richtigem und falschen Handeln [welches; B. H.] mit dem Zusammenhang zwischen Handlungsentscheidungen und der Verwirklichung des individuellen Glücks eines Menschen zu tun“ (Radke 2003, S. 27) hat. Im weiteren Schritt werde ich dann aber aufzeigen, dass diese scheinbar ‚charakterlichen‘ Entscheidungen eingebunden sind in Diskurse über 302 (un)sichtbar kindgerecht die bedingten Elternrechte in einem sozialinvestiven Staat, die gerade strukturell die Verwirklichungschancen der Eltern, gute Eltern zu sein, verhindern. Das heißt, dass sich in diesem Familiendrama etwas in dynamischer Weise zeigt, was gesellschaftlich strukturell verankert ist und fallspezifisch Bedeutung erlangt. Die Kindesmutter von Lea-Sophie wurde 1981 geboren und nach wenigen Wochen in die Familie aufgenommen, von der sie nach wenigen Monaten adoptiert wurde. Sie erlebte dort eine positive umsorgende Kindheit, wurde aber von ihren Eltern nicht über ihre Adoption aufgeklärt, bis sie 1997 zufällig davon erfährt. Das führte zu einem ersten Bruch in der Beziehung zu ihren Eltern. Sie nennt die leiblichen Eltern in dem Interview mit Biesel/Wolff auch die ‚richtigen‘ Eltern und das obwohl die leibliche Mutter weggelaufen ist und der Vater ihr als Onkel zwar bekannt war, aber sich kaum um die Kindesmutter kümmerte und Selbstmord beging. Damit schlägt aber das zunächst positive Verhältnis schon in ein negativeres um, da die Bezeichnung als nicht ‚richtige‘ Eltern das Engagement der sozialen Eltern infrage stellt. Damit handelt es sich um eine Widerstandsform gegen die deindividualisierende Tendenz ihrer Eltern, sie als Kind einzuverleiben. Diese deindividualisierende Tendenz der Großeltern setzte sich fort, indem sie sie mit einem zwei Jahre älterem Mann aus der Nachbarschaft verkuppelten, welcher eine tragische Kindheit hatte (Unfälle, die zu dauerhaften Kopfschmerzen führten, seine Handgelenkte brachen; Scheidung seiner Eltern in seinem 8. Lebensjahr, der aber mit Schulabschluss, Lehre und als freiwillig Längerdienender der Bundeswehr auf gutem Wege war). Der Kindsvater war 20 Jahre, die Mutter 18 Jahre als sie zusammen kamen. Drei Monate später im Jahr 2002 war sie von ihm schwanger und gebar im August 2002 Lea-Sophie als Frühgeburt in der 33. Schwangerschaftswoche. Dann wechseln sich Phasen ab von bei den Großeltern und der Mutter leben und kurzzeitigen Krankenhausaufenthalten wegen einer Polysomnographie zur Untersuchung einer Nahrungsverweigerung, einer akuten Gastroenteritis durch Rotaviren und eines Apnoe-Syndroms. Die Großeltern unterstützten bei der Geburt von Lea-Sophie die Tochter, indem sie sich um ihr Enkelkind kümmerten. Das ermöglichte der Tochter, ihre Ausbildung fortzusetzen und dem Schwiegersohn bei der Bundeswehr erfolgreich zu arbeiten. Dadurch wurden sie aber auch die primären sich um das kranke Kind sorgenden Bezugspersonen. Diese Großzügigkeit im Hinblick auf die Sorge um das Kind, die möglicherweise auch gepaart war mit dem Neid auf die Adoptivtochter, ein eigenes Kind zu haben, wollten sie insbesondere von der Tochter wertgeschätzt wissen und erwarteten diesbezüg- 303 bettina hünersdorf lich Anerkennung. Die Eltern von Lea-Sophie mussten aber durch den Vergleich mit den so gut sorgenden Eltern mütterlicherseits damit leben, von diesen als schlechte Eltern wahrgenommen zu werden. Dieses betraf insbesondere den Vater, der aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit nur am Wochenende kommen und sich um das Kind kümmern konnte. Damit waren die Möglichkeit der jungen Eltern, autonom zu werden, beschnitten. Die Dankbarkeit für die Sorge um ihr Kind schlägt in eine Wut um. Als Lea-Sophie acht Monate alt ist (April 2003), bricht der Vater seinen Dienst bei der Bundeswehr ab, um ‚nun endlich‘ seine Rolle als Vater wahrnehmen zu können, sodass die drei in die eigene Wohnung ziehen und sich von den Großeltern abgrenzen, um autonom zu sein. Seitdem verdient der Vater sein Geld in einem Abrissunternehmen und ist neben diversen 1-Euro-Jobs Harz-IV-Empfänger. Anders gesagt, die Eltern opferten ihre finanzielle Autonomie, um dem negativen Bild der Großeltern etwas entgegensetzen zu können, aber auch aufgrund der eigenen Erfahrung des Vaters, vaterlos aufzuwachsen, und erhofften dadurch, ihr Elternglück (Erwartung, da die Großeltern offensichtlich eine große Lust an der Sorge um Kinder haben) zu erreichen. Die damit einhergehende ‚uneigentliche‘ Autonomie stieß mit Lea-Sophie auf eine Person, die sich ebenfalls als schein-autonom darstellte. Zwar war Lea-Sophie mit dem immer wieder Kranksein auf eine besondere Sorge angewiesen, aber sie lernte von Anbeginn, sich als wenig bedürftig zu zeigen und dafür Anerkennung zu bekommen. Von den Ärzten wurde sie entsprechend als ‚pflegeleichter‘ Säugling, als ein „Durchläufer“ bezeichnet. Auch Lea musste sich früh von den primär sie umsorgenden Großeltern lösen, an die sie vielleicht schon emotional gebunden gewesen ist, und von diesen im Hinblick auf das Misstrauen gegenüber ihren Eltern auch affiziert gewesen ist, indem sie immer ihre Eltern mit den Großeltern im Hinblick auf ihre Fähigkeit zu sorgen verglich. Durch diesen Vergleich war der kritische prüfende Blick der Großeltern gegenüber der Fähigkeit der Mutter und insbesondere des Vaters, für das Kind sorgen zu können, wenn auch in verwandelter Form, ein Blick von Lea-Sophie selbst.9 Damit wurde er aber zugleich ein Teil der Kernfamilie, ob- 9 Unter narzisstischer Störung versteht Miller die „Isolierhaft des wahren Selbst im Gefängnis des falschen“ 304 (Miller 1981, S. 11). Sie geht davon aus, dass die Anpassung an elterliche Bedürfnisse zur Entwicklung des falschen Selbst oder der „Als-ob-Persönlichkeit“ führt. (un)sichtbar kindgerecht wohl sie sich gerade von diesem kritisch prüfenden Blick distanzieren wollten. Dieser kritisch misstrauische Blick führte dazu, dass sich Lea-Sophie autonomer darstellte, als sie es war, das heißt, dass sie sich als jemand darstellte, der kein Umsorgt-Werden nötig hat. Die Eltern haben, anstatt Lea-Sophies Bedürfnisse zu erkennen, sich von der Selbstdarstellung überzeugen lassen, dass sie nicht so viel Umsorgt-Sein bräuchte, was aber auch in Ärger übergegangen ist, da sie auch spürten, dass Lea-Sophie die Fürsorge verweigerte und damit ihr Selbstbild, gute Eltern zu sein, infrage stellte. Die Wut darüber, an dem gehindert zu werden, was ihr oberstes Ziel gewesen ist, ist nachvollziehbar. Sie bezog sich aber wahrscheinlich auf das (selbst-) zerstörerische autonome Spiegelbild LeaSophies und weniger auf die real bedürftige Lea-Sophie. Die Großeltern lassen sich die Sorge um Lea-Sophie nicht nehmen und weisen immer wieder auf die Scheinautonomie der Familie hin. Erst beim Kindergarten, zumindest wird ihnen das von den Eltern unterstellt, dann auch beim Jugendamt. Während die Eltern das Kind aus dem Kindergarten nehmen, um sich der indirekten Beobachtung durch die Großeltern zu entziehen sowie aus finanziellen Gründen (das Jobben reicht nicht aus, um sich über Wasser zu halten, zugleich verlieren sie ab 2006 immer wieder die finanzielle Unterstützung durch die ARGE10) (Biesel/Wolff 2013, S. 61), zeigen sie sich gegenüber dem Jugendamt als funktionierende Familie. Das Jugendamt warnt mit dem Besuch bei den Eltern diese, greift aber nicht ein, da es sich von der Scheinautonomie der Familie aufgrund mangelnder Ressourcen schnell überzeugen/verblenden lassen hat (Biesel/Wolff 201311). Durch die Geburt eines weiteren Kindes versuchten sich Leas Eltern, deren 10 Seit März 2006 wurden monatliche Leistungen regelmäßig gekürzt, aber die möglichen Auswirkungen auf die Kinder nicht reflektiert, und es wurde kein Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen (Wolff 2012, S. 63). 11 Die Kontakte, die zum Jugendamt bestanden, wurden nicht systematisch in Akten dokumentiert (vgl. Biesel/ Wolff 2013, S. 70), da die Mitarbeiter(innen) massiv mit Arbeitsüberlastungen und unzureichender sachlicher Ausstattung und keinen Möglichkeiten der Supervision und Weiterbildung zu kämpfen hatten (vgl. ebd. f.). Nach der Verteilung des Falles Lea-Sophie und der Aufklärung dieses Falles durch eine verwaltungsinterne Arbeits- gruppe wurden folgende konkrete Maßnahmen vorgeschlagen: „Änderung der Arbeitsanweisung im Umgang mit Kindeswohlgefährdung, sofortige personelle Verstärkung des Sozialpädagogischen Dienstes, Verbesserung der organisatorischen Arbeitsbedingungen, Einsatz eines Kinderschutzkoordinators etc.“ (Biesel/Wolff 2013, S. 71). 305 bettina hünersdorf Partnerschaft schon am Zerbrechen war, doch noch einmal als gute Eltern bestätigen zu lassen und sich dadurch von der Macht Lea-Sophies, sie als schlechte Eltern darzustellen, zu entziehen. Im September 2007 wurde der Bruder geboren, wodurch die Gefahr für Lea-Sophie umso größer wurde, noch schlechter versorgt zu werden. Darüber hinaus ist aber auch die mögliche Angst Lea-Sophies über das Aufdecken des Scheins schlechter Elternschaft sehr bedrohlich. Im Oktober/November kotet Lea-Sophie ein und fällt damit in das Säuglingsalter zurück. Dadurch zeigt sie zum einen ihre Bedürftigkeit wie bei einem Neugeborenen und unterstreicht zugleich durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme das schlechte UmsorgtWerden durch die Eltern. Der Neid und die Eifersucht gegenüber dem Bruder führen dazu, dass Lea-Sophie nicht nur sich zerstört, sondern damit auch die ganze Familie, das heißt die Möglichkeit der Eltern, gegenüber dem Bruder Eltern zu sein. Indem die Eltern für den ‚Mord‘ an Lea-Sophie mit elfjähriger Haft bestraft werden, ist die Möglichkeit, eine gute Familie zu sein oder zu werden, endgültig zerstört. 4. Über die gesellschaftliche Konstituierung des Eltern in diesem Kinderschutzfall Die Psychodynamik in dieser Familie spiegelt weniger eine Persönlichkeitsstörung der Eltern wider, sondern vielmehr ein Strukturproblem der Gesellschaft, welche die Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern, gute Eltern sein zu können, einschränkt. Die Unentschiedenheit des ersten Konflikts zwischen der Großmutter und der Tochter überträgt sich ganz natürlich auf den zweiten zwischen der Tochter und Lea-Sophie, der den ersten wiederholt und auf eine Vielzahl von Personen wie dem Mann, die Erzieherin im Kindergarten, die Jugendhilfemitarbeiter(innen) etc. ausweitet. Nach Girad wird dabei aber übersehen, dass es etwas Identisches in der Tragödie gibt. Und zwar die immer wieder gleich ablaufenden Mechanismen der Gewalt, durch die nicht mehr zwischen gut und böse unterschieden werden kann (vgl. Girad 1987, S. 74). Sind es die Großeltern mütterlicherseits oder die Eltern oder das Kind, die Schuld haben? Das Drama zeigt aber gerade, dass diese Fragen eben gerade für diesen Fall nicht angemessen sind, da deutlich wird, dass die Frage nach der Schuld die strukturellen Probleme individualisiert. 306 (un)sichtbar kindgerecht Indem das Gericht die Schuldfrage zu klären sucht und die Eltern mit elf Jahren Haft verurteilt, unterscheidet sich das Gerichtswesen aber nicht von der Rache, die von den Großeltern auf die Eltern und wiederum auf das Kind übertragen wurde, da es selbst die anwaltschaftliche Infragestellung des staatlichen Sorgerechts für das Kind rächt. Aber es unterscheidet sich von der Rache, die wir in der Großfamilie von Lea-Sophie beobachten konnten, da das Gericht als unbeteiligter Dritter nicht gerächt wird. Der Umgang mit Rache erscheint im Gericht rationaler, da durch die Stellungnahmen und Begründungen im Gerichtswesen die Rache rationalisiert wird (vgl. Girad 1987, S. 38). Der Rückzug der Eltern von Lea-Sophie von denjenigen, die den Sorgeentzug verkörpern – den Großeltern, dem Kindergarten, der Jugendhilfe und dem Gericht – wird dagegen als irrational dargestellt. Die Eltern erfüllen nicht die Erwartung, gelernt zu haben, „sich als Private oder Öffentliche von sich selbst zu unterscheiden“ (Demirovic 2004, S. 9). Sie müssen überlegen, in welcher Weise die Erziehung ihres Kindes allgemeinen/staatlichen Interessen entspricht. Paradoxerweise dürfen sie dann privat sein, d. h. den (Kinderund Jugend-) Hilfeinstitution zu Recht den Zutritt verbieten. Sobald sie aber merken, dass sie von den Erwartungen abweichen, die im Hinblick auf Erziehung gesellschaftlich an sie herangetragen werden, sollen sie bereit sein, diese Abweichung zu veröffentlichen, sofern sie glauben, dass dieses einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Wohls des Kindes hat. Sie erhalten dann bei Veröffentlichung Unterstützung, sich an die gesellschaftlichen Normierungen anzupassen, als Voraussetzung dafür, sich wieder ins Private zurückziehen zu dürfen, oder sie rutschen in die Gefahr, als die Kinder gefährdend wahrgenommen zu werden. „Äußern sie sich öffentlich (ihr Verhalten erklärend), müssen sie Kritik antizipieren, dass ihr Interesse, ihre Sicht der Dinge nicht legitim, nicht allgemein [und vor allem auf Kosten der Kinder; B. H.] ist. […]“ (Demirovic 2004, S. 9). Es wird deutlich, wie unwahrscheinlich es für solche Eltern ist, die um ihre Rechte bangen, Eltern zu sein, zu sprechen. Sie haben Erfahrungen gemacht und können beobachten, wie Aussagen von Menschen in ähnlicher Situation im Diskurs so verzerrt werden, dass sie nicht gehört werden. Sie spüren, dass sie für so verachtenswert gehalten werden, wie andere Eltern in den Gerichtsverfahren und in den Medien re-präsentiert werden. 307 bettina hünersdorf Die durch Lea-Sophie und die Eltern auf den/die Sozialarbeiter(innen) übertragenen Gefühle der Abwehr dürfen nicht zu einer Gegenwehr führen, indem die Adressaten pathologisiert, psychiatrisiert oder sogar kriminalisiert werden. Sie müssen vielmehr als Folge der Übertragung pathogener Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet werden, die sich in der sozialisatorischen Interaktionspraxis der Familie widerspiegeln. Die mit der Scheinautonomie einhergehende nicht-kooperative Haltung, die sich häufig durch (Ver-)Schweigen oder Lügen ausdrückt, muss als Ausgangspunkt des Zuhörens genommen und damit die Frage der Verantwortung neu gestellt werden. Denn die bei der Übertragung entstehenden Gegenübertragungsgefühle der Enttäuschung gegenüber diesen Eltern, aufgrund dessen, dass sie von ihnen getäuscht wurden, sind die Bedingung der Möglichkeit eines szenischen Verstehens der latenten Sinnstruktur der paradoxalen Entwicklungsdynamik, die durch bedingte Elternrechte bei benachteiligten Eltern entsteht. Verschiedene Formen des Schweigens treten immer dann auf, wenn es Eltern als unwahrscheinlich erleben, die Ansprüche ‚guter‘ Elternschaft verwirklichen zu können. Erst auf dieser Grundlage kann es Eltern gelingen, auch gegenüber ihren Kindern gerecht zu sein, d. h. sie sprechen zu lassen, ohne sich sofort von ihnen bedroht zu fühlen. Das erscheint mir im Kontext einer bürgerlichen, die Bedeutung der Familie betonenden Gesellschaft eine zentrale Voraussetzung zu sein, den Kindern benachteiligter Familien unsichtbar, da indirekt, gerecht zu werden. Ich fasse zusammen: Nicht jede Form der Herstellung von Sichtbarkeit und damit Öffentlichkeit ist (kind-) gerecht: 1. Die mediale Öffentlichkeit sowie die es Gerichts neigen dazu, „Kind(er)gerechtigkeit“ im Sinne des Dem-Kind-gerecht-Werdens durch Pathologisierung der Eltern herzustellen. Dadurch werden aber Kinderschutzprobleme individualisiert. 2. Die Jugendhilfe muss sich entscheiden, ob sie sich diesem öffentlichen Diskurs anschließt oder ob sie eine andere (gegenhegemoniale) Öffentlichkeit bilden möchte. Bezugspunkt wäre dann, einen Beitrag zur Verbesserung der Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern zu leisten, welche nicht nur durch die bereit gestellten Sozialleistungen 308 (un)sichtbar kindgerecht des KJHGS ermöglicht würde, sondern auf einer kritischen Hinterfragung der bedingten Elternrechte bei Vernachlässigung basiert. 3. Kindgerecht erscheint mir das insofern, als das Infragestellen des bedingten Elternrechts bei Vernachlässigung dazu beiträgt, dass nicht nur Handlungsspielräume von Eltern entstehen, sondern auch für Kinder, die im Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft, die die Privatsphäre der Familie schützt, auf die Mitwirkung ihrer Eltern angewiesen sind. 4. Voraussetzung dafür ist ein reflexiver Umgang mit der Öffentlichkeit im Kontext der Jugendhilfe, der Schweigen nicht nur als Problem, sondern auch als Schutzmöglichkeit für benachteiligte Eltern sieht, sofern diese zunächst keine Möglichkeiten sehen, ihre Ansprüche auf verantwortliche Elternschaft erfolgreich durchsetzen zu können. 309 bettina hünersdorf Literatur Arendt, Hannah (1986): Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Böse. 15. Aufl. München. Baader, Meike Sophia (1996): Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Neuwied: Luchterhand. Bode, Ingo/Turba, Hannu (Hg.) 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Die Vielfalt der Familienkonstellationen im Kontext gleichgeschlechtlicher Elternschaft ist bemerkenswert, gleichzeitig lässt der Versuch einer abstrakten Abbildung dieser Familienmodelle folgende übergeordnete Strukturierung zu: · · · · Familien mit Kind(ern) aus heterosexueller Vergangenheit Familien lesbischer Mütter Familien schwuler Väter Familien lesbischer Mütter und schwuler Väter (Queer Families) 1 Bei diesem Fachbeitrag handelt es sich um das aktualisierte und leicht modifizierte Fazit der Studie „Wir sind Eltern!“ (Frohn/Herbertz-Floßdorf/Wirth 2011, siehe Literaturverzeichnis inkl. Link zum PDF-Dokument der Studie), die im Auftrag der Stadt Köln das Ziel verfolgte, die Lebenssituation Kölner Regenbogenfamilien zu erheben. Erschienen ist der Artikel zunächst in: Frohn, D. (2012): „Wir sind Eltern!“ Studie zur Lebenssituation Kölner Regenbogenfamilien. In: Lenz, I./Sabisch, K./Wrzesinski, M. (Hg.): „Anders und gleich in NRW“ – Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Forschungsstand, Tagungsdokumentation, Praxisprojekte. Essen: Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, S. 77–83. 315 dominic frohn Insgesamt ist die Entscheidung für das Kind in 65 % der Fälle in der gleichgeschlechtlichen Lebensphase getroffen worden, sodass davon auszugehen ist, dass das Konzept solcher „Regenbogenfamilien“ denk- und lebbarer geworden zu sein scheint. Den größten Anteil an den vier Familienmodellen in der Studie machen die Familien lesbischer Mütter aus, gefolgt von Queer-FamilyKonstellationen. Es handelt sich in 89 % der Fälle um leibliche Kinder (wenigstens eines Elternteils), die zu großen Teilen noch recht jung sind – insbesondere in den Familien lesbischer Mütter bzw. den Queer-Families sind 81 % der Kinder 6 Jahre oder jünger. So wundert es nicht, dass ein großer Teil der Familien (noch) relativ klein ist: 69 % haben bisher ein Kind. Im Weiteren ist von Bedeutung, dass in diesen Familien ein ausgeprägt demokratisches Familienklima vorherrscht, was sich in einer egalitären Verantwortungsaufteilung (bei Haushalts- und Erziehungsaufgaben) der Elternteile manifestiert. Auch hier gilt: Sämtliche Erkenntnisse in umfassender Form sind der Studie selbst zu entnehmen (Frohn et al. 2011). Insgesamt bleibt zu resümieren, dass diese Familien einen wichtigen Beitrag gesellschaftlicher Verantwortung unter schlechteren Startvoraussetzungen leisten, denn die Regenbogenfamilien sind im Vergleich zu Familien, die aus der heterosexuellen Ehe heraus gegründet werden, deutlich benachteiligt in verschiedenen Lebensbereichen. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der Studie, die Lebenssituation von Kindern und Eltern in diesen besonderen Familienkonstellationen in Köln genauer zu betrachten, um Empfehlungen für die Stadt abzuleiten. Die so elaborierten Empfehlungen lassen sich freilich auf Nordrhein-Westfalen bzw. Deutschland als Ganzes übertragen. Daher soll an dieser Stelle zum aktualisierten und leicht modifizierten Fazit der Studie „Wir sind Eltern!“ übergeleitet werden. 316 „wir sind eltern!“ Wünsche der Regenbogenfamilien und daraus abgeleitete Empfehlungen aus dem Fazit der Studie „Wir sind Eltern!“ 1. Empfehlung: Die rechtliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe aktiv unterstützen. „Einige Befragte formulieren den Wunsch, dass die Tatsache ihrer Verantwortungsübernahme innerhalb der Partner- und Elternschaft mit den gleichen Rechten zu institutionalisieren ist, wie es in der Ehe in Deutschland möglich ist. Einige Schwierigkeiten, vor denen die Befragten aktuell stehen, ließen sich auf diese Art und Weise unkompliziert beheben. Der Wunsch ist z. B., dass die gemeinsame (Fremdkind-)Adoption ermöglicht und auch der Zugang zu Samenbanken bzw. die Spendersamenbehandlung legalisiert wird – wie es in einigen europäischen Nachbarländern bereits der Fall ist. Daneben wünschen sich die Befragten, auf der Ebene der finanziellen Unterstützung ebenso behandelt zu werden wie Ehepartner(innen) mit Kind(ern). Diese Wünsche liegen zwar außerhalb des direkten Einflussbereichs der Kommune, dennoch könnte die Stadt Köln die aus der Studie resultierende Empfehlung aktiv an die Landes- und Bundespolitik herantragen und damit den Ergebnissen der Studie ‚Wir sind Eltern!‘ als familienfreundliche Stadt ein besonderes politisches Gewicht verleihen.“ Im Rahmen dieses Fachbeitrags gilt es, diese Empfehlung auch und gerade unter Kindeswohlperspektive zu diskutieren, denn die Auswirkungen der rechtlichen Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft, welche mit 67 % der Befragten die häufigste Form des elterlichen Zusammenlebens abbildet, betreffen final vor allem die Kinder, die in diesen Familienkonstellationen aufwachsen. 2. Empfehlung: Zur Verbesserung der Möglichkeiten zur Familiengründung und zur Optimierung der rechtlichen Absicherung von Kindern in Regenbogenfamilien und eingetragenen Lebenspartnerschaften beitragen. „Einige Familien äußern den Wunsch, dass die Möglichkeiten zur Familiengründung für lesbische und schwule Paare mit Kinderwunsch erleichtert werden. Hier 317 dominic frohn sind alle verschiedenen Realisierungsformen der Elternschaft gemeint. Unabhängig davon, ob es um die Realisierung des Kinderwunsches durch Adoption oder Pflegschaft geht. Oder, ob die Familien sich für Mehrelternschaftsmodelle oder Spendersamenbehandlung (im Optimalfall im Inland) mit jeweils anschließend stattfindenden Stiefkindadoptionen entscheiden, in allen Fällen könnte die Stadt im Rahmen ihrer Verantwortung, z. B. über die Angebote des Amtes für Kinder, Jugend und Familie oder Aufklärung der Kölner Gynäkolog(inn)en bzw. Fertilisationszentren, mehr Unterstützung bieten. Auch der Wunsch nach Optimierung der rechtlichen Absicherung könnte im Rahmen der Entscheidungsbefugnisse der Stadt durchaus geschehen: Z. B. könnte die Stadt Köln – auch in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern LSVD und Rubicon – Empfehlungen in Bezug auf einen guten Umgang mit dem Konstrukt der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften erarbeiten und als Best-Practise-Beispiel etablieren. Darüber hinaus sind Angebote zur Unterstützung bei der Gründung der Regenbogenfamilie zu empfehlen (siehe 9. Empfehlung).“ In diesem Fachbeitrag und der daraus resultierenden Aktualisierung der Empfehlungen sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung. Erstens ist im Zusammenhang mit der Stiefkindadoption zu diskutieren, dass hier ein heterosexuelle Trennungsfamilien betreffendes Konstrukt auf die eingetragene Lebenspartnerschaft übertragen wurde. Dieses Konstrukt ist aber ausschließlich für Konstellationen unmittelbar passend, in denen auch eine Trennung erfolgt ist, z. B. also für Familien mit Kind(ern) aus heterosexueller Vergangenheit. Für alle Konstellationen, in denen die Kinder in die gleichgeschlechtliche Partnerschaft hineingeboren werden, ist die Stiefkindadoption mit ihren Regelungen ein der Lebensrealität der Familien nicht entsprechendes Hilfskonstrukt. Eine für diese Familien kongruente und darauf aufbauend rechtlich wohl durchdachte Regelung wäre hier wünschenswert. Zweitens ist – insbesondere die Tatsache einbeziehend, dass es sich in einem Viertel der Familien um Queer-Families handelt – zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Vielfalt der Familienmodelle eine völlig neue Form der Elternschaft entstanden ist: die Mehrelternschaft. Für die rechtliche Absicherung dieser Form der elterlichen Verantwortung besteht in Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt keine Mög- 318 „wir sind eltern!“ lichkeit. Jedoch ist für einige Familien, beispielsweise für ein lesbisches Paar, das in seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft den Lebensmittelpunkt für seine zwei Kinder bildet und den Vater dieser Kinder, der aus seiner Rolle als schwuler Freund der beiden Mütter heraus auch soziale Verantwortung für seine Kinder übernimmt, eine neue Form der juristischen Abbildung wünschenswert. Hier sind völlig neue Konzepte zu diskutieren, die im Übrigen auch für Patchworkfamilien unabhängig von der sexuellen Identität der Eltern von Vorteil sein könnten. 3. Empfehlung: Die Sensibilisierung und Erweiterung der Kompetenz von Verwaltungsmitarbeiter(inne)n im Umgang mit Regenbogenfamilien fördern. „Wie in der Online-Befragung und in den persönlichen Interviews deutlich wurde, besteht ein großer Teil des Konflikterlebens in Auseinandersetzungen und Diskriminierung mit Ämtern und Behörden – insbesondere jedoch dem Amt für Kinder, Jugend und Familie. Demnach wünschen sich viele Familien, dass die Mitarbeiter(innen) in der Verwaltung sensibilisiert und geschult werden. Weiterbildungsmaßnahmen, die sowohl auf der persönlichen Ebene eine Reflexion der eigenen Familienbilder abdecken als auch auf der Ebene von Informationen, die Beschäftigten mit dem notwendigen Wissen ausstatten, könnten diesem Wunsch in angemessener Art und Weise Rechnung tragen.“ Jedwede Form von Berücksichtigung vielfältiger Lebensweisen in der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeiter(inne)n im öffentlichen Dienst bzw. der Verwaltung gerade auch über die Stadt Köln hinaus, ist auf der Basis der Erkenntnisse der vorliegenden Studie sehr zu begrüßen. 4. Empfehlung: Die Sensibilisierung und Qualifikation von Fachkräften (und Ehrenamtler(inne)n) in der pädagogischen Arbeit fördern. „Analog zu den Wünschen, die in der dritten Empfehlung mündeten, äußern die Befragten Wünsche bzgl. der Mitarbeiter(innen) im pädagogischen Bereich. Gera- 319 dominic frohn de für die Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen in städtischer Trägerschaft, die von den Regenbogenfamilien ohnehin primär in Anspruch genommen werden, hat die Stadt Köln die Gelegenheit, die Situation sowohl für die Kinder als auch für die Eltern positiv zu beeinflussen. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Kinder noch relativ jung sind und davon auszugehen ist, dass weitere Kindergenerationen hinzukommen, sodass ein zügiges Handeln in dem Themenfeld für eine nicht unbeträchtliche Zahl an Kindern nachhaltige Veränderungen erzeugen könnte. Ebenso wie in der dritten Empfehlung ist hier einerseits eine Sensibilisierung des pädagogischen Personals im Sinne der Selbstreflexion eigener Familienbilder und andererseits die Qualifikation der Fachkräfte bzgl. ihres Wissens um diese neuen Familienformen indiziert. Ein fundiertes Konzept zur Weiterbildung pädagogischen Fachpersonals würde dem Wunsch der Familien gerecht werden.“ Für diesen Fachbeitrag gilt – analog zur dritten Empfehlung – auch für diesen Bereich, dass die Berücksichtigung vielfältiger Lebensweisen nicht nur in der Weiterbildung, sondern insbesondere auch in der Ausbildung des pädagogischen Fachpersonals einen grundsätzlichen Baustein für die fachlichen Basiskompetenzen darstellt und demnach in den jeweiligen Curricula vorgesehen sein sollte. 5. Empfehlung: Die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen unterstützen. „Ein Wunsch der Befragten ist es, dass ihre Kinder in den Betreuungseinrichtungen und auch im Freizeitbereich keine Diskriminierung durch die Peers (Gleichaltrigengruppe) erleben. Dafür ist zum einen die Kompetenz des pädagogischen Personals gefragt, denn nur, wenn diese eine adäquate Weiterbildung bzgl. der benannten Themen durchlaufen haben, sind sie qualifiziert, in entsprechenden Situationen geeignete Interventionen zu platzieren. Darüber hinaus erscheint die Anschaffung entsprechender (Informations-)Materialien hilfreich und sinnvoll. So würde den Kindern von vorneherein die real existente Vielfalt von Familienformen – und damit sind nicht ausschließlich Regenbogenfamilien, sondern jedwede der modernen Familienformen gemeint – auch in den Bilderbüchern, Spielen etc. in der jeweiligen Einrichtung begegnen.“ 320 „wir sind eltern!“ Diese Empfehlung ist uneingeschränkt auf alle Einrichtungen in Deutschland zu übertragen. 6. Empfehlung: Die Öffentlichkeit bezüglich vielfältiger Familienformen sensibilisieren. „Neben der Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen ist den Befragten eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit ein Anliegen. Manche Befragte haben heftige Diskriminierungserfahrungen in der Öffentlichkeit gemacht – bis hin zu körperlicher Gewalt. Hier wünschen sich die Befragten ein deutliches Signal der Stadt, dass ‚Köln zu seinen Regenbogenfamilien steht […] ein klares ‚Ja’ zu Lesben und Schwulen […] ein ‚Ja’ zu Familie’. Einige Befragte haben hier eine öffentlichkeitswirksame Kampagne, so ähnlich wie aktuell in Berlin, vor Augen, sodass neue Familienformen und insbesondere Regenbogenfamilien sichtbarer werden und die Kölner Bürger(innen) dadurch ihr Bild von Familie erweitern können.“ Auch diese Empfehlung ist uneingeschränkt auf Deutschland zu übertragen; hier ist sicher zu berücksichtigen, dass eine öffentlichkeitswirksame Kampagne, die themenspezifisch ist, emotional anspricht und mehrere Aspekte von Vielfalt einbezieht, besonders Erfolg versprechend ist. 7. Empfehlung: Regenbogenfamilien wahr- und ernst nehmen, fördern und stärken. „Ein deutliches Signal der Stadt Köln in einer Form wie in der sechsten Empfehlung formuliert, würde sicher auch dazu beitragen, dem Wunsch der Familien nach mehr Sichtbarkeit, Wertschätzung und Förderung gerecht zu werden. Hier wünschen sich einige Befragte, auf den Seiten der Stadt Köln – insbesondere zum Thema Pflegschaft – explizit angesprochen zu werden. Für einige lesbische oder schwule Paare mit Kinderwunsch wird in den Online-Angeboten der Stadt nicht deutlich, ob sie als Eltern überhaupt in Frage kommen. Gäbe es hier eine eindeutige Formulierung auf der Homepage, würden sich auch potenzielle Pflegemütter 321 dominic frohn bzw. -väter in lesbischen oder schwulen Lebenszusammenhängen eingeladen fühlen und könnten so Kindern ein Zuhause bieten. Auch hier wird die Idee einer Pflegeelternkampagne platziert, so wie sie vor einigen Jahren in Wien stattgefunden hat. Es gibt auf Seiten der Stadt einen hohen Bedarf an zuverlässigen Pflegeeltern und laut den Befragten gibt es in der angesprochenen Zielgruppe einige Eltern, die dafür sehr gut geeignet seien.“ Diese siebte Empfehlung kann als Kernempfehlung gelten, die die Basis sämtlicher anderer Empfehlungen bildet. Es geht darum, Familie an sich – unabhängig von Kriterien, die diese Familie als besonders erscheinen lassen, sei es ein spezifischer kultureller Aspekt, eine körperliche Besonderheit eines Kindes oder Elternteils oder die sexuelle Identität der Eltern – als achtens- und schützenswerten Ursprung gesellschaftlicher Entwicklung zu würdigen. 8. Empfehlung: (Herkunfts-)Familien im Umgang mit den neuen Familienformen begleiten. „Die Befragten berichten teilweise über starke Konflikte mit ihrer eigenen Herkunftsfamilie. Gleichzeitig sind Angehörige der Herkunftsfamilie oft hilfreiche und notwendige Unterstützer(innen) bei der Kinderbetreuung, auf die Regenbogenfamilien wegen der Konflikte dann nicht zurückgreifen können. Daher könnten die Produktion entsprechender (Informations-)Materialien und/oder Angebote für Beratung von und Vernetzung unter Herkunftsfamilien sinnvoll sein. Ggf. wären auch Angebote zur Konfliktklärung und -beilegung, ggf. Mediation zwischen den Regenbogenfamilien und ihren Herkunftsfamilien eine hilfreiche Maßnahme.“ Auch alle diese Maßnahmen, die sich aus der achten Empfehlung ableiten lassen, sind hilfreiche Instrumente für Nordrhein-Westfalen bzw. Deutschland als Ganzes und können als sichernd und stabilisierend für Regenbogenfamilien im Kontext ihrer Herkunftsfamilien betrachtet werden. 322 „wir sind eltern!“ 9. Empfehlung: Die auf Regenbogenfamilien spezialisierten Angebote im Beratungs-, Freizeit- und pädagogischen Bereich sicherstellen und ausbauen. „Viele Befragte haben spezialisierte Angebote – insbesondere im Beratungsund Freizeitbereich – in Anspruch genommen. Die Tatsache, dass es sich um Angebote bzw. Anbieter handelte, die auf die individuellen Belange der Regenbogenfamilien spezialisiert sind, wurde von den Befragten als ein wesentliches Kriterium zur Nutzung angesehen. Auch die Kompetenz der spezialisierten Anbieter wird von den Befragten durchgehend positiv bewertet. Bezogen auf die spezialisierten Angebote lässt sich also resümieren, dass die Befragten diese ausgesprochen schätzen und sich nicht nur für die Sicherstellung dieser Angebote aussprechen, sondern sich explizit einen Ausbau derselben wünschen. Darüber hinaus könnten diese spezialisierten Träger dann auch verstärkt Angebote zur Unterstützung bei der Gründung einer Regenbogenfamilie machen, Beratung für bereits bestehende Familienkonstellationen anbieten und wichtigen Expert(inn)en-Rat für andere Anbieter oder auch für städtische Einrichtungen geben.“ Die neunte Empfehlung ist nicht nur uneingeschränkt auf Deutschland zu übertragen, sie ist sogar noch expliziter zu formulieren. In Köln finden wir mit der Ansiedelung des Regenbogenfamilienprojekts des LSVD Deutschland e. V. und dem Rubicon Beratungszentrum, das im Rahmen seiner Beratungsschwerpunkte Regenbogenfamilien auch explizit adressiert, eine im bundesweiten Vergleich sicher erfreuliche Struktur vor. In anderen Städten Deutschlands oder im ländlichen Raum finden lesbische und schwule Paare mit Kinderwunsch bzw. Regenbogenfamilien eine deutlich schwierigere Situation vor, sodass die Empfehlung hier insofern modifiziert werden muss: Die auf Regenbogenfamilien spezialisierten Angebote im Beratungs-, Freizeit- und pädagogischen Bereich aufbauen, sicherstellen und bei weiterem Bedarf ggf. ausbauen. 323 dominic frohn 10. Empfehlung: Studien zum Thema Regenbogenfamilien und ihren Kinder forcieren. „Nicht zuletzt wurde durch die Befragten – vor allem im letzten Freitextfeld der Online-Befragung, in dem sie die Möglichkeit hatten, Anregungen zu geben oder dem Forscher(innen)-Team noch etwas mitzuteilen – deutlich darauf hingewiesen, dass sie die Initiative zu einer solchen Studie ausgesprochen begrüßen. ‚Vielen Dank für diese Studie. Ich halte das für sehr wichtig.’ Einige Befragte äußern, dass sie sich weitere Forschung in dem Feld wünschen und es noch einige Themen gibt, die mit dieser Befragung noch nicht abgedeckt sind: ‚Wir finden es gut, dass sich mal einer dafür interessiert und hoffen, dass auf Grund dieser Studie auch Konsequenzen folgen’. ‚Wir freuen uns, dass es solch eine Studie gibt und erhoffen uns – auch durch unsere Teilnahme als Regenbogenfamilie – dass unsere Lebensform als komplett selbstverständlich angesehen wird...! Danke.’ Daher bleibt festzuhalten, dass Forschung in diesem Themenfeld nicht nur für die Befragten ein Zeichen von Wertschätzung ihrer Person darstellt, sondern auch unter wissenschaftlicher und politischer Perspektive eines der zentralen Instrumente bildet, um die Lebenssituation von Regenbogenfamilien und ihren Kindern nachhaltig zu verbessern.“ Die zehnte Empfehlung ist sowohl auf andere Kommunen zu übertragen, als auch bundesweit weiterzuentwickeln. Bezogen auf andere Kommunen kann die Kölner Studie als Beispiel genutzt werden, um in ähnlicher Art und Weise die Lebenssituation der dortigen Regenbogenfamilien zu erheben und in der Umsetzung der Erkenntnisse bei Bedarf zu einer Verbesserung beizutragen. Bundesweit erscheint darüber hinaus weiterer Forschungsbedarf – insbesondere auch, was die Lebenssituation der Kinder im schulischen Kontext und grundsätzlich auch die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder angeht. Abschließend soll der Fokus – wie im Fazit der Studie selbst – noch darauf gerichtet werden, welche besonderen Ressourcen denn diese neuen Familienkonstellationen für die Kinder selbst und ggf. darüber hinausgehend für die gesellschaftliche Entwicklung bieten. Für ein tieferes Verständnis der Genese dieser Betrachtungsweise sei noch einmal auf die Lektüre der gesamten Studie verwiesen (Frohn et al. 2011). 324 „wir sind eltern!“ Ressourcenperspektive: Neben den Wünschen, die die Regenbogenfamilien an ihre Stadt haben – was haben diese Familien zu bieten? „Bisher war der Fokus darauf gerichtet, welche Wünsche an die Stadt Köln bestehen, damit die Besonderheit(en) der befragten Familien die notwendige Berücksichtigung finden. Die umgekehrte Perspektive erscheint jedoch mindestens genauso wichtig und sinnvoll: Inwiefern bilden die Besonderheiten dieser Familienkonstellationen bedeutsame Ressourcen für die Stadt Köln bzw. generell für die Familienpolitik in Deutschland? Es ist davon auszugehen, dass in wenigen deutschen Familien die Entscheidung für Kinder so bewusst getroffen und planvoll durchgeführt wird. Ein ausgeprägtes Engagement im Zuge der Realisierung der Elternschaft einerseits und ein hoher Grad an Verantwortung gegenüber dem/der Partner(in) und dem/den Kind(ern) andererseits lassen sich bei den Eltern in Regenbogenfamilien deutlich erkennen. In der gleichgeschlechtlichen Partner- und Elternschaft liegt die Chance einer gleichberechtigten Verantwortungsaufteilung bzgl. der notwendigen Haushalts- und Erziehungsaufgaben. Diese Chance wird von einem großen Teil der Befragten deutlich genutzt. Dadurch werden ein demokratisches Familienklima sowie eine stärker egalitäre Verantwortungsaufteilung möglich. Diese Tatsache und generell das (Mit-)Erleben, dass es Konstellationen gibt, in denen zwei Mütter bzw. zwei Väter in elterlicher Verantwortung sind, trägt für heterosexuelle Eltern zur Reflexion von Geschlechterrollen und deren Zuschreibungen bei. Bezogen auf Geschlechterrollen ist auch für die Kinder in diesen Konstellationen ein breiterer Fokus möglich, sodass sie selbst die Gelegenheit erhalten, ein für sich persönlich stimmiges genderbezogenes Handlungsrepertoire zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Kinder in ihrer Sozialisation aus vielfältigen Rollenvorbildern auswählen können. Hinsichtlich der zukünftigen Bildungsbiografie ist davon auszugehen, dass diese Familien den Kindern besonders günstige Startvoraussetzungen bieten. Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Regenbogenfamilien in einigen Aspekten sicher als ein Best-Practice-Beispiel für moderne Familienformen gelten können.“ 325 dominic frohn Wissenschaftliche Literatur Frohn, Dominic/Herbertz-Floßdorf, Michaela/Wirth, Tom (2011): Wir sind Eltern! Eine Studie zur Lebenssituation von Kölner Regenbogenfamilien. Köln: Stadt Köln (Hg.). [Verfügbar unter: http://www.dominicfrohn.de/publikationen.htm (02.07.2012)]. Funcke, Dorett/Thorn, Petra (Hg.) 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Alleinerziehen wird damit zur Normalität und entwickelt sich widersprüchlich: Alleinerziehen ist normal und risikobehaftet? Der folgende Beitrag geht dieser Frage empirisch auf den Grund. Er ist in drei Abschnitte unterteilt: Abschnitt eins nähert sich der Frage, was ein Risiko ist und was wir mit dem Begriff verknüpfen. Abschnitt zwei widmet sich den empirisch beobachtbaren Lebensbedingungen von Familien mit einem Elternteil im Haushalt: den Alleinerziehenden1. In Abschnitt drei wird der Begriff des Risikos mit dem der Alleinerziehenden verknüpft und die Frage untersucht, ob die Lebensform alleinerziehend ein Risikofaktor ist. I Vom Risiko zum Vorurteil Ein Risiko ist negativ konnotiert und wird zunächst damit verknüpft, dass ein unerwünschtes Ereignis eintrifft. Insofern ist der Begriff Risikofaktor ebenso negativ belegt. Zunächst ist ein Risiko aber lediglich die Auftretenswahrschein- 1 Abschnitt zwei ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der auf der Homepage des Deutschen Jugendinstituts erschienen ist: Schutter, Sabina/Pinhard, Inga (2012): DJI Online August 2012. AID:A-Befunde zur Lebenssituation alleinerziehender Mütter. Auf einen Blick. http://www.dji.de/index.php?id=42874 (Aufruf: 4.12.2014). 331 sabina schutter lichkeit eines Ereignisses, also liegt z. B. das Risiko, dass man am Geburtstag ein Jahr älter wird, bei etwa 100 Prozent. Wenn allerdings alleinerziehend und Risiko gemeinsam genannt werden, fallen relativ schnell Begriffe wie Überforderung, Armut, prekäre Lebensbedingungen. Wie sieht die Empirie zu Alleinerziehenden aus? Der Anteil der Alleinerziehenden ist im Vergleich zu anderen Familienformen anwachsend, was vor allem an seiner zahlenmäßigen Stabilität liegt. Während der Anteil der verheirateten Paarfamilien rückläufig ist, gibt es relativ durchgängig etwa 1,6 Millionen Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Ein weiterer Teil der Zunahmen findet sich bei nicht miteinander verheirateten Eltern mit gemeinsamen Kindern oder bei Patchworkfamilien. Dieser zunächst wenig aufregende Befund ist dann relevant, wenn es sich bei Alleinerziehenden tatsächlich um eine Lebensform handelt, die unter schwierigen Bedingungen lebt. Bringt die Familienform „alleinerziehend“ Bedingungen mit sich, die sie zu einer risikobehafteten Lebensform machen? Und was bedeutet das für die Kinder in diesen Familien? Im Folgenden wird auf Daten aus dem DJI-Survey „AID:A“ Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten zurückgegriffen, um ein paar Bedingungen darzustellen. Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren, soweit nicht anders dargestellt, auf den Daten aus dem DJI-Survey AID:A, „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (2009). Die Auswertung bezieht sich auf 18- bis 55-jährige Frauen mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren im eigenen Haushalt. Dabei wird nicht unterschieden zwischen leiblichen Kindern, Adoptiv-, Stief- oder Pflegekindern. Es wurden zwei Gruppen gebildet: zum einen alleinerziehende Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung keinen Partner haben oder mit einem Partner liiert sind, der nicht im gleichen Haushalt lebt, zum anderen Frauen mit Partner im eigenen Haushalt. Zentrale Fragestellungen bezogen sich auf Unterschiede im Erwerbsstatus: Als erwerbstätig werden alle Frauen gefasst, die mehr als 15 Stunden in der Woche arbeiten und die als Haupttätigkeit „erwerbstätig“ angegeben haben. Als nicht erwerbstätig gelten diejenigen Frauen, die nach eigener Angabe unter 15 Stunden in der Woche arbeiten. Gemäß der Definition von „Arbeitsfähigkeit“ im Rahmen des SGB II gilt als arbeitsfähig, wer mindestens drei Stunden pro Tag erwerbstätig sein kann. In 332 risikofaktor alleinerziehend? Anlehnung an diese Definition geht diese Studie davon aus, dass unter einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden keine eigenständige Existenzsicherung möglich ist. An einigen Stellen wird weiter unterschieden zwischen Vollerwerbstätigkeit, die auch eine reduzierte Vollzeit mit 33 Stunden einbezieht, und Arbeit in Teilzeit bis zu einem Stundenumfang von 33 Stunden in der Woche. Die Stichprobe der befragten alleinerziehenden Frauen liegt bei N=451, davon sind 39 Prozent erwerbstätig und 61 Prozent gehen keiner Erwerbstätigkeit nach. Von den 1.644 Befragten mit Partner im Haushalt üben 46,4 Prozent der Frauen eine Erwerbstätigkeit aus; 53,6 Prozent sind nicht erwerbstätig. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weisen die befragten Personen im AID:ASurvey ein überdurchschnittliches Bildungsniveau und dadurch auch erhöhte finanzielle Ressourcen auf, dies muss mit Blick auf die vorliegenden Ergebnisse berücksichtigt werden. Im Mikrozensus liegt die Quote der erwerbstätigen Frauen sowohl bei den Alleinerziehenden mit 60 Prozent wie auch bei den Frauen in Paarfamilien mit 58 Prozent (Statistisches Bundesamt 2010, S. 17) deutlich höher als im AID:A-Survey. Diese Diskrepanz ergibt sich aus den Kriterien für die Stichprobe. Erwerbstätigkeit wird mit einer Wochenarbeitszeit ab 15 Stunden relativ eng gefasst, während der Mikrozensus sich an der Definition der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) orientiert, nach der erwerbstätig ist, wer mindestens eine Stunde wöchentlich entgeltlich oder selbstständig arbeitet. II Empirische Befunde zu Alleinerziehenden Grundinformationen Alleinerziehend zu sein, ist eine familiale Lebensform, die aus der gesellschaftlichen Realität nicht mehr wegzudenken ist. In jeder fünften Familie in Deutschland wachsen laut Mikrozensus 2010 Kinder entweder nur mit der Mutter oder nur mit dem Vater im Haushalt auf. Von den 8,2 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern sind 19 Prozent Einelternfamilien, zu 72 Prozent sind es verheiratete Eltern mit Kindern, 9 Prozent leben in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften (Statistisches Bundesamt 2010, S. 7). Im Jahr 1996 lag der Anteil von Familien mit alleinerziehenden Eltern noch bei 14 Prozent. 333 sabina schutter Der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung weist nach, dass die Existenzsicherung insbesondere für alleinerziehende Mütter nicht nur Zwang, sondern auch Bedürfnis ist (BMFSFJ 2011a, S. 118). Gewünschte und tatsächliche Arbeitszeiten von alleinerziehenden Müttern, aber auch von Vätern, differieren erheblich (BMFSFJ 2011, S. 179f.). Alleinerziehende Mütter arbeiten, auch mit jüngeren Kindern, häufig in Vollzeit (BMFSFJ 2011a, S. 118). Dennoch sind vor allem junge Alleinerziehende überproportional häufig auf staatliche Unterstützung angewiesen und leben oft in prekären Verhältnissen (BMFSFJ 2008, S. 25f.). Soziale Herkunft, Bildungshintergrund, Alter, Gesundheit, regionale Herkunft, Religion und die Präsenz von Unterstützungsnetzwerken haben dabei großen Einfluss auf die individuellen Gestaltungspotenziale. Risikofaktoren sind insbesondere Erwerbslosigkeit, ein niedriger Bildungsstand und ein Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). 90 Prozent aller Alleinerziehenden sind Frauen (Statistisches Bundesamt 2010, S. 14). Das Allein-mit-Kindern-Leben folgt zumeist auf Trennung oder Scheidung vom Lebenspartner, nur in geringem Maße ist Verwitwung die Ursache (Meier-Gräwe/Kahle 2009, S. 91). Alleinerziehen ist, wie die Studie „Lebenswelten und -wirklichkeiten von Alleinerziehenden“ zeigt, für viele Mütter kein Selbstkonzept, sondern ein Prozess (BMFSFJ 2011b). Der Wunsch nach einer neuen Partnerschaft und nach einem Alltag, der gemeinschaftlich mit einem Partner oder einer Partnerin organisiert wird, ist besonders bei jüngeren Frauen groß (BMFSFJ 2011, S. 7). Der Begriff „alleinerziehend“ markiert einen gesellschaftlich-strukturellen Status und kann durchaus stigmatisierend wirken. In der Diskussion wird Alleinerziehen häufig assoziiert mit Vorstellungen von Versagen und Überforderung. Zugleich werden alleinerziehende Mütter allerdings zum Teil auch zu wahren Heldinnen der Spätmoderne stilisiert (Dürr/Voigt 2006). Eines ist klar: Eine dürftige und teilweise ausschnitthafte Datenlage emotionalisiert die „Mutter ohne Mann“ (Herbold 2006), lebt sie doch ein Modell, das dem Ideal der Kernfamilie mit einem verheirateten Elternpaar nicht entspricht. 334 risikofaktor alleinerziehend? Auch erwerbstätige Alleinerziehende haben weniger Einkommen zur Verfügung als Mütter mit Partner Alleinerziehende sind überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen. Dabei wird Erwerbstätigkeit häufig als derjenige Faktor beschrieben, der vor Armut schützt. Die vorliegenden Auswertungen belegen: Die erwerbstätigen Alleinerziehenden haben zu höheren Anteilen ein größeres Einkommen als Nichterwerbstätige. Dennoch findet sich der höchste Anteil erwerbstätiger Alleinerziehender in Einkommensbereichen unter 100 Prozent des Medianeinkommens 2008 (vgl. Abb. 1). 335 sabina schutter Abb. 1: Einkommenshöhe der befragten Mütter orientiert am Medianeinkommen (in Prozent)2 200 % oder mehr 3,0 % 5,5 % 1,0 % 0,8 % 11,4 % 19,0 % unter 200 % 5,5 % 6,6 % 17,7 % 28,0 % unter 130 % 3,6 % 20,5 % 39,1 % 33,6 % unter 100 % 23,6 % 39,0 % 11,9 % 7,5 % unter 70 % 12,0 % 16,7 % 7,3 % unter 60 % 2,6 % 17,8 % 6,9 % 6,8 % unter 50 % 2,3 % 16,6 % 8,1 % unter 40 % 2,7 % 1,5 % 19,9 % 1,5 % Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.910 (gewichtet, eigene Berechnungen) 2 Das Medianeinkommen beschreibt die Einkommenshöhe, bei der genau 50 Prozent der Bevölkerung darüber und 50 Prozent darunter liegen. Das Medianeinkommen 2008 lag bei 1.542 Euro pro Monat. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent (952 Euro) des Medianeinkommens zur Verfügung hat (vgl. Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008). 336 risikofaktor alleinerziehend? Der höchste Anteil der Mütter in Paarbeziehungen, die selbst nicht erwerbstätig sind, verfügt über ein Haushaltseinkommen von mehr als 100 Prozent des Medianeinkommens und steht damit wesentlich besser da als erwerbstätige Alleinerziehende. Hier bestätigt sich ein mehrfach beschriebener Befund, der auf eine gesellschaftlich tradierte geschlechtliche Arbeitsteilung in Paarfamilien hindeutet. Besonders auffällig ist die Einkommensverteilung bei nichterwerbstätigen Alleinerziehenden, von denen über die Hälfte weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat und damit laut Armutsund Reichtumsbericht 2008 armutsgefährdet sind. Im Zusammenspiel mit dem vergleichsweise hohen Bildungsniveau im vorliegenden Sample (fast zwei Drittel der nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden haben die mittlere Reife oder das Abitur) wird der bereits hinlänglich bekannte Befund bestätigt. Alleinerziehende haben seltener einen Hochschulabschluss Die Verteilung der Bildungsabschlüsse in AID:A deckt sich mit den allgemeinen Befunden: Alleinerziehende verfügen zu etwas geringeren Anteilen über hohe Bildungsabschlüsse als Frauen in Paarhaushalten. Dies zeigt sich vor allem am Anteil Alleinerziehender, die einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss haben (vgl. Abb. 2). Etwa ein Fünftel der erwerbstätigen Alleinerziehenden und mehr als ein Drittel der nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden verfügen über einen solchen Abschluss. Ebenso qualifiziert ist etwa die Hälfte der Mütter in Paarhaushalten: 45,7 Prozent (nicht erwerbstätig) und 53,6 Prozent (erwerbstätig). Dabei ist zu bedenken, dass Alleinerziehende bei der Geburt des ersten Kindes nach den AID:A-Daten insgesamt jünger sind als die Frauen in Paarfamilien. Fast ein Drittel der Stichprobe hat das erste Kind in einem Alter zwischen 17 und 25 Jahren bekommen, während der Anteil bei den Frauen mit Partner in dieser Altersgruppe nur bei 22 Prozent liegt. Von letzteren hat über die Hälfte das erste Kind im Alter zwischen 26 und 32 Jahren bekommen. Die Geburt des ersten Kindes in jüngeren Jahren beeinflusst meist auch die weitere Bildungs- und Berufsbiografie. Ganz konkret: Haben die jungen Mütter, die über mittlere Reife und Abitur verfügen, eine Chance, ihre Ausbildung oder ein Studium zu beenden? 337 sabina schutter Dreiviertel der Kinder von Alleinerziehenden wachsen ohne Geschwister auf Im Schnitt haben die Alleinerziehenden der AID:A-Stichprobe zum Zeitpunkt der Befragung 1,3 und die Frauen in Paarfamilien 1,6 Kinder unter 15 Jahren. Es zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Eineltern- und Paarhaushalten: Während drei Viertel der Kinder von Alleinerziehenden als Einzelkind aufwachsen, ist es bei den mit Partner lebenden Frauen fast die Hälfte. Nur jede fünfte Alleinerziehende hat zwei Kinder, während der Anteil der Familien mit beiden Elternteilen und zwei Kindern doppelt so hoch ist (42 Prozent). Abb. 2 Alleinerziehend mit Partner im Haushalt 76 % 49 % 42 % 21 % 9 % 3 % 1 2 3 und mehr Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.910 (gewichtet, eigene Berechnungen) 338 risikofaktor alleinerziehend? Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich mit Blick auf die Familien mit drei und mehr Kindern, die mit drei und neun Prozent allerdings in beiden Gruppen sehr viel seltener sind. Im Vergleich zu den Daten des Mikrozensus finden sich im vorliegenden Sample somit deutlich mehr Alleinerziehende, die nur ein Kind haben, sowie deutlich weniger Alleinerziehende, die drei und mehr Kinder haben. Im Mikrozensus leben 25,2 Prozent mit einem Kind und 11,7 Prozent der Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern zusammen. Bereits dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Alleinerziehenden im vorliegenden Sample vermutlich finanziell besser gestellt sind und zudem womöglich mit einem Kind eher und früher in das Erwerbsleben einsteigen können. Gut die Hälfte der alleinerziehenden Erwerbstätigen ist überwiegend zufrieden mit der Zeitverwendung für den Beruf Mütter in Paarhaushalten sind überwiegend zufrieden mit der Zeit, die sie für Beruf und Ausbildung aufwenden. Die Mehrheit der erwerbstätigen Frauen in Paarhaushalten empfindet den zeitlichen Rahmen ihrer Berufstätigkeit als gerade richtig (70 Prozent). Jede Fünfte gibt an, eher zu viel zu arbeiten, nur ein sehr kleiner Teil würde gern mehr arbeiten. Ein anderer Befund ergibt sich bei den erwerbstätigen Alleinerziehenden. Zwar gibt über die Hälfte an, ein genau richtiges Arbeitszeitvolumen zu haben; allerdings sagt immerhin auch fast ein Drittel, die Arbeitszeit sei zu lang, während knapp 20 Prozent gern mehr arbeiten würden. Im Schnitt fühlen sich Alleinerziehende durch ihre Berufstätigkeit zeitlich stärker belastet als erwerbstätige Frauen in Paarhaushalten. Ein Grund mag darin liegen, dass Alleinerziehende auch mit kleinen Kindern sehr viel häufiger in Vollzeit arbeiten (BMFSFJ 2012, S. 51f.). Zudem sind sie stärker auf außerfamiliale Unterstützungsleistungen z. B. im Hinblick auf die Kinderbetreuung angewiesen. Der Wunsch nach einer Erhöhung der Arbeitszeit resultiert vermutlich aus der Notwendigkeit, allein für den Lebensunterhalt der Familie sorgen zu müssen. Die Mehrzahl der erwerbstätigen Mütter empfindet ihren Beruf nur selten als Belastung. Diese positive Belegung der Erwerbstätigkeit in AID:A kann als 339 sabina schutter Bestätigung des von Arlie Russell Hochschild beschriebenen Phänomens, den Beruf als Zuhause und das Zuhause als Arbeit zu erleben (Hochschild 2006), gelesen werden. Hochschilds Studie zeigt, dass Mütter in der Kontinuität ihrer Arbeit einen Entfaltungsraum finden, eine Zeit, die sie selbstbestimmt gestalten können, während Heim und Familie eine massive Verantwortung und Arbeit bedeuten. Und doch gibt es bei der eher positiven Bewertung des Belastungspotenzials Einschränkungen: Erwerbstätige Alleinerziehende geben am häufigsten an, sehr oft oder oft durch ihren Beruf belastet zu sein. Mit einem Anteil von 40 Prozent liegen sie dabei aber nur knapp vor den erwerbstätigen Müttern mit Partner, die diese Angabe zu 38 Prozent machen. Unterschiede in der Belastung zeigen sich hier weniger zwischen Alleinerziehenden und Müttern in Paarfamilien als vielmehr zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Müttern. Dass alleinerziehende Mütter ohne Erwerbstätigkeit sich überhaupt zu fast einem Viertel häufig durch den Beruf belastet fühlen, könnte bei jüngeren Müttern auf Ausbildung und Studium bezogen sein und hängt sicher auch mit der vorliegend gewählten engeren Erwerbsdefinition (erwerbstätig ist, wer mindestens 15 Stunden pro Woche arbeitet) zusammen. Auch diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit eigener Berufstätigkeit sichern können, empfinden eine Belastung durch den Beruf. Doch möglicherweise liegt die Belastung ja gerade darin, die Familie durch die auf wenige Stunden reduzierte Erwerbsarbeit nicht ernähren zu können. Über ein Drittel der erwerbstätigen Alleinerziehenden hätte gern mehr Zeit für die Kinder Die zeitlichen Ressourcen, die alleinerziehende erwerbstätige Mütter auf Familie und Beruf verwenden können, sind vermutlich mangels familiärer Unterstützung stark begrenzt. Dies zeigen auch die älteren Zeitbudgetstudien des Statistischen Bundesamts (1991/92 und 2001/02) sowie der jüngste Familienbericht (BMFSFJ 2012). 340 risikofaktor alleinerziehend? Abb. 3: Zufriedenheit mit der für Kind/Kinder zur Verfügung stehenden Zeit Mit Partner, 7,8 nicht erwerbstätig 81,5 Mit Partner, 1,8 erwerbstätig 68,7 Alleinerziehend, 11,8 nicht erwerbstätig Alleinerziehend, 2,5 erwerbstätig 29,3 72,7 63,4 eher zu viel 10,6 15,5 34,2 gerade richtig zu wenig Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.875 (gewichtet, eigene Berechnungen) Gut ein Drittel der Alleinerziehenden berichtet, dass sie zu wenig Zeit für ihre Kinder haben. Mit knapp 30 Prozent liegen erwerbstätige Mütter mit Partner direkt dahinter. Bei den nicht-erwerbstätigen Müttern haben rund 12 Prozent der Alleinerziehenden eher zu viel Zeit für ihre Kinder. Diese Unterschiede in der Einschätzung zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Müttern deuten auf ein zugrunde liegendes normatives Leitbild der traditionellen Mutterrolle hin. Während die Mehrheit der nicht-erwerbstätigen Mütter mit Partner (über 80 Prozent) angibt, die Zeit, die sie für ihre Kinder hat, sei genau richtig, trifft dies auf alle anderen Gruppen deutlich weniger zu. Diese nicht-erwerbstätigen Mütter mit Partner, die vermutlich die meiste Zeit zur Verfügung haben, um sie mit ihren Kindern zu verbringen, und damit dem traditionellen Mutterbild am klarsten entsprechen, sind auch am zufriedensten mit ihrer Zeitverwendung. 341 sabina schutter Die höhere Unzufriedenheit insbesondere bei erwerbstätigen Alleinerziehenden spiegelt sich zum Teil auch in der unterschiedlichen Zeitverwendung wider. Fast die Hälfte der erwerbstätigen Alleinerziehenden gibt an, sich unter der Woche jeden Tag ein bis zwei Stunden aktiv mit den Kindern beschäftigen zu können (vgl. Abb. 4). Der Anteil der erwerbstätigen Mütter in Paarfamilien, die ebenso viel Zeit mit dem Kind verbringen, ist etwas niedriger und liegt bei 41,1 Prozent. Demgegenüber geben mehr erwerbstätige Mütter mit Partner (15,7 Prozent) ebenso wie erwerbstätige Alleinerziehende (17,6 Prozent) an, dass sie sich täglich nur etwa eine halbe bis eine Stunde mit ihren Kindern beschäftigen. Abb. 4: Wie viele Stunden beschäftigen sie sich unter der Woche pro Tag aktiv mit ihrem Kind/ihren Kindern? Alleinerziehend 4,3 erwerbstätig Alleinerziehend nicht erwerbstätig 32 28,1 Mit Partner 4,9 erwerbstätig Mit Partner nicht erwerbstätig 26,9 46,1 17,6 46,7 37,9 37,6 41,1 41,9 7,6 15,7 24 6,8 mehr als fünf Stunden 3 – 5 Stunden 1 – 2 Stunden circa eine halbe bis eine Stunde Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.868 (gewichtet, eigene Berechnungen) 342 risikofaktor alleinerziehend? Täglich drei bis fünf Stunden Zeit mit den Kindern verbringt etwa ein Drittel der erwerbstätigen Alleinerziehenden gegenüber 37,9 Prozent der erwerbstätigen Frauen mit Partner. Diese Ergebnisse zeichnen ein anderes Bild als die Zeitbudgetstudie (2001/02), deren Zahlen keine signifikanten Unterschiede zwischen Alleinerziehenden und Paarhaushalten im durchschnittlichen täglichen Zeitaufwand für die Kinderbetreuung, der damals bei etwa 1,5 Stunden lag, nachwies (BMFSFJ 2011a, S. 188). Die größten Unterschiede in der Zeitverwendung finden sich daher wieder zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Müttern, wobei insgesamt der überwiegende Anteil aller Mütter angibt, eine bis maximal fünf Stunden pro Tag mit ihren Kindern zu verbringen. Dabei ist zu bedenken, dass die Gestaltung der gemeinsamen Zeit auch wesentlich von den Wünschen, Bedürfnissen und Verpflichtungen der Kinder beeinflusst wird und je nach deren Alter stark variiert. Die relativ große Gruppe der erwerbstätigen Alleinerziehenden, die sich nur gut eine halbe Stunde pro Tag mit ihren Kindern beschäftigt (17,6 Prozent), mag den mit rund 35 Prozent recht hohen Anteil derer erklären, die angeben, dass sie eher zu wenig Zeit für ihre Kinder haben (vgl. Abb. 3). Das Gros der Mütter mit und ohne Partner fühlt sich durch die Kinderbetreuung selten belastet Interessanterweise unterscheidet sich das Gefühl, durch die Kinderbetreuung belastet zu sein, zwischen den verschiedenen Gruppen nicht signifikant (vgl. Abb. 5). 343 sabina schutter Abb. 5: Empfundene Belastung durch die Betreuung und Erziehung der Kinder Alleinerziehend 4,2 erwerbstätig 15,4 60,4 19,3 Alleinerziehend 3,8 nicht erwerbstätig 19,8 49,6 26,8 Mit Partner 2,1 16,5 erwerbstätig 63,3 18 Mit Partner 2,3 20,7 nicht erwerbstätig 59,8 17 sehr häufig selten häufig nie Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.870 (gewichtet, eigene Berechnungen) Am stärksten belastet fühlt sich mit gut 20 Prozent ein Teil der nicht berufstätigen Mütter, die mit Partner und Kind im Haushalt leben. Insgesamt fällt auf, dass die nicht-erwerbstätigen Mütter zu höheren Anteilen angeben, sehr häufig oder häufig durch die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder belastet zu sein. Die erwerbstätigen Mütter in Paarbeziehungen und die nicht-berufstätigen alleinerziehenden Mütter, die sich aktiv die meiste Zeit mit ihren Kindern beschäftigen, sind mit der Zeitspanne, die sie mit ihren Kindern verbringen, am zufriedensten, dicht gefolgt von den nicht-erwerbstätigen Müttern in Paarbeziehungen. 344 risikofaktor alleinerziehend? Die Eigenzeit kommt insbesondere bei den erwerbstätigen Frauen zu kurz Die persönliche Freizeit kommt für die meisten Mütter zu kurz: Nur rund zwei Prozent aller befragten Mütter gelingt es, sich täglich oder mehrmals wöchentlich Zeit für sich zu nehmen. Wieder sind es überwiegend die erwerbstätigen Mütter, die über einen akuten Mangel an Zeit für sich selbst ohne Familie und Partner berichten. Gut 75 Prozent der berufstätigen Mütter mit Partner sagen, sie hätten zu wenig Zeit für sich. Bei den erwerbstätigen Alleinerziehenden sind es etwa 69 Prozent. Umgekehrt heißt das: Sie sind etwas zufriedener (30,4 Prozent) als Mütter in Paarbeziehungen (24,2 Prozent) mit ihrer individuell zu gestaltenden freien Zeit. Dieser Befund legt nahe, dass das Zusammenleben mit einem Partner nicht unbedingt zu Entlastungen führt. Die Daten lassen den Schluss zu, dass Mütter mit Partner im eigenen Haushalt eher unzufriedener mit dem Zeitkontingent sind, das ihnen für selbstbestimmt gestaltete „eigene“ Zeit zur Verfügung steht. So scheint die Paarzeit zu Lasten der Eigenzeit zu gehen. Gleichwohl sind es die Mütter mit Partner im eigenen Haushalt, von denen zwar über die Hälfte selten (55,9 Prozent), aber immerhin gut 42 Prozent zumindest ein- bis zweimal im Monat allein oder mit Freundinnen und Freunden etwas unternimmt bzw. unternehmen. Bei den Alleinerziehenden liegen die Zahlen im Schnitt etwa vier Prozent niedriger. Zumindest im Hinblick auf Treffen mit Freundinnen und Freunden scheinen Mütter in Paarbeziehungen weniger Anlass zur Unzufriedenheit zu haben. Trotz sehr unterschiedlicher zeitlicher Ressourcen sind auch in der Alltagsgestaltung weniger Unterschiede zwischen alleinerziehenden Müttern und Müttern in Partnerschaften erkennbar als vielmehr zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Müttern. Woran dies liegt, wer im Alltag Unterstützung leistet, und welche Rolle ein oder kein Partner im eigenen Haushalt einnimmt, wird im Folgenden näher beleuchtet. 345 sabina schutter Alleinerziehende sind gut mit Freunden vernetzt Private Unterstützung, Rat und Hilfe werden als wesentliche Faktoren für die Gewinnung von Zeitressourcen und die Zufriedenheit Alleinerziehender benannt. Wenn es die Möglichkeit gibt, beispielsweise bei kurzfristigen Engpässen in der Kinderbetreuung Freundeskreis oder Nachbarinnen und Nachbarn um Hilfe zu bitten, ist mehr Flexibilität möglich und auch die Potenziale, sich zu erholen und Eigenzeit zur Verfügung zu haben, wachsen an. Alleinerziehende sind auf ein stabiles soziales Netzwerk angewiesen, nicht nur, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, wenn es notwendig ist, sondern auch, um Isolation zu vermeiden. Einige Untersuchungen stellen fest, dass insbesondere erwerbslose Alleinerziehende mit Minderwertigkeitsgefühlen und sozialer Isolation zu kämpfen haben (Rinken 2010). Andere Befunde (BMFSFJ 2011, S. 8) verweisen dagegen auf einen neuen Typus von Einelternfamilien, in denen die Mütter optimistisch in die Zukunft blicken und über ein hohes Selbstbewusstsein verfügen. Diese befragten Mütter gaben in Gruppendiskussionen an, häufig über gute bis sehr gute soziale Netzwerke zu verfügen oder in einer neuen Partnerschaft zu leben, jedoch ohne gemeinsamen Haushalt. Die AID:A-Analysen zeigen, dass sowohl Alleinerziehende als auch Mütter in Partnerschaften offenbar über ausreichend Gelegenheiten verfügen, sich Hilfe zu suchen, sei dies bei Nachbarn, Verwandten oder Freunden. Über 90 Prozent der Mütter aller befragten Gruppen haben geantwortet, dass es jemanden gibt, den sie um Hilfe bitten können. Insgesamt finden sich unterschiedliche Typen der Unterstützung. Es gibt Alleinerziehende, die eher auf die Hilfe der eigenen Eltern, insbesondere der Mutter, zurückgreifen oder diejenigen, die ein dichtes Netz von Freunden haben. Der Verteilung dieser Inanspruchnahme gehen die folgenden Daten auf den Grund. Im Rahmen des AID:A-Surveys wurden die Erwachsenen gefragt: „Wenn Sie mal Hilfe brauchen: Gibt es da Personen außerhalb Ihres Haushaltes, an die Sie sich wenden können?“ (vgl. Abb. 6). 346 risikofaktor alleinerziehend? Abb. 6: Inanspruchnahme von Hilfe bei Freunden, Verwandten oder Nachbarn (in Prozent) Mit Partner nicht erwerbstätig 78 % 48 % Mit Partner erwerbstätig 79 % 56 % 26 % 84 % 37 % 37 % Alleinerziehend nicht erwerbstätig Alleinerziehend erwerbstätig 28 % Freunde Nachbarn 86 % 63 % 82 % Verwandte Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.955 (gewichtet, eigene Berechnungen) Nicht-erwerbstätige Mütter mit Partner suchen mit 85 Prozent am häufigsten die Unterstützung der eigenen Verwandten. Demgegenüber bitten die nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden über alle Gruppen mit 75 Prozent am häufigsten Freunde um Hilfe. Da auch die erwerbstätigen alleinerziehenden Mütter mit 69 Prozent immer noch häufiger als Mütter in Partnerschaften von Freunden unterstützt werden, scheint es sich hierbei um ein Merkmal der Familienform zu handeln (vgl. Abb. 6). Hierfür kann es vielfältige Gründe geben. Möglicherweise wird die Beziehung zu Verwandten, insbesondere zu denen des ehemaligen Partners, eher beendet werden, wenn auch die Bezie- 347 sabina schutter hung endet. Eventuell geht mit dem Beziehungsende auch ein Umzug einher, der gegebenenfalls direkte Kontakte durch die Wohnentfernung einschränkt. Nicht-erwerbstätige Mütter in Paarbeziehungen bitten eher Verwandte um Hilfe. Über alle Gruppen fällt allerdings auf, dass ausgerechnet Nachbarn, die ja qua Wohnortnähe als häufige Anlaufstelle gelten könnten, am wenigsten gefragt werden. Es wäre möglich, dass insbesondere erwerbstätige Alleinerziehende weniger Zeit zur Verfügung haben, um sich in ihrem nachbarschaftlichen Umfeld zu engagieren oder Kontakte zu knüpfen. Dies kann ein Grund dafür sein, dass der Zusammenhalt schlechter bewertet wird. Es ist darüber hinaus gut möglich, dass Alleinerziehende auch infolge ihrer prekäreren finanziellen Situation eher in problematischeren Wohnumgebungen wohnen, in denen sie daher schlechter Anschluss finden. Nicht-erwerbstätige Mütter in Paarbeziehungen in Ostdeutschland geben zu mehr als 50 Prozent an, dass der Zusammenhalt in ihrer Nachbarschaft eher gut ist. Die schlechtere Bewertung der Nachbarschaft ist also kein ostdeutsches Phänomen, sondern geht eher mit der Familienform einher. Alleinerziehende suchen in schwierigen Situationen bei Freunden und Geschwistern Unterstützung Neben dem Aspekt alltäglicher Hilfen kann es Situationen geben, die einer weitergehenden Unterstützung bedürfen. Denkbar sind hier Konflikte in Familie oder Beruf, wichtige Entscheidungen in der Erziehung oder andere heikle Situationen. Es stellt sich die Frage, ob Alleinerziehende neben Hilfe zusätzlich auch Rat und Unterstützung in schwierigen Situationen suchen, und wenn ja, bei wem. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Alleinerziehende auch schwierige Entscheidungen hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder allein treffen müssen, wenn der Vater des Kindes nicht mehr erreichbar ist, ist diese Unterstützung von besonderer Bedeutung. Im allgemeinen Vergleich fällt auf, dass alle Mütter vor allem Freunde und Bekannte angeben, wenn es um Unterstützung in schwierigen Situationen geht (vgl. Abb. 7). 348 risikofaktor alleinerziehend? Abb. 7: Suche nach Rat und Unterstützung in schwierigen Situationen (in Prozent) 76 % 80 % Freunde/ Bekannte 85 % 86 % 24 % 23 % Verwandte Kinder 33 % 33 % 19 % 22 % 13 % 24 % 47 % 43 % 40 % Geschwister 54 % 37 % Vater 32 % 43 % 31 % 60 % Mutter 53 % 66 % 57 % Mit Partner nicht erwerbstätig Alleinerziehend nicht erwerbstätig Mit Partner erwerbstätig Alleinerziehend erwerbstätig Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=2.092 (gewichtet, eigene Berechnungen) Mütter suchen unabhängig von ihrem Familienstand oder Erwerbsstatus seltener Rat und Unterstützung bei ihrem Vater als bei ihrer Mutter. Dabei geben nicht-erwerbstätige Alleinerziehende mit 66 Prozent über alle Gruppen ihre Mutter am häufigsten als Ratgeberin an. Dies kann damit zu tun haben, 349 sabina schutter dass diese Gruppe mitunter jünger ist. Erwerbstätige Alleinerziehende suchen im Vergleich mit den anderen Gruppen am häufigsten bei ihren Geschwistern Rat. Insgesamt zählen jedoch vor allem Freunde und Bekannte als die Gruppe, bei denen Alleinerziehende am häufigsten Hilfe suchen. Sowohl bei den nichtberufstätigen (85 Prozent) als auch den arbeitenden Müttern (86 Prozent) ist dies die bevorzugte Wahl. Die hier untersuchte Gruppe Alleinerziehender stellt sich trotz berichteter Zeitengpässe und wirtschaftlicher Nöte nicht als Problemgruppe dar. Alleinerziehende Mütter erziehen nicht per se allein; so, wie manche Mütter in Paarbeziehungen nicht davor gefeit sind, im Prinzip ihre Kinder allein zu erziehen. Alleinerziehende, die gut vernetzt sind, leben ähnlich wie Mütter in Partnerschaften. Zwischen Alleinerziehenden und Müttern in Paarhaushalten gibt es manche Parallelen, während sich die Dimension der Erwerbstätigkeit häufig als ein Kriterium erweist, das trennend wirkt. So gibt es interessanterweise keine signifikanten Unterschiede, wenn es darum geht, wie stark sich Mütter durch die Kinderbetreuung belastet fühlen. Mit und ohne Partner, mit und ohne Job: Über alle Gruppen hinweg empfinden zwischen 50 und 60 Prozent der Mütter die Erziehung und Betreuung der Kinder selten als Belastung. Allerdings hätte über ein Drittel der erwerbstätigen Alleinerziehenden gern mehr Zeit für ihre Kinder. Rund 18 Prozent von ihnen verbringen pro Tag weniger als eine Stunde mit ihren Kindern. Am zufriedensten sind die nichtberufstätigen Mütter in Paarhaushalten, die dem traditionellen Mutterbild am klarsten entsprechen, mit der zur Verfügung stehenden „Kinderzeit“. Die AID:A-Befunde zur Einkommensverteilung bei Alleinerziehenden, insbesondere bei denen, die nicht erwerbstätig sind, bestätigen ein bekanntes Risiko. Der Hälfte aller Alleinerziehenden, die nicht berufstätig sind, steht weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung und ist damit armutsgefährdet. Und selbst bei den Müttern im vorliegenden Sample, die über eine relativ hohe Bildung verfügen, zeigt sich: Erwerbstätige Alleinerziehende haben weniger Einkommen zur Verfügung als Mütter mit Partner. 350 risikofaktor alleinerziehend? III Alleinerziehen als Risikofaktor für Kindeswohlgefährdung? Was bedeuten diese Daten für die Bedingungen von Kindern in Einelternfamilien und eventuelle Risikolagen? Im Hinblick auf die Einschätzung von Risiken für das Kindeswohl lässt sich die Statistik zu Einschätzungsverfahren bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII heranziehen. Die Analyse der Zahlen von 2013 zeigt deutlich, dass ein erhöhter Anteil von Kindern alleinerziehender Eltern ein Verfahren zur Gefährdungseinschätzung durchläuft. Verfahren insgesamt 115.687 Aufenthalt bei …alleinerden Eltern ziehendem Elternteil 45.284 49.128 (39,1%) (42,5%) Elternteil mit neuem/neuer Partner/in 13.813 (11,9%) Großeltern / Verwandte 4.820 (12,5%) 851 (2,2%) 2.103 (1,8%) Ergebnis: akute/latente Kindeswohlgefährdung 38.622 13.534 (35%) 16.313 (42,2%) Zieht man in Betracht, dass etwa 20% aller Familien Einelternfamilien sind, ist ein Anteil von mehr als 40% an den Verfahren eine deutliche Überrepräsentation. Diese Überrepräsentanz bleibt auch im Ergebnis des Verfahrens stabil, d. h. auch von den Fällen, die eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung als Ergebnis haben, sind mehr als 40% Kinder, die in Einelternfamilien leben. Zunächst gibt dieser Befund allerdings keinen genauen Aufschluss darüber, in welchem Ausmaß Alleinerziehende einem erhöhten Risiko einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung unterliegen. Dies eröffnet sich bei Betrachtung des sogenannten „relativen Risikos“. Ein relatives Risiko ist die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, wenn ein Risikofaktor vorliegt. Das heißt, wer raucht hat z. B. ein siebenfach erhöhtes 351 sabina schutter Risiko eines Herzinfarktes. Dazu wurde aus einer Gruppe von Rauchern und Nichtrauchern verglichen, wer einen Herzinfarkt erlitt und wer nicht. Relatives Risiko für Kinder Alleinerziehender gegenüber Kindern aus Paarfamilien (Ehepaare und nicht verheiratete Eltern) Einschätzungsverfahren nach § 8a SGB VIII 4,6 Ergebnis einer latenten oder akuten Kindeswohlgefährdung 5,1 Ergebnis einer latenten Kindeswohlgefährdung 5,5 Ergebnis einer akuten Kindeswohlgefährdung 5,9 Nur auf das Einschätzungsverfahren gerechnet liegt das relative Risiko bei Kindern aus Einelternfamilien gegenüber denen aus Paarfamilien bei 4,6. Für die Berechnung wurden Daten zu Alleinerziehenden aus dem Mikrozensus (2013) mit minderjährigen Kindern mit denen aus der Statistik zu Einschätzungen nach § 8a SGB VIII verglichen. Da die Daten die Familienformen unterschiedlich differenzieren, sind sie nur bedingt vergleichbar. Im Mikrozensus werden Haushalte mit minderjährigen Kindern nach Lebensform der Erwachsenen (Ehepaare, Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften) unterschieden. In der Statistik zum § 8a SGB VIII wird nach den leiblichen Eltern unterschieden, unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Im vorliegenden Fall wurden aus dem Mikrozensus die nichtehelichen Lebensgemeinschaften und die Ehepaare mit den zusammenlebenden leiblichen Eltern in der 8a-Statistik verglichen. Das relative Risiko kann als Näherungswert gelten. Kinder von Alleinerziehenden haben danach eine über viermal höhere Wahrscheinlichkeit, ein Kinderschutzverfahren zu durchlaufen. Dies kann auf eine erhöhte institutionelle Aufmerksamkeit oder eine erhöhte Meldebereitschaft hindeuten. Ob die Aufmerksamkeit aber ein Vorurteil in diesen spezifischen Fällen ist, lässt sich etwas besser beurteilen, wenn man das relative Risiko einer latenten oder akuten Kindeswohlgefährdung betrachtet. Hier liegen die relativen Risiken zwischen 5,1 und 5,9. Dies bedeutet, dass bei Kindern aus Einelternfamilien auch nach der Prüfung der konkreten Situation durch Fachkräfte der Jugendämter häufiger eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung bejaht wird, was zumindest gegen ein nur diffuses Misstrauen spricht. 352 risikofaktor alleinerziehend? Dies bedeutet, dass Kinder in Einelternfamilien nach erster Einschätzung tatsächlich ein erhöhtes Risiko haben, eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung zu erfahren. Die Zuschreibung der Alleinerziehenden als diejenigen Mütter, die ihre Kinder nicht ausreichend versorgen, ist nicht neu und ein wiederholtes Narrativ, wenn es um politische oder moralische Verurteilung der Autonomiebestrebungen von Frauen bzw. Müttern geht (vgl. Buske 2004). Das „Fräulein Mutter“ kann nach wie vor als Anzweifeln des bürgerlichen Familienideals gelten und speziell Mütter sind und waren hohen normativen Anforderungen ausgesetzt, wenn es um die Versorgung oder eben Unterversorgung von Kindern geht (vgl. z. B. Schutter 2011). Der vorliegende Beitrag soll daher keinesfalls den Anschein erwecken, alle Alleinerziehenden (Mütter) seien eine Gefährdung für das Wohl ihrer Kinder. Empirisch ist das Gegenteil der Fall: Der überwiegende Anteil der alleinerziehenden Elternteile meistert die Herausforderung der alleinigen Verantwortung für eigene Kinder mit Bravour. Entwicklungsnachteile durch das Alleinerziehen lassen sich in vorliegenden Studien nicht feststellen. Die Zahl der bei Kindern in Einelternfamilien durchgeführten Gefährdungseinschätzungen lag in Deutschland 2013 bei 49.128. Gemessen an der Zahl aller Alleinerziehender (1,6 Millionen) ist dies nach wie vor ein äußerst geringer Anteil. Die oben dargestellten Daten zeichnen ebenfalls ein überwiegend positives Bild der Lebensbedingungen von Alleinerziehenden. Es sind dennoch kleinere Nachteile erkennbar: Zeitnot, geringes Einkommen und auch die Unzufriedenheit mit der Zeitverwendung für die eigenen Kinder zeigen sich bei Alleinerziehenden etwas häufiger. Auch lassen sich vereinzelte Unterschiede in der Unterstützung durch Nachbarn und Verwandte abbilden. Es ist denkbar, dass unter besonders schwierigen Bedingungen wie konflikthaften Trennungen, Gewalt, psychischen Belastungen oder ausgeprägter Armut Lebenslagen vorkommen, die von mehrfachen Belastungen geprägt sind. Wenn dies mit geringer Unterstützung aus dem sozialen Umfeld oder sozialer Isolation einhergeht, so sind für einen kleinen Teil von Familien die Situationen so bedrängend, dass sie womöglich auch zu Gefährdungen der Kinder führen und Mehrfachbelastungen die eigene Erziehungs- und Fürsorgefähigkeiten einschränken. 353 sabina schutter Mögliche erhöhte Risiken sollten nicht zu einer Verschärfung von Zuschreibungen oder Kontrollen nach einfachen Kriterien führen. Vielmehr soll eine offene Reflexion dazu angestoßen werden, wie Kinder und ihre Eltern in besonderen Belastungslagen besser unterstützt werden können, um die Ungleichheiten zwischen den Familienformen abzubauen. Details zu den Lebenssituationen von Alleinerziehendenfamilien, in denen eine Kindeswohlgefährdung vorkommt, stehen noch aus. Es besteht daher dringender Forschungsbedarf zu der Frage, unter welchen Bedingungen genau diese kleine Gruppe von Familien lebt und welche präventiven Angebote unterstützend und schützend wirken könnten. 354 risikofaktor alleinerziehend? Literatur Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008): Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2012): Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik. Achter Familienbericht. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011a): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011b): Lebenswelten und -wirklichkeiten von Alleinerziehenden. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2008): Alleinerziehende: Lebens- und Arbeitssituation sowie Lebenspläne. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Berlin. Buske, Sybille (2004): Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit 1900–1970. Göttingen. Dürr, Anke/Voigt, Cornelia (2006): Die Unmöglichen. Mütter, die Karriere machen. München. Herbold, Astrid (2006): M.O.M. Mutter ohne Mann. Warum Alleinerziehende so verdammt glücklich sind. Berlin. Hochschild, Arlie Russell (2006): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause die Arbeit wartet. Wiesbaden. Meier-Gräwe, Uta/Kahle, Irene (2009): Balance zwischen Beruf und Familie. Zeitsituation von Alleinerziehenden. In: Heitkötter, Martina/Jurczyk, Karin/ Lange, Andreas, Meier-Gräwe, Uta (Hg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien. Opladen, S. 91–111. Rinken, Barbara (2010): Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie? Alleinerziehende Mütter und Väter mit ost- und westdeutscher Herkunft. Wiesbaden. Schutter, Sabina (2011): Arme Alleinerziehende: Strukturen, Ursachen, Folgen und Mythen. In: BZgA Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, Heft 1, S. 24–27. 355 sabina schutter Statistisches Bundesamt (2010): Alleinerziehende in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2010. Berlin. Statistisches Bundesamt (2001/02): Zeitbudgetstudie. Berlin. 356 W klaus roggenthin Was wir den Kindern inhaftierter Eltern schulden 1 Was geht in den Seelen der Kinder vor, wenn der Vater oder die Mutter im Gefängnis sitzen? Vermissen sie das Elternteil im täglichen Leben oder sind sie eher froh, dass es hinter Schloss und Riegel ist? Welchen Risiken sind sie ausgesetzt, wenn sie Vater oder Mutter im Knast besuchen und welchen biografischen Gefährdungen, wenn es ihnen verwehrt wird? Drohen Traumatisierungen, gar eine eigene kriminelle Karriere, oder ist alles halb so schlimm? Brauchen wir organisatorische Veränderungen im Justizvollzug und der Jugendhilfe, um den schuldlos in diese Lage geratenen Kindern gerecht zu werden? Wer muss an welcher Stelle tätig werden, um den betroffenen Kindern gerecht zu werden? Stimmen betroffener Kinder Bis auf wenige Fachleute weiß das eigentlich niemand so genau in Deutschland. Der Grund? Die mitbetroffenen Kinder der Gefangenen sind nur recht selten Thema der Politik, der Verwaltung oder der Forschung.2 Ein blinder Fleck in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Kinderpolitisches Niemandsland, für das sich niemand zuständig fühlen will. In anderen Staaten, insbesondere solchen mit starker kinderrechtlicher Tradition, ist man diesbezüglich wesentlich aufmerksamer. Dort ist es vertraute Praxis, junge Menschen in ihren eigenen Angelegenheiten zu Wort kommen zu lassen und daraus politische Konsequenzen in deren bestem Interesse zu ziehen. Ein gutes Bei- 1 Der Beitrag knüpft an dem Werkstattgespräch »Wenn Eltern kriminell werden – Was macht der Knast mit den Kindern?« an, das der Autor am 11.9.2014 in Köln geleitet hat. 2 Das spiegelt sich auch darin, dass die Situation und die Bedarfe von Kindern Inhaftierter in den vom Deutschen Jugendinstitut gesteuerten Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung bisher kein Thema sind. 359 klaus roggenthin spiel dafür ist Norwegen. Die in Oslo ansässige Angehörigenorganisation »For Fangers Pårørende«3 hat gemeinsam mit einem Filmteam eine bemerkenswerte DVD zu diesem Thema gemacht. Grundlage des Films sind Interviews mit betroffenen Kindern verschiedenen Alters. Herausgekommen sind fünf kurze Porträts mit den Stimmen der Kinder und liebevoll gezeichneten Charakteren.4 Da gibt es beispielsweise Aron, dessen Vater gerade eine Freiheitsstrafe verbüßt. Der 5-Jährige erzählt, dass er anderen Kindern die Sache verheimliche: »Ich sage, er ist auf der Arbeit oder so was. Mehr sage ich nicht. Alle anderen im Kindergarten haben einen Papa, der nicht im Gefängnis ist. Das ist ein Problem.« Die Besuche im Gefängnis fühlen sich für ihn irgendwie fremd und ungemütlich an: »Wenn wir reingehen, sind da viele Türen. Und links ist eine Tür, da können nur die Aufseher durchgehen, wir nicht. Mehr weiß ich nicht. (Aron überlegt ein paar Sekunden.) Aber es ist nicht sehr schön dort. Im Spielzimmer gibt es ziemlich wenig Spielsachen, ja.« Die 11-jährige Ronja hat bereits schlechte Erfahrungen damit gemacht, anderen von der Inhaftierung zu erzählen. »Meine Freundinnen haben immer gefragt, wo mein Papa ist. Ich sagte, er ist auf der Arbeit, bis spät am Abend. Weil er nie Zuhause war sozusagen. Aber schließlich musste ich sagen, dass er im Gefängnis ist. Ich habe Angst, dass ich mal so ende wie er, wenn ich groß bin. Ein Mädchen, das früher in meiner Klasse war, hat mal gesagt: „Erst dein Papa, dann dein großer Bruder und dann du.“ Das hat sie zu mir gesagt. Das hat mich wirklich traurig gemacht.« Drittes Beispiel, Marine. Sie ist 14 Jahre alt. Wegen Drogenhandels wurde ihr Vater zu einer langen Haftstrafe verurteilt, von der er erst ein Jahr verbüßt hat. Gefragt, wie es ihr damit gehe, sagt sie: »Das Schlimmste daran, dass mein Vater im Gefängnis sitzt, ist, dass ich ihn nicht oft sehe. Als ich jünger war, mussten wir uns vor ihm verstecken. Damit Papa uns nicht finden konnte. Ich war wütend auf ihn, weil ich mich fragte: Warum musste der das tun? Weil–- er hat es irgendwie auch uns angetan. Er macht uns Angst. Und traurig, weil er im Gefängnis ist. Ich 3 Dt.: Für Angehörige von Gefangenen. 4 Der 15-minütige Animationsfilm „Du velger selv“ soll im Frühjahr 2015 in synchronisierter Fassung unter dem voraussichtlichen Titel „Papa ist im Gefängnis – Fünf Kinder erzählen“ als DVD mit didaktisch aufbereitetem Begleitmaterial für Multiplikatoren auch in Deutschland erhältlich sein. Anfragen: [email protected]. 360 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden verstehe nicht warum. Das macht mich sauer und traurig und froh. Alles zur selben Zeit, irgendwie. (…) Ich sage nicht immer, dass mein Vater im Gefängnis ist, denn sonst bekommen die anderen vielleicht Angst vor mir, weil sie denken, dass ich auch so bin.« Ein besonders folgenreicher Verlust Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland an jedem beliebigen Tag mehrere Zehntausend Minderjährige mit einer haftbedingten Trennung von den Eltern fertig werden müssen5 und ganz ähnliche Sorgen und Nöte haben wie Aron, Ronja und Marine. Die von der EU-Kommission initiierte COPING-Studie ließ vor ein paar Jahren in fünf Staaten, darunter Deutschland, die gesundheitlichen Auswirkungen von Gefängnisaufenthalten der Eltern auf deren Kinder untersuchen. Dabei bestätigte sich, was Fachkräfte hierzulande aus ihrer praktischen Arbeit seit geraumer Zeit übereinstimmend berichten: Die Minderjährigen stehen unter hohem emotionalen Stress, sind abwechselnd wütend und traurig, fühlen sich im einen Moment schuldig und im anderen verraten. Sie vermissen das Elternteil, machen sich große Sorgen, sie sind aber zuweilen auch wie Marine erleichtert, dass durch die Inhaftierung etwas Ruhe in einen zuletzt unberechenbaren Alltag einkehrt. Gleichzeitig sind sie bemüht oder gehalten, die familiäre Katastrophe gegenüber ihren Mitschüler(inne)n und Peers zu verbergen, teils weil sie sich schämen, teils um Kränkungen und drohende Beziehungsabbrüche zu vermeiden. Dieses innere Ringen mit ambivalenten Gefühlen, mit dem Wunsch, sich zu offenbaren, aber nicht reden zu dürfen, oder der Schmerz bereits erfahrener Stigmatisierungen hinterlassen bei vielen Kindern tiefe Spuren. Die COPINGForscher stellten fest, dass es um das seelische Wohlbefinden der Kinder Inhaftierter aus statistischer Sicht deutlich schlechter bestellt ist als in der davon 5 Die zuständigen Landes- oder Bundesbehörden erfassen die Zahl der betroffenen Minderjährigen bisher nicht. Die Universität Dresden hat aber im Rahmen der sogenannten COPING-Studie (2013) für Deutschland errechnet, dass es sich um ca. 100.000 junge Menschen unter 18 Jahren handelt. 361 klaus roggenthin nicht betroffenen Referenzgruppe (s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 6ff.). Eine aktuelle repräsentative Studie von Kristin Turney (USA) auf Basis des „Nationalen Surveys Gesundheit von Kindern“ belegt eine größere Häufigkeit einer Vielzahl gesundheitlicher Beeinträchtigungen wie ADS/ADHS, Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, Sprechbehinderungen, Sprachprobleme und Entwicklungsverzögerungen. Die Studie zeigt, dass Aufmerksamkeitsdefizit- und Verhaltensstörungen in dieser Gruppe eher zu beobachten sind als bei Scheidungskindern (s. American Sociological Association Press Releases 2014). Amanda Geller und Kollegen (2011) kommen in ihren eigenen aufwendigen empirischen Analysen zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie stellen fest, dass die Abwesenheit der elterlichen Bezugsperson durch Inhaftierung mit höherer Aggressivität sowie Aufmerksamkeitsstörungsdefiziten korreliere und schädlicher für die kindliche Entwicklung sei als andere Formen der väterlichen Abwesenheit. Bindungen werden eingefroren Für den französischen Psychologen Alain Bouregba sind die beobachtbaren Reaktionen der Kinder verschiedene Ausdrucksformen ein und desselben existenziellen Mangels, der haftbedingten Abwesenheit von Elternfiguren. Kinder brauchen für ihr gesundes Aufwachsen verlässliche Beziehungen zu ihren Eltern. Die zuverlässige Anwesenheit der Eltern ist fundamental für die Identitätsentwicklung. Nach Erkenntnissen der Bindungsforschung ist sie die Voraussetzung dafür, dass das Kind Ängste und neue Herausforderungen bewältigen kann und dadurch reift (s. Bouregba 2013). Es sei wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Bindung zwischen Kind und einem Elternteil, sobald sie einmal aufgebaut sei, dauerhaft bestehen bleibe. Selbst dann, wenn das Kind durch den Gefängnisaufenthalt keinen hinreichenden Kontakt mehr zu den Eltern habe. Häufig würde eine Trennung die emotionale Bindung sogar verstärken. Allerdings erstarre sie dann in dem Zustand, den sie zuletzt erreicht habe. Zu beobachten sei, dass die Kinder auf den Freiheitsentzug des Elternteils mit einer ganz spezifischen Form der Trauer reagierten, je nach Persönlichkeit und Temperament könne sich dies eher als Rückzug und Depression, Aggression oder ADHS äußern (s. ebd.). Die Inhaftierung einer 362 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden zentralen Bezugsperson, seine erzwungene Herausnahme aus der Familie und die seltenen, stark formalisierten und reglementierten Kontaktmöglichkeiten im Gefängnis stellen eine besonders schwierige Trennungserfahrung für die Kinder dar. Gehört Papa noch zur Familie oder nicht? Diese Erfahrung hat viel Ähnlichkeit mit dem Phänomen des „uneindeutigen Verlusts“, das Pauline Boss (2000) mit Blick auf bestimmte, besonders schwer zu verarbeitende zwischenmenschliche Verluste beschrieben hat. Darunter versteht die emeritierte amerikanische Psychologieprofessorin und Familientherapeutin den Verlust eines nahestehenden Menschen, der physisch nicht mehr greifbar, aber mental nach wie vor als anwesend empfunden wird. Solche Verluste beziehen sich beispielsweise auf nie gefundene Opfer von Natur- und Verkehrskatastrophen, Kriegsverschollene und -verschleppte oder unauffindbar bleibende Entführungsopfer. Die andere Variante eines uneindeutigen Verlusts bezieht sich auf Menschen, die zwar körperlich noch präsent sind, aber kognitiv immer weniger oder nicht mehr ansprechbar sind, etwa an Demenz Erkrankte bzw. Wachkoma-Patient(inn)en. Das besondere Bewältigungsproblem liegt in beiden Fällen in einem andauernden, nie zum Abschluss kommenden Prozess des Abschiednehmens. So wird die vormals vertraute Person einem immer fremder, ohne dass eine gefühlsmäßige Loslösung gelingen mag (s. Boss 2000, S. 9ff.). „Abwesenheit und Anwesenheit sind keine absoluten Daseinszustände. Menschen, denen wir uns nahe fühlen, verschwinden physisch oder welken psychisch dahin, ohne dass ihr Tod bestätigt wird oder sie tatsächlich sterben. Der Mensch mit Alzheimer-Krankheit, der geistig Behinderte und das Schlaganfall-Opfer sind genauso wenig erreichbar, wie der Entführte oder Gefangene. Durch diese Nichtentscheidbarkeit von Anwesenheit und Abwesenheit ist eine ganz spezifische Art von Verlust gegeben, der sowohl physische als auch psychische Auswirkungen auf die Betroffenen hat“ (Boss 2008, S. 8). Wie Bouregba beobachtet auch Boss bei den Betroffenen eine Art erstarrter Trauer, aus der sich diese, solange sich nichts an der äußeren Situation ändere, nicht ohne kompetente Hilfe von außen lösen könnten (s. Boss 2000, S. 13ff.). 363 klaus roggenthin Scheitern vorprogrammiert? Diese Befunde unterstreichen, dass die Folgen der Inhaftierung eines Elternteils nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Es besteht das Risiko einer nachhaltigen Störung des seelischen Gleichgewichts, mit allen negativen Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg in Beruf und Familie. Kirsten Neimann6, die leider früh verstorbene Pionierin des familiensensiblen Strafvollzugs in Dänemark, hat viele Jahre dafür gekämpft, dass sich die Justizund Sozialbehörden in ihrer dänischen Heimat ernsthaft der mitbestraften Kinder annehmen. Sie war überzeugt, dass die Inhaftierung eines Elternteils die entscheidende Weichenstellung für die spätere kriminelle Karriere eines Kindes sein kann (s. Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe u. a. 2014, S. 11). Aus den Vereinigten Staaten, einem Land von Masseninhaftierungen, hört man sogar, dass 70 Prozent der betroffenen Minderjährigen im Laufe ihres Lebens selbst wieder straffällig werden (s. Walker 2011, S. 3). Es stellt sich natürlich die Frage, ob und wie mit wissenschaftlichen Methoden ein ursächlicher Zusammenhang zwischen elterlicher Inhaftierung und eigenem Freiheitsentzug festgestellt werden kann und in welchem Umfang insgesamt ungünstige Sozialisationsbedingungen und erzieherische Einflüsse auf delinquentes Verhalten nehmen. Ein dänischer Sozialwissenschaftler hat sich die Mühe gemacht, einen Teil der verfügbaren aktuellen internationalen Forschungsarbeiten zu den Wirkungen der Inhaftierung auf die Kinder einschließlich der Frage des transgenerationalen Freiheitsentzuges auszuwerten. In seiner Analyse verzichtet er wohl aus gutem Grund auf genauere Quantifizierungen, kommt jedoch insgesamt zu dem Schluss, dass die „Kinder Inhaftierter eine sehr gefährdete Gruppe sind“, die ein „relativ großes Risiko“ aufweisen, „unter psychischen Problemen zu leiden“ und die „ein signifikantes Risiko (tragen), sich asozial zu verhalten und straffällig zu werden. Für manche Kinder stehen diese und andere Probleme in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Tatsache, dass ein Elternteil im Gefängnis ist“ (Smith 2014, S. 138). 6 Kirsten Neimann war viele Jahre als Anstaltsleiterin für die dänische Justiz tätig. Ihrem langen Atem ist es zu verdanken, dass im Jahre 2005 am Rande Kopenhagens das erste Familienhaus Europas entstand. In dieser bahnbrechenden Einrichtung des offenen Vollzuges leben seitdem straffällig gewordene Menschen gemeinsam mit ihren Kindern und Partner(inne)n. Frau Neimann starb 2013 nach schwerer Krankheit. 364 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden Vertrauen aufbauen Bis zu diesem Punkt sind wir stillschweigend davon ausgegangen, dass die Kinder wissen, dass ihr Vater oder ihre Mutter im Gefängnis sitzt. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Gerade jüngere Kinder werden nicht selten über den tatsächlichen Verbleib des verschwundenen Vaters7 getäuscht. Manche Eltern meinen, dem Kind die Wahrheit nicht zumuten zu können, ein andermal soll vermieden werden, dass sich die Schande in der Nachbarschaft herumspricht. Dann heißt es zum Beispiel „Papa arbeitet jetzt im Ausland“. Eltern sollten aber lieber versuchen, dem Kind die tatsächlichen Umstände sensibel zu erklären, um nicht das Vertrauen in sie als seine Bezugspersonen noch stärker zu strapazieren. Darüber hinaus hat das Kind über die Kinderrechtskonvention das Recht auf Information in allen es betreffenden Angelegenheiten (Art. 12). Der UN-Kinderrechtsausschuss hat daher im Rahmen der Erörterung der Situation von Kindern inhaftierter Eltern gefordert, dass „die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt das Kind alters- und reifegerecht informieren, damit es die Inhaftierung seines Elternteils verstehen kann“ (Schmahl 2013, S. 9). Aber auch Kinder, die die Wahrheit mehr oder weniger kennen, haben es schwer. Wem können oder dürfen sie sich anvertrauen? Wohin mit den Ängsten, der Scham, der Wut und den Fragen? Der in Freiheit verbliebene Elternteil ist durch die Inhaftierung des Partners häufig selbst „durch den Wind“. Damit beschäftigt, die eigenen Gefühle zu sortieren, und davon gestresst, plötzlich hereinbrechende existenzielle Probleme um das Einkommen und Wohnen lösen zu müssen, fehlt oftmals einfach die Ruhe und Geduld, sich mit den Sorgen der Kinder ausgiebig zu befassen. Bei der Frage wie gut oder schlecht ein Kind den Freiheitsentzug eines Elternteils kurz- oder langfristig bewältigt, fällt der Kontaktqualität zum inhaftierten Elternteil eine Schlüsselrolle zu (s. COPING-Konsortium 2012). 7 In Deutschland sind 95 Prozent der Insassen Männer. 365 klaus roggenthin Unterlassene Hilfeleistung Viele der geschilderten gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind mit darauf zurückzuführen, dass die Mädchen und Jungen zu wenig echten persönlichen Kontakt haben und ihnen weder die Möglichkeit gegeben wird, die ElternKind-Beziehung mit Leben zu füllen, noch das Geschehene gemeinsam mit dem straffällig gewordenen Elternteil aufzuarbeiten. Aber die Haftanstalten in Deutschland und den meisten anderen Staaten sind darauf in keiner Weise vorbereitet. Im Gegenteil: Das Gefängnis ist der Inbegriff einer kinderfeindlichen Institution. Eine Mutter berichtet: „Wir haben einmal richtig Ärger bekommen, als unser Sohn, ein Kleinkind, unter den Tisch zu seinem Vater gekrabbelt ist. Wir wurden rausgeworfen und mein Sohn wurde dann noch untersucht“ (ebd., S. 15). All das, was das Zusammenleben mit Kindern in Freiheit ausmachen kann, nämlich Nähe, Vertrautheit, Geborgenheit, Spontanität und Ausgelassenheit ist hinter den Mauern erst einmal verdächtig oder unerwünscht. Wenn also die Kinder die Eingangskontrollen passiert haben, persönliche Gegenstände (Spielsachen, Kuscheltiere, Handys etc.) abgegeben haben, wartet meist kein gemütlicher Besuchsraum auf sie, in dem gespielt, gelacht und gekuschelt werden kann. Sprechstunden statt Spielstunden Regelbesuch heißt das Standardformat, das die meisten Justizvollzugsanstalten (JVAs) praktizieren und zu dem auch – in gewissen Grenzen – die eigenen Kinder mitgebracht werden dürfen. Dabei handelt es sich im Grunde um Sprechstunden in einem etwas größeren Raum. Dort sind dann zum Beispiel acht, zehn oder noch mehr kleine Tische aufgestellt, an denen die Gefangenen gleichzeitig ihre Besuche empfangen können. Der Besuchsraum wird in der Regel optisch und/oder akustisch überwacht, oft sitzt zu diesem Zweck ein Beamter mit im Raum. Ein Junge erinnert sich: „Das erste Gefängnis in dem mein Vater war, war voll schrecklich. Ein Beamter stand da und musste mit anhören, worüber wir redeten. Wir saßen in einem kleinen Raum und es kam einem vor, als wäre man komplett umzingelt von Menschen, die man nicht kannte“ (Smith/ Jakobsen, zit. in Smith 2014, S. 143). Um das Einschmuggeln verbotener Gegen- 366 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden stände (z. B. Mobiltelefone) oder Drogen zu erschweren, ist unter der Tischplatte zuweilen eine Verblendung angebracht. Schlimmer für die Kinder (und die Eltern) ist, wenn zudem der Körperkontakt unterbunden wird. Leider zeichnet sich in den vergangenen Jahren in einigen Bundesländern der Trend ab, (wieder) Trennscheiben zwischen den Besuchern auf den Tischen anzubringen (s. Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe 2012a). Insbesondere für die jüngeren Kinder ist das Setting Regelbesuch/Sprechzeit schlicht frustrierend. Man kann aus ihrer Sicht dort eigentlich nur reden und auch nur dann, wenn einem die Erwachsenen, die selbst so viele organisatorische Dinge untereinander zu besprechen haben, Raum geben. So können die zur Verfügung stehenden 30, 45 oder 60 Minuten vergehen, ohne dass man sich überhaupt näher gekommen ist. Wie oft besucht werden darf, regeln im Großen und Ganzen die Anstalten selbst. Mindestens eine Stunde im Monat steht einem Gefangenen laut dem ehemals bundesweit geltenden Strafvollzugsgesetz (StVollGz) zu, mit der Einschränkung, dass nicht besondere Gründe dagegen sprechen. Nach der 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform haben die meisten Bundesländer Landesstrafvollzugsgesetze erlassen, in den anderen gilt noch das StVollGz. In einigen Bundesländern wurden und werden daraufhin die Besuchszeiten etwas ausgedehnt. Das grundsätzliche Problem ist aber geblieben, nämlich dass sich das Recht auf Besuch am Gefangenen und nicht etwa den Bedarfen seiner Kinder orientiert. Dies bedeutet auch, dass die Ausgestaltung der Regelbesuche darauf ausgelegt ist, effektiv und effizient Sicherheit und Ordnung in der Besuchssituation zu gewährleisten. Der personelle Aufwand für die Organisation der Besuche ist durch die Zuführung der Gefangenen aus ihren Zellen, der Kontrolle der Besucher(innen), der Überwachung der Besuche und ggf. der nachträglichen Durchsuchung der Gefangenen ohnehin sehr hoch. Kinder werden vor diesem Hintergrund eher als Störung im Betriebsablauf denn als pädagogische Herausforderung gesehen. Verantwortung übernehmen Dennoch, bei allem Verständnis für die dünne Personaldecke der JVAs, dabei kann und wird es nicht bleiben. Zum einen weil sich Deutschland als Unterzeichner der Kinderrechtskonvention in Art. 3 zu einer kindeswohlorientierten 367 klaus roggenthin Anwendung des Strafrechts und des Strafvollzugsrechts verpflichtet hat und in Art. 9 (Abs. 3) zusichert, für kindgerechte Umgangsmöglichkeiten mit ihrem inhaftierten Elternteil zu sorgen (s. Schmahl 2013, S. 5ff). Zum anderen, weil sich die Einsicht immer stärker durchsetzen wird, dass wir um unserer familien- und justizpolitischen Verantwortung gerecht zu werden, die betroffenen Kinder bestmöglich unterstützen müssen. Dazu gehört es, neben räumlichen Verbesserungen auch über familientaugliche Besuchszeiten an den Wochenenden und Feiertagen nachzudenken. Gerade dann nämlich, wenn berufstätige Eltern und schulpflichtige Kinder Zeit hätten, oder längere Anfahrtszeiten auf sich nehmen könnten, sind die meisten Gefängnisse für Besucher geschlossen. Man würde dem Justizvollzug aber nicht gerecht, wenn unerwähnt bliebe, dass es durchaus einige weitere Kontaktmöglichkeiten zwischen Kindern und Eltern gibt. Beispielsweise stellen nicht wenige Haftanstalten unter bestimmten Voraussetzungen den Familien nicht überwachte Langzeitbesuchsräume für mehrere Stunden zur Verfügung. Diese sind in der Regel mit Sofa, Spielen und Spielsachen, sanitären Anlagen und Küchenzeile eingerichtet und daher schon eher zur Pflege der Eltern-Kind-Beziehung geeignet. Diese Räume sind natürlich sehr gefragt, zumal sie auch noch dem Zweck der Pflege von Sexualkontakten mit (Ehe-)Partnern von draußen dienen. Entsprechend lang sind die Wartezeiten. Außerdem richten immer mehr Vollzugsanstalten – oft mit Unterstützung von Gefängnisseelsorgern und Fachkräften der freien Straffälligenhilfe – Vater-Kind-Gruppen ein oder führen Familiennachmittage durch. Diese Gruppenveranstaltungen sind bei Kindern und Eltern sehr beliebt, weil sie echte Begegnungen und familiengerechte Aktivitäten (zusammen Singen, Basteln, Essen) zulassen. Freilich übersteigt auch hier die Nachfrage bei weitem das Angebot. Und natürlich werden manche Eltern auch „gelockert“, wie es im Vollzugsjargon heißt. Das bedeutet, dass man ihnen kurze oder längere Familienbesuche in Form von Ausgängen oder Hafturlauben gewähren kann. Wie viele Kinder wie oft davon bundesweit profitieren, ist nicht bekannt. Aus der Perspektive der Kinder Insgesamt ist wichtig, dass diese Besuche und Kontakte immer im besten Interesse des Kindes und nicht etwa des Gefangenen stattfinden. Der Blick der 368 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden Vollzugsanstalt richtet sich bis dato in der Regel fast ausschließlich auf den Häftling. Was bringt der Kontakt im Hinblick auf seine Resozialisierung? Täte ihm ein Langzeitbesuch gut? Hat er sich ihn verdient durch gute Führung? Man muss aber versuchen herauszufinden, was die Kinder wollen und brauchen, denn ein Gefängnisbesuch hat auch eine belastende Seite. Eigentlich sind es die jungen Menschen, die Zuspruch und Ermutigung vom inhaftierten Elternteil brauchen, und doch haben sie mitunter das Gefühl, für das emotionale Befinden des Elternteils Verantwortung übernehmen zu müssen. Ein Mädchen erzählt: „Meistens waren wir aufgeregt und auch glücklich, weil wir ihn gesehen haben. Aber anfangs, als wir gegangen sind, haben alle immer geweint. Aber so zum Schluss haben wir gedacht, wenn wir jetzt heulen, dann geht es dem Papa ja noch schlechter“ (Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 14). Fachkräfte der Straffälligenhilfe berichten, dass sich die meisten Kinder den regelmäßigen Kontakt zum inhaftierten Vater bzw. zur inhaftierten Mutter wünschen. Die COPING-Studie konnte dies bestätigen: „Auch wenn den meisten Kindern die Umstände des Besuches nicht gefielen, freuten sie sich doch sehr über den Kontakt zum Elternteil“ (ebd.). Damit das Umgangsrecht des Kindes nicht zur Umgangspflicht gerät, müssen sie sensibel und altersangemessen gefragt werden, ob sie den Besuch wollen. Sie müssen auch nein sagen dürfen. Eltern befähigen Besuche in Haft können eine Gratwanderung sein, für die Kinder, aber auch für die Eltern. Alain Bouregba (2013) sagt, dass die Haft für manche Insassen eine emotionale Wüste sei, sie zögen sich zurück, blieben monate- oder jahrelang ohne Freunde und vertraute Menschen. In dieser Welt wirkten die eigenen Kinder draußen wie ein Versprechen auf ein besseres Leben. Das Verlangen des Gefangenen, die Kinder zu sehen, kann zur alles bestimmenden Idee werden. Gleichzeitig kann der Gefangene das Gefühl entwickeln, kein guter Vater zu sein, eine Furcht aufbauen, das Kind mit seinem verpfuschten Leben zu kontaminieren. Am Ende solcher Besuche bleiben beide Seiten – Kinder und Eltern – überfordert und traurig zurück. Auf einer internationalen Tagung berichtete eine Teilnehmerin, die im Besuchsbereich eines Gefängnisses arbeitet, dass ein Vater mehrere Monate 369 klaus roggenthin auf den ersten Besuch seiner Tochter warten musste. Als die Fünfjährige ihn schließlich besuchen kam, weinte der Mann während der gesamten Besuchszeit und konnte keinen einzigen Satz mit seiner Tochter sprechen. In solchen und anderen kritischen Besuchssituationen bedarf es einer professionellen Besuchsbegleitung, die behutsam mit den Beteiligten nach Lösungen sucht. Im geschilderten Fall gelang es schrittweise, den Vater anzuleiten, seine Gefühle besser zu beherrschen und eine aktive elterliche Rolle einzunehmen, sodass bei den Folgebesuchen die Tochter mehr von ihm hatte. Dies zeigt, dass ein Justizvollzug der Kinderbesuche ernst nimmt, gut daran tut, inhaftierte Eltern zu ermutigen und anzuleiten ihre elterliche Verantwortung anzunehmen. Doch davon ist man weit entfernt. Zwar gibt es in einzelnen Haftanstalten Angebote wie „Vätergruppen“ oder „Elternkompetenztrainings“, aber die Aufnahmekriterien sind streng und die wenigen zur Verfügung stehenden Plätze decken nicht annähernd den Bedarf (s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 15). Schützen allein genügt nicht Es ist wenig bekannt, wieweit sich die Kinder- und Jugendhilfe bisher den Kindern Inhaftierter annimmt. Vieles deutet darauf hin, dass die Jugendämter, falls sie von Inhaftierung eines Elternteils Kenntnis erhalten, zwar durchaus Risiken für das Wohl betroffener Minderjähriger wahrnehmen. Jedoch scheint dies häufig einseitig durch die Brille „schlechte Eltern“ zu geschehen. Mit anderen Worten, Jugendämter werden vor allem dann tätig, wenn es gilt, den Kontakt zu einem als potenziell „schädlich“ eingeschätzten Elternteil zu unterbinden. Dass jedoch in vielen Fällen die weitere psychosoziale Entwicklung durch unzureichende Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten sowie ausbleibende Beratungs- und Therapieangebote gefährdet sein kann, wird von den Jugendbehörden nicht immer gesehen. Eine Freiheitsstrafe kann zweifellos eine harte Prüfung für Eltern und Kinder sein, weil Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Identifikation erschüttert worden sind. Straffällig gewordene Väter oder Mütter bleiben aber für die meisten Kinder wichtig. Deshalb geht es weniger darum festzustellen, ob es gute oder schlechte Eltern sind (s. Bourgeba). Viel nötiger ist es, Kindern zu helfen, das Geschehene zu verstehen und zu verarbeiten sowie 370 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden eine Haltung zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht, sich weiterzuentwickeln. Ein von außen verordneter Kontaktabbruch ist oft das falsche Signal und sollte die Ultima Ratio sein. Jeder Fall sollte daher individuell betrachtet werden und den Willen des Kindes berücksichtigen. Dies gilt besonders dann, wenn der Grund der Freiheitsstrafe ein Verbrechen in der Familie oder gar am eigenen Kind ist. Je gefährlicher ein Elternteil von den Fachkräften eingeschätzt wird, desto professioneller müssen die gefundenen pädagogischen und therapeutischen Lösungen für das Kind sein (ebd.). Eine Handvoll Angebote In einigen Städten bieten Träger der Freien Straffälligenhilfe spezialisierte Angebote für Kinder und Angehörige von Inhaftierten an, z. B. begleitete Besuche in die Gefängnisse, Beratung und Freizeitaktivitäten. Es handelt sich um ca. 20–30 kleinere und kleinste Anlaufstellen, die, wie zum Beispiel „Freiräume“8 oder „Rückenwind“9, mit großem Engagement lebenspraktische und psychosoziale Unterstützung leisten (s. auch Schützwohl 2012). Auf Landesebene ist das finanziell vergleichsweise sehr gut ausgestattete Eltern-Kind-Projekt Chance in Baden-Württemberg hervorzuheben. Fast 60 Sozialpädagog(inn)en von verschiedenen Trägern der Freien Straffälligenhilfe wurden im Rahmen des zeitlich befristeten Projekts für die Arbeit mit betroffenen Kindern und Eltern qualifiziert (s. Belz 2014). Trotzdem ist nach Auffassung der deutschen COPING-Forschungsgruppe der tatsächliche Hilfebedarf bundesweit nicht annähernd gedeckt. Auf der Deutschlandkarte zeigen sich große weiße Flecken ohne jegliches Angebot (s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 29). Aber auch dort, wo es etwas für betroffene Kinder und Familien gibt, findet ein großer Teil nur alle vier bis zwölf Monate statt. Nur eine Handvoll der Angebote ist wöchentlich verfügbar (s. Schützwohl 2012). Seit 2014 können sich Kinder und Jugendliche – falls sie Kenntnis von dem Angebot erlangen – zumindest virtuell auf den Besuch im Gefängnis vorbereiten. Seit 2014 bieten sowohl der Deutsche 8http://tinyurl.com/ncdpydf 9http://www.rueckenwind-wittlich.de/ 371 klaus roggenthin Caritasverband als auch TREFFPUNKT e. V. speziell auf diese Zielgruppen zugeschnittene Informationen und Beratungen im Internet an.10 Die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen könnten ebenso wie die Sozialarbeiter(innen) und Lehrkräfte an den Schulen wichtige Ansprechpartner(innen) für Kinder sein, die damit zurechtkommen müssen, dass ein Elternteil im Gefängnis ist. Es hat den Anschein, dass dieses Thema im Bildungsbereich bisher weitgehendes Neuland darstellt. Daher ist es gut, dass in einem aktuellen Projekt mit Namen „TAKT“11 in Zusammenarbeit mit Fachkräften aus freier Straffälligenhilfe, Jugendämtern, Schulen, Gefängnissen und Polizeidienststellen ein Leitfaden erstellt werden soll, der Pädagog(inn)en und Erzieher(inne)n Orientierung für den sensiblen Umgang mit den Kindern von Inhaftierten geben soll (s. Starke 2014). Kindgerechtere Lösungen Obwohl in Deutschland wohl niemand will, dass Kinder für die Verbrechen ihrer Eltern bestraft werden, läuft es hierzulande faktisch genau darauf hinaus. Wie deutlich wurde, unterliegen die Mädchen und Jungen einem hohen Risiko, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln und sozial ausgegrenzt zu werden mit allen negativen biografischen Konsequenzen. Dennoch fühlen sich weder die Justiz noch die Kinder- und Jugendhilfe originär für sie zuständig. Es ist höchste Zeit, sich der vergessenen Kinder zu erinnern und ihnen die Unterstützung zu geben, die wir ihnen schulden. Nicht alles muss dabei neu erfunden werden. In unseren Nachbarländern, aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche, praxiserprobte Modelle, an denen sich staatliche Behörden und Wohlfahrtsverbände orientieren können. Zweifellos steht die Justiz in besonderer Verantwortung gegenüber den Kindern. Wenn es unvermeidbar ist, Eltern für ihre Taten einzusperren, müssen entspre- 10 www.besuch-im-gefängnis.de und www.juki-online.de 11https://www.treffpunkt-nbg.de/projekte/takt.html 372 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden chende Rahmenbedingungen für einen kindgerechten Umgang gewährleistet sein. Doch wie verschafft man der Kinderperspektive im Vollzug Geltung? Von Europa lernen Wie das geht, kann man zurzeit in Dänemark beobachten. Dort hat man, nach sehr positiven Erfahrungen mit einem vom Dänischen Institut für Menschenrechte initiierten Modellprojekt, begonnen, in jeder Haftanstalt Kinderbeauftragte zu benennen (s. Hagerup, S. 19). Diese Fachkräfte haben die Aufgabe, Ideen für kinderfreundliche Besuchsbedingungen zu entwickeln und umzusetzen. Dafür sind sie nicht nur mit einem robusten Mandat der Anstaltsleitung ausgestattet, sondern auch mit einem eigenen zeitlichen und finanziellen Budget. Da es sich in der Regel um Mitarbeitende handelt, die bereits vorher in der jeweiligen Anstalt tätig waren, sind ihnen die jeweiligen baulichen, personellen und organisatorischen Besonderheiten des Gefängnisses vertraut. Es ist faszinierend zu sehen, wie in relativ kurzer Zeit Eingangs- und Besuchsbereiche so umgestaltet werden, dass sie die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen. Wert wird auch auf die Einführung geeigneter Informationsmaterialien gelegt. Ein freundlich gestaltetes Plakat erklärt Kindern die Eingangskontrollen, ein Fotobuch im Warteraum zeigt Räume, die zum Alltag des Elternteils gehören, (z. B. Werkstatt, Sportraum, Gemeinschaftsküche), aber für die Kinder nicht zugänglich sind. So können sich die Kinder ein realistischeres Bild machen, wie es ihren Eltern im Gefängnis geht, machen sich weniger Sorgen. Neben gestalterischen Veränderungen haben die Kinderbeauftragten vieles auf der zwischenmenschlichen Ebene angestoßen. Dazu zählen Gesprächsgruppen und Besuchsausschüsse für inhaftierte Eltern, aber auch Sensibilisierungsmaßnahmen für das Anstaltspersonal. Dänemark ist auch die Heimat des Familienhauses Engelsborg, einer Einrichtung des offenen Vollzuges. Dort können Straftäter(innen) ihre Strafe oder Reststrafe gemeinsam mit ihren Kindern und Partner(inne)n verbüßen. Sie werden intensiv familientherapeutisch begleitet und auf vielfältige Weise für ein Leben in Freiheit vorbereitet. Das Wohlergehen der Kinder stellt im Mittelpunkt der therapeutischen und sozialpädagogischen Bemühungen (s. Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe u.a. 2014). In Belgien wurden mit Unterstützung der Angehörigenorganisation Relais- 373 klaus roggenthin Enfants-Parents in insgesamt neun Haftanstalten multifunktionale Besucherräume für Kinder und ihre inhaftierten Eltern geschaffen. Das Konzept heißt „Le Trilieux“ und zielt darauf, den emotionalen, kognitiven und körperbezogenen Bedürfnissen des einzelnen Kindes ganzheitlich und situativ gerecht zu werden. Zu diesem Zweck werden drei miteinander verbundene Räume angeboten. Der erste Raum bietet die Möglichkeit, sich zu bewegen, also zu klettern, zu rennen oder sich zu verstecken. Der zweite Raum dient der Entfaltung künstlerischer Kreativität. Es kann gebastelt, gemalt und anderweitig gestaltet werden. Der dritte Raum ist für ruhige Aktivitäten vorgesehen. Hier kann man sich beispielsweise mit einem Buch zum Vorlesen zurückziehen. Das Kind kann während der Besuchszeit alle drei Bereiche abwechselnd nutzen, wenn es die dort geltenden Regeln jeweils einhält. Hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter(innen) sorgen für einen sicheren Ablauf (s. Roggenthin 2013). „Spazio Giallo“, also „Gelber Raum“, heißt das in der Lombardei entwickelte Besuchskonzept, das es Kindern emotional erleichtern soll, ihre Eltern im Gefängnis zu besuchen. Es bietet einen kindgerechten Willkommensbereich, den Gelben Raum, in dem die Kinder sich unter Anleitung spielerisch oder kreativ auf den Besuch vorbereitet können. Dazu gehört auch ein Bilderbuch, das Kindern zeigt, wie ein Besuch verläuft. Zum anderen haben die Organisatoren unter dem Motto „Trovo Papa“ („Ich finde Papa“) einen sichtbaren Pfad – von der Durchsuchung über den Besucherraum und zurück zum Ausgang – gelegt, um Kinder in den gesamten Ablauf mit einzubeziehen. Ziel ist es, die Ängste vor der ungewohnten und abweisenden Gefängnisumgebung zu verringern (s. Sacerdote 2014). Köln traut sich Das Projekt „Bindungsräume“ im Köln-Bonner Raum greift einige Ideen der Italiener auf und entwickelt zum Teil neue Wege, Kindern und Jugendlichen den Elternbesuch im Gefängnis zu erleichtern.12 Die Initiative zu diesem Projekt 12 Zum Projektverbund gehören: BAG-S, JVA Köln, Alanus Hochschule, Morning Tears und SKM/SKF Köln. Einen Beitrag zur Finanzierung leistete auch Children for a better world. Die Alanus Hochschule hat ein Spendenkonto für das unterfinanzierte Projekt eingerichtet, http://tinyurl.com/kqlv8o4. 374 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden ging von der in Bonn ansässigen Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) aus. Sie wollte den praktischen Beweis erbringen, dass es im Verbund auch in deutschen Strafanstalten möglich ist, mitbestraften Kindern gerechter zu werden. Das 1969 fertig gestellte Kölner Gefängnis schien dafür die richtige Herausforderung zu sein. Es gehört zu den größten JVAs in Deutschland. Bis zu 1.200 Gefangene verbüßen hier ihre Haftstrafe. Der Bau ist mittlerweile so sanierungsbedürftig, dass sein Abriss beschlossene Sache ist. Die Anstaltsleitung war schnell für das Projekt zu gewinnen. Zum einen bestand ohnehin großes Interesse an familienfreundlicheren Eingangs- und Besuchsräumen. Zum anderen war für die Anfangsphase des Projekts sichergestellt, dass keine nennenswerten Mehrkosten auf die Anstalt zukamen. Die kreative Kraft zieht Bindungsräume vor allem aus der Zusammenarbeit mit der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Bindungsräume ist als interdisziplinäres und semesterübergreifendes Projekt konzipiert. Engagierte Dozentinnen bringen ihre Expertise aus den Bereichen Kindheitspädagogik, Malerei sowie Partizipation im öffentlichen Raum ein. Seit der Auftaktveranstaltung mit fachlichen Inputs der Projektpartner entwickelt eine Gruppe Studierender künstlerisch-pädagogische Konzepte zur Verbesserung der Besuchssituation in Köln-Ossendorf. Ein Teil der Projektbausteine wurde von den Studentinnen bereits erfolgreich implementiert (s. Fengler/Schilling/Tegtmeyer). Angelehnt an Spazio Giallo entwickelte eine Studentin mit dem Teilprojekt „Buddy“ kindgerechte Pfade durchs Gefängnis. Ein Bär namens „Buddy“ begleitet die Kinder auf Schritt und Tritt. Als lebensgroße Abbildung holt er die Kids bereits an der Eingangspforte ab. Seinen Tatzenspuren folgend gelangen die Kinder spielerisch unbeschwert in den Besucherraum und von da auch wieder nach draußen. Im Besucherraum liegt ein Bilderbuch aus. In diesem wird gezeigt, was Buddy im Gefängnis so alles erlebt. Außerdem können die Eltern Buddy als Kuschelbär kaufen und als „Trostspender“ mit nach Hause nehmen. Der Bär wird von Gefangenen in der Anstalt genäht. In einem weiteren Baustein wurde begonnen, die Atmosphäre im Regelbesuchsraum zu verbessern. Ein meterlanges Wandbild, das abstrakte Naturmotive zeigt und in warmen Farben gehalten ist, wurde mittlerweile montiert. In das Gemälde sind selbstgewählte Motive der Gefangenen aus ihren Zellen eingearbeitet. Es ist geplant, die bisherigen, schäbig wirkenden Tische und Stühle farblich darauf abzustimmen. Ferner soll der Langzeitbesuchsraum für die Familie grundlegend umgestaltet werden, um, 375 klaus roggenthin inspiriert durch „Le Trillieux“, Spiel und Kommunikation innerhalb der Familie und Raum für kreatives Tun zu schaffen. Mehrere andere Teilprojekte zielen darauf, auch älteren Kindern und Jugendlichen den Besuch zu erleichtern, so werden zum Beispiel die Wartebereiche mithilfe von jugendkulturellen Ausdrucksformen und Motiven sowie Informationsmöglichkeiten neu gestaltet.13 Düsseldorf fehlt der letzte Mut Einzelprojekte wie Bindungsräume lösen nicht das bundesweite Versorgungsproblem, aber sie zeigen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft exemplarisch auf, dass kindgerechte Lösungen im Gefängnis nicht auf einem fernen Stern in weiter Zukunft gesucht werden müssen. Man hört, dass das nordrhein-westfälische Justizministerium zur Erfüllung seines familienpolitischen Anspruchs im Ende 2014 in Kraft getretenen Landesstrafvollzugsgesetz prüfen will, wieweit sich der Ansatz von Bindungsräume auf andere Haftanstalten übertragen lassen kann. Das ist eine gute Idee. Immerhin enthält das neue Gesetz ein paar Ansatzpunkte, an denen ein kindgerechter Umgang im Gefängnis festgemacht werden könnte. In § 19 (Besuche) heißt es beispielsweise: „Ein familiengerechter Umgang zum Wohl der minderjährigen Kinder ist zu gestatten. Bei der Ausgestaltung der Besuchsmöglichkeiten, namentlich der Besuchszeiten und der Rahmenbedingungen der Besuche, sind die Bedürfnisse der minderjährigen Kinder der Gefangenen zu berücksichtigen.“ Die reguläre monatliche Besuchszeit von zwei Stunden soll „zur besonderen Förderung der Besuche von minderjährigen Kindern der Gefangenen“ um zwei weitere Stunden verlängert werden. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zu bedauern ist jedoch, dass die Landesregierung in Düsseldorf noch nicht den Mut aufbrachte, Kinderbeauftrage in ihren JVAs zu verankern. Auch eine Verpflichtung zur landesweiten statistischen Erfassung der Zahl der betroffenen Minderjährigen wäre notwendig gewesen, um den tatsächlichen Bedarf ermitteln und entsprechende Maßnahmen planen zu können. Sehr fraglich scheint, ob die 13 Weitere Informationen zu Bindungsräume unter http://tinyurl.com/nhatxmy. 376 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden veranschlagten jährlichen Mehrausgaben in Höhe von 524.000 € für Personal ausreichen werden, um in den immerhin 37 selbstständigen Justizvollzugsanstalten des Landes die geboten Verbesserungen anzustoßen. Insbesondere deshalb, weil auch räumliche Veränderungen in den Gefängnissen vorzunehmen sein werden. Nicht immer wird es gelingen, dass, wie im Projekt Bindungsräume, die Kosten der kindgerechten Umgestaltung der Eingangs- und Besuchsbereiche weitestgehend von externen Partnern geschultert werden. Der Weg beginnt, wo die befestigte Straße aufhört Erfreuliche Signale dringen zu uns aus dem Osten und Norden Deutschlands. Das Land Sachsen betrat im Jahre 2012 mutig Neuland und leistet sich seitdem einen Koordinator für den familienorientierten Vollzug.14 Dieser hat u. a. die Aufgabe, entsprechende Maßnahmen für betroffene Eltern und Kinder landesweit anzuregen, den Austausch zwischen den sächsischen JVAs zu koordinieren und die Sensibilisierung des Vollzugspersonals zu fördern (s. Börner 2013). Die sächsische Justiz hat in allen Vollzugsanstalten feste Ansprechpartner für die Angehörigenberatung benannt. Parallel dazu haben Vollzugsbedienstete in der JVA Dresden einen gemeinnützigen Verein zur Förderung der Beziehungen zwischen inhaftierten Eltern und ihren Kindern gegründet.15 Der Verein akquiriert Spenden und führt zusätzliche Maßnahmen wie Spielzeiten für Väter und Kinder, Familiennachmittage und sogar externe Wochenendfreizeiten durch (s. Schäfer 2014). In Berlin gibt es einen Begleitdienst der Freien Straffälligenhilfe, speziell für Kinder alleinerziehender Mütter mit Freiheitsstrafe. „Kid mobil“ wird weitgehend von Ehrenamtlichen getragen. Sie holen die Mädchen und Jungen aus dem Heim oder der Pflegestelle ab, begleiten sie in die Vollzugsanstalt und bringen sie wieder zurück. Auch für die Vor- und Nachbereitung der Kinder stehen die engagierten Bürgerinnen bereit. Das Angebot zielt darauf, die Mutter-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und zu festigen (s. Strang-Kempen 2012). Im aktuellen Entwurf des 14http://tinyurl.com/lpsctpq 15http://www.mitgefangenverein.de/ 377 klaus roggenthin Schleswig-Holsteinischen Landesstrafvollzugsgesetzes16 wird so deutlich wie nirgends im Lande auf die Notwendigkeit eines neuen familienorientierten Vollzuges (§ 24) hingewiesen: „Familienunterstützende Angebote bieten den Gefangenen Hilfe bei der Bewältigung ihrer familiären Situation, zur Aufrechterhaltung und Pflege ihrer familiären Beziehungen sowie Unterstützung in der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung an, unter anderem im Rahmen von Familien-und Paarberatung sowie von Väter- oder Müttertraining. Kinder und Partner der Gefangenen können in die Gestaltung einbezogen werden. Für Besuche und Kontakte im Rahmen dieser Angebote sind geeignete Räumlichkeiten vorzuhalten. In geeigneten Fällen nimmt die Anstalt Kontakt zu den zuständigen Sozialleistungsträgern auf.“ Diese und andere Beispiele zeigen, dass es in der der sozialen Strafrechtspflege nicht ohne Sozialarbeiterinnen, Vollzugsbedienstete, Anstaltsleiter, Ministerinnen und freiwillig Engagierte geht, die bereit sind, bestehende Verhältnisse zu hinterfragen, Initiative zu ergreifen und eine Zeit lang gegen den Strom zu schwimmen, damit sich etwas Grundlegendes ändert. Allerdings sind die Bretter, die es zu bohren gilt, im Justizvollzug besonders hart. Mehrausgaben in diesem Bereich sind ein politisch heikles Thema. Investitionen in Sicherheit oder in die Arbeit mit Opfern/Geschädigten sind noch verhältnismäßig gut vermittelbar. Bei ästhetisch ansprechenden und lichtdurchfluteten (Besucher-)Räumen mit entsprechendem Mobiliar hört der Spaß offenbar auf. Wiebke Hollersen überschrieb ihren Beitrag im KulturSpiegel über die humane Architektur des neuen Berliner Gefängnisses Heidering bezeichnenderweise mit „Schöner sitzen“.17 Welche Wohn- und Lebensqualität darf ein Knast bieten? Sein Architekt Josef Hohensinn vertritt selbstbewusst die Auffassung, dass ein Zweckbau wie ein Gefängnis nicht absichtlich hässlich sein müsse. Muss es aber offensichtlich doch. Resozialisierung mag als vornehmstes Ziel der Freiheitsstrafe nach wie vor in den meisten Landesstrafvollzugsgesetzen hochgehalten werden. In den Köpfen vieler potenzieller Wähler(innen) ist hingegen fest verankert, dass ein Gefängnis der Bestrafung, Vergeltung und Abschreckung diene und deshalb 16 Stand 10.12.2014. 17http://tinyurl.com/os6tqky 378 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden auch so aussehen müsse. Dem kann in unserem Kontext entgegnet werden, dass auch die Kinder durch die Folgen der elterlichen Straftat geschädigt wurden und daher Anspruch auf Wiedergutmachung und Ausgleich haben (s. Fengler/Schäfer 2012). Der herkömmliche Gefängnisbesuch tut Kindern nicht selten emotionale Gewalt an. Er bietet viel zu wenig, um die Eltern-Kind-Beziehungen zu klären oder zu heilen, und gleichzeitig zu viel, um die Beziehung loslassen zu können … ein ungesundes Dazwischen. Daraus folgt, dass sich die staatliche Gemeinschaft auf die Suche nach gerechten Lösungen für das Kind begeben muss. Soziale Lösungen, die geeignet sind, die Folgen des erlittenen Unrechts abzumildern und die darauf zielen, entwicklungsfördernde Beziehungen zu ermöglichen. Gesamtgesellschaftliche Verantwortung Was kann nun eine aufgeklärte Gesellschaft, wie die unsere, tun, um zu verhindern, dass Minderjährige mit ihrem eigenen Scheitern am Ende vielleicht den höchsten Preis für die Straftaten ihrer Eltern zahlen? Es beginnt damit, dass das Problem in seinen Dimensionen stärker bekannt und transparent gemacht werden muss. Wir überfordern die betroffenen Kinder und Jugendlichen, wenn wir ihnen zumuten, selbst für ihre Belange einzutreten. Der Strafvollzug muss daher in jedem Bundesland, in jeder JVA dazu verpflichtet werden, zu erfassen und zu dokumentieren, wie viele Kinder und Jugendliche jährlich betroffen sind, und wie es um ihre materielle und soziale Versorgung bestellt ist. Diese Daten sind als Planungsgrundlage für eine kind- und jugendgerechte Versorgungsstruktur der einzelnen Justizvollzugsanstalten heranzuziehen und auf Bundesebene, wenn möglich auch in der Kinder- und Jugendhilfestatistik, zusammenzuführen. Lägen die konkreten Zahlen auf dem Tisch, würde es nicht nur den Ländern, sondern auch dem Bund mit Sicherheit leichter fallen, entsprechende Praxismodellprojekte in den Ressorts Justiz, Familie, Soziales und Gesundheit aufzulegen und die notwendige nationale Forschung anzustoßen. Wir brauchen dringend einen Mentalitätswechsel im Strafvollzug. Die Zuständigkeit des Vollzuges muss wirkungsvoll auf die Angehörigen des Gefangenen erweitert werden. Eine Freiheitsstrafe greift tief in bestehende soziale Beziehungen ein. In der Pflege dieser sozialen Beziehungen während der Haft kann der Schlüssel einer gelingenden Wiedereingliederung liegen. Mitarbeitende 379 klaus roggenthin im Vollzug müssen sensibilisiert werden, Gefangene als Teil einer Familie zu begreifen, sie als (verhinderte) Eltern wahrzunehmen. Das Personal sollte befähigt werden, sie in ihrer erschwerten Vater- oder Mutterrolle zu unterstützen (s. Walker 2011). Kindeswohl und Sicherheit müssen keine Gegensätze im Gefängnis sein. Im Gegenteil, Praxis und Forschung zeigen: Zufriedenstellende Beziehungen zu den Kindern verbessern die Anstaltsatmosphäre, reduzieren destruktive Impulse und erhöhen die Sicherheit (s. Roggenthin 2012). Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (2000) und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (2012b) haben in der Vergangenheit ähnlich lautende Vorschläge für die nötige kinder- und familienorientierte Weiterentwicklung des Strafvollzuges zusammengestellt. In ihrer neuesten Stellungnahme bekräftigten und konkretisieren die Gefängnisseelsorger diese Vorarbeiten zur kindersensiblen Organisationsentwicklung. Dem Gefängnis als Institution wird darin empfohlen, · die Perspektive von Kindern und ihren Familien bei allen Entscheidungen zu berücksichtigen, · Kinderbeauftrage/Familienbeauftragte als Manager im Veränderungsprozess einzusetzen, · das Gefängnispersonal für den täglichen Umgang mit Kindern, Eltern und Angehörigen zu qualifizieren, · Fachdienste zur Begleitung von Angehörigen einzurichten, · mit externen Trägern zu kooperieren, die entsprechende Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Eltern haben. In Bezug auf die Kinder wird empfohlen, · die Besuchszeiten bedarfsgerecht zu flexibilisieren und auszuweiten, · Besuchsräume anzubieten, die den Bedürfnissen von Kindern und Familien entsprechen, · eigenständige Kontakte mit den inhaftierten Eltern zu ermöglichen (z. B. Vater-Kind-Besuche), · moderne und bezahlbare Telekommunikationsmöglichkeiten (in die An stalt hinein und aus der Anstalt heraus) regelmäßig zur Verfügung zu stellen, · altersgerechte Informationen über die Lebensalltag in Haft bereitzustellen. 380 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden In Bezug auf das inhaftierte Elternteil wird vorgeschlagen, · Angebote zur Förderung der Elternkompetenz anzubieten, · Ausgangsmöglichkeiten zur Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung und zur Alltagsbewältigung in der Familie zu schaffen, · den Gefangenen bei der Wahrnehmung ihres Umgangsrechts zu unterstützen, · für schützende Haftbedingungen und Fürsorge bei Schwangerschaft zu sorgen (s. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland 2014). Da der Anteil der Gefangenen mit ausländischen Wurzeln erheblich ist, sollten entsprechende familiensensible Maßnahmen idealerweise auch kulturelle Besonderheiten verschiedener Migrantengruppen in die Überlegungen mit einbeziehen. Die Justizvollzugsanstalten stehen zweifellos in einer besonderen Verantwortung, das Wohl der Kinder zu wahren, weil sie während des Freiheitsentzuges wesentlich über die Kontaktqualität zwischen dem Kind und dem Elternteil entscheiden. Wenn man auf das Ganze blickt, erkennt man aber auch andere wichtige Akteure. Das beginnt bei der polizeilichen Festnahme, die, vor allem, wenn das Kind anwesend ist und sie gewaltsam verläuft, traumatisierend wirken kann. Die Polizeibehörden sollten nach Auffassung der COPING-Forschungsgruppe im Vorfeld einer Verhaftung deshalb möglichst über die Familienverhältnisse des Festzunehmenden informiert sein und über ein Konzept für den rücksichtsvollen, altersangemessenen Umgang mit anwesenden Minderjährigen verfügen (s. COPING-Konsortium 2012). Die Untersuchungshaft kann für die betroffenen Kinder eine besonders belastende Zeit sein. Zum einen, weil zwischen der Verhaftung und dem ersten Besuch lange Wochen vergehen können. Zum anderen, weil die Ungewissheit der Familie über die mögliche Verurteilung, das Strafmaß und den Ort, wo die Freiheitsstrafe schließlich vollstreckt werden soll, ausgesprochen hoch ist. Daher ist es für die meisten Kinder emotional bedeutsam, dass sie binnen weniger Tage zuverlässig wissen, wo sich das Elternteil aufhält und dass sie es bald sehen können. Die Behörden sollten daher „sicherstellen, dass Kinder ihr inhaftiertes Elternteil innerhalb der ersten Woche nach der Inhaftierung besuchen können … und dass die 381 klaus roggenthin Verwaltungs- und Sicherheitsverfahren so organisiert sind, dass sie einem frühzeitigen Familienbesuch nicht entgegenstehen“ (ebd. S. 50). Eine Schlüsselrolle fällt den Gerichten zu. Die Richter(innen) entscheiden über die Haftdauer, darüber, ob eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird und ob sie im offenen oder geschlossenen Vollzug verbüßt werden muss. Das COPING-Konsortium rät dazu, im Strafverfahren das Kindeswohl mit zu bedenken und hierzu eine Kinder-Folgeneinschätzung vorzunehmen (s. ebd.). Mit der Gerichtshilfe steht in Deutschland ein wenig genutztes Instrument zur Verfügung, die familiären Lebensumstände eines Beschuldigten zu recherchieren. „Die Einschätzung sollte den Status des Täters in Bezug auf das Kind (alleiniger oder gemeinsamer Fürsorgender), den aktuellen Wohnort des Kindes und die voraussichtliche Aufenthaltsregelung für das Kind nach Verhängung der Freiheitsstrafe berücksichtigen“ (ebd.). Vermutlich wäre es im besten Interesse der betroffenen Minderjährigen, spätestens bei Urteilsvollstreckung, aber besser unmittelbar nach der Verhaftung von staatlicher Seite den Kontakt zu den Jugendbehörden oder einer geeigneten Anlaufstelle der Freien Straffälligenhilfe herzustellen. Deren Fachkräfte könnten dann am Einzelfall orientiert den spezifischen Hilfebedarf klären, Besuche in Haft arrangieren oder diese im Bedarfsfall begleiten. Die Expertise und die Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe, des Kinderschutzes und der spezialisierten Anlaufstellen der Freien Straffälligenhilfe sollten künftig in folgenden Handlungsfeldern stärker zum Tragen kommen: · Beratung des Vollzugs bei der Entwicklung bedarfsgerechter kindgerechter Besuchssettings, · Aufarbeitung der Inhaftierung und der Straftat mit den Betroffenen (ver urteiltes Elternteil, Kinder, Partner, Geschwister), · pädagogische Begleitung der Besuche zum inhaftierten Elternteil, · Entwicklung von Umgangslösungen für das betroffene Kind in Konfliktfällen, · fachliche Schulung von Ehrenamtlichen für die Begleitung von Kindern zu ihren inhaftierten Eltern, · Unterstützung der Rückkehr in die Familie am Haftende (familiales Übergangsmanagement), · Elternkompetenztraining innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern, · begleitete Langzeitaktivitäten mit Inhaftierten und ihren Kindern (z. B. Vater-Kind-Wochenenden, Familienfreizeiten), 382 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden · · Beteiligung an der familiensensiblen und kinderrechtlichen Fortbildung des JVA-Personals, Einrichtung von Kinder-, Jugend- und Familiensprechstunden (s. Roggenthin 2014, S. 68). Es spricht viel dafür, auch die Bildungseinrichtungen in der Pflicht zu nehmen, denn die Kinder von Inhaftierten bringen ihren Rucksack drückender Probleme zwangsläufig mit in die Kindertagesstätte und ins Klassenzimmer. „Sie laufen Gefahr, auch dort Druck zu bekommen, statt verstanden und unterstützt zu werden. Dann nämlich, wenn es PädagogInnen nicht gelingt, ihre auffälligen Reaktionen richtig einzuordnen und das vertrauensvolle Gespräch mit ihnen und ihren Eltern zu suchen. Oder sie vor Ausgrenzung durch MitschülerInnen zu schützen und bei Bedarf an externe Fachkräfte zu vermitteln“ (Roggenthin 2015). Von der Kür zur Pflicht Der Staat kommt nicht umhin, Verbrechen zu sanktionieren, auch wenn die Täter Eltern minderjähriger Kinder sind. Genauso zwingend ist aber, dass er öffentliche Verantwortung für die mitbetroffenen Kinder und Familien übernimmt. Letztlich ist es unsere Gesellschaft diesen Kindern und Eltern schuldig, wohnortnahe, tragfähige und flächendeckende Unterstützungsnetze und Besuchsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Diese Netze müssen auf lokaler/regionaler Ebene in geteilter Verantwortlichkeit und klarer Zuständigkeit von den Gerichten, dem Justizvollzug, den Gefängnisseelsorgern, der Kinder- und Jugendhilfe, dem Kinderschutz, den Kindertageseinrichtungen, den Schulen und der Polizei geknüpft werden. Um die Zusammenarbeit zu erproben und Verbesserungsbedarfe zu ermitteln, sollte der Bund ein ressortübergreifendes Modellprojekt (Familien-, Justiz- und Sozialministerium) mit mehreren Modellstandorten auflegen und wissenschaftlich begleiten lassen. Parallel dazu müsste im Rahmen eines mit öffentlichen Mitteln geförderten Rechercheauftrages eine regelmäßig zu aktualisierende öffentlich zugängliche, internetbasierte Datenbank erstellt werden, die alle bestehenden Hilfe-, Beratungs- und Kontaktangebote im Justizvollzug, in der Jugendhilfe und in der Straffälligenhilfe beinhaltet. Für die Entscheidungsträger und Fachkräfte 383 klaus roggenthin in den Handlungsfeldern Justizvollzug sowie Kinder- und Jugendhilfe wäre ein Katalog mit bereits umgesetzter guter Praxis in Deutschland und anderen Ländern sehr hilfreich. Der Ausbau der Versorgungsstruktur ist auf Fachkräfte angewiesen und sollte durch engagierte, fachlich begleitete Freiwillige ähnlich wie in Frankreich oder Belgien (Relais Parents Enfants18) sinnvoll ergänzt werden. Dieses bürgerschaftliche Engagement könnte in einem ersten Schritt an bestehenden zivilgesellschaftlichen Engagementstrukturen im Gefängnis19 anknüpfen und das bisherige Handlungsfeld erweitern. Eine Allianz aus Kinderverbänden wie dem Deutschen Kinderschutzbund oder der Deutschen Liga für das Kind, Elternverbänden, Menschenrechtsorganisationen, der Kinderkommission des Deutschen Bundestages sowie der Freien Straffälligenhilfe muss das Thema Fürsorge und Rechte für Kinder Inhaftierter so lange auf ihre Agenden setzen, bis sich flächendeckend nachhaltige Verbesserungen für die betroffenen Minderjährigen abzeichnen. In den Landesstrafvollzugsgesetzen sollten im Nachgang die rechtlichen Grundlagen für eine wirksame familienorientierte Vollzugspraxis fixiert werden. Hilfreich wäre eine Plattform oder Regiestelle auf Bundesebene, die Fördermittel akquiriert, den fachlichen Austausch unterstützt, Hindernisse identifiziert, Ideenwettbewerbe ausschreibt und den Entwicklungsstand regelmäßig dokumentiert. Utopisch, illusorisch? Vielleicht, aber Bescheidenheit kann nach Jahrzehnten der Untätigkeit nicht die Richtschnur sein. Wir brauchen in Deutschland Akteure, die sich für eine radikal andere, humanere Kultur des Umgangs mit Kindern inhaftierter Eltern einsetzen. Sind Sie demnächst dabei? 18http://www.relaisenfantsparents.be 19 Beispiel Baden-Württemberg: http://www.ehrenamt-jva.de/. 384 was wir den kindern inhaftierter eltern schulden Literatur American Sociological Association Press Releases (2014): Parental Incar ceration Can Be Worse for a Child Than Divorce or Death of a Parent, Presse information vom 16.8.2014 (http://tinyurl.com/lewm3xa) (Abruf 10.01.2015). Belz, H. (2014): Hilfen für Kinder von Inhaftierten – Eltern-Kind-Projekt-Chance. In: Kerner, H.-J./Marks, E. (Hg.): Internetdokumentation des Deutschen Präven tionstages. Hannover 2014 (http://tinyurl.com/kjxlsth) (Abruf 13.12.2014). Bieganski, J./Starke, S./Urban, M.: Informationsbroschüre Kinder von Inhaf tierten – Auswirkungen. Risiken. Perspektiven (2013). Dresden/Nürnberg (http://tinyurl.com/oef9s75) (Abruf 10.01.2015). Börner, P. 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Zu diesem Komplex gehören: Inklusion, Inklusive Schule, Inklusionspädagogik, Schule für alle, Inklusive Gesellschaft, Inklusiver Kiez, Inklusive Haltung, Inklusives Leitbild, Inklusives Bildungssystem usf. Die jeweiligen Begriffe begegnen uns in Medien, Politik und Pädagogik leider nun schon so inflationär, dass der Begriff inzwischen bereits abgenutzt scheint und bei vielen Kolleg(inn)en zu durchaus nachvollziehbaren Abwehrhaltungen führt. „Wie sollen wir das denn nun noch bewältigen?“, hört man hier und da, insbesondere in Fort- und Weiterbildungen zum Themenbereich. Aber „Inklusive Pädagogik“ ist keine neue, zusätzliche Pädagogik, sondern lediglich eine stärkere und aufforderndere Betonung des inklusiven Charakters, den eigentlich per se jede Pädagogik haben sollte: Was ist denn eine Pädagogik, die nicht einem emanzipatorischen, gleichberechtigenden, demokratischen Anspruch folgt, eine Pädagogik, die den Ausschluss als pädagogisches Mittel nicht überwinden will? Inklusive Prinzipien sind urpädagogische Prinzipien. 389 thomas fertig Alles was wir aktuell zu tun haben, ist eigentlich nur über viele Jahre versäumtes nachzuholen und wieder geradezurücken: nämlich die gleichberechtigte Teilhabe ALLER Kinder und Jugendlichen oder etwa Bürger(innen) im Stadtteil als eines der wichtigsten pädagogischen Prinzipien wieder stark in den Fokus unserer alltäglichen Arbeit stellen. Das hört sich fast unmöglich an in einer Phase, in der gleichzeitig individuelle Verhaltensweisen, sogenannte herausfordernde und stark auffällige und gruppenstörende Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen immer stärker zu werden scheinen. So ist bspw. der Anteil der Schüler(innen) mit Förderbedarf „sozial-emotionales Verhalten“ in den vergangenen Jahren in der schulischen Integrationshilfe rasant angestiegen. Das zeigen nicht nur Zahlen von Studien, etwa von der Bertelsmann-Stiftung, sondern insbesondere die Tatsache, dass inzwischen bereits bis zur Hälfte aller Integrationsmaßnahmen über die Jugendämter über SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) finanziert werden. „Inklusion“ hat also schon lange nicht allein mehr mit Sonderpädagogik zu tun, sondern ist schon längst ein wichtiger Bestandteil der alltäglichen Arbeit der Kinder-und Jugendhilfe geworden. Der Gesamtkomplex „Inklusion“ hat für das Bildungssystem und für die gesellschaftliche Entwicklung eine zentrale Bedeutung in der Zukunft: Wie Stichweh in seinem Text „Inklusion/Exklusion und die Theorie der Weltgesellschaft“ (in: Rehberg (1997) (Hg.): Differenz und Integration. Opladen) ausführt, steht im Mittelpunkt des Themenkomplexes „Inklusion/Exklusion“ die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gesellschaft und insbesondere die Frage nach der bürgerrechtlichen Zugangsgleichheit zu allen gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Kultur, Arbeitsmarkt und finanzieller Grundversorgung. Als weiterer Kern steht die demokratische Anerkennung der Gleichberechtigung individueller Verschiedenheit im Mittelpunkt, unabhängig von Bedingungen, außer demokratischen Bedingungen. Dabei liegt der Fokus der notwendigen Anpassung und Veränderung mindestens genauso stark auf dem System, in anderen Worten: auf dem Umfeld, der Gesellschaft, den gesellschaftlichen oder pädagogischen Rahmenbedingungen, wie auf dem Individuum selbst. Prof. Dr. Alfred Sander (Saarbrücken, 1987) nannte es den „Ökosystemischen Ansatz“. 390 niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ... Das „System“ sind im pädagogischen Alltag längst nicht nur die Gebäudebarrieren, sondern auch Sprachbarrieren, kulturelle/religiöse Vorurteile, pädagogische Kompetenzen des Personals, Methoden in Unterricht und pädagogischem Angebot, Materialien und vor allem Haltung und Einstellung der beteiligten Akteure zueinander, also Fachkräfte, Eltern und Kinder und Jugendliche. Barrieren stellen die grundsätzliche Art des „Auf-das-Individuum-Zugehens“ dar – wie Andreas Hinz es in seinem Text „Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion“ (2007) beschrieb: Das „Readiness-Modell“, das System wartet sozusagen, bis das Individuum „fertig und bereit“ ist, um teilnehmen zu können. Sollte das Individuum nicht in der Lage sein, bereit zu werden, muss es in ein anderes Nebensystem, bspw. in eine Sonderschule oder Ähnliches selektiert werden. Inklusion aber bedeutet Abschied von der Idee des Readiness-Modells und zwar prinzipiell und von Anfang an. Der Begriff „Behinderung“ im inklusiven Denken Man kann „Inklusion“ gut beschreiben, ohne den Begriff „Behinderung“ ein einziges Mal zu verwenden. „Behinderung“ ist auch nach der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. a. dann passend, wenn der Begriff Behinderungen beschreibt, die Kinder, Jugendliche oder Erwachsene an der Partizipation behindern: Behindert, weil niemand im Personal da ist, der es schafft, einen Zugang zu finden. Behindert, weil zu wenig Personal da ist. Behindert, weil niemand auf kreative Kommunikationswege mit dem Kind kommt, das nur auf Ja- und Nein-Fragen antworten kann. Behindert, weil die Vorurteile gegenüber dem Arbeiterkind oder dem Rroma-Kind so stark und verfestigt sind, dass das Kind nicht aus der Negativ-Wahrnehmung der Umgebung herauskommt. Behindert dadurch, dass das Kind in ein soziales, bildungsfernes Milieu geboren wurde, aus dem es ohne aufwendige Unterstützung und Förderung nicht herauskommt. Behinderung ist im inklusiven Sinne und auch im Sinne der aktuellen Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein sozialer Begriff und kein Schädigungs- oder Krankheitsbegriff. 391 thomas fertig Diese Perspektive der sozialen Wahrnehmung erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit Menschenbild, Haltung, Einstellung zu Verschiedenheit und Diskriminierung etc. Die Entwicklung einer „inklusiven Haltung“ ist ein entscheidender Baustein inklusiver Einrichtungsentwicklung und inklusiver Konzeptentwicklung und erfahrungsgemäß ein sehr effektiver Baustein. Unterschied Integration/Inklusion „Jede Menschenrechtsverletzung verletzt nicht nur ein Recht, sondern sie verletzt vor allem immer auch einen Mensch.“ (Amnesty-Kalenderspruch vom 11.12.12) Üblicherweise unterscheidet man das Konzept der Integration und Integrationspädagogik und das der Inklusion/Inklusionspädagogik durch mehrere Punkte: Das Konzept der inklusiven Gesellschaft / eines inklusiven Angebotes / eines inklusiven Bildungssystems ist menschenrechtsgestützt und basiert auf einem demokratischen Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Partizipation jedes einzelnen, unabhängig von seiner/ihrer individuellen, besonderen Erscheinung. Im Mittelpunkt steht die bedingungslose Verpflichtung einer Gesellschaft, die Partizipation für jede/n zu ermöglichen. Einzige Bedingung: Die Einhaltung demokratischer Regeln und Grundwerte. Das Grundrecht auf Partizipation ist unteilbar, muss also für jeden gelten. Die Unteilbarkeit ist ein menschenrechtliches Grundprinzip. Im Konzept der Integration gab es die Frage nach der Integrationsfähigkeit, sprich es wurde (und wird!) danach gefragt, welches Kind, welches Individuum überhaupt fähig ist, dabei zu sein und welches nicht. Die, die nicht integrationsfähig sind, müssen separiert werden. Die Idee einer Integrationsfähigkeit oder -unfähigkeit widerspricht jedem inklusiven Menschenbild. Wenn aber jemand (INTEGRATIONSpädagogisch) integriert wird, dann ist er/ sie jederzeit noch als „Integrationskind“ erkennbar, als Zugehörige(r) zu einer auffälligen Minderheit und unterscheidet sich weiterhin deutlich von „der Mehrheit“, sei es durch die Bezeichnung und den begutachteten sonderpäd- 392 niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ... agogischen Förderbedarf, sei es durch das Herausfallen aus den allgemeinen Gruppenangeboten und das Auffallen durch spezielle Angebote. Im integrativen Denken wird simpel in zwei Welten differenziert (2-GruppenTheorie): · in Mehrheit und Minderheit · in nicht-behindert und behindert · in Deutsche und Ausländer oder Migrant(innen) · in Alte und Junge · in Arme und Reiche · in Arbeitende und Arbeitslose · in Muslime und Nicht-Muslime usw. Dies sind alles Aufteilungen (nach Hinz „Aufräumungen“) in sehr simple, wenig differenzierte und letztlich falsche Gruppen, da die einzelnen Gruppen bei genauerem Hinsehen in sich so unterschiedlich sind, dass eine Aufteilung in eine „Zweierwelt“ eigentlich nicht möglich und vor allem nicht mehr zeitgemäß ist. Wir sehen es jeden Tag, wozu simples Schwarz-weiß-Wahrnehmen und -Denken führt: zu Aufteilung und Aufspaltung von Gruppen bis hin zum gegeneinander Aufbringen von gesellschaftlichen Gruppen. Der differenzierte, feinere und genauere Blick auf einen Menschen und eine Gruppe ist einer der wichtigen inklusiven Schlüssel bspw. auch in Diagnose und Hilfeplanung. Das „inklusive Konzept“, die inklusive Haltung fordert ein komplexeres und individuelleres Herangehen an Wahrnehmung, Begegnung, Beurteilung und Fördern von Menschen: Dazu bemüht sich eine inklusive Pädagogik in der Beschreibung, Diagnose, Einschätzung von Personen kategorienbewusst und begriffsbewusst vorzugehen: Begriffe und Aussagen wie „Geistig Behinderte sind ...“, „Deutsche sind ...“, „die Rroma sind ...“, „die Araber machen ....“ usw. passen nicht mehr in ein komplexes und differenziertes gesellschaftliches Weltbild. Die Zeit der einfachen Rezepte ist vorbei. Ein weiterer wichtiger Unterschied, der sich aus den oben genannten Unterschieden in der Haltung und Wahrnehmung ergibt, ist der der Aufteilung 393 thomas fertig in verschiedene Integrationsbereiche: Bisher waren die Integrationsbemühungen der Minderheit „Behinderte“, der Minderheit „Migrant(inn)en“ oder die Gleichberechtigungsbemühungen der Frauenbewegung oder die der „Homosexuellen“ oder etwa die Seniorenarbeit strikt voneinander getrennt. Der Berufsstand der Sozialpädagog(inn)en hatte bisher wenig oder gar nicht mit dem der Sonderpädagog(inn)en zu tun. Die Ehrenamtlichen oder die Altenpfleger(innen) in der Seniorenarbeit hatten bisher wenig mit dem Berufsstand der Erzieher(innen) o. Ä. zu tun. In einer „Pädagogik der Vielfalt“ (einen Begriff, den Annemarie Prengel schon in den 80er prägte) oder in der „Pädagogischen / Gesellschaftlichen Bewältigung von individueller Heterogenität“ löst sich die strikte Zuständigkeit bestimmter (Berufs-)gruppen für die Integration bestimmter konstruierter sozialer Minderheiten und Gruppen genauso auf wie sich das Aufrechterhalten dieser sozialen Gruppen überhaupt auflöst. Moderne Kinder-und Jugendhilfe ist also per se für ALLE Kinder und Jugendlichen bis 27 Jahre (und deren Eltern) zuständig und sollte die Rechte aller gleichberechtigt zu vertreten versuchen. Wie Stichweh sagt ist die gemeinsame (!) Aufgabe einer inklusiven Gesellschaft und einer inklusiven Pädagogik, sich mit Ursachen zu beschäftigen, die zu Exklusion führen, und Strategien (politisch wie pädagogisch) zu entwickeln, solchen Exklusionsentwicklungen entgegenzuwirken. Die Ursachen von Exklusion können dabei individuell sehr unterschiedlich sein: Geschlecht, kultureller, nationaler Hintergrund, religiöser Hintergrund, bestimmte auffällige Abweichungen im körperlichen Erscheinungs- oder Bewegungsbild, in der Verständniskompetenz, in der Hör-, Seh- oder Wahrnehmungskompetenz, im sozialen Verhalten, in der sexuellen Orientierung und dergleichen mehr. Um diese „Exklusions-Vermeidungs-Anstrengungen“ oder eben Inklusionsanstrengungen gemeinsam bewältigen zu können, ist Vernetzung und Kooperation von verschiedenen Kompetenzen, Berufsbereichen, Trägern, Vereinen, Institutionen, die bisher möglicherweise noch kaum miteinander zu tun hatten, ein elementarer konzeptioneller, methodischer Ansatz im inklusiven Arbeiten. 394 niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ... Der Begriff Inklusion tauchte in Europa zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Salamanca-Erklärung von 1994 auf (Verpflichtung / freiwillige Konvention weltweiter Lehreinrichtungen zur Entwicklung inklusiver Bildungssysteme und Schulsysteme). In der Sonderpädagogik fasste der Begriff aber erst ab etwa dem Jahr 2000 Fuß und setzte sich langsam hier und da durch. Erst seit der Ratifizierung der UN-Konvention 2009 breitete sich der Begriff allmählich in anderen Berufsbereichen aus, insbesondere Sozialpädagogik/Sozialarbeit, Migranteninitiativen und v. a. auch Sozialpolitik. Mit der UN-Konvention wurde der Rechtsanspruch, der Menschrechtscharakter von Partizipation nicht erfunden, sondern lediglich hervorgehoben und mahnend darauf hingewiesen, da er insbesondere im deutschen Bildungs- und Sozialsystem laut UN immer noch zu wenig Durchschlagskraft hat. In den Medien wird Inklusion leider immer noch völlig verkürzt und oberflächlich einfach mit „Gemeinsames Lernen Behinderter und Nicht-Behinderter“ übersetzt, was eine gesellschaftliche Chance, sich tatsächlich in eine echte inklusivere Richtung weiterzuentwickeln, ausbremst, da solch eine Interpretation des Begriffes die alten Trennungen weiter zementiert und die bequeme Haltung zulässt: „Aha, wenn Inklusion nur Menschen mit Behinderung betrifft, hab ich damit ja nichts zu tun.“; andererseits verhilft es wenigstens diesem Themenausschnitt zu solch einem Auftrieb, dass es im Sinne von „besser als gar nichts“ möglicherweise nach Andreas Hinz immerhin eine frühe Phase hin zu einer „Gesellschaft und Pädagogik der Vielfalt“ sein kann. Systemischer Zugang zu Inklusion/Exklusion Die inklusive Haltung, die Idee der inklusiven Gesellschaft oder eines inklusiven pädagogischen Bildungsangebotes ist systemisch, geht also von der besonderen Verantwortung des Systems aus, sich den unterschiedlichen individuellen Bedarfen der Einzelnen anzupassen, sich dementsprechend zu verändern und mit diesen Bedarfen konstruktiv auseinanderzusetzen. Das „System“ ist also im inklusiven Sinne immer in Bewegung und Entwicklung, immer in dem Bemühen, der individuellen Heterogenität aller gerecht zu werden. 395 thomas fertig „Das System“ ist mal die gesamte Gesellschaft, mal eine Schule, mal ein Jugendzentrum, mal ein Beratungs- oder ein offenes Bildungsangebot, mal eine Kita usw. Niklas Luhmann, der bekannte sozialwissenschaftliche Systemtheoretiker, hatte direkt wenig mit dem Thema „Inklusion“ zu tun und hat sich in seinen Veröffentlichung doch immer wieder auf die beiden Begriffe Inklusion/Exklusion bezogen. Luhmann hat sehr klar gesagt, dass er nichts von der Vision einer „fertigen, erreichten inklusiven Gesellschaft“ oder eines „endlich erreichten inklusiven Bildungssystems“ hält. „Inklusion“ als Endzustand oder als konkret anzustrebendes Ziel ist nach Luhmann nicht verwirklichbar. Für Luhmann und auch für seinen ideellen Nachfolger Prof. Dr. Peter Fuchs ist Inklusion bereits „das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Systemen und Individuen“. Dieses Aufeinandertreffen ist im demokratischsten Sinne mit Konflikten, Auseinandersetzungen und Reibungen verbunden. Wichtig ist, dass Kommunikation und, wie Fuchs es nennt, „Adressiertheit“, also aufeinander Bezogen-Sein entsteht. Für beide, Luhmann und Fuchs, ist das Inklusion: Der beginnende und nicht abzuschließende Prozess von Aufeinandertreffen, Kommunikation und immer wieder Konfliktaustragung und zeitweise Konfliktlösung. Meinem Verständnis nach ist dies eine urdemokratische Kultur des Miteinanders: Gegensätze, Anderes, Fremdes, andere Werte aushalten, sich damit auseinandersetzen und immer wieder vorübergehend haltbare Kompromisse finden. Konflikte und Konfrontation bspw. zwischen Deutschen muslimischen und Deutschen christlichen Glaubens oder zwischen an konservativen Familienbildern und an offeneren, moderneren Familienbildern orientierten Mitgliedern als normalen Bestandteil eines demokratischen, inklusiven Gesellschafts- und Gruppenprozesses anerkennen. Aufgabe der Jugendhilfe ist hier also, Aufeinandertreffen zu ermöglichen und konfliktkompetent zu begleiten. Dieser systemtheoretische Ansatz Luhmanns und Fuchs‘ hat für die alltägliche Praxis etwas sehr Entlastendes: Konflikte in der Gruppe oder in der Schule, misslungene Versuche inklusiven Unterrichts oder misslungene Versuche, Heterogenität zu bewältigen, sind nicht automatisch Zeichen schlechter oder unprofessioneller pädagogischer Qualität! 396 niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ... Mal misslungene inklusive Tage und mal überforderte, sehr schwierige Tage, konfliktreiche und scheinbar bildungsmäßig nicht sehr effektive Tage, sind normaler Bestandteil des inklusiven Weges. Wichtig ist: im menschenrechtlichen Sinne gibt es ja sowieso keine Alternative zum Inklusionsversuch. Selektion und Exklusion einzelner „Störer“ oder „schwieriger Kinder“ kommt sowieso nicht Frage. Heterogenität und Konfliktpotenzial im demokratischen Zusammenhang wird also als belebend, lehrreich für alle und normal anerkannt. Diese Haltungsänderung erleichtert inklusiven Alltag. Methodisch-praktischer Zugang Die Bewältigung von Heterogenität im bildungspädagogischen Alltag verlangt differenzierte Lern-, Informations- und Gesundheitsangebote: · in unterschiedlichen Sprachen, · mit unterschiedlichen Lernniveaus, · mit unterschiedlichen Inhalten, · mit unterschiedlichen methodischen Zugängen, je nachdem wie das · jeweilige Kind, der jeweilige Klient am besten lernen kann. Dazu braucht es im Idealfall das nötige Maß an Fachwissen über Assistenzkonzepte für bestimmte spezielle Assistenzbedarfe im Bereich Sozialverhalten (bspw. „Wie setze ich effektiv Grenzen?“) oder im Bereich Motivation („Wie kann ich effektiv motivieren?“), im Bereich Konzentration oder im Bereich Strukturierung von Lernangeboten („Wie kann ich einen Raum, ein Lernangebot, einen Tagesablauf, ein Arbeitsblatt so strukturieren, dass es verständlich, ansprechend, nicht verunsichernd und einladend wirkt?“) oder im Bereich kognitives, abstraktes Verständnis („Wie kann ich Inhalte so vermitteln und aufbereiten, dass sie praktisch, sinnlich, körperlich erfahrbar und verstehbar sind?“). Neben den möglichst individuellen und differenzierten Arrangements von Angeboten und Assistenz ist ein anderer wichtiger Baustein die Frage: Wie helfe ich, Brücken zwischen den sehr verschiedenen Klient(inn)en zu bauen? Wie kann ich Angebote arrangieren, dass Kontaktaufnahme, Austausch und 397 thomas fertig Miteinander möglich sind? (Gruppenspiele, Gesprächsrunden und: Lernduos, Kinder als Expert(inn)en für andere Kinder, Tutorien, Patenschaften zwischen Kindern, Besuch eines benachbarten Flüchtlingsheimes und dergleichen mehr). Ein typisches inklusives Arrangement ist die stückweise Loslösung der Klient(inn)en von der Leitungs-, Erzieher- oder Lehrerperson und das möglichst frühe Eintrainieren selbstständiger Lernmethoden. Ein weiteres Merkmal ist Teamarbeit, sprich Zweier-Fachkräfte-Teams plus Assistent(inn)en wie Praktikant(inn)en, Freiwillige oder Schulhelfer(innen). Die Hauptaufgabe der Erzieher- und Lehrperson im inklusiven Setting liegt stärker auf der Vorbereitung verschiedener, differenzierter Lernangebote und weniger auf der zentralen Leitung eines Lernangebotes für alle. Ein weiterer Baustein inklusiven Arbeitens ist die Begleitung und Bearbeitung von Konflikten, die Entwicklung einer demokratischen Kultur, ob in Kleinkindergruppen oder in Erwachsenenbildungsgruppen oder in der Gemeinwesenarbeit. Die Entwicklung einer inklusiven, demokratischen Kultur ist die Grundbedingung für alle Teilnehmer(innen). In einem offenen Kiez-Bildungsangebot bspw. muss die Frage gelöst werden: Wie können wir unsere Angebote so vielseitig und unterschiedlich ansprechend gestalten, dass wir besonders unterschiedliche Bewohner(innen) des Kiezes in unsere Angebote locken können, damit sie sich hier begegnen und Vorurteile voneinander abbauen können, Konflikte offen und moderiert klären können und sich in erster Linie als verantwortliche Kiez-Bürger(innen) sehen, unabhängig von Herkunft, religiösem, kulturellen oder etwa intellektuellem Hintergrund. Neben Konzepte- und Praxisveränderung ist die Unterstützung von Haltungsund Einstellungsentwicklung der einzelnen Mitarbeiter(innen), des Teams, der Eltern, der Kiez-Bewohner(innen) und der Kinder eine Basisvoraussetzung für nachhaltige inklusive Entwicklung. Ohne inklusive Haltungs- und Wahrnehmungsentwicklung kann keine effektive Praxisveränderung gelingen. Die Auseinandersetzung mit Menschenbild, Haltung, Einstellung und Wahrnehmung kann bspw. in Teamtagen, in kommunalen Zukunftskonferenzen, in Elternabenden, in Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung stattfinden. 398 niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ... Inklusion und Grenzen Inklusives Arbeiten ist ein anspruchsvolles pädagogisches Arbeiten, das in manchen Phasen den Fachkräften sehr viel abverlangen kann, insbesondere dann, wenn die personellen Ressourcen sehr knapp sind und die Gruppengrößen stark. Dafür erlebt man aber auch in den Phasen, in denen positive Effekte sichtbar werden, eine umso stärkere Bestätigung und Befriedigung. Weder menschenrechtlich noch vom prozesshaften Inklusionsverständnis her kann es eigentlich grundsätzliche Inklusionsgrenzen geben, höchstens vorübergehende. Diese sollten unbedingt auch vom eigenen Gesundheitsbewusstsein der Fachkräfte geleitet sein: Aufopferung und permanente Verausgabung sind keine professionellen Bausteine. Fachkräfte sollen sich für bessere Umfeldbedingungen und für eigene Weiterbildung und Haltungsentwicklung einsetzen, aber gleichermaßen auch ein feines Gespür für die eigene Belastbarkeit entwickeln. In diesem Gesamtrahmen können inklusive Prozesse mit Geduld und ohne Perfektionismus Stück für Stück gedeihen, ein paar Schritte vor und auch mal einen Schritt zurück. Das ist erlaubt und völlig normal. 399 thomas fertig Literatur Fuchs, P. (2011): Keine Inklusion ohne Exklusion, keine Exklusion ohne Inklusion. In: G.I.B. Info. Heft 2/2011. URL: www.fen.ch/texte/gast_fuchs_inklusion-exklusion.pdf. Heinrich-Böll-Stiftung, „Initiative „Hoch inklusiv“, siehe: http://www.boell.de/ wirtschaftsoziales/stadtentwicklung/hochinklusiv-hochinklusivzusammenhalteiner-vielfaeltigen-gesellschaft-14753.html. Hinz, Andreas. (2007): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!? URL: www.comenius-regioflip.eu/uploads/media/Vortrag-hinz.2007.pdf. Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik (Schule und Gesellschaft). 3. Aufl. Wiesbaden. Sander, Alfred et al (1993): Kind-Umfeld-Diagnose – ein ökosystemischer Ansatz. St. Ingbert. Stichweh, R. (1997): Inklusion/Exklusion und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Differenz und Integration: die Zukunft moderner Gesellschaften. Opladen, S. 601–607. URL: http://www.ssoar.info/ssoar/View/?resid=16897&lang=de). 400 U johanna karpenstein Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen Jugendhilfe und Ordnungsrecht Der vorliegende Artikel beschreibt, wie das Ankommen und die Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF) in Deutschland im Rahmen der Jugendhilfe geregelt ist. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht unterscheidet sich als Ordnungsrecht maßgeblich in der Zielsetzung von der Jugendhilfe. Die Soziale Arbeit mit UMF agiert an der Schnittstelle dieser Rechtsbereiche, was gerade dann, wenn der Übergang in die Verselbstständigung hergestellt werden soll, weitreichende Folgen für die Jugendlichen hat. Neben einer kurzen Einführung widmet sich der Artikel Fragestellungen dieses Übergangs. Zudem wird ein Blick auf aktuelle politische Entwicklungen geworfen. Der Artikel entstand aus einem Workshop im Rahmen des Kinderschutzforums 2014. Er dokumentiert und vertieft die Schwerpunkte der hier entstandenen kurzen, aber intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema. UMF in der Jugendhilfe Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) – Flüchtlingskinder und Jugendliche, die ohne Sorgeberechtigte einreisen – gelten international als besonders schutzbedürftige Gruppe.1 Auch Deutschland erkennt die besondere Schutzbedürftigkeit an, spätestens seit Rücknahme des Vorbehalt gegenüber der Gültigkeit der UN-Kinderrechtskonvention für ausländische Kinder 2010. Bereits 2005 trat das „Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes“ (KICK) in Kraft und nahm unbegleitete minderjährigen Flüchtlinge als besonders schutzbedürftige Gruppe explizit mit auf. Laut § 42 I des SGB VIII ist das Jugendamt in Ausübung seines staatlichen Schutzauftrages verpflichtet, ausländische Minderjährige, die ohne Personensorge- bzw. Erziehungsberechtigte nach Deutschland kom- 1 Vgl. Kapitel IV EU Aufnahmerichtlinie. 403 johanna karpenstein men, in Obhut zu nehmen.2 Diese Verpflichtung zur Inobhutnahme kennzeichnet die verbindliche Unterbringung und Versorgung durch die Jugendhilfe für UMF. Dies mag selbstverständlich erscheinen, handelt es sich jedoch um besonders schutzbedürftige, alleinreisende Minderjährige. Allerdings bestand dieser Schutz für UMF nicht immer bundesweit in dieser Verbindlichkeit. Noch bis vor wenigen Jahren wurden auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wie erwachsene Flüchtlinge behandelt. Es stand die Flüchtlingseigenschaft im Mittelpunkt, nicht die Minderjährigkeit. Das Ergebnis eines jahrelangen Einsatzes für die Rechte von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist daher, dass aufenthaltsrechtliche Restriktionen in ihrer Wirksamkeit gemildert sind, so lange sich die Kinder und Jugendlichen in Maßnahmen der Jugendhilfe befinden, einen Vormund haben3 und zur Schule gehen können. Jugendhilfe und Ausländerrecht Nichtsdestotrotz ist die Arbeit mit UMF in der Jugendhilfe von den Themen Flucht und Asyl geprägt, und die Mitarbeitenden sehen sich häufig gezwungen, im Kontext migrationspolitischer und -rechtlicher Rahmenbedingungen zu agieren. Junge Flüchtlinge, die ohne Begleitung in Deutschland ankommen, haben häufig eine nervenaufreibende und langjährige Flucht hinter sich. Oft mussten sie Trennungen von Familie und Freunden bereits bei Verlassen des Heimatlandes oder aber während der Flucht erfahren. Nicht selten ist die Konsequenz des Erlebten ein hoher psychischer Leidensdruck, der sich in Schlaflosigkeit, Albträumen, Ängsten oder körperlichen Beschwerden äußern kann und häufig behandlungsbedürftig ist. Die Arbeit der Jugendhilfe fußt daher auf einen Vertrauensaufbau unter oft erschwerten Bedingungen. Die 2 Gemäß dem Geltungsbereich nach § 6 Abs. 2 SGB VIII können Ausländer (Gesetzeswortlaut) nur im Falle des rechtmäßigen Aufenthaltes oder einer aufenthaltsrechtlichen Duldung Leistungen nach dem SGB VIII beanspruchen. Dies umfasst auch Minderjährige, die sich im Asylverfahren befinden und über eine Aufenthaltsgestattung verfügen, allerdings nicht undokumentierte Minderjährige oder Erziehungsberechtigte. 3 Minderjährige sind nach dem Aufenthalts- und Asylrecht bereits mit 16 handlungsfähig. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führt jedoch mittlerweile i. d. R. keine Anhörung im Asylverfahren von 16–18-Jährigen mehr ohne Anwesenheit oder Zustimmung durch den Vormund durch. 404 unbegleitete minderjährige flüchtlinge Unterstützung bei Spracherwerb, Ausbildung und dem Weg in Richtung Selbstständigkeit und einer Zukunftsperspektive ist angesichts des Erlebten der Jugendlichen ebenso wie durch ausländerrechtliche Unsicherheiten herausfordernd. Da viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Deutschland im Alter von 16 oder älter erreichen, ist die Arbeit der Jugendhilfe zusätzlich durch Zeitdruck geprägt. „Die rechtlichen Grundlagen der ausführenden Institutionen – Träger der Jugendhilfe und das Jugendamt auf der einen Seite, Ausländerbehörde und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der anderen Seite – könnten unterschiedlicher kaum sein.“4 Die Jugendhilfe orientiert sich an den Bedarfen der Einzelnen und den damit verbundenen Rechten. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht als Ordnungsrecht fokussiert primär den Schutz der Gesellschaft auch gegenüber Interessen von Einzelnen. Das Kindeswohl und das Kindesinteresse leitet die Jugendhilfe und begrenzt die Migrationskontrolle an dieser Schnittstelle. In den entsprechenden Aushandlungen, die hieraus erwachsen, nehmen Vormünder wie Sozialarbeiter(innen) eine prominente Stelle ein. Dies erfordert ein hohes Maß an Kenntnis der betreffenden rechtlichen Kontexte ebenso wie eine parteiische und hinsichtlich von Fluchterfahrungen und migrationsrechtlichen Möglichkeiten erfahrene Haltung. UMF als Kategorie Für eine solche Haltung ist es maßgeblich, sich bewusst zu machen, dass U-M-F eine Kategorie ist, die minderjährige alleinreisende Flüchtlinge von anderen Migrant(inn)en und Flüchtlingen5 unterscheidet. Der Schutz 4 Schwarz, Ulrike (2013): Die Jugendhilfe und das Ausländerrecht. In: Forum Jugendhilfe Heft 4. 5 In Anlehnung an die Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter aus Mai 2014 orientiert sich der Begriff Flüchtling nicht an Fragen der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern beschreibt umfassender auch die Personengruppen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt wurde. 405 johanna karpenstein durch die Jugendhilfe ist eine Chance, der ein Ankommen und Verbleiben in Deutschland ebenso wie einen angemessenen Umgang mit der oftmals einschneidenden und häufig traumatisierenden Fluchterfahrung immerhin ermöglicht. Dies ist gemessen an der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in Begleitung ihrer Eltern einreisen und in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber(innen) leben müssen, keineswegs selbstverständlich.6 Vergessen werden sollte nicht, dass der besondere Status oder Schutz für UMF an den Rändern der Kategorie U-M-F zu bröckeln beginnt, nämlich dann, wenn einzelne Komponenten der Kategorie nicht oder nicht mehr erfüllt sind: Sind die Jugendlichen nicht alleinreisend oder werden im Rahmen von Altersfestsetzungen7 volljährig gemacht, endet die „Sonderbehandlung“ durch die Jugendhilfe und sie werden etwa auf Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber(innen) verwiesen, erhalten Asylbewerberleistungen als Hilfe zum Leben, Fragen der Beschulung wie der Zukunftsperspektive werden mangels Unterstützung und aufgrund rechtlicher Restriktionen prekär. Phasen des Übergangs – junge volljährige Flüchtlinge Der Situation von jungen unbegleiteten volljährigen Flüchtlingen, die mit Erlangen der Volljährigkeit direkt oder mittelfristig nicht mehr von der Jugendhilfe profitieren können, gilt es aus Sicht des Bundesfachverbandes UMF in dieser Phase des Übergangs besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da sie als Zielgruppe in öffentlichen wie Fachdiskursen bisher keine Rolle spielen.8 Sie befinden sich – zugespitzt formuliert – an der Schnittstelle von 6 Vgl. hierzu die von Thomas Berthold im Auftrag von UNICEF 2014 durchgeführte Studie „In erster Linie Kinder- Flüchtlingskinder in Deutschland“. 7 Um bei Zweifeln festzustellen, ob die Angabe der Minderjährigkeit richtig ist und die betreffende Person entsprechend in Obhut zu nehmen ist, müssen Altersfestsetzungsverfahren durchgeführt werden. Diese sollten idealerweise durch Fachpersonal des Jugendamtes und im Gespräch erfolgen. Spätestens im Klageverfahren gegen die Ergebnisse von Altersfestsetzungen werden häufig medizinische Verfahren angewendet, deren Durchführung ethisch und deren Ergebnissgenauigkeit sachlich kritisch zu betrachten sind. 8 Der Bundesfachverband führt derzeit zu dieser Thematik das Projekt „Auf eigenen Füßen stehen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen Jugendhilfe und Selbstständigkeit“ durch. 406 unbegleitete minderjährige flüchtlinge Kinderschutz und Migrationskontrolle, unterliegen sie doch als Careleaver9 häufig nicht mehr der Jugendhilfe, sondern dem Primat des Ordnungsrechts. In vielen Kommunen wird bei Erreichen der Volljährigkeit die Jugendhilfe beendet oder nur durch hohen Argumentationsaufwand der betreuenden Einrichtungen wenige Monate verlängert. Die Möglichkeit der Gewährung von Hilfen für junge Volljährige10 bemisst sich nach dem Hilfebedarf der Jugendlichen, dieser wiederum nach der psychosozialen Reife und Selbstständigkeit. Eine offene Formulierung von Leistungsvoraussetzungen ist in einem „Sozialpädagogischen Gesetz“11 notwendig. Zugleich ist die weiche Regelung Einfallstor für fiskalische Interessen, die Fachkräfte nicht selten daran hindern, fachlich Begründungen zur Grundlage von Verwaltungsentscheidungen zu machen.12 Zudem: Wonach werden Selbstständigkeit und Reife beurteilt? Volljährigkeit allein ermöglicht bekanntlich kein Leben ohne Unterstützung. Im Fall der jungen Flüchtlinge ist beispielsweise fraglich, ob der Begriff der Selbstständigkeit den Umgang mit deutschen Behörden oder mit aufenthaltsrechtlichen Verfahren einschließt. Die Jugendhilfe sucht durch Betreuung und den Aufbau eines sozialen Netzwerkes Stabilität und Vertrauen (wieder) herzustellen. Das Vertrauensverhältnis zu Betreuer(inne)n, Vormündern und anderen Jugendlichen ist hier konstitutiv. Wird dieses abrupt abgebrochen, stellt dies für die Jugendlichen eine Gefahr da, Retraumatisierungen zu erleiden und erlangte Sicherheit einzubüßen. „Der Verlust der Familie wird durch den Verlust der Unterstützungsstruktur wiedererlebt.“13 Aus Untersuchungen zur Situation von Careleavern ist die Bedeutung von Beziehungsabbrüchen nach der Jugendhilfe etwa im Kontext von prekären Ausbildungsverläufen bekannt: „Eine 9 „Careleaver“ ist der aus dem Englischen übernommene Begriff für Heranwachsende, die die stationäre Jugendhilfe verlassen haben. 10 Vgl. § 41 SGB VIII. 11 Wiesner, Reinhard (2007): Was will das SGB VIII? Und was sieht es für junge Volljährige vor? In: Sozial Extra 7/8. 12 Vgl. ebd. 13 Andernach Lisa/Tavangar, Patho (2014): Junge Flüchtlinge in der Volljährigkeitsfalle. In: Forum Erziehungshilfen 3. 407 johanna karpenstein Phase der Orientierung und eine Toleranz gegenüber Scheitern stehen kaum zur Verfügung“.14 Mit dem Ende der Jugendhilfe wird fraglich, ob Wohnraum zur Verfügung steht, ob Gesundheitsversorgung in vollem Umfang gewährt wird und ob (Aus-)Bildung und Arbeit in zukunftsweisender Form bewältigt werden können. Die Frage nach dem Ob und Wie der Unterstützung bei der Verselbstständigung bestimmt – abhängig von der psychosozialen Stabilität der Jugendlichen sowie ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation und deren Implikationen für Ausbildungsförderung und Arbeitsmarktzugang – ihre Zukunftsperspektiven. Deutlich wird dies beispielsweise anhand der Problematik der Unterbringung nach Beendigung der Jugendhilfe: Bereits für junge Volljährige ohne aufenthaltsrechtliche Problematik ist eine Wohnungssuche aufgrund der angespannten Wohnungsmärkte ein schwieriges Unterfangen. Die Wohnungssuche sprengt daher nicht selten die zeitlichen und auch personellen Möglichkeiten der Jugendhilfe. Bei jungen Flüchtlingen kommt durch die aufenthaltsrechtliche Problematik ein strukturelles Problem hinzu: Wird keine Unterkunft gefunden, kommen jugendliche Flüchtlinge nach der Jugendhilfe häufig in eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber(innen). Das bedeutet i. d. R. eine Unterbringung in Mehrbettzimmern und entsprechend wenig angemessenen Rückzugsraum, um etwa Prüfungsvorbereitungen im Ausbildungskontext gewährleisten zu können. Stellen Jugendliche erst nach der Jugendhilfe einen Asylantrag, müssen sie mit einer bundesweiten Umverteilung an einen Ort rechnen, der sie von ihrem sozialen Umfeld und ggf. auch von begonnenen Therapieprozessen o. Ä. trennt. Die Jugendlichen, die nach Ende der Jugendhilfe noch nicht über einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen, erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und unterliegen zahlreichen Beschränkungen. Aufgrund der kommunalen Hoheit der Jugendhilfe kommt es zu regional höchst unterschiedlichen Formen von Leistungsgewährung. Zudem ist auch der Zugang zu Ausbildung und Arbeit stark abhängig von regionalen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen: Bayern etwa hat die Berufsschulpflicht auf 21 Jahre angehoben und ermöglicht somit eine Einschulung nach Ermessen der Schule bis zum 25. Lebensjahr. 14 Strahl, Benjamin/Thomas, Severine (2014): (Er)wachsen ohne Wurzeln? Der Weg aus den stationären Erziehungshilfen. In: Forum Erziehungshilfen 3. 408 unbegleitete minderjährige flüchtlinge Zusammenfassend ist die Perspektive junger Volljähriger abhängig von ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation, der Voraufenthaltsdauer (über die sich Zugang zu Ausbildungsförderung herleitet), dem Existieren (und Fortbestehen) eines sozialen Netzwerkes und von – nach der Jugendhilfe meist ehrenamtlich tätigen – Bezugspersonen wie ehemalige Betreuer(innen) oder Einzelvormünder, der Gesundheitsversorgung, den ökonomischen und infrastrukturellen Bedingungen vor Ort und der Wohnsituation. Da die meisten unbegleiteten Minderjährigen im Alter von 16 und 17 Jahren einreisen, sind viele nur kurze Zeit in der Jugendhilfe. Umso bedeutender ist es, die Übergänge in die Selbstständigkeit von vorneherein in den Mittelpunkt zu stellen. Aktuelle Entwicklungen – Steigende Zahlen, bundesweite Umverteilung Aktuell ist ein Anstieg der Zugangszahlen15 von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nach Deutschland zu verzeichnen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verzeichnet für das Jahr 2014 einen Zuwachs von alleinreisenden minderjährigen Erstantragssteller(inne)n im Asylverfahren von 77 % im Vergleich zum Vorjahr, es handelt sich um schätzungsweise 173.000 Anträge. Hauptherkunftsländer der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind derzeit Afghanistan, Eritrea, Syrien und Somalia. Die steigende Anzahl von Flüchtlingen hat Konsequenzen sowohl für die Qualität der Versorgung im Einzelfall als auch für die Gewährleistung dieser Versorgung durch die Kommunen. Der Druck vieler Kommunen vor allem in grenznahen Gebieten im Süden Deutschlands als auch in Großstädten wie Hamburg, Bremen, aber auch Passau und Aachen wird nunmehr durch aktuelle Gesetzesvorhaben zu einer bundesweiten Umverteilung unbegleiteter Minderjähriger zu lösen gesucht. Diese Lösungsversuche stützen sich auf eine 15 Zahlen unbegleiteter minderjährige Flüchtlinge in Deutschland dezidiert zu erheben, ist schwierig. Zu dieser Schwierigkeit, die hier nicht ausgeführt werden kann, vgl. Espenhorst, Niels (2014): Wir zählen nicht! – Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind (k)ein Thema der Jugendhilfestatistik. In: Migration und Soziale Arbeit 4. 409 johanna karpenstein Verteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nach dem Königsteiner Schlüssel als Verwaltungsschlüssel um einen Lastenausgleich herbeizuführen. Der Bundesfachverband sowie Erziehungshilfe- und Kinderschutzverbände sehen die Not der betreffenden Kommunen und die Konsequenzen für die Jugendlichen in zahlenmäßig überlasteten Einrichtungen. Zu kritisieren ist jedoch, den Lastenausgleich auf Kosten von Kinderschutzaspekten sowie angesichts absehbarer Einbußen hinsichtlich der Entwicklung länderübergreifender Qualitätsstandards durchzusetzen.16 Fazit Steigende Zahlen von in Deutschland ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stehen im Kontext eines weltweiten Anstiegs von Flüchtlingsbewegungen. Die Gesetzesvorhaben zur bundesweiten Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen reagieren auf diese Entwicklung. Sofern sie in bisher angedachter Weise Mitte dieses Jahres Umsetzung finden, stellen sie viele Etappenziele des politischen Einsatzes für UMF der letzten Jahren in Frage. Beispielsweise das Clearingverfahren im Rahmen der Inobhutnahme, welches sich – mittlerweile fast bundesweit – in meist drei Monaten intensiver Betreuung nach Ankunft ausführlich der gesundheitlichen, psychosozialen und aufenthaltsrechtlichen Situation der Jugendlichen und dem jeweiligen Handlungsbedarf widmet, wird gesplittet. Die Jugendlichen sollen in Obhut genommen und – voraussichtlich nach einem Gesundheitsclearing – nach 7–14 Tagen verteilt werden. Zuständigkeiten ändern sich und mit ihnen Kostenverantwortlichkeiten, deren Einfluss auf die Intensität der Jugendhilfe abzuwarten bleibt. Die Frage der Vormundschaft kann überhaupt erst nach der Verteilung geklärt werden, was gegen die am Kindeswohl orientierte Vorgabe der EU zur umgehenden Bereitstellung eines Vertreters für unbegleitete Minderjährige verstößt.17 Kompetenzzentren im Umgang mit UMF, die sich in 16 Vgl. zu dieser Kritik die ausführlichen Stellungnahmen des Bundesfachverbandes: http://www.b-umf.de/de/ publikationen/stellungnahmen. 17 S. Art. 6 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung. 410 unbegleitete minderjährige flüchtlinge den letzten Jahren entlang der „HotSpots“ des Aufgriffs durch die Bundespolizei oder der Ankunft unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland etabliert haben, sollen durch die bundesweite Verteilung – auch in mit UMF unerfahrene Kommunen – entlastet werden. Möglichkeiten des Wissenstransfers sind hierbei jedoch offenbar ebenso wenig mitgedacht wie bundesweite Qualitätsstandards.18 Obgleich in vielen Bereichen der Aufnahme und Versorgung von UMF Handlungsbedarf besteht, soll an dieser Stelle nochmals auf die Bedeutung des Übergangs – als ein zentrales Thema des Kinderschutzforums 2014 – verwiesen werden: Ränder der „Kategorie U-M-F“ werden deutlich, wenn man den Blick über das Ende der Jugendhilfe hinaus richtet: Die jungen Volljährigen werden dann – und nicht selten an ihrem 18. Geburtstag – zu jungen alleinreisenden, häufig männlichen Flüchtlingen. Sie gleiten aus dem Status des Kinderschutzes hinein in die nächste Kategorie – oder genauer – das Klischee von jungen (meist) männlichen Flüchtlingen, denen jeder besondere Schutzbedarf abgesprochen wird. Es gilt, hier weiter zu insistieren und öffentlich auf die besonders vulnerable Situation dieser jungen Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Dies ermöglicht auch die Verknüpfung mit der Debatte um einheimische Careleaver, Jugendliche, die nach mehreren Jahren der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit starten und häufig ohne familiären Rückhalt oder Ressourcen ihre Zukunft in die Hand nehmen müssen. Konsequenterweise sollten weder erkämpfte Rechte und Standards für UMF im Zuge politischer Aushandlungen übergangen werden noch der Einsatz für UMF mit der Jugendhilfe enden. 18 Der Bund übernimmt keine finanzielle Verantwortung und überlässt somit den Kommunen alle Aufgaben. Bundeseinheitliche Standards werden so verunmöglicht. 411 A autor(inn)enverzeichnis Prof. Dr. phil. Kay Biesel Case Manager, Fachkraft für Dialogisches Coaching und Konfliktmanagement, Diplom-Sozialpädagoge/Sozialarbeiter FH; Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kindesschutz an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Basel. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Michael Böwer Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge, Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Leiter des Forschungsprojekts „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe (ISkE)“. Internet: www.katho-nrw.de/paderborn/forschung-entwicklung E-Mail: [email protected] Wolfgang Brandstetter Studium der Germanistik, Geschichte und Sozialen Arbeit, M. A. für Systemische Sozialarbeit, seit über 30 Jahren Mitarbeit in verschiedenen Projekten der stationären Jugendhilfe bei unterschiedlichen freien Trägern. Seit 1997 für die Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe im oberbayerischen Tutzing zunächst als Gruppenleitung für eine therapeutische Wohngruppe für Jugendliche, dann als Projektleitung – später Bereichsleitung – für ‚Betreutes Wohnen‘ für junge Erwachsene tätig. Seit 2006 Qualitätsbeauftragter für alle Bereiche der Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe. E-Mail: [email protected] 413 autor(inn)enverzeichnis Thomas Fertig Sonderpädagoge, seit über 20 Jahren Arbeit in unterschiedlichen inklusiven Zusammenhängen, sowohl im Kontext von Behinderung als auch im Kontext von Migration, kultureller Heterogenität in verschiedenen Lebensbereichen. Seit 2009 Leitung des Weiterbildungsgangs „Fachkraft für inklusive Pädagogik und Praxis“ an der Universität des Saarlandes, seit 2015 den zusätzlichen Weiterbildungsgang „Begleiter_ in für inklusive Prozesse und Systeme“ ebendort. Außerdem als Berufsschullehrer in Berlin und freiberuflich als Dozent in unterschiedlichen Zusammenhängen tätig. Internet: www.uni-saarland.de/einrichtung/zell/inklusion.html; www.thomas-fertig.de E-Mail: [email protected] Christina Frank Mag.a, Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems, Forschungsschwerpunkte: Quantitative Forschung im Bereich der Psychotherapie und psychosozialer Interventionen sowie der Genderforschung. E-Mail: [email protected] Dominic Frohn Diplom-Psychologe, selbstständig in eigener Praxis für Beratung, Coaching, Mediation und Training in Köln, Ausbilder für Mediation und Coaching im INeKO-Institut an der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter für Differenzielle Psychologie an der Hochschule Fresenius. Durchführung der Studie „Wir sind Eltern!“ im Auftrag der Stadt Köln als wissenschaftlicher Leiter mit seinem Team im Jahr 2010/11. Internet: www.dominicfrohn.de E-Mail: [email protected] 414 autor(inn)enverzeichnis Prof. Dr. Dorett Funcke Ernsting‘s family-Junior-Stiftungsprofessur für das Fach Soziologie familialer Lebensformen, Netzwerke und Gemeinschaften an der FernUniversität in Hagen. E-Mail: [email protected] Univ.-Prof. Dr. phil. Silke Birgitta Gahleitner Studium der Sozialen Arbeit, Promotion in Klinischer Psychologie und langjährige Arbeit als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen sowie in eigener Praxis. Seit 2006 Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der ASH Berlin, seit 2012 für den Forschungsbereich Integrative Therapie und Psychosoziale Interventionen am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems zuständig. E-Mail: [email protected] Mag.a Dr.in Katharina Gerlich Promovierte Soziologin, seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vortragende am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems. Forschungsschwerpunkte: qualitative soziologische Erhebungs- und Analyseverfahren zu spezifischen Fragestellungen der psychosozialen Interventionen, Psychotherapieforschung und Gender Studies. E-Mail: [email protected] 415 autor(inn)enverzeichnis Britt Heinrichs B. A. Soziale Arbeit, Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Studierende im Masterstudiengang Gesundheitsfördernde Soziale Arbeit und wissenschaftliche Hilfskraft der Projektphase I: Expert/innen-Hearing. E-Mail: [email protected] Heidemarie Hinterwallner MA MA, Studium der Soziologie an der Universität Wien und Klinische Sozialarbeit an der Fachhochschule Campus Wien. Seit 2008 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2012 Lehrgangsleiterin des Universitätslehrgangs Psychotherapeutisches Propädeutikum am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit tätig. Schwerpunkte: Qualitative Forschung, Gesundheits- und Medizinsoziologie. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Bettina Hünersdorf Professorin für Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studium der Erziehungswissenschaft an den Universitäten Würzburg und Trier. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin am Institut für Pädagogik der Universität Trier sowie an Institut für Pädagogik an der Universität Zürich, Vertretungsprofessorin für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Universität Heidelberg und der Universität der Bundeswehr München, Professorin für Theorie Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. E-Mail: [email protected] 416 autor(inn)enverzeichnis Philipp Ikrath Studienleiter bei T-Factory Hamburg, seit 2007 in deren Geschäftsleitung; wissenschaftlicher Leiter und Vorsitzender von Jugendkulturforschung.de – Jugendkulturforschung und Kulturvermittlung e. V. in Hamburg. Internet: www.jugendkulturforschung.de E-Mail: [email protected] Johanna Karpenstein Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. Internet: www.b-umf.de E-Mail: [email protected] Dr. Catarina Christina Katzer Volkswirtin, Sozialpsychologin, Soziologin; Institut für Cyberpsychologie & Medienethik, Köln. Internet: www.cyberbullying-germany.de E-Mail: [email protected] Jessika Kuehn-Velten Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin. Stellvertretende Leitung der KinderschutzAmbulanz Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Begleitung und Gestaltung von Klärungsprozessen mit Kindern und Familien im Umfeld von Gewalterleben und Traumatisierung, Fachberatungen, Fort- und Weiterbildung. Seit 2012 Mitglied des Bundesvorstands der Kinderschutz-Zentren. E-Mail: [email protected] 417 autor(inn)enverzeichnis Dr. Anne Katrin Künster Diplom-Psychologin, Leitende Psychologin am Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Sektion: Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie. E-Mail: [email protected] Mike Lenkenhoff Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwesen der FH Münster, war dort u. a. im Projekt Schutzkonzepte tätig. Als Diplom-Sozialarbeiter/ Diplom-Sozialpädagoge zunächst in der ambulanten Drogenhilfe und in den Erziehungshilfen, danach als ASD-Fachkraft in einem kommunalen Jugendamt tätig. Abschluss als Master in Nonprofit-Management. E-Mail: [email protected] Birgit Maschke Diplom-Sozialpädagogin, Familientherapeutin (DGSF), Traumatherapeutin (Kirschenbauminstitut), Supervisorin (DGSF), STEEP-Qualifikation (HAW HH), Qualitätsentwicklerin (Kronberger Kreis e. V.). Angestellt beim Jugendamt des Kreises Hzgt. Lauenburg in der Fachstelle Kinderschutz. Mit halber Stundenzahl freiberuflich tätig, Schwerpunkte: Supervision, Fortbildung, Fallwerkstätten. Internet: www.fallwerkstätten.de E-Mail: [email protected] 418 autor(inn)enverzeichnis Cecilia Mingazzini Diplom-Sozialpädagogin, Studium der Sozialpädagogik, langjährig als Gruppenleitung im geschlossenen Mädchenheim Gauting tätig, anschließend Bezirkssozialarbeit im Jugendamt Heilbronn. Ab 2005 Gruppenleitung im Gruppendienst bei der Tabaluga Kinder und Jugendhilfe und ab 2008 Bereichsleitung für das Haus in Schongau und die Außenwohngruppe in Tutzing. Zugleich Weiterbildung zur Mediatorin und Ausbildung zur Traumapädagogin (mit Abschluss in 2014) durch das Zentrum für Traumapädagogik . Seit 2011 auch Zuständigkeit für die traumapädagogische Fortbildung der Mitarbeiter der Tabaluga Kinder und Jugendhilfe. E-Mail: [email protected] Thomas Mörsberger Rechtsanwalt, Vorsitzender des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF), Heidelberg. E-Mail: [email protected] Dr. phil. Peter Mosser Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut, Traumatherapeut. Seit 1999 Mitarbeiter von kibs in München [Arbeit mit Jungen und jungen Männern (< 27 J.), die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind]. Mitglied des von der Bundesregierung einberufenen Runden Tisches „Kindesmissbrauch“ (2010/2011), Mitarbeit an Forschungsprojekten zum Thema sexualisierte Gewalt (u. a. DJI-Studie „Sexuelle Gewalt in Institutionen“ 2011, Studie zum Kloster Ettal 2013), zahlreiche Veröffentlichungen [z. B.: Expertise im Auftrag des IzKK: „Sexuell grenzverletzende Kinder – Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen“ (2012)]. 419 autor(inn)enverzeichnis Mareike Naß B. A. Soziale Arbeit, Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Studierende im Masterstudiengang Gesundheitsfördernde Soziale Arbeit und wissenschaftliche Hilfskraft der Projektphase I: Expert/innen-Hearing. E-Mail: [email protected] Bernd Reiners Diplom-Psychologe, Fachpsychologe für klinische Psychologie und Psychotherapie (BDP), Paar-, Familien- und Lehrtherapeut für systemische Therapie (DGSF), Supervisor (DGSv, DGSF), Lehrsupervisor (DGSv). Seit 2005 Arbeit mit Kinderorientierter Familientherapie, seit 2009 Lehre, 2013 Fachbuchveröffentlichung. E-Mail: [email protected] Dr. Klaus Roggenthin Soziologe und Sozialpädagoge, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe e. V., Bonn. E-Mail: [email protected] Martha Schneider Studentin der Psychologie an der Universität Wien, Diplomandin am Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden. Studienschwerpunkte: Klinische- und Gesundheitspsychologie sowie Angewandte Kinder- und Jugendpsychologie. E-Mail: [email protected] 420 autor(inn)enverzeichnis Prof. Dr. Christian Schrapper Professor für Pädagogik, Schwerpunkt Sozialpädagogik, an der Universität Koblenz-Landau, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie sozialer Arbeit, Planung und Organisation sozialer Arbeit, Methoden sozialer Arbeit, sozialpädagogische Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe. E-Mail: [email protected] Dr. Sabina Schutter Leitung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik im Deutschen Jugendinstitut. Zuvor Grundsatzreferentin und stellvertretende Abteilungsleitung in der Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts. E-Mail: [email protected] Teresa Siefer Diplom-Psychologin, Psych. Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Leiterin des Kinderschutz-Zentrums Lübeck. Internet: www.kinderschutz-zentrum-luebeck.de E-Mail: [email protected] Dr. llse Wehrmann Beratung und Management für Frühpädagogische Praxis, Wehrmann Education Consulting. Internet: www.ilse-wehrmann.de E-Mail: [email protected] 421 autor(inn)enverzeichnis Prof. Dr. Michael Winkler Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik. Arbeitschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Pädagogik, Theorie der Sozialpädagogik, Familienerziehung. E-Mail: [email protected] Reinhart Wolff Erzieherwissenschaftler und Soziologe, Hochschullehrer für Sozialarbeit und Sozialpädagogik von 1977 bis 2008 an der Alice Salomon Hochschule Berlin, 1990–1994 deren Rektor, seit 1975 Privatdozent an der Freien Universität Berlin, Familienberater und Familientherapeut, System- und Organisationsberater, Praxisforscher und Qualitätsentwickler in freier Praxis / Sprecher des Kronberger Kreises für Dialogische Qualitätsentwicklung e. V. E-Mail: [email protected] Birgit Zeller Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter. E-Mail: [email protected] 422 autor(inn)enverzeichnis Prof. Dr. phil. Ute Ziegenhain Leiterin der Sektion: Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie am Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. E-Mail: [email protected] 423
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