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Kindgerecht
Verändertes
Aufwachsen in
einer modernen
Gesellschaft
impressum
Herausgeber
Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e. V.
Die Kinderschutz-Zentren
Bonner Str. 145
50968 Köln
Telefon 0221 56975-3
Telefax 0221 56975-50
E-Mail [email protected]
Internet www.kinderschutz-zentren.org
Redaktion Jasmin Hofmeister,
Arthur Kröhnert (verantwortlich)
Umschlaggestaltung Jens Hoeft
Seitengestaltung Geela Eden
Köln, April 2015
Nachdruck und Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung des
Herausgebers und der Autor(inn)en.
ISBN: 978-3-943243-12-3
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inhalt
Jessika Kuehn-Velten
Vorwort9
Kay Biesel
Die Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für
kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsen
15
Reinhart Wolff
Kinderschutz braucht Ressourcen – Wenn Hilfeinstitutionen
verarmen, verliert der Kinderschutz und schädigt Kinder29
Thomas Mörsberger
„Wir brauchen einen Richtungswechsel!“
Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des Kinderschutzes,
ausgehend von schwierigen und insbesondere von besonders
spektakulären Kinderschutzfällen
Birgit Zeller
Anerkennungskultur in der Jugendhilfe
Kann eine Profession, die ständig infrage gestellt wird,
für sich und andere sorgen?
Jessika Kuehn-Velten
Ver-rückt im Kinderschutz
Die Psychiatrisierung der Kindheit 39
51
61
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inhalt
Christian Schrapper
Im Mittelpunkt und doch aus dem Blick?
„Das Kind“ im familiengerichtlichen
Verfahren bei Kindeswohlgefährdung
71
Michael Winkler
Reformpädagogik99
4
Birgit Maschke
Wie viel Parteilichkeit ist kindgerecht?
Wie parteilich ist systemischer Kinderschutz?
Und was ist eigentlich der Unterschied?
Ergebnisse einer Telefonbefragung 117
Michael Böwer, Britt Heinrichs und Mareike Naß
Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen
der Erziehungshilfe – Befunde einer Forschungswerkstatt
im Rahmen des Forschungsprojektes »ISkE«
141
Mike Lenkenhof
Kinderschutz zwischen ASD, SPFH und Familien:
Explizite Kontrolle in ambulanten Erziehungshilfen 153
Bernd Reiners
Neue Ansätze in der Arbeit mit Kindern:
Kindorientierte Familientherapie 165
Peter Mosser
Kinder schützen – auch vor Kindern!
Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt
181
Silke Birgitta Gahleitner et al.
Bindungs- und traumasensibel arbeiten: Traumapädagogische
Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
193
inhalt
Ilse Wehrmann
Die Lebenswelt kleiner Kinder – Herausforderung U3
205
Anne Katrin Künster, Ute Ziegenhain
Krippenbetreuung – eine Frage der Qualität
Ein Kommentar zu „Risiken der Krippenbetreuung aus
tiefenpsychologischer Sicht von Ann Kathrin Scheerer“
209
Philipp Ikrath
Die Überforderung in der digitalen Kultur und antidigitaler
Eskapismus – Ein Essay zu jugendlichem Medienverhalten
225
Catarina Katze
Facebook, WhatsApp & Co: Neue Welten für Kommunikation
und Selbstdarstellung – Risiko für Grooming und Cybermobbing?
237
Teresa Siefer
Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten:
Chancen, Risiken, Herausforderungen
255
Dorett Funcke
Entschleunigte Familien? – Auswege und Strategien
gegen die Beschleunigung sozialen Lebens
269
Bettina Hünersdorf
(Un)sichtbar kindgerecht
Privatheit und Öffentlichkeit von Familie
289
Dominic Frohn
„Wir sind Eltern!“
Studie zur Lebenssituation Kölner Regenbogenfamilien
Sabina Schutter
Risikofaktor Alleinerziehend?
Einelternfamilien zwischen Stigmatisierung und Bewunderung
315
331
5
inhalt
Klaus Roggenthin
Was wir den Kindern inhaftierter Eltern schulden
359
Thomas Fertig
Niemand hat gesagt, dass Inklusion einfach ist ...
Wege in eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe
389
Johanna Karpenstein
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen
Jugendhilfe und Ordnungsrecht
403
Autor(inn)enverzeichnis 413
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7
V
jessika kuehn-velten
Vorwort
Die Antwort auf die Frage »Was ist kindgerecht?«, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Das Ziel dieses Buches ist es, gemeinsam Bilder einer kindgerechten
Welt, Familie, Politik, einer kindgerechten Gesellschaft und schließlich Jugendhilfe zu verstehen und zu entwerfen.
Die Deutschen halten ihr Land für eher ungerecht. Eine repräsentative Umfrage
des Allensbach Institutes zeigt, dass viele Bundesbürger(innen) sich mehr
soziale Gerechtigkeit im Lande wünschen. Besonders auf Chancengerechtigkeit
wird Wert gelegt: 90 Prozent der Befragten sehen Gerechtigkeit etwa erst dann
als gegeben an, wenn alle Kinder die gleiche Chance auf eine gute Schulbildung
haben, 91 Prozent, wenn Beschäftigte von ihrem Lohn wirklich leben können.
Diese Klage über das ungerechte Heimatland ist möglicherweise typisch
depressiv-deutsch einerseits – die dahinter stehende Werteorientierung auf
soziale und Chancen-Gerechtigkeit gibt allerdings andererseits auch viel
Hoffnung. Es ist eine Binsenweisheit, dass vollkommene Gerechtigkeit im
Leben nicht möglich ist. Und so lehren wir ja unsere Kinder, dass es in der Welt
ungerecht zugeht, und manchmal zeigen wir ihnen auch die Variante von
John F. Kennedy: „Das Leben ist ungerecht. Aber denke daran – nicht immer zu
deinen Ungunsten!“
Wäre es nicht schön, wenn Ungerechtigkeit zumindest zugunsten der Kinder
ausginge? Charles Dickens sagt: „Kinder erleben nichts so scharf und bitter wie
Ungerechtigkeit“ – und er mag wohl aus eigener Erfahrung gesprochen haben,
in der Kindheit mit dem Vater im Schuldgefängnis und Kinderarbeit zum
Lebensunterhalt von Eltern und Geschwistern gegründet. Der Blick der Kinder
auf Kindgerechtigkeit könnte und sollte so uns Helfern und Helferinnen zum
Helfen helfen …
Und dann noch ein Letztes dieses kleinen Ausflugs in die Literatur – etwas, das
einer durchaus kindgemäßen Symbolisierungsebene entstammt. In Leonie
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jessika kuehn-velten
Swanns wundervollem Schafskrimi Glennkill blökt der schwarze Vierhornwidder Othello „Gerechtigkeit“ – und vom Winterlamm gefragt, was das sei:
„Gerechtigkeit ist, wenn man traben kann, wo man will, und grasen, wo man
will. Wenn man seinen Weg gehen kann. Wenn man um seinen Weg kämpfen
darf. Wenn niemand einem den Weg stiehlt. Das ist Gerechtigkeit.“
Kindgerecht heißt aber nicht nur Gerechtigkeit. Kindgerecht heißt nicht nur
Familienrecht und Bundeskinderschutzgesetz. Kindgerecht stellt auch die
Frage der Orientierung und Angemessenheit, und die Frage: Müssen Eltern und
Einrichtungen, müssen Hilfen und Hilfesysteme wie Jugendhilfe und Gesundheitswesen zu den Kindern passen – oder die Kinder zu den Eltern, Hilfen,
Institutionen, Systemen?
Die vorliegenden Beiträge verfolgen mehrere Handlungsstränge. Da ist zum einen und insbesondere das Thema Beteiligung von Kindern mit dem Bogen von
der Partizipation bis zur Inklusion, von der gesellschaftlichen Teilhabe bis zu
einem möglichen Mitgestalten. Einem Mitgestalten auch in den Hilfen, in der
Umsetzung von Hilfen wie dem Erfinden von Hilfen, die Kinder und Jugendliche in der Jetztzeit wirklich brauchen können.
Weiter geht es um neue Zugänge und Ansätze in der Arbeit mit Kindern und
vor allem Jugendlichen und Familien – darin auch den Blick auf die neuen Medien und Technologien, deren Möglichkeiten und Risiken, jedoch nicht nur als
verwundert betrachtete Lebenswelt der jungen Menschen, sondern als von der
Jugendhilfe zu besetzendes Beratungs- und Hilfefeld mit entsprechenden nicht
nur Kenntnissen, sondern auch finanziellen Ressourcen.
Es geht natürlich um die Themen, die uns in den letzten Monaten und davor in
Jugendhilfe und Kinderschutz beschäftigt haben und noch befassen – um die
Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Institutionen und Familie und die
Reflexion der dazu entwickelten Schutzkonzepte, um gute Aufbereitung und
das Lernen aus schwierigen Verläufen in Kinderschutzfällen, und immer wieder um das Ringen um ein Gleichgewicht zwischen Risikominimierung und
konsequenter Hilfe- und Beziehungsorientierung in der Arbeit mit Kindern
und Familien.
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vorwort
Und schließlich beschäftigen wir uns immer wieder damit, wie sehr wir in Jugendhilfe und Kinderschutz mit entwickeln und verantworten (können), dass
es wirklich kindgerechte Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern gibt.
Wir sind Fachleute und damit wichtige Akteure im Feld guter Kindheiten und
Jugendzeiten in unserer Gesellschaft. Wir können helfen, Kinder und Jugendlichen ebenfalls in angemessener, nicht überfordernder Weise Mit-Akteure sein
zu lassen.
Der Untertitel des Buches lautet „Verändertes Aufwachsen in einer modernen
Gesellschaft“. Kinder werden nicht in der gleichen Weise groß wie vor 10, 20
oder mehr Jahren – das gibt das Modell von Entwicklungs- und Veränderungsorientierung in unserer Gesellschaft ebenso wenig her wie die Geschwindigkeit unseres Lebens. Viele der Beiträge haben auch die Frage im Blick, wie wir
in der Jugendhilfe nicht nur nachgehen, sondern mitgehen und vielleicht sogar
vorausgehen können, wie wir bei aller Entschleunigung auch passend zu den
jungen Adressat(inn)en Fahrt aufnehmen können.
Aus den Frühen Hilfen kennen wir den Begriff der Feinfühligkeit, mit der
Eltern Signale ihrer Babys und Kleinkinder beantworten. Wir wissen, wie viele
Ressourcen und Stärken zur Verarbeitung auch schwieriger Lebensereignisse
in dieser frühen Basis liegen. Ich wünsche uns Engagement für die Differenzierung einer gesellschaftlichen Feinfühligkeit für Kinder und Jugendliche, nicht
nur für die Kleinen, auch für die Pubertierenden bis zur Adoleszenz. Einer Feinfühligkeit, die Signale der Kinder ohne Angst und unerschrocken aufnimmt,
beantwortet und integriert.
Wie wollen wir das machen? „Kindgerecht ist, wenn schwierige Sachen einfach
erklärt werden“, hat ein Mädchen in einer Interviewreihe der KinderschutzZentren einmal so treffend gesagt. Das heißt, dass wir innerlich immer einmal
wieder das Gehörte und Gesagte in die Sprache und den Verstehenskontext
von Kindern übertragen, um in innerem Kontakt mit ihnen zu bleiben.
Lassen Sie uns immer wieder einmal den Blickwinkel der Kinder einnehmen.
Lassen Sie uns einander zuhören aus der Sicht einer Dreijährigen, eines Sechsjährigen, 10 Jahre alter Kinder oder 14 Jahre alter Jugendlicher, um diese Sicht
11
jessika kuehn-velten
fest mit der unseren als Erwachsene und Fachleute zu verknüpfen, um kindgerecht zu bleiben und Kinder und Jugendliche sicher im Blick zu behalten. Ich
wünsche Ihnen eine erfahrungsreiche, spannende, aber auch lustvolle Lektüre!
Jessika Kuehn-Velten
Ärztliche Kinderschutzambulanz Düsseldorf,
Bundesvorstand der Kinderschutz-Zentren
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D
kay biesel
Die Verantwortung der Kinderund Jugendhilfe für kind(er)gerechte
Bedingungen des Aufwachsens
Kinder- und Jugendhilfe übernimmt öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern (vgl. Bundesministerium für Familie 2002, Bundesministerium für Familie 2013). Sie soll sich für die Wahrung und Verwirklichung
ihrer Rechte und Interessen einsetzen und mit ihren Angeboten und Leistungen zur Förderung ihrer individuellen und sozialen Entwicklung beitragen. Sie
hat den Auftrag, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre
Familie sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder
zu schaffen (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII). In diesem Sinne kann Kinder- und
Jugendhilfe als eine Unterstützungs- und Sozialisationsinstanz angesehen
werden, die für den Erhalt und die Schaffung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens verantwortlich ist. Ausgehend von dieser These werden
im Beitrag zwei Fragen aufgegriffen und beantwortet: (1.) Was sind kind(er)
gerechte Bedingungen des Aufwachsens? (2.) Welche Verantwortung hat Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Gestaltung kind(er)gerechter Bedingungen des Aufwachsens?
1. Zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘
Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1971a) lassen sich
zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘ keine Einträge finden, dafür aber für das Wort
‚gerecht‘. ‚Gerecht‘ ist etwas, wenn es gerade gewachsen ist oder jemand richtig
gebaut und gesund ist oder den rechten Weg geht. Gerecht sind auch solche
Dinge, die genau, passend, vollkommen oder gerade bzw. im rechten Winkel
sind. Gerecht ist auch, was richtig ist oder den gesetzlichen Vorschriften entspricht (vgl. Grimm/Grimm 1971b). Ungerecht sind hingegen Handlungen, die
falsch sind, die gegen das Gesetz verstoßen oder ungerade bzw. uneben sind.
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kay biesel
Wenn etwas kind(er)gerecht sein soll, muss es demnach dem Recht entsprechen bzw. den Rechten von Kindern gerecht werden. Es muss richtig und darf
nicht falsch sein, d. h. es muss gerechtfertigt sein.
In den einschlägigen Hand(wörter)büchern Sozialer Arbeit bzw. der Kinderund Jugendhilfe lassen sich zum Begriff ‚kind(er)gerecht‘ ebenfalls keine Einträge finden. Ebenso nicht zur Frage, ob und inwieweit Kinder- und Jugendhilfe
Verantwortung für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsen hat (vgl.
Otto/Thiersch 2011, Schröer/Struck/Wolff 2002, Thole 2010).1 Es sind in ihnen
aber Beiträge über die Entwicklung und Bedeutung der Rechte von Kindern
und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Bartscher/Kriener 2002,
Kriener/Hansbauer 2014) und zum Begriff der Gerechtigkeit enthalten (vgl.
Böllert et al. 2011). Der Begriff ‚kind(er)gerecht‘ wird insofern zwar im Diskurs
verwendet. Es bleibt jedoch oftmals unklar, was unter ‚kind(er)gerecht‘ verstanden wird. Anzunehmen ist, dass der Begriff auf einen Mangel hinweisen soll. Er
verweist auf die schwache Stellung von Kindern in unserer Gesellschaft. Er signalisiert, dass Kinder eines besonderen Schutzes und spezieller Rechte bedürfen. Ihnen soll es Recht in unserer Gesellschaft gemacht werden bzw. soll mit
ihnen gerechter als bisher umgegangen werden. Sie sollen kein Leid und keine
Ungerechtigkeiten mehr erfahren, so wie es in der Geschichte der Kindheit
lange Zeit üblich war (vgl. deMause 1980). Sie sollen nicht länger benachteiligt
sowie misshandelt, vernachlässigt und/oder sexuell ausgebeutet werden, sondern endlich als gleichberechtigte Subjekte anerkannt und ernst genommen
werden. Liebel (2013, S. 5ff.) argumentiert in seiner Auseinandersetzung über
den Begriff ‚kindergerecht‘ in ähnlicher Weise. Er kritisiert allerdings, dass nur
vage Vorstellungen darüber bestehen, was „Kindergerechtigkeit“ (ebd., S. 5) ist,
weshalb der Begriff oftmals nur eine Formel sei, mit der man sein Handeln in
ein gutes Licht rücken könne (vgl. ebd.). Liebel unternimmt aus diesem Grund
den Versuch, zu beschreiben, „was Gerechtigkeit für Kinder aus der Sicht von
Kindern“ (ebd.) bedeuten könnte. Hierfür unterscheidet er fünf Dimensionen
von Gerechtigkeit, die für ihn miteinander verknüpft sind und sich überschneiden (vgl. ebd., S. 5ff.):
1
Generell lassen sich nur wenige lexikalische Einträge zum Wort ‚kindgerecht‘ finden. Oft wird in Lexika der Begriff
‚kindgemäß‘ verwendet, was so viel bedeutet wie der Entwicklung und dem Alter von Kindern entsprechend.
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die verantwortung der kinder- und jugendhilfe
·Gleichberechtigung: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was
getan werden kann, damit Kinder ihre Rechte in Anspruch nehmen können und nicht aufgrund ihres Alters diskriminiert und an ihrer Rechtsausübung gehindert werden.
·Politische Gerechtigkeit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was getan werden kann, damit Kinder als Bürgerinnen und Bürger
beteiligt und nicht strukturell aus politischen Entscheidungsprozessen
ausgeschlossen werden.
·Soziale Gerechtigkeit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was
getan werden kann, damit Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres
Geschlechts oder anderer ihnen zugeschriebenen Merkmalen nicht sozial
benachteiligt werden.
·Individuelle Verschiedenheit: Auf dieser Dimension geht es ihm um die
Frage, wie altersspezifische Lebens-, Ausdrucks- und Kommunikationsformen von Kindern anerkannt und zugleich ihre Rechte gewahrt bleiben
können.
·Gerechtigkeitssinn: Auf dieser Dimension geht es ihm um die Frage, was
getan werden kann, damit Kinder Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickeln können und wie mit ihnen umzugehen sei.
Die Analyse des Begriffs ‚kind(er)gerecht‘ verdeutlicht, worum es der Kinderund Jugendhilfe gehen muss, soll sie ihrer Verantwortung für die Gestaltung
kind(er)-gerechter Bedingungen des Aufwachsens gerecht werden: um die
Beachtung und Realisierung von Kinderrechten für Kinder und aus Sicht von
Kindern (vgl. ebd., S. 5). Oder wie im Abschlussbericht des Nationalen Aktionsplans „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ betont wird, um eine
„Wandlung des Bildes vom Kind: weg von der Sicht auf das Kind als Objekt des
Handelns Erwachsener hin zur Anerkennung des Kindes als Träger eigener
Rechte“ (Bundesministerium für Familie 2010, S. 8).
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kay biesel
2.Rechte von Kindern in der Kinder- und Jugendhilfe – immer noch nicht
hinreichend beachtet
Dass Kinder eigene Rechte haben, ist bereits seit dem Beginn der Moderne und
nicht zuletzt seit Rousseau’s ‚Èmile‘ (1998), dann aber im 20. Jahrhundert vor
allem seit Ellen Key’s Programmschrift ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ (vgl. Key
2000) und insbesondere seit dem Wirken und der Werke von Janusz Korczak
ein wichtiges Anliegen geworden (vgl. Beiner 2008, Korczak 2008 und 2011).
Kinderrechte sind die Basis für eine soziale Praxis der Achtung, die auf dem
Recht des Kindes auf den eigenen Tod, dem Recht des Kindes auf den heutigen
Tag und auf das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist, fußt (vgl. Korczak
2008, S. 40). Dennoch hat erst seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 in der Kinder- und Jugendhilfe eine breite Auseinandersetzung über Kinderrechte begonnen (vgl. Bundesministerium für Familie
2013, S. 263f.; IzKK-Nachrichten 2009; Kriener/Hansbauer 2014; Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e. V. 2010). Im Schwerpunkt der Auseinandersetzung geht es dabei tendenziell immer wieder um die Frage, ob und wie
Partizipationsrechte von Kindern (weniger Förderrechte und Schutzrechte) in
der Kinder- und Jugendhilfe besser wahrgenommen und umgesetzt werden
und dabei die Rechte von Eltern gewahrt bleiben können. Mit der Einführung
des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 ist es mittlerweile jedoch zu
einer Stärkung der Rechtsstellung von Kindern gekommen (vgl. Meysen/
Eschelbach 2012, S. 165ff.). Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen
nun geeignete Verfahren zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und für deren Schutz vor Gewalt als wesentliches Qualitätsmerkmal
nachweisen (vgl. § 78a SGB VIII). Sie sind gekoppelt an die Erteilung einer
Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII und sollen die Beteiligung von Kindern in
stationären Settings sicherstellen und ihnen die Möglichkeit der Beschwerde
in persönlichen Angelegenheiten gestatten (siehe hierzu auch: Urban-Stahl
2011, Urban-Stahl 2014).
Dennoch werden – wie Liebel herausstellt (2013, S. 72–99) – die Rechte von Kindern in der Kinder- und Jugendhilfe immer noch nicht hinreichend beachtet,
zumindest wenn man die augenblickliche Praxis des Kinderschutzes vor Augen
hat, in der Schutzrechte im Rahmen der Ausübung des staatlichen Wächter-
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die verantwortung der kinder- und jugendhilfe
amtes oftmals einseitig gegen die Förderungs- und Partizipationsrechte von
Kindern durchgesetzt werden (siehe auch: Kriener/Hansbauer 2014, S. 181; Pluto
2007; Wolff et al. 2013). Es scheint insofern von Bedeutung zu sein, sich in der
Kinder- und Jugendhilfe verstärkt für die Wahrnehmung und Realisierung von
Kinderrechten einzusetzen. Ihre in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften
Rechte sind zwar bislang noch nicht im Grundgesetz enthalten, ihre Verankerung
wird jedoch aktuell im 14. Kinder- und Jugendbericht gefordert, in dem es heißt:
Der Rückgang des Anteils junger Menschen an der Gesamtbevölkerung birgt
die Gefahr, dass ihre Interessen und Anliegen bei der Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen marginalisiert werden. Zwar hat die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass das Kind
ein Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit ist. Allerdings lässt sich dieses Rechtsverständnis
noch nicht im Grundgesetz finden. Die Einfügung von Kinderrechten in das
Grundgesetz würde insoweit zu einer Klarstellung beitragen. Sie könnte Anlass
zur Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen primär aus der Perspektive junger
Menschen geben, würde das allgemeine Rechtsbewusstsein verändern und der
‚strukturellen Rücksichtslosigkeit‘ entgegenwirken, mit der Kinder und Familien konfrontiert sind. (Bundesministerium für Familie 2013, S. 51)
3.Anhaltspunkte zur Bestimmung von kind(er)gerechten Bedingungen des
Aufwachsens in der Kinder- und Jugendhilfe
Auf der Suche nach Anhaltspunkten zur Bestimmung von kind(er)gerechten
Bedingungen des Aufwachsens sind neben der UN-Kinderrechtskonvention
drei normative Referenzrahmen richtungsgebend (Böllert et al. 2011, S. 519;
Schrödter 2007, S. 9ff.). Sie sind eng verknüpft mit der Frage, worauf Gerechtigkeitsurteile fußen und woran man erkennen kann, dass Kindern Unrecht
geschieht bzw. Ungerechtigkeiten zuteil werden. Bedingungen des Aufwachsens sind demnach kind(er)gerecht,
a)wenn sie zum Wohlbefinden oder zur Befriedigung der Grundbedürfnisse von Kindern beitragen (Utilitarismus),
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kay biesel
Voraussetzung für kind(er)gerechte
Bedingungen des Aufwachens
b)wenn Kindern unabhängig ihrer individuellen Grundbedürfnisse ausreichend gesellschaftliche Grundgüter zur Verfügung stehen, wie z. B. finanzielle Ressourcen oder anerkannte und gewährte Kinderrechte (Rawls liberale Theorie der Gerechtigkeit),
c)wenn Kinder trotz ungleicher Startbedingungen die Chance gewährt wird, Fähigkeiten zu Führung eines guten Lebens ausbilden zu können (Capabilities-Ansatz von Nussbaum und Sen).
Gewährleistung des Wohlbefindens von Kindern
und der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse
Vorhandensein ausreichender gesellschaftlicher
Grundgüter
Sicherstellung von gleichen Startbedingungen /
(frühe) Unterstützung bei der Ausbildung von
Fähigkeiten zur Führung eines guten und sinnerfüllten Lebens
Abb. 1: Voraussetzung für kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsens
Alle drei genannten Referenzrahmen können zur Bestimmung von kind(er)
gerechten Bedingungen des Aufwachsens herangezogen werden. Sie beinhalten für sich genommen sinnvolle Kriterien anhand derer man beurteilen
kann, ob Bedingungen des Aufwachsens kind(er)gerecht sind oder nicht. Sie
haben aber auch Schwächen. Vor allem sind sie primär nicht dazu entwickelt
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die verantwortung der kinder- und jugendhilfe
worden, um zu beantworten, ob Bedingungen des Aufwachsens aus Sicht von
Kindern gerecht sind und wie diese realisiert werden können. So argumentieren Böllert u. a., dass Rawls liberale Theorie der Gerechtigkeit auf einem
Gedankenexperiment basiert, welches „vernünftige, kooperationsfähige und
mit moralischem Urteilsvermögen ausgestattete“ (Böllert et al. 2011, S. 520)
Menschen voraussetzt. Rawl geht nämlich davon aus, dass Menschen sich
fair über die Verteilung von Ressourcen und die Zubilligung von Rechten
verständigen können und stets nach dem Differenzprinzip vorgehen. Dieses
besagt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn diese mit Amt und Würden verbunden sind (die prinzipiell
allen offenstehen müssen) und der Besserstellung der in einer Gesellschaft
am schlechtesten gestellten Mitglieder dienen (vgl. Böllert et al. 2011, S. 520;
Holzleithner 2009, S. 41ff.). Kinder und Menschen, die senil oder geistig
behindert sind, seien laut Böllert u. a. (2011, S. 520f.) jedoch nur begrenzt in
der Lage, den Partizipations- und Teilhabeanforderungen der Rawlschen
Vertragstheorie gerecht zu werden. Auch sei die Orientierung am Wohlbefinden bzw. an der Befriedung von Grundbedürfnissen, wie sie im Rahmen des
klassischen Utilitarismus vorgeschlagen wird (und auch im Kinderschutz
dominierend ist), unzureichend. Mit dieser Perspektive würde einer paternalistischen Sozial- und Bildungspolitik Vorschub geleistet werden (ebd., S. 523).
Böllert u. a. machen sich aus diesem Grund für den Capabilities-Ansatz in der
Sozialen Arbeit stark, der ihrer Meinung nach „ein klassisches Motiv Sozialer
Arbeit“ (ebd., S. 524) aufnimmt: Menschen zur Führung eines autonomen Lebens zu befähigen (vgl. ebd.), also dazu, ein erfülltes und sinnerfülltes Leben
mit einer guten körperlichen und geistigen Verfassung in Geselligkeit und
Gemeinschaft bis zum Tod zu führen (Nussbaum 1999). Diese Argumentation
ist an sich überzeugend, verdeckt aber, dass Bedingungen des Aufwachsens
nur dann kind(er)gerecht sind, wenn Rechte von Kindern beachtet und „als
normative, beinahe universell anerkannte Bezugspunkte für das, was jedem
Kind zusteht, auch wenn unvermeidbar ist, dass die in den Kinderrechten
enthaltenen Versprechen immer nur näherungsweise eingelöst werden (können)“ (Maywald 2009, S. 19), sichergestellt sowie ihre Grundbedürfnisse (vgl.
Brazelton/Greenspan 2002) hinreichend befriedigt werden, wofür die Kinderund Jugendhilfe aktiv Verantwortung übernehmen muss.
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kay biesel
4. Kinder- und Jugendhilfe und ihre Verantwortung für kindgerechte Bedingungen des Aufwachsens
Die Realisierung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens ist eine
sozialpolitische Aufgabe (vgl. Bartscher/Kriener 2002, S. 1059). Sozialpolitik
kann mit Kaufmann (2005, S. 75) als Intervention des Staates in soziale Verhältnisse angesehen werden. Sein Modell basiert auf folgenden Grundannahmen
(ebd., S. 83 u. 87):
· Ziel sozialstaatlicher Interventionen ist es, die soziale Teilhabe von Men schen sicherzustellen bzw. zu erweitern, also auch von Kindern.
· Sozialstaatliche Interventionen haben einen individuellen und einen kollektiven Nutzen.
· Sozialpolitik wirkt auf verschiedenen Ebenen und kennt vier Interventions formen: die rechtliche, die ökonomische, der ökologische und die pädagogische Intervention.
Die rechtliche Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung
des rechtlichen Status von Personen (Schutzrechte, Teilhaberechte, soziale
Rechte, z. B. Ansprüche auf Leistungen) (ebd., S. 89). Die ökonomische
Interventionsform beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommensund Lebensverhältnisse von Personen (Umverteilung zum Ausgleich sozialer
Ungleichheit) (ebd., S. 92). Die ökologische Interventionsform beinhaltet
Maßnahmen zur Verbesserung der Gelegenheitsstrukturen für Personen
(ebd., S. 96). Die pädagogische Interventionsform beinhaltet Maßnahmen
zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft von
Personen: Bildung, Beratung, Information; Vermittlung von Kompetenzen (ebd.,
S. 101. u. 104).
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die verantwortung der kinder- und jugendhilfe
Soziale Teilhabe
Dimensionen
sozialer
Teilhabe
Status
Gelegenheiten
Kompetenzen
Sozialpo- RechtsGeldlitische
ansprüche leistungen
Güter
Infrastrukturelle
Einrichtungen
Personenbezogene Dienstleistungen
Interven- rechtliche ökonomische
tionsformen
ökologische
pädagogische
Zentralproblem
der Realisierung
Interorganisationale Kooperation, Inanspruchnahme
Interpersonelle Kommunikation (Aufbau
und Erhalt helfender
Beziehungen)
Ressourcen
RechtsFinanzierung
wahrnehmung
Quelle: Kaufmann 2005, S. 88
Nimmt man Kaufmanns Modell zur Beantwortung der Frage, welche Verantwortung die Kinder- und Jugendhilfe für die Gestaltung von kind(er)gerechten
Bedingungen des Aufwachsens hat, wird deutlich:
· Kinder- und Jugendhilfe ist verantwortlich für die Gestaltung von Bedin gungen des Aufwachsens und von informellen Bildungsprozessen. Sie nutzt hierfür ökologische und pädagogische Interventionsformen.
· Sie ist gemeinsam mit anderen staatlichen Institutionen, der Familie und anderen kollektiven gesellschaftlichen Akteuren (wie vor allem den Wohl fahrtsverbänden) dafür zuständig, Kinder zu fördern, zu erziehen und zu schützen.
· Eine ihrer Aufgaben ist es, sich für den Erhalt und die Schaffung positiver und kinder- sowie familienfreundlicher Umwelten einzusetzen.
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kay biesel
·
·
·
Ihr primäres Ziel ist jedoch nicht, kind(er)gerechte Bedingungen des Aufwachsens zu erhalten oder zu schaffen, sondern entwicklungsgerechte (vgl. Bronfenbrenner 1981); ihr Handeln ist bislang mehr am Grundbedürfnismodell und weniger am Kinderrechte-Modell ausgerichtet.
Sie muss deshalb – soll sie mehr Verantwortung für die Gestaltung von kind(er)gerechten Bedingungen des Aufwachsens übernehmen – stärker über Rechte von Kindern informieren und die Umsetzung der Rechte von Kindern vor allem bei ihren Trägern und Organisationen verlässlich absichern und überwachen; ebenso muss sie untersuchen, ob und wie es ihr mit ihren Angeboten und Leistungen gelingt, Grundbedürfnisse von Kindern angemessen zu befriedigen.
Nicht zuletzt ist sie auf Partner angewiesen, die sich mit ihr für die soziale Teilhabe von Kindern einsetzen und dafür Sorge tragen, dass der Status von Kindern in unserer Gesellschaft gestärkt und Bedingungen des Aufwachsens erhalten und/oder geschaffen werden, die ihnen, ihren Grundbedürfnissen und Rechten gerecht werden.
5. Schluss
Kinder- und Jugendhilfe ist für die angemessene Erfüllung der ihr gesetzlich
zugewiesenen Aufgaben verantwortlich. Sie hat verantwortungsvolle Aufgaben zu bewältigen; ihr wird prinzipiell zugetraut, dass sie über Fähigkeiten
und Fertigkeiten verfügt, mittels derer sie Kinder fördern, erziehen und
schützen und die Folgen ihres Handelns abschätzen und kalkulieren kann.
Sie kann ihre Verantwortung allerdings nur wahrnehmen, wenn sie davon
überzeugt ist, dass sie die mit der Realisierung der ihr zugewiesenen Aufgaben entstehenden Kooperationsprobleme erfolgreich lösen kann. Sie muss
über die nötige Durchschlagskraft verfügen (Macht und Ressourcen) und
dazu bereit sein, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und es als
normal ansehen, dass auch Kinder als aktive Selbstproduzenten / Selbstkonstrukteure ihrer eigenen Persönlichkeit unterstützenden und schützenden
Lebensumständen eigene Rechte haben, die es zu achten, zu respektieren, zu
wahren und mit Leben zu erfüllen gilt, um ein gelingendes Aufwachsen zu
ermöglichen.
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die verantwortung der kinder- und jugendhilfe
Literatur
Bartscher, Matthias/Kriener, Martina (2002): Rechte von Kindern und Jugendlichen. In: Schröer, Wolfgang/Struck, Norbert/Wolff, Mechthild (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/München, S. 1051–1069.
Bein, Friedhelm (2008): Was Kindern zusteht. Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung. Inhalt – Methoden – Chancen. Gütersloh.
Böllert, Karin/Otto, Hans-Uwe/Schrödter, Mark/Ziegler, Holger (2011): Gerechtigkeit. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4., völlig neu bearb. Aufl. München, S. 517–527.
Brazelton, T. Berry/Greenspan, Stanley I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Weinheim/Basel.
Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart.
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27
K
reinhart wolff
Kinderschutz braucht Ressourcen
Wenn Hilfeinstitutionen verarmen, verliert der
Kinderschutz und schädigt Kinder *)
1. Woran können wir die Verarmung von Kinderschutzeinrichtungen festmachen?
Im Kinderschutz geht es im Kern immer wieder um Kinder gefährdende
und verletzende Lebensumstände. Armutsverhältnisse und soziokulturelle
Ausgrenzungen in Verbindung mit konfliktreichen Erwachsenen-KindBeziehungen in Familien und Institutionen (Heimen, Kindertageseinrichtungen,
Kliniken, Schulen, Jugendverbänden, Sportvereinen und Kirchen) sind wesentlich
als ursächlicher Hintergrund für Misshandlung und Vernachlässigung von
Kindern. Sich für den Schutz der Rechte und der Entwicklungsbedürfnisse
und für die Förderung des Wohlbefindens von Kindern einzusetzen, hat daher
in den letzten Jahren mit Recht die Aufmerksamkeit von Gesellschaft und Politik
wie von den im Kinderschutz engagierten professionellen Einrichtungen
und Fachkräften beansprucht. Viel weniger sind allerdings Verarmungen
und Verlusterfahrungen von Kinderschutzeinrichtungen selbst in den
Blick genommen worden. Mit der weiteren Aufgipfelung der Ansprüche an
die Kinderschutzarbeit im Zuge moderner Risikodiskurse – insbesondere
im Zusammenhang der medialen Skandalisierung von gescheiterten
Kinderschutzfällen – ist es überall zu einer wachsenden Flut von Kindeswohlgefährdungsmeldungen, zu mehr Kinderschutzfällen, zu mehr Inobhutnahmen
und außerfamilialen Unterbringungen von Minderjährigen und zu mehr
familiengerichtlichen Einschränkungen elterlicher Sorgerechte gekommen.
Überhaupt sind mit der Neuendeckung der Kindesmisshandlung in den
1960er und 1970er Jahren die Kinderschutzaufgaben im gesamten Kinder- und
*) Werner Thole in herzlicher Verbundenheit zum 60. Geburtstag.
29
reinhart wolff
Jugendhilfesystem immer wichtiger geworden, wurden andere Aufgaben
(wie z. B. die Jugendarbeit) an den Rand geschoben. Bereits Anfang der
1990er Jahre war dieser Trend, der überall in Europa und in den USA einer
grassierenden Begeisterung für „Neue Steuerung“ – einem neo-managerialen
Verwaltungskonzept – folgte, vor allem in der öffentlichen Kinder- und
Jugendhilfe deutlich geworden, wie die unvergessene Olive Stevenson, eine
der wichtigsten englischen Sozialarbeitswissenschaftlerinnen der letzten
Jahrzehnte, prägnant feststellte. Ihr zugespitzter Befund Anfang der 1990er
Jahre, der auch heute noch gilt, lautete:
Die Tatsache der Misshandlung ist für viele Kinder und Jugendliche nur
eine Problematik in einem leidvollen Katalog von Familienschwierigkeiten,
Benachteiligungen und problematischen Verhaltensweisen. Es ist aber
diejenige, die wir uns entschieden haben zu betonen (to highlight); und
obwohl wir nicht ihre zentrale Bedeutung bestreiten wollen, scheint es doch
schwierig gewesen zu sein, sie (die Problematik der Kindesmisshandlung,
RW) angemessen in das gesamte System der Praxis und Forschung der
Kinder- und Jugendhilfe (child care) zu integrieren. Dies läuft den Interessen
von Kindern und Jugendlichen zuwider. Kindesmisshandlung scheint
manchmal wie der Kuckuck im Nest zu sein, der die anderen Küken
unbarmherzig hinauswirft und unersättlich deren Anteil an den Ressourcen
konsumiert. (Übersetzung RW) 1
Insofern hat sich ein regelrechtes Entwicklungsdilemma ergeben:
Kindesmisshandlungen – und noch vager und weiter greifend
Kindeswohlgefährdungen – wurden mit immer größerer Aufmerksamkeit
wahrgenommen und als relevantes Handlungsproblem herausgestellt.
Damit wurde Kinderschutz zu einer wachsenden und zugleich alle anderen
Aufgaben dominierenden Aktivität der Fachkräfte in der Kinder- und
Jugendhilfe, ohne dass freilich die dafür notwendigen Ressourcen mit
gewachsen wären. Bei wachsender Anspruchserhöhung und trotz insgesamt
30
1
Stevenson, Olive (1992): Social Work Intervention to Protect Children: Aspects of Research and Practice. In: Child Abuse Review, Vol. 1, pp. 19–32; hier S. 19.
kinderschutz braucht ressourcen
substanzieller Haushaltsmittelexpansion und trotz – wenn auch regional
unterschiedlicher – Personalaufstockungen2, reichen die vorhandenen
Ressourcen für die Bewältigung der gewachsen Aufgaben im modernen
Kinderschutz nicht aus. Wie wir in unserer Feldstudie im kommunalen
Kinderschutz3 zeigen konnten, haben sich die Belastungen enorm erhöht,
ist die fachliche Qualität der Kinderschutz-Institutionen aber nicht
entsprechend mit gewachsen. In den Städten, Gemeinden und Landkreisen
mit dauerhaften Haushaltsproblemen ist sie sogar gesunken, was sich
nun mit den nicht mehr abweisbaren Aufgaben im Zuge des personellen
und finanziellen Kita-Ausbaus sogar noch verschärft hat. Als besonders
markant hat sich diese Zwickmühle zwischen Anspruchserhöhung und
realem Leistungsvermögen aber dort zugespitzt, wo man im Feld der
öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe dem neo-managerialen Trend zum
abgespeckten und outgesourcten Restejugendamt (!) bereitwillig gefolgt ist,
sodass das Jugendamt als staatliche Kernorganisation des Kinderschutzes
zu einer bloßen Melde-, Eingriffs- und bürokratisierten CasemanagementMaschine verkommen ist, wodurch sich das in der Öffentlichkeit und
Gesellschaft weit verbreitete Negativimage des Jugendamtes als autoritäre
und leistungsschwache Kinderschutzbehörde nur noch weiter verfestigte,
der man – gerade wenn ein Kind zu Tode gekommen ist – schnell pauschal
„Versagen“ und „Scheitern“ vorzuwerfen sich angewöhnt hat.4
2 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten 14 Jahren neben einer erheblichen Personalexpansion (auf insgesamt über 700.000 Fachkräfte) fast zu einer Verdoppelung der
Ausgaben (im Jahre 2012 auf 32,3 Mrd. € gegenüber 17,7 Mrd. € im Jahre 1998) gekommen ist. Vgl.: Rauschenbach, T./Schilling, M. (2014): Die Kinder- und Jugendhilfe – wertvoller denn je. In: KOMDAT, 17. Jg.,
Heft 1 & 2 (Juni 2014), S. 1–4.
3 Wolff, R./Flick, U./Ackermann, T./Biesel, K./Brandhorst, F./Heinitz, S./Patschke, M./Röhnsch, G. (2013): Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse, hg. vom NZFH. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.
4 Diese Tendenz hat sich Anfang des Jahres 2015 erneut besonders deutlich in der öffentlichen Skandalisierung des „Falles Lenzkirch“ gezeigt, wo der für seine Polemik gegen die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe bekannt
gewordene Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos – ohne jegliche Untersuchung des Falles – gewissermaßen „ferndiagnostisch“ – den Behörden vorhielt, sie hätten beim Schutz des dreijährigen Jungen versagt bzw. der Fall sei „ein Lehrstück für das komplette Versagen des Kinderschutzes in Deutschland.“ (Vgl.: „Rechtsmediziner: Ämter haben im Fall Lenzkirch versagt.“ In: Badische Zeitung, 28. Januar 2015).
31
reinhart wolff
2. Welche Verlusterfahrungen und Belastungen spielen im Kinderschutz eine Rolle?
Das expandierende Kinderschutzsystem ist auf besondere Weise von diesem in
modernen Berufssystemen sich regelhaft herausbildenden Entwicklungsdilemma
betroffen. Es kann nämlich – wie auch bei anderen Berufssystemen beobachtet
wird – den wachsenden Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern, von Gesellschaft und Politik an die professionellen Expertensysteme immer wieder nicht
nachkommen. Daraus ergibt sich eine wachsende Enttäuschung gegenüber den
Leistungen der Fachkräfte, zumal, wenn sie es in ihrer Praxis – wie generell im
Kinderschutz – mit strukturellen Unsicherheitsbedingungen und komplexen
Handlungssituationen von hoher Kontingenz zu tun haben, die sich zwar beeinflussen, aber nicht sicher steuern lassen.5 Solche Enttäuschungen in Verbindung
mit intergenerational weitergegebenen, nicht selten traumatischen Erfahrungen
mit Kinderschutzorganisationen, führen aber zu einem strukturellen Anerkennungsverlust, gegen den gut gemeinte Öffentlichkeitskampagnen wie etwa
„Jugendamt – Hilfe, die ankommt!“ nur wenig ausrichten können, vor allem,
wenn gleichzeitig massive mediale „Entwertungskampagnen“ gegen die heutige
Kinderschutzarbeit in Gang gesetzt werden.6
Sie werden aber besonders gefährlich, wenn die Kinderschutzorganisationen die
professionelle Deutungshoheit an andere konkurrierende Berufssysteme abgeben
und es auf diese Weise zu einem Verlust an programmatischer Selbststeuerung
durch Außen- oder Fremdsteuerung kommt, wie es gerade in der öffentlichen
Erörterung problematischer (tödlicher) Kinderschutzfälle oft geschieht.7
5. Vgl.: Hirschman, Albert O. (1984): Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
6. Besonders hervorgetan hat sich dabei der bereits oben zitierte Rechtsmediziner Tsokos mit dem – faktisch von einem Ghostwriter verfassten – Band: Tsokos, Michael/Guddat, Saskia (2014): Deutschland misshandelt seine Kinder. München: Droemer.
7. Felix Brandhorst hat diesen Zusammenhang in seiner hervorragenden Dissertation „Kinderschutz und Öffent-
32
lichkeit – Der >Fall Kevin< als Sensation und Politikum“ (die demnächst im VS Verlag erscheint) überzeugend empirisch belegt. Siehe auch den wichtigen Beitrag: Hildenbrand, Bruno (2014): Das KJHG und der Kinder-
schutz: Eine verpasste Professionalisierungschance der Sozialpädagogik. In: Bütow, B. u. a. (Hg.): Sozialpäda-
gogik zwischen Staat und Familie. Wiesbaden: Springer VS, S. 175–202. Der Autor identifiziert mit Recht kritisch eine „Ortlosigkeit“ der Sozialpädagogik in der Arena des Kinderschutzes.
kinderschutz braucht ressourcen
Im Zuge der Propagierung von kruden Casemanagement- und bürokratischen
Steuerungskonzepten (mit Diagnose-Checklisten, grünen, grauen und roten
Verfahrensablaufschemata in der Kinderschutzarbeit à la Lüttringhaus und
IT-gestützten Dokumentationssystemen) ist im Kinderschutz aber auch die
Wertschätzung einer multiperspektivischen sozialpädagogischen Fachkompetenz geringer geworden, woraus sich ein programmatischer und methodischer Qualitätsverlust in der Kinderschutzarbeit ergeben hat. Denn so
wichtig gute Verwaltungsfachleute auch in der Kinderschutzarbeit sind,
schwierigste Notlagen in verstrickten Beziehungskrisen, worum es in Situationen der Kindeswohlgefährdung ja in der Regel geht, lassen sich von
sozialen Kinderschutzfachkräften, die sich nurmehr als „Sachbearbeiter“ und
„Fallmanager“ verstehen, nicht bearbeiten.
Hinzukommt, was viel zu wenig bedacht wird, dass im Zuge der Etablierung
und Ausweitung postmoderner Wohlfahrtsregime der Überwachung und
des Risikocontainments den Hilfeinstitutionen die Hilfe benötigenden
Menschen selbst (die Eltern, die Kinder und Jugendlichen) als zentrale und
selbst verantwortliche Akteure verloren gegangen sind. Sie werden allenfalls
als Risikopopulationen gesehen und erfasst und viel zu selten als freie und
(gleich-)berechtigte Bürgerinnen und Bürger und als hilfeinteressierte, hilfesuchende Partnerinnen und Partner, die Hilfe wählen und abwählen können.
Ihre Interessen, ihre Widerstände und ihre Abwehr gelte es aber, im offen
Dialog wahrzunehmen, anzuerkennen, zu klären und durchzuarbeiten.
Schließlich gibt es im Zuge hoch arbeitsteiliger, multidisziplinärer Berufssystementwicklungen erhebliche inter-organisationale Verlusterfahrungen
und Belastungen, wird vor allem – trotz einer bereits gebetsmühlenhaften
Betonung der Notwendigkeit der Kooperation – eine systemübergreifende
Zusammenarbeit im Kinderschutz schwieriger, misslingt sie oder geht ganz
verloren.
In der Kinderschutzarbeit, bei der es strukturell immer um eine multiprofessionelle und multidisziplinäre Arbeit mit Grenzobjekten geht, sind solche
inter-organisationalen Vernetzungs- und Koordinationsschwierigkeiten
besonders problematisch. Das Konzept der Grenzobjekte als inter-organisa-
33
reinhart wolff
tionaler Verstehensrahmen für die Herstellung von Übereinstimmungen
bei gemeinsamen Themen, Problemen und Aufgaben bei unterschiedlichen
Sichtweisen und Handlungskonzepten kann man nutzen, um gerade Prozesse
und Brüche in der Produktion von Fallgeschichten und Fallprozessen im
Kinderschutz besser zu verstehen. Hier treffen nämlich unterschiedliche
Akteure (Eltern und Kinder aus familialen Lebenswelten sowie aus den beteiligten Berufssystemen) aufeinander, und die Schwierigkeit besteht geradezu
darin, trotz unterschiedlicher Bezugssysteme der aufeinandertreffenden
Akteure (nämlich der Referenzsysteme des Wissens, der Handlungsinteressen,
der moralischen Orientierungen und Verantwortungen) so etwas wie eine
gemeinsame Kohärenz, eine „common identity across sites“ (vgl.Star/Griesemer8)
systemübergreifend herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Kindeswohlgefährdungen, Kindesmisshandlung und Vernachlässigungen
können wir darum mit Gewinn als „Grenzobjekte“ fassen, die zwischen
verschiedenen sozialen Welten (bzw. organisationalen Systemen) als
gemeinsamer Bezugspunkt fungieren. In Anknüpfung an Stephan Wolff9, der
das Konzept von Star & Griesemer hierzulande als erster aufgegriffen hat,
hat Thomas Klatetzki diesen Schritt gemacht und vorgeschlagen, mit Blick
auf den Kinderschutz die „Fallgeschichte als ‚idealtypisches’ Grenzobjekt“ zu
verstehen. Seine Untersuchung10 kommt am Beispiel eines Kinderschutzfalls11
allerdings zu einem kritischen Befund, der schlaglichtartig die fachlichen
Schwierigkeiten kennzeichnet, die im Hauptstrom gegenwärtiger Kinderschutzarbeit – vor allem der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe – nicht selten
zu beobachten sind. Klatetzki formuliert zusammenfassend:
8 Star, S. L./Griesemer, J. (1989): Institutional Ecology, ‚Translations’, and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology.1907–1939. In: Social Studies in Science. 19 (3),
pp. 387–420.
9 Siehe hierzu auch die Festschrift zu Stephan Wolffs 65. Geburtstag: Hörster, R./Köngeter, S./Müller, B. (Hg.) (2013): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer VS.
10 Klatetzki, T. (2013): Die Fallgeschichte als Grenzobjekt. In: Hörster, R./Köngeter, S./Müller B. (Hg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer VS, S. 117–135.
11 Der Fall wurde der Jenaer Studie von F. Bohler und T. Franzheld entnommen, der 2010 in der Zeitschrift Sozialer 34
Sinn 11 (2), S. 187–217 unter dem Titel „Der Kinderschutz und der Status der Sozialen Arbeit als Profession“ veröffentlicht worden war.
kinderschutz braucht ressourcen
Unterschiedliche narrative Sinnstiftungen organisieren das Handeln der
beteiligten Akteure im Verlauf des Falls (Czarniawska und Gagliardi 2003)12.
Auffallend dabei ist, dass das Jugendamt als zentrale, rechtlich zuständige
Behörde keine eigene Erzählung hervorbringt, sondern sich in seinem
Handeln an den Sinnkonstruktionen der Medizin und Justiz orientiert.
Die sozialpädagogischen Fachkräfte bemühen sich nicht um ein eigenes
Verstehen des Falls, es scheint ihnen in grundlegender Weise an dem zu
mangeln, was Hannah Arendt (1998)13 als Einbildungskraft bezeichnet hat,
und sie kommen daher auch zu keiner Beurteilung des Geschehens. (S. 132)
Wenn dann noch hinzukommt, wie wir im Bundesforschungs- und Qualitätsentwicklungsprojekt „Aus Fehlern lernen“ vielerorts feststellen konnten, dass die
Belastungen in der aktuellen Kinderschutzarbeit erheblich sind, wird deutlich,
vor welchen Herausforderungen viele Kinderschutzfachkräfte stehen. Sie müssen
nämlich mit den folgenden Widrigkeiten kämpfen:
· mit überall steigenden Fallzahlen,
· mit Zeitmangel/Zeitnotstand/Zeitdruck (alles muss schnell gehen), mit permanentem Stress (in der Beschleunigungsgesellschaft),
· mit unterbezahltem, fehlendem oder wechselndem, hin- und her gescho benem Personal,
· mit einem Zuviel an Verwaltungs- und Dokumentationsarbeit und an bürokratischen Rationalisierungen und instrumenteller Verregelung,
· mit der Einschränkung beraterischer, sozialpädagogischer und ökologischer Unterstützungspraxis,
· mit großen Reflexions-, Weiterbildungs- und Forschungsdefiziten.
Die hier aufgeführten Verarmungen, Verlusterfahrungen und Belastungen
bedingen strukturelle Schwächen in Hilfeinstitutionen, die dann weiter zu
professionellen Fehlern mit der Folge von Schädigungen (Traumatisierungen)
bei den Beteiligten führen – auf allen Seiten!
12 Czarniawska, B./Gagliardi, P. (2003): Narratives We Organize By. Amsterdam: John Benjamins Publishing.
13 Arendt, H. (1998): Das urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München: Piper.
35
reinhart wolff
3. Wie können wir neu ansetzen in der Kinderschutzarbeit?
Gerade mit Blick auf die hier erörterten Schwierigkeiten und Belastungen müssen
wir nüchtern sehen: Um eine gute Kinderschutzarbeit machen zu können, brauchen wir Ressourcen. Oft wird aber zu einseitig darüber gesprochen, um welche
Ressourcen es dabei geht. Weiterführend ist, wenn wir herausstellen:
·
Ressourcen in der Form substanzieller struktureller materieller Rahmenbedingungen (ausreichender Räume, Ausstattung, Haushaltsmittel) sind ein wichtiger Qualitätsindikator, vor allem in Verbindung mit zuverlässigen Daten zur Ergebnisqualität.14
· Aber in humaner Hilfepraxis sind wir selbst die wichtigste Ressource, die
wir haben (mit unserem Können, unserem Wissen, unserer Erfahrung, unserer Kreativität).
·
Und was immer wieder übersehen wird: Die Hilfeteilnehmer, die Klientinnen und Klienten, die Eltern, die Kinder (mit ihrer Handlungsmacht, ihren Kräften,
mit ihren Wünschen und Widerständen), mit denen wir in partizipatorischer Gegenseitigkeit verbunden sind, sind entscheidende Ressourcen für erfolgreiche Fachpraxis.
· Und schließlich: Die anderen Fachkräfte, die zahlreichen Bündnispartner in Gesellschaft, Öffentlichkeit und Politik, sind Ressourcen, die wir gerade als „Grenzobjekt-Fachkräfte“ brauchen.
Was aber vor allem zählt, sind klare strategische Orientierungen in der
Kinderschutzpraxis, an die wir uns halten, die unsere mentalen Selbstmodelle, unsere fachliche Rolle und Aufgabe bestimmen. Die „neue
Kinderschutzbewegung“, die mit der Gründung der Kinderschutz-Zentren
in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm, hat die folgenden Leitziele
14 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Kindler, H./Pooch, M.-T. (2014): Qualität und Qualitätsindikatoren in den 36
Hilfen zur Erziehung: Eine Perspektive in fünf Thesen. In: JAmt, Heft 07/08, S. 354–357.
kinderschutz braucht ressourcen
gelingender Kinderschutzpraxis herausgestellt.15 Sie sollen hier noch einmal
unterstrichen werden:
1) Wir nutzen uns selbst, unsere eigene Macht und Kraft, und verlassen die uns aufgenötigte Opferrolle, wir lernen aus Erfolgen und Fehlern und lassen uns nicht entmutigen.
2)Wir handeln demokratisch, selbstbewusst und solidarisch „in erster Person“ (rollenklar, autoritativ, kompetent, reflexiv und kreativ, experimentierend und forschend) als Handwerker der Demokratie.
3)Wir achten und nutzen die Kräfte der Menschen, die wir unterstützen, beraten, schützen und fördern – wir geben und nehmen in einer Praxis auf Gegenseitigkeit (reciprocal transformative transactions – Jona Rosenfeld)
4)Wir suchen und gewinnen Bündnispartner – überall.
15 Vgl. in diesem Zusammenhang den zusammenfassenden Band: Wolff, R. (2010): Von der Konfrontation zum Dialog. Kindesmisshandlung – Kinderschutz – Qualitätsentwicklung, hg. von Georg Kohaupt. Köln: BAG der Kinderschutz-Zentren.
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W
thomas mörsberger
„Wir brauchen einen Richtungswechsel!“
Thesen und Anmerkungen zur Entwicklung des
Kinderschutzes, ausgehend von schwierigen
und insbesondere von besonders spektakulären
Kinderschutzfällen
Einstieg
Zunächst eine kleine „Lageeinschätzung“, oder besser: eine Einschätzung zur
Stimmungslage in Sachen Kinderschutz.
Es gibt zwar landauf, landab ein gewisses Unbehagen, aber ansonsten
scheint inzwischen „alles klar“ zu sein: „Alles gut“, wie man neuerdings so
sagt. Grund: Es gibt jetzt klare Vorgaben. Es gibt diesen § 8a SGB VIII, und wir
haben entsprechend „8a-Fälle“. Es gibt detaillierte Vorschriften; die Dinge
sind besser organisiert. Das beruhigt. Und im Übrigen, so ist immer wieder
zu hören, tun alle ihr Bestes im Aufpassen. Aber, so sagen die Engagierteren,
wolle man natürlich noch besser werden, damit möglichst keine Fehler
passieren. Zwar sei es sehr bedauerlich, wenn es ab und zu durch die Medien,
die Politik und die Strafjustiz zu Reaktionen komme, die gekennzeichnet seien
von völliger Ignoranz gegenüber dem, was im Kinderschutz zu leisten sei und
geleistet werden könne. Und man hoffe, nicht selbst plötzlich Betroffener
(„Fallverantwortlicher“) zu sein. Aber ansonsten sei die Richtung eigentlich
klar. Die Weiterentwicklung gehe nur zu langsam. Und man brauche mehr Geld
und insbesondere mehr Personal.
Will heißen: Wir werden im Laufe der Zeit wahrscheinlich immer besser und
besser und besser. Immerhin hat sich im Kinderschutz ja auch schon viel getan.
Ich erlaube mir, gegenzuhalten: Nichts ist klar! Und es ist auch nicht alles
39
thomas mörsberger
gut. Zwar hat sich tatsächlich in den letzten Jahren in Sachen Kinderschutz
viel getan, aber es werden immer öfter Zweifel laut, ob es denn auch in die
richtige Richtung geht. Ob man wirklich von Fortschritten sprechen könne. Da
wird an einzelnen Stellen etwas Gutes aufgebaut, dafür jedoch an noch mehr
Stellen Gutes abgebaut. Wenn sich die Entwicklung nur langsam bewegt, aber
insgesamt in die falsche Richtung, dann ist die Langsamkeit sogar eher positiv
zu sehen ...
Ja, es wird besser organisiert, aber zugleich bürokratisiert. Absicherung für sich
selbst steht im Vordergrund. Und dabei geht der Blick auf das Eigentliche verloren,
ganz abgesehen von der Nachhaltigkeit. Die mag für die Selbstorganisation
der Verwaltungen gegeben sein, nicht aber in der Wirkung auf die, um die es
geht: Familien und ihre Kinder. Und auch nicht im Sinne von Professionalität.
„Systemvertrauen“ (Luhmann) bei den Betroffenen nimmt ab – soweit es
entwickelt war. Und ob die Systemverantwortlichen beruhigter sein können, ist
auch fraglich. Die Versuche zur Messung von „Ergebnissen“ nimmt zu, aber auch
die negativen Erscheinungen unserer „Ergebnisgesellschaft“ (Bausinger) werden
offenkundig: Die Wirkungen des Helfens bleiben oberflächlich und kurzfristig, es
findet keine Veränderung von Verhältnissen und Lebensperspektiven statt. Die
Programme werden zwar „nachhaltig“ angelegt, die Effekte sind es aber nicht. Es
wird nur beruhigend eingewirkt, also alles andere als „nachhaltig“. Pauschal gesagt.
Das zwecks Diskussion als Einstieg. Nun einige Thesen (und Anmerkungen),
stichwortartig:
These 1: Es darf nichts Schlimmes passieren
Die Weiterentwicklung des Kinderschutzes wird weniger aus der nüchternen
Analyse der Bedarfe bei Kindern und Familien bzw. auf der Seite der Helfersysteme aus der Analyse der Potenziale und Defizite heraus geprägt, auch nicht
durch die gesetzlichen Vorgaben, auf die immer so viele Hoffnungen gesetzt
werden seit Inkrafttreten des KJHG bzw. SGB VIII, sondern insbesondere durch
die Erwartungen der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik, dass „nichts
Schlimmes passieren soll“, genauer: nichts dramatisch Spektakuläres.
40
„wir brauchen einen richtungswechsel!“
These 2: Politischer Aktionismus und Glaube an technische Machbarkeit dominieren
Die als problematisch bezeichnete Entwicklung wird gefördert durch
(optischen) Aktionismus, der dazu dient, dass die politisch Verantwortlichen
bzw. die Leitungskräfte der Verwaltung möglichst schnell aus dem „Schussfeld“
kommen. Ob das den Fachkräften hilft, die sich um die Familien kümmern, ist
fraglich. Man lässt neue organisatorische Vorgaben entwickeln. Informationen
sollen schnell und ausreichend zur Verfügung stehen, Rückfragen jederzeit
zu beantworten sein. Es werden Computerprogramme entwickelt, damit der
Chef auf Knopfdruck die Probleme erkennen kann, wird A mit B vernetzt,
unter Berücksichtigung von C, damit auch die letztlich im entscheidenden
Augenblick D einschalten kann und das ganze durch E überprüft wird, damit es
die Vorgehensweise korrigieren kann, die letztlich X dazu bewegt, Y davor zu
bewahren, Z alles zu glauben, was er bisher vorgetragen hat.
These 3: Kinder- und Jugendhilfe als Ausfall-Bürge? Wunsch nach grundsätzlichem
Misstrauen gegenüber Klient(inn)en – Machbarkeitswahn
In den 80er Jahren ist es gelungen, die Sozialarbeit und namentlich den ASD,
früher oft als „Außendienst“ bezeichnet, aus der Rolle der weisungsabhängigen
Zuarbeit für andere Stellen zu befreien. Vorher war es üblich, dass man dort als
eine Art Hilfsorgan für das Gesundheitswesen oder die Familiengerichtsbarkeit
tätig war. Man berief sich regelmäßig noch auf eine Entscheidung des BGH
von 1954, nach der das Jugendamt insbesondere seine in anderer Funktion
erlangten Informationen zur Verfügung zu stellen hatte. Es ging zudem darum,
„nach dem Rechten zu schauen“; besondere fachliche Kompetenzen waren nicht
gefragt, es gab auch kein professionelles Profil.
Ausgehend von der kritischen Rückfrage des Datenschutzrechts, nämlich präziser
benennen zu müssen, wie eigentlich die jeweilige Informationsweitergabe
zu legitimieren ist, konnte erreicht werden, dass die Rolle des Jugendamts in
familiengerichtlichen Verfahren endlich aus dieser Zuarbeiterrolle herausgeholt
wurde – damals übrigens sehr zum Ärger mancher Familien- und übrigens auch
Jugendgerichte.
41
thomas mörsberger
Allerdings wurde dieser Prozess von Anfang an begleitet durch widersprüchliche
(alte und) neue Erwartungen: Indem ein eigenständiges Profil „erkämpft“
worden war, stiegen auch die Erwartungen. Wie selbstverständlich ging und
geht man davon aus, dass jede Fachkraft des Jugendamtes eine fundierte
pädagogisch-psychologische diagnostische Beurteilungskompetenz hat, er oder
sie sogar dafür einzustehen hat. Wünschenswert ist sie natürlich, aber nicht
nur die Realitäten zeigen, dass – nicht zuletzt angesichts des Verhältnisses
von notwendiger und teurer Ausbildung einerseits und schlechter Bezahlung
andererseits – man insofern von falschen Voraussetzungen ausgeht, insbesondere für die besonders schwierigen Grenzfälle. Es kommt hinzu, dass man sich in
anderen Institutionen klar abgrenzen kann von allzu umfassenden Erwartungen.
So hat sich das Jugendamt zunehmend geradezu angeboten im Sinne einer Art
Auffangzuständigkeit, einer Art Ausfall-Bürgschaft – sowohl in professioneller
Hinsicht als ohnehin zunehmend zur Finanzierung von Leistungen, aus denen
sich andere Systeme inzwischen verabschiedet haben (z. B. die gesetzliche
Krankenversicherung aus der Hebammenbetreuung).
Manchmal hat man den Eindruck, als fände so etwas wie späte Rache an der
Kinder- und Jugendhilfe statt nach dem Motto: „Wenn Ihr Euch schon aus der
Rolle von Zulieferern verabschiedet habt, dann müsst Ihr Euch schon gefallen
lassen, an entsprechenden professionellen Maßstäben der Diagnostik usw.
gemessen zu werden“. Eine etwas zugespitzte Darstellung, die aber etwas
verdeutlichen soll: Wir haben es heute mit einer doppelten Problematik zu
tun. Zum einen sind viele Fachkräfte schlicht überfordert, dem zu entsprechen,
was insofern von ihnen erwartet wird (aus welchen Gründen auch immer:
Ausbildung, Fähigkeiten der Analyse, Rahmenbedingungen usw.). Zum
anderen kommt es angesichts der Zusicherungen der Systeme zu gefährlichen
Fehleinschätzungen hinsichtlich des Hilfe-und Schutzbedarfs von Kindern,
Jugendlichen und ihren Familien.
So ist es zwar eine Art Kompliment, dass der Gesetzgeber mit § 8a SGB VIII
und § 4 KKG dem Jugendamt eine zentrale Funktion in Sachen Kinderschutz
zuschreibt, das aber keineswegs nur zu koordinieren hat, sondern eben
längst auch Bürge geworden ist. Werden daraus die Konsequenzen gezogen?
Unabhängig vom ohnehin grassierenden Machbarkeitswahn dieser
42
„wir brauchen einen richtungswechsel!“
Gesellschaft übernimmt sich die Kinder-und Jugendhilfe heillos mit dieser
Rolle, denn aus Gründen, über die man natürlich reden kann, ist es jedenfalls
so, dass unsere Gesellschaft die dafür erforderlichen Ressourcen nicht zur
Verfügung stellt.
Und ich warte bis heute darauf, dass wenigstens einmal der ASD eines
großen Jugendamts einen Arzt als Mitarbeiter einstellt und einen Kinder-und
Jugendpsychiater. Das wird nach meiner Kenntnis bis heute nicht einmal
erwogen, obwohl ich das für notwendig hielte. Alles soll auf der Ebene der
Kooperation mit anderen Institutionen gelöst werden, obwohl wir immer
wieder erleben, dass sowohl aus rechtlichen, aus berufspolitischen und nicht
zuletzt finanziellen Gründen auf dieser Ebene die Möglichkeiten begrenzt sind
und nach meiner Einschätzung auch begrenzt bleiben. Dazu passt dann aber,
dass rein zufällig all die anderen Institutionen und Berufsgruppen überhaupt
nicht in den Blick kommen, wenn zum Beispiel die Frage des strafrechtlichen
Haftungsrisikos auftaucht.
These 4: Mythos Garantenpflicht als Druckmittel zugunsten falscher Strategien
Also das Thema Garantenpflicht. Sie stellt in ihrer Bedeutung für die Kinderund Jugendhilfe insbesondere einen Mythos dar, der aber sehr wirksam
ist, wenn auch extrem destruktiv. Es ist sogar gang und gäbe, von einer
„Garantenpflicht des Jugendamts“ zu sprechen, obwohl es die nun wirklich
überhaupt nicht geben kann, denn Institutionen können sich bekanntlich
nicht strafbar machen (und bei der Garantenpflicht handelt es sich nun
mal um ein rein strafrechtliches Konstrukt). Das können nur einzelne
Personen. Aber es wird mit diesem Schlagwort Politik gemacht. Offenkundig
sollen der Sozialarbeit Beine gemacht werden. Nun ist hier nicht der Raum,
detailliert dieses Konstrukt auf seinen realen Kern zu reduzieren, den das
Strafgesetzbuch dafür vorgesehen hat. Aber das Stichwort „Garant“, das an
„Garantie“ erinnert, passt gut zur verbreiteten Strategie, in das Jugendamt
Verpflichtungen hinein zu geheimnissen, die es originär nicht gibt. Es sollte
zu denken geben, dass es früher, vor Ende der 90er Jahre, keine Strafverfahren
gegen Sozialarbeiter(innen) wegen fahrlässiger Tötung (mit dem Konstrukt
43
thomas mörsberger
Garantenpflicht) gegeben hat – es seither aber auch keine diesbezügliche
Veränderung im Strafgesetzbuch gegeben hat. Es wurde und wird nur von
einigen Juristenkolleg(inn)en behauptet, die fallverantwortliche Fachkraft sei
nun mal qua Amt ein sog. Beschützergarant.
In den 90er Jahren wurde zur Begründung von den Protagonisten dieser
Strategie sehr allgemein auf die „Wächteramtsfunktion“ des Jugendamtes
hingewiesen. Damit konnte man aber die Verhinderung von Todesfällen
noch nicht zu einer neuen „Aufgabe“ des Jugendamtes hochstilisieren, für
deren sachgerechte Erfüllung man dort einzustehen hat – und also bei Pflichtverletzungen auch bestraft werden kann. Die damalige Argumentation
fußte auf dünnem Eis. Dann kam § 8a SGB VIII. Da kann man die dort
formulierten Verfahrenspflichten und insbesondere den Ausgangsbegriff
Kindeswohlgefährdung so umdeuten, dass sie quasi eine Garantenstellung
konstituieren, was strafrechtsdogmatisch in dieser Pauschalität mehr als gewagt
ist. Noch schlimmer dann aber der TVöD: Dort hat man die Garantenstellung
zu einem Merkmal der Eingruppierung gemacht. Was im Umkehrschluss übrigens bedeuten kann, dass die so eingruppierte Fachkraft strafrechtlich grundsätzlich als Garant zu behandeln wäre. Schon aus rechtssystematischen Gründen
frage ich mich, ob bei den Tarifverhandlungen ein Strafrechtler beteiligt wurde.
Das kann ich mir kaum vorstellen.
These 5: Beschuldigte Fachkräfte werden alleine gelassen
Damit keine Missverständnisse aufkommen – kommt ein Kind zu Tode, hat
die Staatsanwaltschaft selbstverständlich Ermittlungen aufzunehmen, ggf
auch gegen Fachkräfte des Jugendamts. Das verlangt die StPO. Auch kann es
passieren, dass erst in einem förmlichen Strafverfahren geklärt wird, geklärt
werden muss, ob hier eine strafrechtlich relevante Pflichtverletzung vorliegt.
Was aber geschieht, wenn ein solches Verfahren eingeleitet wird? Ist das
dann Anlass, auf breiter Basis und kritisch zu prüfen, ob hier nicht ein Fehler
gemacht wurde, wer welche Verantwortung hatte oder ob es nur unglückliche
Umstände waren, die hier zusammenkamen?
44
„wir brauchen einen richtungswechsel!“
Meine Erfahrung ist eine andere. Man duckt sich weg, lässt die direkt Betroffenen alleine, mehr oder weniger. Kam es wirklich einmal zu einer Hauptverhandlung, sah man nur sehr vereinzelt Kolleginnen und Kollegen in den Zuschauerreihen. (Ich habe mehrere Verfahren als Strafverteidiger oder Gutachter
begleitet.)
Ich kenne jedenfalls keine Berufsgruppe, wo man beschuldigte Kolleginnen
und Kollegen so sehr alleine lässt wie in der Helfer-Profession Sozialarbeiterin/
Sozialpädagoge. Das wurde besonders deutlich im Fall des ermordeten
Pflegekindes Anna in Königswinter bzw. Bad Honnef, beim Verfahren vor der
Großen Strafkammer des Landgerichts Bonn im Herbst 2013. Es war brüskierend,
wie penetrant die Kammer immer wieder einwandte, die „fallzuständige
Fachkraft“ hätte doch bei mehreren Ereignissen erkennen müssen, dass da
„etwas nicht stimmt“. Dabei waren auch eine Therapeutin, eine Ärztin, ein
Fachberater, eine Lehrerin, ein engagierter Schulleiter, mehrere Kolleginnen und
Kollegen des Teams u. a. von der Pflegemutter getäuscht worden. Zwar wurde
das Verfahren dann eingestellt, aber es blieben Vorwürfe im Raum. Und kein
Aufschrei aus Kollegenkreisen, dass hier mit massiven Vorverurteilungen und
politischer Instrumentalisierung gearbeitet worden war.
These 6: Aus Fehlern (das Richtige) lernen? Ja. Für alles zuständig sein? Nein.
Man darf sich über solche Unfairness und mangelnde Solidarisierung
beschweren. Aber das nützt natürlich wenig. Letztlich kommt es auf rationale
Strategien an. Und da erscheint die Strategie „Aus Fehlern lernen“ gewiss als
tragfähigste und effektivste.
Allerdings birgt auch diese Strategie gewisse Gefahren. Zum einen wird sie
mitunter allzu pauschal auf alle Fälle bezogen, bei denen Schreckliches passiert
ist, und man geht – zumindest auf den ersten Blick – davon aus, dass also auf
jeden Fall wohl ein Fehler gemacht worden sein muss. Durch die Kinder- und
Jugendhilfe. So war ja auch die „Logik“ der Anklage und Nebenklage beim
Fall Anna vor dem Landgericht Bonn. „Da muss doch etwas falsch gelaufen
sein, und also wurde ein Fehler gemacht“. So argumentierte übrigens auch die
betroffene Stadtverwaltung – wahrscheinlich der öffentlichen Meinung wegen,
die so etwas fordert. Da wurde die Soziarbeiterin von der Pflegemutter belogen,
45
thomas mörsberger
wie andere Kollegen auch. Man hat als Team agiert und sich gegenseitig
bestärkt, der Pflegemutter zu glauben. Gewiss, hätte man der Pflegemutter
nicht geglaubt, würde Anna heute noch leben. Aber ist damit auch schon
gesagt, dass ein Fehler gemacht wurde? Bedeutet diese Grundannahme nicht,
dass sich die Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich in der Lage sieht, solche
Mordtaten zu verhindern?
Ich lasse mal offen, wo wir insofern die Grenze genau ziehen. Aber irgendwo
muss da – wie ich vorher schon gesagt hatte – eine Grenze gezogen werden.
Denn sonst ist Versagen vorprogrammiert. Wie aber soll ein Berufsstand eine
Identität entwickeln, wenn solches Versagen sozusagen zum Wesensmerkmal
wird. Ich kenne keinen Berufsstand, der sein Profil wesentlich daran
orientiert, dass er sein Tun am Unmöglichen orientiert. Kein Arzt tut das,
keine Feuerwehr, kein Anwalt.
So könnte aus dem guten Ansatz für neue Lernstrategien („aus Fehlern
lernen“) und insbesondere für eine gute Führungs- und Betriebskultur
ungewollt ein Beitrag zur Selbstüberschätzung werden. Dieses Motto: Wir
müssen immer mehr lernen, immer besser werden. Wie bei einer olympischen
Disziplin, mit dem Zwang zum Treppchen. Verbunden mit der Option zur
Selbstbezichtigung (das Kind ist tot, also müssen wir einen Fehler gemacht
haben). Immer mehr schaffen, immer mehr kooperieren, immer mehr
dokumentieren, immer besser fortgebildet sein, immer besser werden – bis die
Kinderschutzfachkraft irgendwann so gut sein wird, wie sie es schon immer
hätte sein sollen ... Könnte es sein, dass da im Ansatz etwas nicht so ganz
stimmt?
Und es kommt hinzu, dass Lernen nicht per se in die richtige Richtung lenkt.
Man kann auch aus Fehlern das Falsche lernen. Dafür gibt es unzählige
historische Beispiele. Im Kinderschutz kann man das gut beobachten,
wenn nämlich spektakuläre Fälle zur Folge haben, dass etwas verändert
wird. Es ist ja keineswegs gewährleistet, dass diese Veränderungen ohne
„Nebenwirkungen“ bleiben. Und die können schlimmer sein als das, was man
als veränderungsbedürftig eingeschätzt hat.
46
„wir brauchen einen richtungswechsel!“
These 7: Inflationäre Verwendung des familienrechtlichen Begriffs
„Kindeswohlgefährdung“ lenkt ab von der originären Funktion der Kinder- und
Jugendhilfe i. S. von „Schutz- und Hilfebedarf“
Der Hinweis auf die wichtige Unterschiedlichkeit hat auch Bedeutung für
Begriffe, die nämlich in verschiedenen Systemen unterschiedliche Bedeutung
haben können und ggf. müssen. Ich greife den Begriff „Kindeswohlgefährdung“
auf. Früher haben die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung in der
Kinder- und Jugendhilfe – anders als im Familienrecht – nur ganz am Rande
eine Rolle gespielt. Es waren i. d. R. nur Begriffe der Zielorientierung, es wurde
damit skizziert, was gefördert bzw. was verhindert werden sollte. In den 70er
Jahren galt es auch als unstrittig, dass der Begriff Kindeswohl positiv nicht zu
beschreiben ist, sondern – insbesondere im Scheidungsrecht – lediglich im
Sinne einer „am wenigsten schädlichen Alternative“ dazu diente, das vorher
dominierende Schuldprinzip abzulösen. Daran hat sich die familiengerichtliche
Spruchpraxis auch gehalten. Im Recht der Kinder- und Jugendhilfe wurde
die Kindeswohlgefährdung als Tatbestandsmerkmal auch nur flankierend
verwendet, während es maßgeblich um die Beschreibung des zu konkretisierenden Schutz- und Hilfebedarfs ging – bis zum Inkrafttreten des § 8a SGB
VIII. Da dort – nicht nur in der Beziehung zum Familiengericht, sondern als
Tatbestandsmerkmal – die Kindeswohlgefährdung als Anknüpfungspunkt
für Handlungspflichten genannt ist („gewichtige Anhaltspunkte“), wird
vielfach davon ausgegangen, dass auch die gängigen Definitionen des
Familienrechts heranzuziehen sind. Damit geschieht aber eine Fixierung
auf die familienrechtlichen Fragestellungen, also auf die Grenzziehung
zum Elternrecht, bleibt man nicht konsequent orientiert an den Kindern
bzw. ihrem systemischen Zusammenhang und insbesondere nicht an den
originären Fragen, nämlich den praktischen Schutz- und Hilfemöglichkeiten.
Mit der Verwendung des Rechtsbegriffs „Kindeswohlgefährdung“ in § 8a
Abs.1 SGB VIII ist die Gefahr entstanden, dass man einen Begriff, der für eine
familienrechtliche Beurteilung bedeutsam ist, auf Hilfeprozesse überträgt und
damit auch die Fixierung auf das Verhältnis von Eltern zu Kindern, man aber nicht
konsequent an den Kindern bzw. ihrem systemischen Zusammenhang bleibt.
Immer wieder muss man feststellen, dass nicht klar definierte oder aus dem
systematischen Zusammenhang gerissene Rechtsbegriffe oder die ungenaue
47
thomas mörsberger
Handhabung juristischer Vorgaben über kurz oder lang zu einem mitunter
problematischen „Eigenleben“ führen.
These 8: Enttäuschung vorprogrammiert. Zum Ruf nach expliziten Kinderrechten
im Grundgesetz
Das gilt auch und ganz besonders für Regelungen im Grundgesetz. Wenn
seit Jahren aus allen Ecken und Enden zu hören ist, Kinderrechte sollten
ausdrücklich im Grundgesetz benannt und hervorgehoben werden, dann
hört sich das für jeden, der sich der Kinder- und Jugendhilfe verschrieben
hat, auf den ersten Blick sehr bedenkenswert an. Die Sache hat nur
einen gravierenden Haken. Während es normalerweise so ist, dass man
Vorstellungen hat, was konkret mit einer solchen Initiative bewirkt werden
soll, man Beispiele auflistet, ist bis heute unklar, was beispielhaft damit
geändert werden soll. Unstreitig sind nach unserer Verfassung Kinderrechte
abstrakt und in der Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht
längst wirksam. Nun haben Kinderrechte und der Begriff Kindeswohl (wenn
auch in seiner nicht unumstrittenen Übersetzung aus dem Englischen)
durch die UN-Kinderrechtskonvention eine massive deklarative Verstärkung
erhalten. Aber damit ist noch nicht geklärt, was denn nun im Einzelnen
unter „Kinderrechten“ zu verstehen ist (man liest da die abenteuerlichsten
Ableitungen bis hin zum kindlichen Wunsch, immer das tun zu dürfen, was
man will). Und noch unklarer steht es um den Begriff des Kindeswohls, von
dem inzwischen von einigen Autorinnen und Autoren behauptet wird, er
stehe über den Kinderrechten – und damit auch über den Menschenrechten
als Oberbegriff zu Kinderrechten.
Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob uns diese sehr abstrakte Diskussion um
Kinderrechte und Kindeswohl in Sachen Kinderschutz wirklich weiterhilft.
Die Diskrepanz zwischen dem Pathos dieser Diskussion und der Realität in
den Hilfesystemen ist mir zu groß. Nur zwei Beispiele: Da werden immer
wieder Skandale aus der Heimerziehung bekannt. Aber die Aufsicht über
diese Heime ist durchweg personell so schwach besetzt, dass i. d. R. nur noch
die Formalia der Betriebserlaubnis bearbeitet werden können. Und das
48
„wir brauchen einen richtungswechsel!“
Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren regelmäßig fachliche
Defizite bei familiengerichtlichen Gutachten moniert, die ja bekanntlich
elementare Auswirkungen haben können für das Leben von Kindern und
Jugendlichen. Würde sich an solchen Missständen etwas ändern, wenn
Kinderrechte ausdrücklich in unserem Grundgesetz Erwähnung finden?
Oder findet da weiterhin mehr Beschwichtigung und Vernebelung statt?
Der Ruf nach Kinderrechten ist in der Gefahr, den Inhalt zu verwässern. Ross
und Reiter müssen genannt werden. Und dann wird es heikel: Wer ist denn
schuld, dass da so schlecht bezahlt wird? Dass unterbesetzt ist? Dass viele
Initiativen kaputt gemacht worden sind? Das sind z. T. dieselben, die jetzt
nach Kinderrechten rufen! Es wird auch – in der allgemeinen Betrachtung von
Kinderrechten – zu viel auf das Gegenüber von Elternrecht und Kindesrecht
abgestellt. Oft sollte auch angesichts der allzu vielen „Armutskinder“ (der
passendere Begriff als der individualisierende Begriff „Kinderarmut“) gefragt
werden, inwieweit nicht Eltern und Kinder gemeinsam mehr Rechte gegen
wer-weiß-wen haben sollten. Oder Kinder gegen Einrichtungen. Dazu
brauchen wir aber keine Grundgesetzänderung. Das ist z. B. Thema bei der
Betriebserlaubnis. Aber fragen Sie mal, wer sich für eine strengere Kontrolle
in Heimen einsetzt. Das kostet nämlich. Und zwar Staat und Einrichtungen.
Und schon redet keiner mehr von Kinderrechten! Kinderschutz ist nicht zu
messen an Ankündigungen. Die kennen wir. Frage ich genauer nach, was wie
neu geregelt werden sollte, stelle ich regelmäßig fest, dass man juristisch Dinge
lösen will, die eher aus fachlicher Inkompetenz schief gehen. Inkompetenz
abzubauen, ist allerdings aufwendig und dauert, kostet zudem viel Geld.
Wir brauchen praktische Fortschritte. In die richtige Richtung. Lernen aus
Fehlern, aber auch Abgrenzung gegen falsche Erwartungen und Abschied von
Tendenzen der Selbstüberschätzung. Da ist noch viel zu tun und nachzudenken
– bevor es wieder ans Formulieren von hehren Zielen geht.
49
A
birgit zeller
Anerkennungskultur in der Jugendhilfe
Kann eine Profession, die ständig infrage gestellt
wird, für sich und andere sorgen?
1. Anerkennungskultur – was ist das?
Die Ausgangsfrage meines Beitrags verstehe ich als eine rhetorische. Wenn
wir sie mit nein beantworten würden, wäre das eine Infragestellung unseres
gesamten Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe.
Gleichwohl verlangt die Frage nach der Anerkennung im Feld der sozialen
Arbeit Aufmerksamkeit und eine differenzierte Auseinandersetzung. Sie spielt
in der Auseinandersetzung der Fachkräfte mit ihren Arbeitsbedingungen und
ihrer Reputation sowie in der öffentlichen Diskussion immer wieder eine
prominente Rolle. Und sie verlangt auch nach einer Weiterentwicklung, nach
einer Qualitätsentwicklung, an der wir selbst uns intensiv beteiligen sollten.
Denn: soziale Arbeit kann nur so gut sein wie ihr Ruf.
Die Frage der Anerkennung ist zunächst einmal eine, die wir als Handelnde in
der sozialen Arbeit uns selber stellen müssen:
· Wie sehen wir unsere eigene Arbeit?
· Vertreten wir unsere Anliegen und unseren Auftrag offensiv nach außen?
· Stellen wir unsere Leistungen selbstbewusst dar?
· Begegnen wir der eigenen Arbeit und der Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen mit Respekt und Wertschätzung?
Im nächsten Schritt geht es dann darum, nach der Anerkennung von außen
zu fragen, nach der Anerkennung durch die Klientinnen und Klienten, durch
Politik, durch die Öffentlichkeit, durch die Medien.
· Wie werden wir dort wahrgenommen? Was registrieren wir?
· Was erleben wir an positiver Resonanz?
51
birgit zeller
· Wo wird unsere Profession infrage gestellt? Aus welchen Gründen?
Wenn wir der Auffassung sind, dass es bei der Beantwortung dieser Fragen
Verbesserungsoptionen gibt, dann sollten wir aktiv werden und die Anerkennung
einfordern durch eine Sichtbarmachung dessen, was wir leisten und durch
Verbesserungen dort, wo sie notwendig sind.
Diese beiden Schritte – Anerkennung der eigenen Leistungen und Sichtbarmachung dieser Leistungen – sind die zentralen Elemente der Kampagne „Das
Jugendamt. Unterstützung, die ankommt.“ Diese Kampagne wurde von der
Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter gemeinsam mit Jugendämtern im Jahr 2011 ins Leben gerufen mit dem Ziel, den öffentlichen Ruf
der Jugendämter zu verbessern und damit zu einer wirkungsvolleren Arbeit
beizutragen. Über Konzept und Wirkung der seither unternommenen Aktivitäten möchte ich hier beispielhaft berichten. Die Erkenntnisse, die wir hier
gewonnen haben, lassen sich meiner Ansicht nach zu großen Teilen auch auf
die freien Träger übertragen.1
2. Öffentlichkeitsarbeit als Strategie für eine Kultur der Anerkennung
2.1 Warum Öffentlichkeitsarbeit?
Ausgangspunkt unserer Kampagne für die Jugendämter war die Reaktion
vieler Medien, der Politik und der Öffentlichkeit auf einige tragische Todesfälle
von Kindern, die sich in der Betreuung von Jugendämtern befanden. Medien
berichteten kritisch – das ist ihr gutes Recht. Wenn Institutionen ihrem Auftrag nicht oder scheinbar nicht gerecht werden, ist es Aufgabe der Medien, hier
für Aufklärung zu sorgen. Der kritische Blick von außen kann ein wichtiger
Anlass für Weiterentwicklungen sein – überall, nicht nur in der Jugendhilfe.
Vielfach aber schossen die Medien weit über das Ziel hinaus. Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter wurden an den Pranger gestellt und
1 Nähere Informationen zur Kampagne finden Sie unter www.unterstuetzung-die-ankommt.de.
52
anerkennungskultur in der jugendhilfe
letztlich für Fehler unseres Sozialsystems verantwortlich gemacht, die sie nicht
zu verantworten haben.
Gleichzeitig gilt aber, dass bei dieser kritischen Betrachtung die positiven
Leistungen der Jugendämter meist unter den Tisch fallen und öffentlich nicht
wahrgenommen werden. Wie viele Kinder erfolgreich geschützt werden, wie
viele Jugendliche eine neue Chance erhalten, wie viele Kinderbetreuungsplätze
neu geschaffen werden – all diese guten Nachrichten erhalten nur wenig
Aufmerksamkeit.
Der Fokus liegt auf dem Sensationsträchtigen, und das ist oft das Negative.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter und auch die Leitungskräfte
fühlen sich in Krisensituationen, in denen sie öffentlich angegriffen werden, oft
hilflos ausgeliefert. Dabei ist es unerheblich, ob tatsächlich Fehler gemacht
wurden, die einzuräumen sind oder ob diese nur behauptet werden. Behörden
haben Öffentlichkeitsarbeit nicht gelernt. Sie geraten deshalb leicht in die
Defensive und tun sich oft schwer, ihr Handeln nach außen nachvollziehbar
darzustellen. Dies liegt auch, aber nicht vor allem, an den datenschutzrechtlichen
Regelungen, die zum Schutz der Familien natürlich einzuhalten sind. Oft
schweigen die Ämter einfach und machen sich gerade dadurch angreifbar.
Das sollte so nicht bleiben. Damals, nach Kevin und Lea-Sophie, wandten
sich einige Jugendämter an die Landesjugendämter mit der Aufforderung:
Ihr solltet hier etwas für uns tun. Viele Jugendamtsleitungen und Fachkräfte
hatten es satt, immer wieder als versagende Behörde dargestellt zu werden,
der es nicht gelingt, ihren Aufgaben nachzukommen. Ihr Ziel war es, ein
anderes Jugendamt zu präsentieren – die kompetente Behörde, die vielfältige
Dienstleistungen für Familien bereit hält und die in den Kommunen aktiv
dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche eine gute Infrastruktur vorfinden.
Ihnen war es wichtig, deutlich zu machen, dass die Fachkräfte in Jugendämtern
Expertinnen und Experten für alle Fragen sind, die Kinder, Jugendliche und
Familien betreffen.
53
birgit zeller
2.2 „Das Jugendamt. Unterstützung, die ankommt.“ – Ein Beispiel für offensive
Öffentlichkeitsarbeit
Diesem Gedanken folgend wurde unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der Fachkräfte
aus Landesjugendämtern und Jugendämtern gemeinsam an einem Konzept
zur Veränderung des öffentlichen Bildes von Jugendämtern strickten. Hier
wurde der Plan für eine Kampagne entwickelt, in der Jugendämter bundesweit
ihre Aufgaben und Leistungen präsentieren und selbstbewusst den Kontakt
mit Medien und Öffentlichkeit aufnehmen. Das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte viel Sympathie für diesen Gedanken und war deshalb bereit, die angedachte Kampagne ideell und finanziell
zu unterstützen. Auch die kommunalen Spitzenverbände waren mit von der
Partie.
Im Jahr 2011 gab es die ersten Aktionswochen für Jugendämter, die zweiten im
Jahr 2013, die nächsten sind für 2015 geplant. An den bisherigen Aktionswochen
beteiligten sich jeweils Hunderte von Jugendämtern, die mit vielfältigen
Aktionen vor Ort auf sich aufmerksam machten. Auf Bundesebene haben wir,
jeweils unterstützt von Geldern aus dem Bundesministerium, eine Reihe von
Materialien bereit gestellt, die von den Jugendämtern bestellt werden konnten:
Info-Broschüren über die Arbeit der Jugendämter, Plakate, Postkarten, Filme zu
Arbeitsfeldern der Jugendämter, Give-aways. Es gab regelmäßige Newsletter
mit Best-Practice-Beispielen, es gab Kampagnenmappen und Seminare zur
Vorbereitung. Wir stellen regelmäßig Pressemeldungen zu aktuellen Themen
zur Verfügung und unterstützen bei Bedarf beim Krisenmanagement vor Ort.
Und wir haben Unterrichtsmaterialien zu den Aufgaben der Jugendämter im
Portfolio. Davon wurden schon Tausende bestellt. Unser Renner aber ist die
Broschüre „Was Jugendämter leisten – mit mehr als 500.000 Exemplaren ist
sie inzwischen bundesweit verbreitet. Offenbar ist es hier erfolgreich gelungen,
die Arbeit von Jugendämtern knapp und nachvollziehbar so zu beschreiben,
dass viele Ämter sich darin wiederfinden können und diese Information
gerne weitergeben. Die Broschüre liegt inzwischen auch auf Englisch, Türkisch,
Russisch und Arabisch vor.
54
anerkennungskultur in der jugendhilfe
3. Wirkungen der Öffentlichkeitsarbeit für die Jugendämter
3.1 Wirkung nach außen
Genaue Zahlen zur Umsetzung unserer Kampagne liegen uns aus dem Jahr
2011 vor. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine umfangreichere finanzielle
Unterstützung durch das Ministerium und konnten deshalb auch eine Medienresonanzanalyse durchführen lassen. Damals beteiligten sich bundesweit 400
Jugendämter, das sind zwei Drittel aller Ämter, mit mehr als 1.000 Veranstaltungen, die von Presseeinladungen über Familienfeste und Fachveranstaltungen bis zu jugendbezogenen Stadtrundfahrten reichten. Thematisch wurde das
ganze Spektrum der Jugendhilfe abgedeckt, vielfach in Zusammenarbeit mit
den freien Trägern. 2013 konnten wir diese Spitzenzahlen nicht mehr erreichen,
die Beteiligung war aber immer noch sehr hoch.
Die Medienresonanzanalyse im Jahr 2011 zählte mehr als 2.000 Artikel, Hörfunkund Fernsehbeiträge zu den Aktionswochen und damit zur Arbeit der Jugendämter in regionalen und überregionalen Medien. Berichtet wurde über die
zahlreichen Veranstaltungen vor Ort; darüber hinaus gab es Serien zu den
Aufgaben und Leistungen der Jugendämter, Fallbeispiele oder Interviews mit
Jugendamtsleiterinnen und -leitern.
Das Ziel, die Kompetenz der Jugendämter und die Vielfalt ihrer Leistungen
als Thema in die Medien zu bringen, wurde vollumfänglich erreicht. Da der
Schwerpunkt der Aktionswochen auf den zahlreichen Aktionen vor Ort lag,
wurde vorwiegend in der lokalen und regionalen Tagespresse publiziert. Eine
überregionale Wahrnehmung ergab sich über Beiträge in Funk und Fernsehen,
z. B. in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD, ZDF und WDR, sowie
über die Online-Berichterstattung. Fast alle Beiträge hatten einen positiven
Grundtenor, wobei im Mittelpunkt die Arbeitsbereiche standen, die die
meisten Menschen angehen und die Servicecharakter haben. Darin liegt ein
großes Potenzial für die zukünftige Kommunikation der Jugendämter.
Parallel zu den Aktionswochen und über diese hinaus haben wir beobachtet,
dass sich in den vergangenen Jahren der Tenor der Berichterstattung in vielen
55
birgit zeller
Medien gewandelt hat. Es erscheinen mehr differenzierte und nachdenkliche
Berichte in Film, Funk und Fernsehen über die Arbeit der Jugendämter, auch
über das Handeln in Grenzsituationen. Mehr und mehr findet sich eine
sensible Berichterstattung, die neben den Erfolgen auch die Probleme und
Schwierigkeiten der Arbeit in Jugendämtern, gerade im Kinderschutz, deutlich
macht. Es wird von den Medien positiv bewertet, wenn Jugendämter sich zeigen und einen Einblick in ihr Innenleben geben. Die intensive Kommunikation
mit den Medien nutzt dem Image und der Reputation der Behörde – zumindest
dann, wenn nicht gerade der kritische Ausnahmezustand herrscht.
3.2 Wirkung nach innen
Bei den Wirkungen nach innen sind wir auf Erfahrungsberichte und Einzelwahrnehmungen angewiesen und können nicht auf systematische empirische
Erkenntnisse zurückgreifen.
Gleichwohl sind die Wirkungen nach innen und die Reaktionen, die die Kampagne in den Jugendämtern selbst ausgelöst hat, von besonderer Bedeutung.
Viele Jugendamtsleitungen haben diese neue Form der Öffentlichkeitsarbeit
als eine Zeitenwende beschrieben, mit der das Selbstbewusstsein in den
Ämtern gewachsen ist. Für eine ganze Reihe von Jugendamtsmitarbeiterinnen
und -mitarbeitern war es eine neue Erfahrung, sich selbstsicher und positiv
nach außen präsentieren und die eigene Arbeit mit Stolz vorstellen zu
können und dafür Respekt und Anerkennung zu ernten, z. B. auch von der
Bundesministerin.
Auch in anderen Veröffentlichungen, wie bspw. in der
Organisationsuntersuchung zur Arbeit des ASD in Hamburg von
Prof. Dr. Christian Schrapper, wird auf die Bedeutung einer positiven
Öffentlichkeitsarbeit für das Selbstbewusstsein der Fachkräfte hingewiesen.
Hier finden sich also Anknüpfungspunkte für die weitere Arbeit innerhalb der
Jugendämter.
56
anerkennungskultur in der jugendhilfe
Das neue Selbstbewusstsein spiegelt sich auch in den Kontakten mit
den Medien wider. Viele Fachkräfte machten unterstützt durch die uns
begleitenden Agenturen die Erfahrung, dass es sinnvoll ist, offen auf die
Anfragen von Medien zu reagieren und Einblicke in die eigene alltägliche
Arbeit zu vermitteln, ganz ohne Spektakel. Medien interessieren sich für die
Geschichten von Menschen – und da haben Jugendämter, hat die gesamte
Jugendhilfe eine Menge zu bieten. Jugendämter können auf diese Weise die
Berichterstattung über ihre Arbeit auch ein Gutteil mit steuern.
Es hat uns auch sehr gefreut, dass in diesem Jahr der Medienpreis der AGJ und
der Bundesländer an einen Journalisten ging, der im SZ-Magazin einen sehr
beeindruckenden Artikel zur Balance von Hilfe und Kontrolle geschrieben hat.
Und der Wissenschaftspreis ging ebenfalls an eine Autorin, die sich in ihrer
Dissertation mit der Öffentlichkeitsarbeit von Jugendämtern befasst hat.
An diese insgesamt sehr positiven Entwicklungen sollten wir weiterhin
anknüpfen. Über die Aktionswochen hinaus haben denn auch zahlreiche
Jugendämter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu einem festen Bestandteil
ihrer Arbeit ausgebaut.
4. Zum Zusammenhang von Öffentlichkeitsarbeit und Qualitätsentwicklung
Das Bild des Jugendamtes, das Bild, das andere sich von ihm machen, hat
erhebliche Wirkungen auf die Qualität der Arbeit.
Es schadet dem Selbstbewusstsein und auch der Schaffenskraft der Fachkräfte,
wenn ihnen die Anerkennung für ihre anstrengende und engagierte Arbeit
versagt wird. Es beschädigt gleichzeitig die Institution Jugendamt selbst, in die
offenbar kein Vertrauen gesetzt werden kann. Und es wirkt sich auch negativ
aus auf die Menschen, die dort Hilfe suchen oder Unterstützung bekommen.
Öffentlichkeitsarbeit und die Qualität der in Jugendämtern geleisteten Arbeit
hängen, so die These, die hinter unserem Handeln steckt, eng miteinander
zusammen.
57
birgit zeller
Eine positiv bewertete Behörde kann ihrem Auftrag wesentlich wirksamer
nachkommen. Offensive Öffentlichkeitsarbeit von und in Jugendämtern
ist also unverzichtbar, wenn es darum geht, die Arbeit der öffentlichen
Jugendhilfe wirkungsvoller werden zu lassen.
Denn von alleine wird sich die Anerkennungskultur nicht entwickeln. Die
Jugendämter müssen selbst etwas dafür tun.
Jugendämter haben eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung für die Gestaltung
des Aufwachsens. Wenn Jugendämter zukünftig zu strategischen Zentren des
Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen werden sollen, wie es der 14. Kinderund Jugendbericht postuliert, dann bedarf es dazu nicht nur einer guten Ausstattung, sondern auch eines positiven politischen und öffentlichen Ansehens.
Eine Institution, die keine Wertschätzung genießt, kann auch keine Wirkung
entfalten.
Neben einer guten personellen Ausstattung und ausreichenden finanziellen
Ressourcen bedarf es für diese Weiterentwicklung also darüber hinaus eines
großen Maßes an öffentlicher Anerkennung. Eine Organisation kann dann am
besten arbeiten, wenn sie sich der politischen Unterstützung vor Ort und der
öffentlichen Akzeptanz sicher sein kann.
Damit leistet die Öffentlichkeitsarbeit der Jugendämter einen Beitrag zur
Qualitätsentwicklung und hilft, Professionalität zu sichern. Etwas für den
eigenen Ruf zu tun, ist also auch und vor allem eine Maßnahme, mit der
Jugendämter die Qualität ihrer Arbeit sichern und stabilisieren.
Diese Aussage trifft selbstverständlich auch auf die freien Träger zu.
Und: Öffentlichkeitsarbeit lässt sich besonders erfolgreich im Dialog gestalten.
Wie dies aussehen soll, könnte Gegenstand unserer Diskussion sein.
58
V
jessika kuehn-velten
Ver-rückt im Kinderschutz
Die Psychiatrisierung der Kindheit
Die Themen Kinder psychisch kranker Eltern, depressive Jugendliche, psychiatrische Erkrankungen und Störungsbilder als Belastungsfaktor in Familien sind
in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit auch in
der Kinderschutz-Arbeit gerückt. Wir haben uns mit neuen Ideen und Erkenntnissen, mit veränderten Kommunikationsstrukturen und innovativen Hilfeansätzen befasst, um auf genau diese Familien zuzugehen. Wir haben viel getan
für die grenzüberschreitende Kooperation zwischen den Systemen Jugendhilfe
und Gesundheitswesen – auf beiden Seiten. Dies sind Bausteine einer auch
weiterhin wichtigen und wünschenswerten Entwicklung. Und doch – inzwischen begegnen uns psychische Auffälligkeiten und psychiatrische Diagnosen
in einer Häufigkeit, die uns Fragen stellen lässt: Wird unsere Gesellschaft, wird
Kindheit zunehmend psychisch krank – oder ist es so, dass Gesellschaft und
auch Jugendhilfe und Gesundheitswesen zunehmend Familie, Kinder und
Kindheit psychiatrisieren, als krank ansehen, darin zu sehr Verstehensmodelle
und Hilfegrundlagen suchen, darüber Kindeswohl und Kinderschutz definieren? Die Frage nach Psychiatrisierung zu stellen, heißt dabei nicht, psychische
Erkrankung zu leugnen oder psychiatrischen Zugängen mit Entwertung zu
begegnen, sondern lediglich, um eine Balance zu ringen, ihnen einen angemessenen Stellenwert und stimmigen fachlichen Umgang zukommen zu lassen.
Während ein Teil-Thema psychisch erkrankte Eltern und die Auswirkungen der
psychischen Erkrankung auf die Kinder ist, soll hier der Fokus auf den Kindern
und Jugendlichen selbst – mit und ohne psychische Erkrankung – liegen.
In der Kooperation der Systeme Jugendhilfe und Gesundheitswesen bleibt es
natürlich nicht aus, dass wir im Miteinander auch das Territorium des jeweils anderen Berufsfeldes betreten. Wir werden zum Herüberkommen und
Hinübergehen eingeladen. Und dann stehen wir im Feld – immer noch mit
unterschiedlichen Sprachen, Berufskulturen und Haltungen zu dem, was unser
gemeinsames Aufgaben- und Tätigkeitsgebiet ist, aber mit mehr Wissen, mit
61
jessika kuehn-velten
mehr Mut – und darin manchmal auch mit mehr Grenzverletzung. Das andere
Feld kennenzulernen, euphorisiert. Es ist ein bisschen wie im Winter im frisch
gefallenen Schnee zu stehen, staunend, erste Spuren hinterlassend. So ist es
vielleicht uns in der Jugendhilfe mit der Psychiatrie gegangen (und natürlich
umgekehrt). Wir haben psychisch kranke Eltern mit ihrem Lebensrahmen
für Kinder entdeckt, die Hilfebedarf haben, mit denen wir an Veränderungen
arbeiten könnten. Ebenso haben wir depressive Kinder und Jugendliche als
Hilfeadressat(inn)en entdeckt, plötzlich nicht mehr nur in der Psychiatrie,
sondern in der Familienhilfe, in der Hilfeplanung beim Jugendamt, in den
Beratungsstellen, in der Schulsozialarbeit, in Wohngruppen. So passiert es, dass
ein sechsjähriger Junge in unserem Kinderschutz-Zentrum angemeldet wird
zur Klärung möglicher traumatisierender Hintergründe einer Persönlichkeitsstörung und der daraus folgenden Hilfeempfehlungen – und die Diagnose der
Persönlichkeitsstörung stammt nicht aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie,
sondern vom Jugendamt. Was erhoffen wir uns von dieser Feldbesetzung – wie
kommt es in der Jugendhilfe zu diesem besonders interessierten Blick auf
psychische Erkrankung?
Wie bereits angedeutet, kann das Modell psychischer Erkrankung der Jugendhilfe einen anderen, neuen Verständniszugang zu Kindern und Familien öffnen.
Damit wird unser Spektrum von Erklärungen breiter – für Verhaltensoriginalität, für Belastungszeichen, für scheinbar Unerklärbares im Kontakt, in Familienbeziehungen, im Verhalten und Erleben. Psychische Erkrankung schafft eine
ganz neue Rahmung für Widerstand in der Kinderschutzarbeit, der Arbeit an
Problem- und Hilfeakzeptanz von Eltern bei Fragen möglicher Kindeswohlgefährdung. Aber dann gibt es die erschütternden Beispiele, die psychische
und Sucht-Erkrankung im Rahmen von Kindeswohlgefährdung ins Blickfeld
gerückt haben, das dann gar nichts mehr mit Euphorie und Neugier zu tun hat –
denken wir nur an Kevin, Chantal und andere und an das, was wir aus den Analysen ihrer Geschichten haben lernen müssen. Daraus sind unter anderem die
Strebungen nach Risikominimierung und Sicherheit im Kinderschutz erwachsen – und auch dafür scheinen psychiatrische Diagnosen zunächst Möglichkeiten zu versprechen, von denen allerdings bezweifelt werden darf, dass sie allein
langfristig unsere Probleme gemeinsamer Einschätzung von Kindeswohl und
Kinderschutz zwischen Helfer(inne)n und Familien lösen können. Es braucht
62
ver-rückt im kinderschutz
also gutes Miteinander, gelingende Vernetzung, gleichwertiges voneinander
Lernen der Systeme Gesundheitswesen und Jugendhilfe. Dann können wir aus
guten Kooperationserfahrungen schöpfen, können gemeinsam unsere Hilfeangebote abgleichen und dadurch erweitern, können unser Wissen zusammenfügen und vergrößern.
Noch aber stehen Unterschiedlichkeit wie ausgetragene Differenzen der Systeme im Wege und erschweren die Balance in der gegenseitigen Bereicherung.
Im Umgang mit schwierigen, verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen
wird der Konflikt zwischen den Definitionen pädagogisches versus psychiatrisches Problem ausgetragen. Resultat ist dann manches Mal ein „Zuschieben“
der Verantwortung wie auch der jungen Klient(inn)en. Über 25 % der stationär
in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelten Kinder und Jugendlichen
werden in eine stationäre Jugendhilfemaßnahme entlassen, so zeigen Studien
etwa von Beck & Warncke (2009) oder Martin (2002). Kinder und Jugendliche
in stationären Jugendhilfeeinrichtungen werden umgekehrt häufig in Krisen
und eskalierenden Konflikten in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
vorgestellt. Wenn wir uns so gegenseitig nutzen, kann das hilfreich und fruchtbar für die Klient(inn)en sein – wenn aber, wie es oft der Fall ist, Absprachen
über die Bedingungen für diese Wege und gemeinsame Problemdefinitionen
noch nicht hinreichend vorliegen, wird es schwierig. Dann „nehmen“ wir die
Klient(inn)en und Patient(inn)en des jeweils anderen Systems nicht, dann
findet vielleicht der 15-Jährige nicht die Jugendhilfe, die die Psychiatrie ihm
wünscht, dann wird etwa die 14-Jährige, die sich selbst verletzt und andere
bedroht, nicht auf der Station der Jugendpsychiatrie aufgenommen, weil eben
dort ein pädagogisches und kein psychiatrisches Problem diagnostiziert wird,
während die Jugendhilfe es genau umgekehrt einschätzt.
Dann treffen die Diagnoseverständnisse gegnerisch aufeinander – und dann
geht es immer wieder auch um Konkurrenz. Schließlich hat die Jugendhilfe mit
der sozialpädagogischen Diagnostik das ursprünglich medizinische Begriffsfeld
der Diagnose mitbesetzt (während das Gesundheitswesen unter anderem mit
den Kinderschutzgruppen an Kliniken im Bereich des Kindeswohls mitbestimmt). Und es geht darum, welches System Hilfe anbieten darf, welche etwa
der zugehenden Hilfen für Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt
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jessika kuehn-velten
ist, „besser“ dasteht – und finanziert wird, welches System also über welche
Geld-Ressourcen verfügt. Und – hat die Idee, dass psychische Erkrankung
zunimmt und dass dafür Gelder zur Verfügung gestellt werden (müssen), einen
Einfluss auf mögliche Psychiatrisierung in der Gesellschaft? Wie sieht es aber
nun wirklich aus mit der psychischen Gesundheit, mit Normalität und psychischer Störung? Die KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Folgestudie 2009–2012 des Robert-Koch-Instituts)
sagt aus, dass 20,2 % der 3- bis 17-Jährigen Hinweise auf psychische Störungen
zeigen, davon 12,4 % mit deutlichen, massiven Beeinträchtigungen im sozialen
Alltag. Darüber hinaus stellen die Studienergebnisse die Abhängigkeit des Vorliegens der Diagnose ADHS vom sozialen Status fest – sie wird offenbar dreimal
häufiger in Familien mit niedrigem sozialen Status vergeben als in den übrigen
Familien. Insgesamt ist die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern
nicht oder nur leicht signifikant, aber das Niveau erscheint gleichbleibend hoch.
Ist also die „gefühlte“ Zunahme von psychischer Erkrankung ein soziales oder
ein Jugendhilfe-Problem, sozusagen hausgemacht, eine Frage der Aufmerksamkeit vielmehr als der Realität?
Zur Frage möglicher Psychiatrisierung mag es hilfreich sein, einen Blick in die
Kinderschutz-Geschichte zu werfen und darauf, wie die Aufmerksamkeit auf
vermeintlich „neue“ Themen Kinderschutzarbeit und -verständnis wie auch
die Statistik verändert hat. Vor Jahrzehnten schon war es, als die Sorge um
sexuellen Missbrauch an Kindern sich verbreiterte und intensivierte. Mit jeder
Erkenntnis und Fortbildung zum Thema stieg die fachliche und dann nach und
nach auch gesellschaftliche Wahrnehmung, stiegen Zahlen, bis dann – endlich,
so muss man in der Rückschau festhalten – auch spezifischere Hilfeangebote
und Schutzkonzepte geschaffen wurden. Weiter ging es mit dem Fokus auf Vernachlässigung; die „vergessenen Kinder“ rückten in den Blick. Dann sprachen
wir über Artefakt-Störungen und das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Unsere Sicht auf Häusliche Gewalt führte zu einer Zunahme der betroffenen
und betreuten Familien in der Jugendhilfe, zum Verständnis der direkten
schädigenden Auswirkungen der Zeugenschaft von Gewalt bei Kindern, zum
Aufgeben der Idee, Kinder könnten nichts mitbekommen haben davon. Es
folgten Kooperationen etwa zwischen Frauenberatung, Polizei, Angeboten für
Kinder und Familien, und es wurden Hilfekonzepte entwickelt für Betroffene,
64
ver-rückt im kinderschutz
für Kinder, nicht Gewalt ausübende wie Gewalt ausübende Elternteile. Im Vorfeld sozusagen des Themas psychische Erkrankung haben wir vieles – und das
in einem guten Miteinander von Jugendhilfe und Gesundheitswesen! – gelernt
über Traumatisierung und Traumafolgestörung, mit wunderbaren Auswirkungen auch im Kinderschutz für die Entwicklung traumapädagogischer und
-therapeutischer Techniken. Und nun sind es eben psychische Störungen und
Erkrankungen, die uns herausfordern.
Wir nehmen also offensichtlich immer das besonders viel und deutlich wahr,
worüber wir gerade sprechen, nachdenken, Neues erfahren. Aus der Kinderschutz-Geschichte heraus gibt es aber noch weiteres zu sehen. So mag unsere
Sorge, im Hinblick auf Kindeswohl etwas zu übersehen und damit anfällig
für Fachfehler zu sein, uns gerade in Zeiten zunehmender Achtsamkeit auf
Qualitätsstandards und Fehlermanagement dazu bringen, möglichst viele
und auch bis dahin wenig berücksichtigte Belastungsfaktoren in den Blick zu
nehmen. Wir werden alles annehmen, was uns zu einer Differenzierung in
der Risikoeinschätzung hilft. Eine der wichtigsten Entwicklungen im Kinderschutz ist die von der Defizitorientierung hin zum Ressourcenansatz. Uns muss
allerdings bewusst sein, dass die Hinwendung zur vermeintlichen Sicherheit
psychiatrischer Diagnosen davon wieder etwas aufgibt. Denn in den Klassifikationssystemen für Diagnosen ist die Ressourcensicht noch nicht angekommen:
Es gibt keine im ICD oder DSM klassifizierte Diagnose Normalität und Gesundheit („Dem Jungen fehlt nichts“ oder „Das Mädchen steht sicher und gut
entwickelt im Leben“ etwa als A-Klassifikation). Auch hier könnte ein Aspekt
dessen liegen, was uns manchmal wie eine Psychiatrisierung von Problemlagen und belasteten Familien vorkommen mag. Nimmt also aus den genannten
Gründen psychische Erkrankung als Problematik in der Jugendhilfe besonders
zu? Nimmt eigentlich im Gegenzug Kindeswohlgefährdung als Problematik in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie besonders zu – und wird das in der Zukunft
auch die Erwachsenen-Psychiatrie mehr befassen? Das sind spannende Fragen
oder Hypothesen, in deren Reflexion Chancen für gemeinsames Handeln
liegen können.
Nichts geschieht ohne Sinn und Grund – die Zunahme der Aufmerksamkeit auf
psychische Erkrankungen scheint notwendig. Denn Jugendhilfe und Gesell-
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jessika kuehn-velten
schaft brauchen Antworten auf die Frage nach der Erklärung und der Hilfe für
multiple Problemlagen: Kinder und Jugendliche, die unruhig oder verhaltensoriginell daherkommen, die sozial schlecht angepasst sind oder Leistung verweigern, aggressive oder emotional nicht gut gesteuerte Kinder und Jugendliche
bis hin zu den sogenannten „Systemsprengern“ fordern uns so heraus, dass
die bisherigen Antworten nicht mehr zu genügen scheinen. Die Diagnosen für
Kinder und Jugendliche eben als Antwort und Hilfe zur Bewältigung reichen
dann von AD(H)S über Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen,
über Traumafolgestörung, autistische Störung (Typ Asperger), Depression,
Angststörung, Zwangsstörung, Borderlinestörung, Psychose, über Suchterkrankung und psychosomatische Erkrankungen bis zur „einfachen“ Adoleszenzkrise. Nicht nur scheinen also solche psychiatrischen Diagnosen zumindest
in der Jugendhilfe vermehrt vorzukommen oder mehr wahrgenommen zu
werden, ihnen scheint auch eine größere „Macht“ zugeschrieben zu werden:
Sie scheinen Sicherheit in unsicheren Situationen zu versprechen und mehr in
Risikoeinschätzung einbezogen zu werden. Sie laden vielleicht auch zu einer
schnelleren und häufigeren Medikamentierung für Kinder und Jugendliche
als medizinische Hilfe ein, was wiederum Auswirkungen auf die Klient(inn)en
wie auch auf die Abstimmung systemischer und ganzheitlicher Hilfekonzepte
haben wird und insgesamt die Gefahr einer zunehmenden Medikalisierung im
Kinderschutz beinhaltet.
Psychiatrisierung – das hieße, dass psychiatrische Diagnosen und Behandlungen Normalität gewinnen würden. Psychiatrie würde dann vielleicht noch
weniger mit Zwang, noch mehr mit Freiwilligkeit verknüpft sein. Der Zugang
zur Psychiatrie wäre leichter, es gäbe möglicherweise einen Anstieg stationärer
Maßnahmen mit jeweils kürzeren Behandlungszeiten, die für Familien und
Gesellschaft mehr Entlastung schaffen könnten. Psychiatrie und psychische
Erkrankung würden weiter enttabuisiert, stattdessen „gesellschaftsfähig“.
Gerade in Zeiten, in denen die freie Jugendhilfe sich öffentliche Angriffe und
Entwertungen gefallen lassen muss, steigen klinisch-stationäre Maßnahmen
und Hilfen der Psychiatrie im Renommee. Natürlich birgt Psychiatrisierung
auch Risiken und Gefahren, zuoberst die des selbstreferenten Systems, wenn
die Krankheit sich selbst erklärt und zur Erklärung aller Probleme herangezogen wird, etwa bei Beziehungsschwierigkeiten und Kontakt im Konflikt mit
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ver-rückt im kinderschutz
Helfer(inne)n und in Beratungsprozessen bei Kindeswohlgefährdungsfragen.
Die Mutter, die sich in höchsten Tönen aufregt, der Vater, der die Helfer beschimpft, die Eltern, die Hilfe verweigern und eine andere Problemsicht haben
– psychisch krank? Bedenken werden vielleicht nur noch in einem Zusammenhang bewertet, und statt der Erweiterung des Horizonts wird der Blickwinkel
auf Kinder und Familien doch wieder einseitig. Und: Ressourcen geraten aus
dem Blick, die Defizitorientierung hätte wieder die Oberhand.
Noch ein Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Krisen – und die Rolle
des psychiatrisch-diagnostischen Blickwinkels darin. Dieser könnte die Gefahr
der Individualisierung von Problemlagen bergen, könnte der Kompensation
gesellschaftlicher Hilflosigkeit dienen. Wenn Kinder, Jugendliche, Eltern, Familien, die belastet sind, als psychisch krank identifizierbar sind, entlastet dies im
schlechtesten Fall die Gesellschaft davon, sich um soziale Lebensbedingungen
und Belastungsfaktoren wie Armut, Wohnumfeld, Bildungschancen, Integration zu kümmern, gemeinschaftlich feinfühlig auf die Einzelnen zu reagieren.
Entwicklungsorientierung und Prozesshaftigkeit im Miteinander, in der Sicht
auf und Hilfe für Familien bleibt dann leicht auf der Strecke. Wieder ein paar
Fragen. Wenn psychische Erkrankung zur Normalität wird: Macht das psychische Erkrankung weniger aufregend? Darf Jugendhilfe dann mit „Normalität“
reagieren? Haben wir dann wieder Freiräume, uns gesellschaftlichen und politischen Forderungen zuzuwenden? Und können wir als Jugendhilfe im Kinderschutz unser „Kernhandeln“, die Arbeit in Beziehung, im Blick behalten, wie
es so wichtig und notwendig ist? Dazu bedarf es wohl der Gemeinsamkeit der
Systeme Jugendhilfe und Gesundheitswesen/Psychiatrie, der balancierten Kooperation. Dazu braucht es die Sicht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede,
die Aufgabe von Konkurrenz und Gegeneinander, die Reflexion von Vorbehalten, den Willen, sich nicht hinter den anderen zu verstecken, miteinander
die Ressourcen wie die Gefahren jedes Standpunkts zu teilen, abzuwägen, zu
behalten oder loszulassen.
Psychiatrie und Jugendhilfe haben unterschiedliche Terminologien und
Kommunikationsstile, die es nicht anzugleichen, aber kennenzulernen gilt. Das
heißt eben nicht, dass Psychiatrie Hilfepläne erarbeiten und schreiben und
Jugendhilfe Diagnosen stellen und klassifizieren soll. Aber wir könnten wissen,
67
jessika kuehn-velten
was das jeweils heißt und ist, wo es sich mit Ähnlichem bei uns begegnet,
dessen Bedeutung und vor allem auch Grenzen kennen. In der Kooperation
zwischen psychiatrischen Fachdiensten und Institutionen und solchen der
Jugendhilfe lauert eine Fülle von Fallen auf beiden Seiten. Auf Seiten der
Jugendhilfe gibt es zum Teil geringe Kenntnis über psychische Erkrankungen
und ihre Auswirkungen auf die Erziehungskompetenz von Eltern. Es bestehen
nicht selten persönliche Unsicherheit, Abwehr, Vorurteile, Angst vor Belastung
im Angesicht von psychischer Erkrankung. Gefahren lauern in Unterlegenheitsgefühlen und kompensatorischer Machtausübung gegenüber der (als
höherwertig erlebten) gesellschaftlichen Stellung der Psychiatrie. Angst vor
heftigen Reaktionen, Krisen und Kontaktabbrüchen seitens psychisch erkrankter Elternteile oder auch Kinder und Jugendlicher und damit vor Verlust des
Zugangs kann ein schlechter Ratgeber sein. Auf Seiten der Psychiatrie dagegen
steht die Sicht psychischer Erkrankung als Funktionsbeeinträchtigung ohne
Reflexion der Auswirkung auf die Erziehungskompetenz gelingendem Miteinander im Wege, ebenso wie Vorurteile gegenüber der Jugendhilfe mit folgender
Kontaktvermeidung und daraus resultierender Bestätigung des Vorurteils.
Weitere Fallen sind unter Umständen Überlegenheitsgefühle gegenüber der
Jugendhilfe und Parteilichkeit zugunsten des psychisch erkrankten Elternteils,
der Patientin / des Patienten.
Beide Seiten, Psychiatrie und Jugendhilfe, haben zu kämpfen mit zu wenig Wissen über Aufträge und Auftraggeber, Arbeitsweisen, Hilfe- und Heilungskonzepte, Handlungsstrategien und -abläufe des jeweils anderen Systems. Falsche
Erwartungen aneinander haben Unzufriedenheit, Enttäuschung, Vertrauensverlust und Aufgabe der Kooperation zur Folge. Und die unterschiedliche
Finanzierung, unterschiedliche Leistungsansprüche und Finanzierbarkeit von
Leistungen (etwa Teilnahme an Helferkonferenzen) sowie unterschiedliche
Kooperationen mit Dritten (Schule, Kita, Gericht und weitere) machen es uns
zusätzlich schwer. Wenn wir aber in der Gesellschaft, unter allen Fachleuten
darüber, über uns, über Familien wertschätzend sprechen, wird die Frage von
Psychiatrisierung, wird die dahinter stehende Sorge an Bedeutung verlieren,
und wir werden uns gegenseitig mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten nutzen können – egal, ob die Kinder, die Hilfe brauchen, depressiv oder
sozial zurückgezogen heißen, an ADHS, Traumatisierung oder Vernachlässi-
68
ver-rückt im kinderschutz
gungsfolgen leiden. Wir dürfen schauen, ob Kinder- und Jugendpolitik sich
hinter der Psychiatrisierung versteckt und andere Entwicklungen vermeidet.
Wir können in den Blick nehmen, ob die Zunahme psychischer Erkrankungen
vielleicht einfach die Hilflosigkeit der Gesellschaft spiegelt. Wir hinterfragen,
inwiefern gesellschaftliche, Umwelt- und familiale Bedingungen vielleicht
doch zunehmend krank machen. Und wir sind miteinander achtsam darauf,
ob wir Psychiatrisierung von Eltern nutzen, nur um eine sicherere Risikoeinschätzung in Kinderschutzfällen vorzunehmen, ob wir Psychiatrisierung von
Kindheit und Kindern nutzen, nur um Komplexität im Verstehen und in der
Hilfe zu reduzieren, und ob wir Psychiatrisierung – oder eben nicht! – zu Lasten
der Arbeit in Beziehung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern gehen lassen.
Wie gesagt: Die Frage nach Psychiatrisierung zu stellen, heißt nicht, psychische Erkrankung zu leugnen oder psychiatrischen Zugängen mit Entwertung
zu begegnen, sondern lediglich, um eine Balance zu ringen, ihnen einen
angemessenen Stellenwert und stimmigen fachlichen Umgang zukommen
zu lassen. Es geht nicht um Kampf und Konkurrenz, im Gegenteil – sondern
darum, vielleicht irgendwann geschrieben zu lesen, was auf der Seite des
Gesundheitswesens bedenkliche Fragen aufwirft, und dann gemeinsam an der
Balance zu arbeiten. Wir brauchen, so ein vorläufiges Fazit, ein Bewusstsein für
die Bedeutung von Zuschreibungen psychischer Krankheit und Störung. Wir
brauchen Achtsamkeit und fachliche Verantwortung im Umgang mit diesen
Zuschreibungen ebenso wie eine zeitliche Begrenzung für Zuschreibungen und
Hilfen. Wir brauchen ein Krisenverständnis und Krisenmanagement jenseits
psychischer Erkrankung. Wir brauchen Vernetzung mit den Hilfen der Psychiatrie und des Gesundheitswesens, aber auch mit Kindertagesstätten, Schule,
Berufsbildung und anderen. Und wir brauchen Ressourcen für Kinder- und Jugendhilfe und -politik – ideelle wie finanzielle. Dann kann und wird es weitere
Entwicklung geben – in der Jugendhilfe, im Gesundheitswesen mit Psychiatrie,
im Miteinander, im Kinderschutz.
69
I
christian schrapper
Im Mittelpunkt und doch aus dem Blick?
„Das Kind“ im familiengerichtlichen Verfahren
bei Kindeswohlgefährdung
Ein Positionspapier des Deutschen Institutes für
Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF)
Wo ist das Problem?
Es geht um die Praxis des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung. In den Mittelpunkt gerückt werden soll „das Kind“, hier in
Anführungszeichen gesetzt, da grundsätzlich und prinzipiell von Kindern
und Jugendlichen die Rede ist. Herausgearbeitet wird, wofür die Akteure in
Verfahren vor dem Familiengericht bei Kindeswohlgefährdung besonders
achtsam sein müssen, wenn sie die komplexen Interessen und Ansprüche,
Bedarfe und Rechte von Kindern angemessen begreifen und berücksichtigen
wollen – wenn sie Kindern „gerecht“ werden wollen.
Das Vorhaben, den Blick zu schärfen für „das Kind“ und seine Situation im
familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, kann auf viele
Entwicklungen im Umfeld von Jugendhilfe und Familiengerichtsbarkeit
aufbauen. In den letzten Jahren ist auf politischer, gesetzlicher und
fachlicher Ebene viel geschehen, um das Kind mit seinen (Entwicklungs-)
Potenzialen und Problemen sowie seinen subjektiven Interessen weiter
in den Mittelpunkt zu rücken. Das gilt sowohl für die Jugendhilfe als auch
für das familiengerichtliche Verfahren bei Kindeswohlgefährdung. So
ist die Bedeutung von Partizipation und Beschwerdemöglichkeiten von
Kindern deutlicher anerkannt, bspw. in Bezug auf die Hilfeplanung oder
die Pflegekinderhilfe. Die Runden Tische zu Heimerziehung und sexuellem
71
christian schrapper
Missbrauch haben das Bewusstsein geschärft für die erheblichen und
lange wirksamen Folgen einer auch institutionellen und professionellen
Missachtung kindlicher Subjektivität und ihrer Reduzierung zu Objekten
staatlicher und gesellschaftlicher Beeinflussung. In Bezug auf gerichtliche
Verfahren steht für die verstärkte Wahrnehmung von Kindern etwa die
Einführung der Verfahrensbeistandschaft, um Gesichtspunkte, die das
Kind betreffen und dessen subjektive Interessen, stärker in das familiengerichtliche Verfahren einzubringen (§ 158 FamFG). Auch die Ausweitung
der Pflichten, Kinder in Gerichtsverfahren anzuhören (§ 159 FamFG), zeigt
das Ziel, das Kind in den Mittelpunkt des Verfahrens zu rücken. Die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung gewichtet den Willen
des Kindes in sorgerechtlichen Verfahren in jüngerer Zeit stärker als bisher.
(z. B. BGH 28.04.2010, XII ZB 81/09; zugleich Grundsatzentscheidung zur
Kindesanhörung vor dem Oberlandesgericht); oder aktueller (allerdings
speziell zur Beschneidung) OLG Hamm 30.08.2013, 3 UF 133/13: „ein
entgegenstehender Kindeswille ist in diesem Falle zwingend zu beachten”
– eine gegenläufige Tendenz wird durch neuste Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes allerdings kritisch diskutiert (siehe: Heilmann, Stefan
(2014): Schützt das Grundgesetz die Kinder nicht? Eine Betrachtung der
bisherigen Kammerrechtssprechung des BVerfG im Jahr 2014. In: Neu Juristische Wochenzeitschrift, Nr. 40, S. 2904–2909).
So begründet und selbstverständlich das Anliegen, das Kind „in den Mittelpunkt“ zu stellen, so komplex die Umsetzung. Es wurde deutlich, wie unterschiedlich sich die Perspektiven auf „das Kind“, sein Wohl und seine subjektiven Rechte darstellen. Allzu leicht verschob sich der Fokus vom Kind auf
das von den jeweiligen erwachsenen Akteur(inn)en für richtig und gültig
Gehaltene. Deutlich wurde in der Diskussion in der Fachkonferenz auch:
Die Verwobenheit der Entwicklung und Lebenssituation des Kindes mit
seiner Familie bzw. seinen Familien macht es zudem kaum möglich, das
Kind „unabhängig” von Erwachsenen in den Mittelpunkt zu stellen. Weiter
erschwert die Dynamik und Vehemenz, die Konflikte zwischen Erwachsenen
mit sich bringen können, und das generelle Machtgefälle zwischen
Erwachsenen und Kindern eine vorrangige Konzentration auf das Kind.
Das Papier wendet sich an alle beteiligten Professionen im familiengericht-
72
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
lichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, gleichermaßen an die Jugendhilfe und die Justiz.
Wer ist die Ständige Fachkonferenz 2 des Deutschen Institutes für Jugendhilfe und
Familienrecht (DIJuF)?
Fachkräfte aus Jugendhilfe, Justiz und Wissenschaft beraten unter dem Dach
des DIJuF Fragen der Arbeitsfelder an der Schnittstelle von Familiengericht,
Jugendamt und Beratungsstellen. In den letzten Jahren ging es vor allem um
Konsequenzen des seit 2009 neuen Familienverfahrensgesetzes. So sind in
einem ersten Positionspapier 2010 „Situation, Perspektiven und Entwicklungsbedarf verlässlicher Qualitätsstandards und klarer Rollengestaltung im familiengerichtlichen Verfahren im Kinderschutz“ vorgestellt worden (abrufbar unter
www. dijuf.de > Publikationen > Bücher/Broschüren).
An der Erarbeitung des aktuellen Positionspapieres waren beteiligt:
Renate Blum-Maurice, Kinderschutz-Zentrum Köln; Anselm Brößkamp, Amt
für Jugend und Sport des Kreises Plön; Ulrich Engelen, Jugendamt Essen;
Juliane Fahrner, Justizministerium, Baden-Württemberg, Stuttgart; Ansgar
Fischer, Richter am Oberlandesgericht Oldenburg; Christine Gerber, Deutsches
Jugendinstitut e. V. (DJI), München; Henriette Katzenstein, Deutsches
Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF), Heidelberg; Dr. Heinz
Kindler, Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI), München; Dr. Doris Kloster-Harz,
Rechtsanwältin, München; Marita Krist, Lebensberatung Hermeskeil, Trier;
Klaus Guido Ruffing, Jugendamt Saarpfalz-Kreis; Wolfgang Rüting, Jugendamt
Kreis Warendorf; Beate Schiffer, Dezernat für Jugend, Schule, Soziales und
Kultur Hattingen und Prof. Dr. Christian Schrapper, Universität Koblenz, Vorsitz
der SFK 2.
Das Positionspapier wird hier in einer gekürzten Fassung vorgestellt,
ausführlich unter www.dijuf.de.
73
christian schrapper
Warum ist nicht so einfach, was so selbstverständlich erscheint: Das Kind im
Mittelpunkt der Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung?
Verfahren vor dem Familiengericht wegen Kindeswohlgefährdung wecken
oft Hoffnungen und Befürchtungen zugleich. Erwartet wird, dass strittige
Fragen und Konflikte in dem komplizierten Verhältnis kindlicher Versorgungs-,
Entwicklungs- und Erziehungsrechte, elterlicher Rechte und Pflichten
und sozialstaatlicher Unterstützungs- und Wachsamkeitsverpflichtungen
endgültig geklärt werden. Die Erwartung, dass Klarheit eintritt, wird jedoch
häufig enttäuscht. Den Hintergrund dafür bilden zum ersten spannungsreiche
Rechtspositionen, zum zweiten die Komplexität der normativen Grundlagen
des Verfahrens. Zudem erschweren es unklare, in Grenzbereichen liegende
oder kaum zu ermittelnde Sachverhalte, zu klaren Ergebnissen zu kommen.
Und schließlich sind divergierende Perspektiven der Beteiligten im
Verfahren bei Kindeswohlgefährdung im Spiel, die nicht immer bewusst
zugänglich und kommunizierbar sind. Zuerst sollen diese prägenden Aspekte,
unterschiedlichen Sichtweisen und Ziele in familiengerichtlichen Verfahren
wegen Kindeswohlgefährdung kurz umrissen werden, bevor endgültig das
Kind „in den Mittelpunkt“ gestellt wird.
1. Spannungsreiche Rechtspositionen im Verfahren
In jedem konkreten Fall eines Verfahrens nach § 1666 BGB geht es prinzipiell
darum, Grundrechtsansprüche zu klären und eine möglichst weitgehende
Konkordanz herzustellen. Im Spiel sind etwa die Unantastbarkeit der Würde,
das Recht auf freie Entfaltung, Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 1
Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2 GG) und das natürliche, als Pflichtrecht ausgestaltete
Elternrecht, über dessen Ausübung die staatliche Gemeinschaft wachen
soll (Art. 6 Abs. 2 GG). Hinzu kommt das Recht von Eltern und Kindern
auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK). Im Grundsatz konzipiert
die Verfassung Rechte des Kindes, Rechte und Pflichten der Eltern und
staatliche Wächterfunktion also als aufeinander bezogen, nicht einander
entgegengesetzt. Und doch stehen sie in einem Spannungsverhältnis, umso
mehr, wenn es um vermutete Kindeswohlgefährdung geht. Das Verfahren
74
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
vor dem Familiengericht bei (vermuteter) Kindeswohlgefährdung muss
daher immer im Spannungsverhältnis von grundlegenden – und aufeinander
bezogenen – Rechtspositionen verstanden werden, und zwar:
· den Rechten der Kinder auf Schutz und auf Erziehung und Entwicklung;
· den Rechten der Eltern auf Selbstbestimmung in Spannung zur Pflicht für
Erziehung und Versorgung zu sorgen und Recht auf staatliche Unterstützung;
· den Pflichten der staatlichen Gemeinschaft zur Unterstützung, zur
Wachsamkeit und Erreichbarkeit für „Hilferufe“ und dafür, Gefahren für das
Kindeswohl durch Hilfe oder Intervention abzuwenden, dies aber in einer
Weise, die das Recht auf Familienleben möglichst weitgehend achtet.
2. Notwendige und zugleich notwendig unklare normative Grundlagen der
Verständigung: Kindeswohlgefährdung und Kindeswohl als aufeinander
bezogene Konzepte
Die immer noch prägende juristische Definition des Bundesgerichthofs (FamRZ
1956, 350) für Kindeswohlgefährdung beinhaltet, dass eine gegenwärtige
Gefahr vorliegt, die erhebliche Schäden für das Kind mit ziemlicher Sicherheit
voraussehbar sein lässt. Diese Definition markiert die Schwelle, die einen
Eingriff in das durch die Verfassung garantierte Elternrecht ermöglicht.
Zugleich wird die Gefährdung des Kindeswohls hier weit abgerückt von einer
positiven Bestimmung des Kindeswohls. In der juristischen Diskussion wird
angenommen, dass zwischen dem Kindeswohl und der Kindeswohlgefährdung
eine Art unbestimmter Lücke klafft, ein Zustand, in dem das Kindeswohl zwar
nicht (mehr) gewährleistet wird, aber (noch) nicht gefährdet ist.
Die für die Feststellung einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung geforderte
Voraussage erheblicher kindlicher Entwicklungsschäden kann zum einen nur
getroffen werden auf Basis detaillierter Kenntnisse des Einzelfalls und unter
sachkundigem Rückgriff auf einschlägige Forschungsergebnisse. Zum anderen
erscheint eine Wertung, ob festgestellte oder erwartbare Schäden erheblich
sind bzw. sein werden, ohne eine Vorstellung über unbeschädigte Entwicklung
als Bezugspunkt nicht entscheidbar. Hier soll daher die These vertreten werden,
dass ein Diskurs über das Vorliegen einer Gefährdung zwischen Richter(in)
75
christian schrapper
und anderen Beteiligten eine Verständigung auch darüber erfordert, was
positiv als Kindeswohl allgemein (Was brauchen Kinder?) und im konkreten
Fall (Was braucht dieses Kind?) angenommen werden kann.
Immer wieder diskutiert wird, ob das Kindeswohl wegen des Fehlens
positiver Bestimmungen im deutschen Recht durch Bezug auf internationale
Konventionen und völkerrechtliche Vorgaben konkretisiert werden kann.
Obwohl die UN-Kinderrechtskonvention keine direkte Möglichkeit der
Bestimmung konkreter Inhalte des Kindeswohls bietet (dazu ausführlich:
Meysen/Mendez de Vigo Forum Jugendhilfe 2013, S. 24ff.), weist sie deutlich
darauf hin, welche Rechte des Kindes staatliche Maßnahmen fördern und
verwirklichen sollen. Zu den Kinderrechten gehört dabei u. a. auch – wie
aus Art. 6 Abs. 3 GG im deutschen Recht garantiert –, dass Kinder nur unter
engen Voraussetzungen von ihren Eltern getrennt werden dürfen und dass
die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern zu respektieren sind. Die
entsprechenden Artikel der Konvention reflektieren wiederum die schon
beschriebene Verwobenheit von Kinder- und Elternrechten. Insgesamt
reflektieren die hier genannten Kinderrechte eine Sichtweise, die Kinder
immer auch schon als eigenständige Subjekte und nicht ausschließlich
als Teil des Eltern-Kind-Verbunds in den Blick nimmt. Es ist daher davon
auszugehen, dass eine verstärkte Rezeption auch dieser Rechte der Kinder
nach der UN-Kinderrechtskonvention die gesellschaftliche Wahrnehmung
der eigenständigen Rechtspositionen von Kindern stärken würde. Bei einer
Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung träten neben den in Art. 6
Abs. 1 bis 3 GG und in der UN-KRK gleichermaßen verankerten Schutz der
Eltern-Kind-Beziehung eigenständige Grundrechte des Kindes.
3. Unklare oder nicht zu ermittelnde Sachverhalte
Zu den skizzierten Problemen der näheren juristischen Bestimmung
von „Kindeswohlgefährdung“ treten prinzipielle Probleme bei der
Sachverhaltsermittlung hinzu:
· Das Problem der arbiträren Grenze: Bei von der Rechtsordnung gesetzten
Grenzen (Kindeswohlgefährdung liegt vor oder liegt nicht vor) und einer
76
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
Wirklichkeit, in der es ein Kontinuum des Ausmaßes von Gefährdung gibt,
entstehen – neben sehr eindeutigen Fällen – zwangsläufig Fälle, die nah
an der Grenze liegen oder darum pendeln und deshalb Unsicherheit und
verschiedene Positionierungen von Fachkräften auslösen müssen.
· Gefährdung als verdeckter Prozess: Die gesellschaftliche Ächtung von
Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung, die bei Kindern häufig
vorhandenen Ambivalenzen gegenüber staatlichen Eingriffen zu ihrem
Schutz und die Beschränkung solcher Eingriffe auf Konstellationen, in
denen Hilfen von den Eltern nicht gewünscht werden, führen dazu, dass
die Gerichte sich überwiegend mit Fällen auseinandersetzen müssen, in
denen Motive zur Verdeckung tatsächlich existierender Gefährdung in
den Familien wirken. Hinzu kommt, dass die Einsehbarkeit des privaten
Raums der Familie notwendig beschränkt ist. Im Ergebnis ist daher
nicht anzunehmen, dass – selbst bei fachkundigem Vorgehen – in allen
Fällen, in denen eine Gefährdung tatsächlich vorliegt, eine entsprechende
Klärung erreicht werden kann.
· Äquifinalität und Multifinalität: Da ein und dieselben Erlebnisse bei ver schiedenen Kindern zu unterschiedlichen Folgen führen können (Multi finalität) und ein und dasselbe Zustandsbild bei Kindern, von umschrieben en Ausnahmen abgesehen, verschiedene Ursachen haben kann (Äquifinalität), sind die Möglichkeiten des Rückschlusses von belasteter Ent wicklung auf Gefährdung beschränkt. Vielfach werden daher nicht immer
beizubringende bewertbare Äußerungen eines Familienmitglieds oder
wiederholte Beobachtungen familiärer Fürsorge benötigt, bevor eine hin reichende Sachverhaltsaufklärung erreicht werden kann.
· Ethische sowie rechtliche Beschränkungen von Forschung zu Kindeswohl gefährdung und Vorgehensweisen bei der Sachverhaltsaufklärung:
Schließlich strahlen ethisch notwendige Einschränkungen in der Forschung
auf die Sachverhaltsaufklärung aus, da lückenhafte Kenntnisse – bspw. zu
den Folgen früher Trennungen oder früher emotionaler Vernachlässigung
– zu Bewertungsunsicherheiten beitragen. In den Gerichtsverfahren
wiederum ergeben sich aus Achtung vor den Persönlichkeitsrechten der
Betroffenen Grenzen für die Sachverhaltsaufklärungen ohne Zustimmung.
So können etwa Eltern nicht zur Teilnahme an einer psychiatrischen
Begutachtung gezwungen werden. (BGH 17.02.2010, XII ZB 68/09.)
77
christian schrapper
4. Prägende Perspektiven der Beteiligten im Verfahren
Schwierigkeiten der Verständigung über Wertungen im familiengerichtlichen
Verfahren bei Kindeswohlgefährdung liegen nicht nur in der Komplexität der
konzeptuellen Grundlagen. Schwierig ist oft auch, dass die Unterschiedlichkeit
der Perspektiven der Beteiligten zum Tragen kommt, jedoch nicht immer
bewusst zugänglich ist. Obwohl sich alle professionellen Beteiligten darin
einig sind, dass Anlass und Ziel des Verfahrens nach § 1666 BGB der Schutz des
Kindes ist, unterscheiden sich die Sicht- und Denkweisen der professionellen
Beteiligten im familiengerichtlichen Verfahren nämlich erheblich voneinander.
·Die professionellen Helfer(innen) orientieren sich an der fachlichen
Einschätzung des erforderlichen Maßes an Unterstützung für das Kind
und seine Familie und (den Erfahrungen mit) der Bereitschaft und
Fähigkeit der Eltern, diese Unterstützung anzunehmen. Das schließt
unterschiedliche fachliche Wertungen nicht aus. Das Verfahren wird
angeregt, um einem Kind die notwendige Unterstützung und Schutz
für seine Entwicklung zu ermöglichen. Als gelungen erscheinen
ein Verfahren und eine Gerichtsentscheidung dann, wenn sie eine
ausreichende Grundlage dafür bieten, dem Kind diese nach fachlicher
Einschätzung notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.
· Orientierungspunkt für das Gericht ist dagegen nicht in erster Linie die
notwendige Unterstützung für das Kind. Richter(innen) orientieren
sich in ihrer Verfahrensleitung an der Frage, ob ein Eingriff in
Elternrechte in Frage kommt. Wenn ja, stellt sich die Frage nach dem –
geringstmöglichen – Maß des Grundrechtseingriffs. Aus Richtersicht
hängt das Gelingen eines gerichtlichen Verfahrens dabei in erster
Linie von der juristischen Qualität der Entscheidung ab. Gelungen ist
die Entscheidung über das Maß eines Sorgerechtseingriffs in einem
Verfahren nach § 1666 BGB, wenn sie im juristischen Sinne „richtig“,
also im Einklang mit Recht und Gesetz ergangen ist. Dazu gehören die
richtige Anwendung der materiellen Vorschriften wie § 1666 BGB und
der verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 152ff. FamFG. Fachlich
„gut“ sind Verfahren und Entscheidung bereits dann, wenn sie sich als
juristisch in Ergebnis und Argumentation als „vertretbar“, besser: „gut
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
vertretbar“ erweisen, auch wenn ein Großteil der Jurist(inn)en anders
vorgegangen wäre und entschieden hätte. Es ist also gut möglich, dass
eine Richterin einen Sorgerechtseingriff aus rechtlichen Gründen
ablehnt, persönlich jedoch die damit verbundene Beendigung einer
Inobhutnahme im Ergebnis als unbefriedigend empfindet. Ein anderer
Richter wird die Entscheidung im Ergebnis aufgrund guter Begründung
und verantwortungsvoller Führung des Verfahrens durch den Kollegen
juristisch als „gut vertretbar“ akzeptieren, auch wenn er selbst anders
entschieden hätte und die Entscheidung als Beschwerderichter ggf.
abändern würde.
Diese juristische Herangehensweise ist aus Sicht der professionellen
Helfer(innen) nicht immer leicht zugänglich. Die Vorstellung, dass
unterschiedliche Ergebnisse in einem Kinderschutzverfahren aus juristischer
Sicht als ähnlich „gelungen“ gesehen werden könnten, erscheint bei erster
Betrachtung möglicherweise „formal“ und aus fachlicher Sicht dem Kind und
seiner Situation unangemessen. „Fremd“ ist jedoch nicht die Tatsache, dass
es zu unterschiedlichen (juristischen) Wertungen kommen kann, denn auch
in der Welt professioneller Helfer(innen) kommt es zu unterschiedlichen
(fachlichen) Wertungen. „Fremd“ sind vielmehr die juristischen Erwägungen,
die hinter der Entscheidung stehen.
Aus juristischer und rechtsstaatlicher Sicht müssen sorgerechtliche
Entscheidungen sich streng an der Eingriffsschwelle orientieren und
verhältnismäßig sein. Nur wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und
von den Eltern nicht abgewendet werden kann, ist ein staatlicher Eingriff
in die grundgesetzlich verbrieften Elternrechte gerechtfertigt. Die Schwelle,
die den Eingriff rechtfertigt, ist also im doppelten Sinne „negativ“ definiert.
Zudem muss der Eingriff in die elterliche Sorge so gering wie möglich sein,
um die Gefährdung des Kindeswohls abwenden zu können; er darf gar nicht
erfolgen, wenn zwar unstrittig ein Hilfebedarf besteht, eine Gefährdung des
Kindeswohls aber nicht vorliegt. Das ist die eine Seite.
Da das familiengerichtliche Verfahren aber unter dem Primat des Kindeswohls
als Leitmaxime steht, gilt es dennoch zu überlegen, wie im Verfahren
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christian schrapper
wieder Entwicklung in Richtung des Wohls des Kindes (nicht nur im Sinne
der Abwendung der Gefährdung) in Gang kommen kann. Wenn ein Kind in
seinem Wohl als gefährdet angesehen wird, muss es das Ziel sein, ihm zu
ermöglichen, Entwicklungsschritte zu machen und auch nachzuholen. Die
im Verfahren letztlich gefundene Lösung muss weitreichend genug sein, um
Raum zu schaffen für Bedingungen und Hilfen, die in diesem Sinne notwendig
sind. Das ist die andere Seite.
Beide Seiten fallen durchaus nicht „automatisch“ zusammen. Vielmehr
besteht hier ein Spannungsverhältnis, dessen sich die Beteiligten im
familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung bewusst
sein müssen. So mag die Anordnung der Inanspruchnahme einer
sozialpädagogischen Familienhilfe oder eines heilpädagogischen Horts
(§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB) ausreichend erscheinen, um der unmittelbaren
Gefährdung eines Kindes durch Vernachlässigung zu begegnen. Im
Hinblick auf bestehende Entwicklungsrückstände und -auffälligkeiten des
Kindes wäre jedoch zu fragen, ob eine solche Auflage zu einer ausreichend
stabilen Veränderung führt, die dem Kind eine nachholende Entwicklung
und Überwindung von Schwierigkeiten erlaubt. Verständnis für diese
Spannung zwischen Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Elternrechte
und den notwendigen Voraussetzungen für eine gelingende Hilfe
erleichtert den Diskurs und die Suche nach Lösungen zwischen den von
juristischer Seite Beteiligten, den beteiligten professionellen Helfer(inne)
n und den betroffenen Familienmitgliedern. Die Kommunikation in diesem
Spannungsfeld ist anspruchsvoll, ihr Gelingen bemisst sich auch daran, ob
es gelingt, dass die juristischen Wertungen an den fachlichen Wertungen
anknüpfen können.
5. Klärungs- und Ergebnisorientierung als Dimensionen des Verfahrens
Die Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Prozessorientierung wurde in
der Ständigen Fachkonferenz 2 (SFK 2) auf dem Hintergrund einer Diskussion
darüber entwickelt, was erfolgreiche, positive und wenig erfolgreiche, negative
Beispiele familiengerichtlicher Verfahren bei Kindeswohlgefährdung
80
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
auszeichnet. Besprochen wurden Einzelfälle, die als besonders gelungen
oder misslungen empfunden wurden. Zum einen wurden Konstellationen
deutlich, in denen das familiengerichtliche Verfahren nach § 1666 BGB vor
allem danach beurteilt wird, ob es sehr zügig zu klaren Ergebnissen geführt
hat. Solche Fälle, in denen die Ergebnisorientierung des Verfahrens im
Vordergrund steht, zeichnen sich dadurch aus, dass das Kind im Säuglingsoder Kleinkindalter ist; dem Kind schon etwas Belegbares passiert ist, also
bspw. eine Misshandlungsfolge wie etwa ein Schütteltrauma vorliegt,
es unter den beteiligten Fachkräften keine vernünftigen Zweifel oder
erheblichen Unklarheiten darüber gibt, dass das Kind fremduntergebracht
werden muss. Deutlich ist also, dass eine für das Kind im Säuglings- bzw.
Kleinkindalter eindeutig negative Vorgeschichte, die bereits zu Schädigungen
geführt hat, die Formulierung klarer Erwartungen an das Verfahren bei
Kindeswohlgefährdung und klarer Kriterien für das Gelingen des weiteren
Fallverlaufs begünstigt.
In anderen Fällen liegen jedoch zu Beginn des Verfahrens Konstellationen
vor, in denen vieles unklar erscheint. Unklarheiten und/oder unterschiedliche
Einschätzungen können sowohl hinsichtlich der Einschätzung der gegenwärtigen Belastungen des Kindes als auch – und noch viel mehr – hinsichtlich einer Prognose bestehen. Auch die Erfolgschancen möglicher Hilfen und
die Belastungen durch eine Trennung von der Familie werden häufig sehr
unterschiedlich beurteilt. Schließlich gibt es nicht selten verschiedene Einschätzungen der (künftigen) Erziehungsfähigkeit oder Kooperationsbereitschaft
der Eltern. In solchen Fällen steht nicht ein möglichst zügiges Verfahren und
schnelles Ergebnis im Vordergrund, sondern die Initiierung und Ermöglichung
eines Klärungsprozesses durch und während des familiengerichtlichen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung; die fundierte Auswertung der in diesem
Prozess erworbenen Erfahrungen durch die Beteiligten; die Anschlussfähigkeit
des familiengerichtlichen Beschlusses an die Auswertungen des Klärungsprozesses.
Zusammenfassend kann gesagt werden:
Bei einer hohen Ergebnisorientierung gehen die beteiligten Professionellen
davon aus, dass das angemessene und wünschenswerte Ergebnis des
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christian schrapper
Verfahrens zumindest der Richtung nach schon vor dessen Beginn feststeht, in
jedem Fall aber rasch eine klare Entscheidung für das Kind getroffen werden
sollte. Das familiengerichtliche Verfahren nach § 1666 BGB wird als Mittel zum
Zweck betrachtet, alles, was den Ablauf verzögert, wird als Hindernis für eine
angemessene und tragfähige Perspektive des Kindes gesehen.
Bei einer hohen Prozessorientierung wird das familiengerichtliche Verfahren
bei Kindeswohlgefährdung dagegen als Chance für die Qualifizierung der
Einschätzung und die Entwicklung von möglichst geteilten Perspektiven
oder die Erprobung von Lösungsansätzen betrachtet. Nicht selten wird von
der Autorität des Richters / der Richterin bzw. dem Druck, der von einem
Gerichtsverfahren ausgeht, auch eine Klärung der Kooperationsbereitschaft
der Herkunftsfamilie erwartet.
Fälle mit geringer Prozessorientierung und geringer Ergebnisorientierung
sind eindeutig negativ zu bewerten. Entsprechend wäre zu fragen, welche
Bedingungen geeignet sind, solche Verfahrensabläufe weniger wahrscheinlich
zu machen. Eindeutig positiv zu sehen sind solche Verfahren, in denen
die Akteure sich einerseits erfolgreich um Klärung bemühen und diese
dann, andererseits, einem klaren Ergebnis dient, insbesondere wenn die
Verfahrensdauer den Notwendigkeiten des Falls angemessen erscheint. Hier
ist zu fragen, unter welchen Bedingungen ein solcher Verfahrensablauf
wahrscheinlicher wird.
Nicht immer sind sich die am Verfahren Beteiligten einig darüber, ob und
wann Ergebnis- oder Prozessorientierung im Verfahrens im Vordergrund
stehen sollen bzw. wie beide Orientierungen gut miteinander verbunden
werden können. Mit Blick auf das Kind ist zu empfehlen, dass die beteiligten
Professionellen einzeln und gemeinsam reflektieren, welche Vor- und
Nachteile für das Kind mit einer Orientierung auf ein schnelles Ergebnis
versus einer vertieften Klärung verbunden sind:
· Verfahrensführung und -ablauf im Hinblick auf die genannten
Dimensionen sollten nicht zufällig erfolgen (etwa Verzögerung durch
lange Begutachtungszeiten) oder den jeweiligen Vorlieben der Beteiligten
folgen, sondern auf die Situation des Kindes abgestimmt sein.
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
· Einer Weiterentwicklung familiengerichtlicher Verfahren bei
Kindeswohlgefährdung ist es dienlich, wenn darüber kommuniziert wird,
wie familiengerichtliche Entscheidungen an Klärungsprozesse Anschluss
finden können. Diese Diskussion sollte nicht nur am einzelnen Fall,
sondern auch fallübergreifend geführt werden.
6. Zum Verständnis der Komplexität, Kindern im familiengerichtlichen Verfahren
nach § 1666 BGB gerecht zu werden
Es erscheint immer wieder verwunderlich, wie schwierig es ist, in Verfahren, in
denen es zentral um das Kind geht, eben dieses Kind gut im Blick zu behalten.
Fachkräfte der Jugendhilfe und Jurist(inn)en an den Familiengerichten sind
sich darüber einig, dass Kinder immer wieder in den Hintergrund geraten,
wenn Erwachsene sich (über sie) streiten. Welche grundsätzlichen Einsichten
über Kinder und Kindheit sind bedeutsam, denen sich die Akteure im
familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB bewusst sein müssen? Diese
hier skizzierten Hintergrundüberlegungen machen deutlich, wie komplex es
ist, ein vertieftes Verständnis für die (potenzielle künftige) Situation eines
Kindes und Möglichkeiten des Schutzes und der Unterstützung zu bekommen.
(1) Kinder sind Menschen in Entwicklung
Kinder werden als vollwertige Menschen geboren und müssen doch erst
zu selbstverantwortlichen Menschen heranwachsen. Dieses Paradox
unserer modernen Auffassung von Kindheit prägt wesentlich die Ideen und
Konzepte über diese Lebensphase menschlicher Reifung und Entwicklung,
Sozialisation und Erziehung. Medizin, Psychologie und Pädagogik haben
umfangreiche Daten gesammelt, um Entwicklungsprozesse, -einflüsse
und -kontexte zu beschreiben, und Theorien entworfen, um die Befunde
zu ordnen. Beispielhaft für relevante Theorien zu nennen wären etwa im
Anschluss an Charles Darwin formulierte Konzepte der Entwicklungsbiologie
und Entwicklungsneurophysiologie, die davon ausgehen, dass Kinder mit
Anpassungen und Anpassungsfähigkeiten bezüglich einer evolutionär
„erwarteten“ Umwelt geboren werden, diese Anpassungsfähigkeit aber auch
Grenzen kennt. Ebenso anzuführen wären ökologische Theorien, die auf Urie
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christian schrapper
Bronfenbrenner zurückgehen und die grundlegende Einsicht formulieren, dass
sich kindliche Entwicklung in verschiedenen Lebensfeldern (z. B. Familie
und Schule) vollzieht, die zudem in übergeordnete soziale Strukturen
eingebettet sind. Grundlegende Lern- und Entwicklungstheorien, etwa von
Hans Aebli, besagen weiterhin, dass Lernen auf sehr unterschiedlichen
Ebenen und in sehr unterschiedlichen Bereichen geschieht. Lernen kann
schrittweise erfolgen, aber auch qualitative Veränderungen beinhalten, etwa
im Hinblick auf das Zeitempfinden. Frühe Erfahrungen stellen in manchen
Fällen Weichen für bestimmte Entwicklungspfade, von denen später nur
noch schwer abgewichen werden kann. Schließlich betonen Theorien zu
Entwicklungsaufgaben, etwa nach Robert J. Havighurst, dass die Entwicklung
von Kindern auf die Auseinandersetzung mit aufeinander aufbauenden
Herausforderungen hin organisiert ist. Diese Entwicklungsaufgaben
strukturieren Entwicklung und erlauben Vergleiche. Teilweise sind sie
kulturabhängig (z. B. existieren Schulen und damit der Meilenstein der
Bewältigung von Schule nicht in allen Kulturen), zumindest aber kulturell
überformt.
Die Rechtsordnung in Deutschland unterscheidet zwischen dem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl von Kindern und nimmt damit diese
drei Dimensionen als Entwicklungsbereiche wahr, in denen jeweils Gefährdungen auftreten können. Im Hinblick auf Entwicklungsziele werden
wenige, aber grundlegende Vorgaben gemacht, wonach sich Kinder im
Rahmen ihrer Anlagen zu gemeinschaftsfähigen und zu Eigenständigkeit
befähigten Menschen entwickeln können sollen. Gemeinschaftsfähigkeit
und Eigenständigkeit als Entwicklungsziele beinhalten notwendig die
Vermittlung von Beziehungsfähigkeiten, sozialen Werten, nutzbaren Fertigkeiten und die Bereitschaft zu Eigenverantwortung. Zur Gestaltung von
elterlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Kindern formuliert das Recht
den Appell, Kinder ohne körperliche und seelische Gewalt zu erziehen (§ 1631
Abs. 2 BGB), und legt fest, dass Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend an sie
betreffenden Entscheidungen beteiligt werden müssen (§ 1626 Abs. 2 BGB).
Zudem wird bestimmt, dass Eltern ihren Entwicklungseinfluss mit der Schule
als einer für die soziale Integration und die Verteilung von Lebenschancen
wichtigen Institution teilen müssen. Im Rahmen dieser Festlegungen ist das
84
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
Recht prinzipiell offen für neue Erkenntnisse darüber, welche Bedürfnisse
Kinder haben und wie sich ein hierauf bezogenes Tun oder Unterlassen der
Eltern auswirkt.
(2) Kinder bedürfen der Fürsorge und des Schutzes sowie der Förderung und
Erziehung durch Erwachsene, haben aber ebenso Anspruch auf Freiraum und
Respekt für ihre Eigenständigkeit
Kindliche Bedürfnisse nach Pflege und Versorgung, nach Bindung sowie
nach Erziehung und Förderung werden in unserer Gesellschaft wesentlich
in Familien erfüllt bzw. durch (soziale) Eltern mitorganisiert und begleitet.
Manche Bedürfnisse können außerhalb der familiären Lebensverhältnisse mit
ihren überdauernden Beziehungen zwischen Generationen befriedigt werden.
Während dies bei Bindungsbedürfnissen kaum gelingt, erfolgt die Förderung
von Kindern zu erheblichen Teilen außerhalb von Familien. Trotzdem sind
familiäre Einflüsse auch hier mit Abstand für Unterschiede zwischen Kindern
am wichtigsten. Staatliche Versuche, im Einzelfall die Erfüllung kindlicher
Bedürfnisse außerhalb der Herkunftsfamilie zu organisieren, bergen die
Gefahr, Kinder sozial auszuschließen oder auch von ihrem Selbstverständnis
her negativ zu beeinflussen.
Aufgrund von Unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen in
Erfahrung, Einsicht, Handlungsfähigkeit und Stärke weisen Beziehungen
zwischen Kindern und Fürsorge- bzw. Erziehungspersonen stets
Machtungleichgewichte auf. Ganz überwiegend nutzen Eltern ihre
Macht positiv im Interesse ihrer Kinder, jedoch ist die Möglichkeit eines
Machtmissbrauchs dieser Beziehungsstruktur inhärent. Das Ausmaß, in
dem Kinder selbstschutzfähig sind, notfalls also auch selbst Hilfe für sich
holen können, und in dem Kinder reflexionsfähig sind, also über die Qualität
der Fürsorge durch ihre Eltern nachdenken können, sind zwei Aspekte, die
in Gefährdungsfällen mit darüber entscheiden, welche Interventionen als
verhältnismäßig angesehen werden können.
Trotz des Machtungleichgewichts gegenüber Erwachsenen sind Kinder
nicht einfach passive Empfänger von Fürsorge. Vielmehr prägen sie mit
ihren Merkmalen auch ihre Eltern (Bidirektionalität der Einflüsse). Darüber
85
christian schrapper
hinaus sind Kinder „aktive Akteure“, d. h. sie gehen etwa Bindungen ein und
verarbeiten Erfahrungen, indem sie lernen und sich anpassen. Auch Kinder
mit Erfahrungen von Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch
binden sich an ihre Bezugspersonen und suchen, unter den ungünstigen
Bedingungen ihrer Familie, nach Wegen, um ein größtmögliches Ausmaß
an guter Fürsorge und emotionaler Geborgenheit bei ihren Bezugspersonen
auszulösen. Zudem nutzen Kinder ihre Erfahrungen, um im Rahmen ihrer
Verständnismöglichkeiten Fragen und Angebote Dritter (z. B. des Gerichts) zu
deuten und darauf zu reagieren.
(3) Kinder und Kindheit sind Projektionsflächen vielfältiger und auch
widersprüchlicher Erwartungen
Neben den skizzierten wissenschaftlichen Konzepten sind wirksame Bilder von
Kindern und Kindheit im Alltag – auch im Gerichtssaal – durch romantische und
mythologische Vorstellungen über Kindheit und Jugendlichkeit geprägt: Kinder
und Kindheit erscheinen als noch ursprünglich, rein, unverfälscht – „Kinder
und Betrunkene reden die Wahrheit“ – noch nicht verdorben und lösen Impulse
von Schutz und Bewahrung aus. Was physiologisch mit dem Kindchenschema
erklärt werden kann, hat auch historische und kulturelle Wurzeln: Die
rasanten Veränderungen, die komplexen und komplizierten Realitäten
des modernen Menschen scheinen in der Kindheit noch auf einen heilen
Ursprung zurück-geführt werden zu können. Gelänge es, diesen zu finden
und zu bewahren, hätten wir eine Chance, wieder heile zu werden: „... und
werdet wie die Kinder“.
Wie nah allerdings Verklärung und Verachtung beieinander liegen, zeigt
semantisch das Begriffspaar „kindlich“ und „kindisch“. Mehr noch sind
Jugend und Jugendlichkeit ambivalent aufgeladene Begriffe – Jugendlichkeit
als Ideal für äußere Erscheinung und innere Haltung bis ins hohe Alter – aber
auch negative Assoziationen und Konnotationen treten deutlich zu Tage:
So klagt jede ältere Generation über die Faulheit und Unbotmäßigkeit der
Jugend. Kindheit und Jugend stellen damit Projektionsflächen zur Verfügung
für gesellschaftliche Widersprüche und Wandlungsprozesse, soziale
Hoffnungen und persönliche Erfahrungen ebenso wie für individuelle und
kollektive Träume und Ängste.
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
Auch die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren bei möglicher
Kindeswohlgefährdung stehen stets in der Gefahr, dass Bilder von Kindern
und Kindheit, guter Elternschaft und von Gefährdung, Eindrücke von den im
Fall konkret vorhandenen Personen und ihren Handlungen bzw. Erfahrungen
überlagern. Die Fülle der Fälle und die kurzen Kontakte, etwa im Rahmen
der Kindesanhörung, können es schwermachen, eigene Projektionen kritisch
zu hinterfragen. Projektionen können etwa in der Form auftreten, dass
aus dem Eindruck, den Kinder machen, vorschnell auf die Ernsthaftigkeit
von Gefährdungserfahrungen geschlossen wird oder sichtbare Spuren von
Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch ernster genommen
werden als psychische Folgen. Da es sich bei der Eindrucksbildung vor dem
Hintergrund eigener Erfahrungen und Bilder um einen unwillkürlichen
Prozess handelt, heißt die Aufgabe nicht, sie auszublenden, sondern den
eigenen Eindruck an belastbaren Informationen zum Fall zu reflektieren und
zu kontrollieren.
Fazit dieser Überlegungen für die Akteure im familiengerichtlichen Verfahren bei
Kindeswohlgefährdung kann zunächst nur sein, sich über die Schwierigkeiten,
Vieldeutigkeiten und auch Widersprüche, die bei der Einschätzung von Kindern
und ihrer Situation eine Rolle spielen, bewusst zu werden und zu sein. Es gilt vor
diesem Hintergrund,
· den Blick auf die Entwicklung des Kindes zu richten: Was ist nötig, um
zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in der Zukunft Entwicklungsprozesse
zu ermöglichen oder zu erleichtern? Welches Handeln oder Unterlassen
im Verantwortungsbereich der Eltern und welche Voraussetzungen bei
den beteiligten Institutionen lassen befürchten, dass Entwicklungsmöglichkeiten verstellt oder behindert werden?
· Es gilt, die Fürsorgebedürfnisse von Kindern wahrzunehmen und klar zu
benennen und gleichzeitig das Kind als eigenständigen Akteur ernst zu
nehmen. Nicht immer „funktionieren“ fürsorgliche Vorstellungen der
Erwachsenen. Das Kind profitiert nur von der Fürsorge, die es annehmen
und sich aktiv aneignen kann.
· Und schließlich müssen scheinbare Gewissheiten über das Kind, über
sein Wohl und mögliche Gefährdungen (immer wieder) überprüft werden.
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christian schrapper
Es ist wichtig, sich über eigene Bilder und Wertungen klar zu werden und
gegenteilige Einschätzungen sorgfältig auf ihren konstruktiven Gehalt zu
prüfen.
7. Das Kind in den Blick nehmen: Anforderungen an die Akteure im
familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB
In Verfahren bei möglicher Kindeswohlgefährdung können sehr verschiedene
Unsicherheiten auftreten:
·Welche Erfahrungen hat ein Kind mit den Eltern bislang tatsächlich
gemacht, und welche weitere Versorgung und Erziehung des Kindes
durch die Eltern ist zu erwarten?
·Wie sind die Erfahrungen des Kindes mit den Eltern und die zu
erwartende weitere Fürsorge im Hinblick auf die Gefährdungsschwelle zu
bewerten?
·Welche Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit zeigen die Eltern, und
welche Art des Eingriffs wäre ggf. noch als verhältnismäßig zu bewerten?
·Wie kann das Verfahren so gestaltet werden, dass es dem Kindeswohl
dient, es jedenfalls nicht zusätzlich gefährdet?
Aus dem Ziel, das Kind zentral in den Blick zu nehmen, ergeben sich
Forderungen nach sehr konkretem und genauem Hinschauen, die in fünf
Leitsätzen vorgestellt werden sollen:
(1.) Das Kind als konkretes Kind mit seinen Erfahrungen und Reaktionen in den
Blick nehmen
Im familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung müssen
die konkreten Erfahrungen und Reaktionen des Kindes erforscht und
dargelegt werden. Die meisten Verfahren nach § 1666 BGB betreffen
Kinder, die mit ihren Eltern gelebt und mit ihnen Erfahrungen gemacht
haben. Befunde zur Lebenssituation der Eltern, ihrer Art und Weise des
Auftretens gegenüber Jugendamt und Gericht sowie ihrer psychischen
Verfassung sind aber nur relevant, insoweit sie sich konkret auf die
Fürsorge und Erziehung des Kindes beziehen lassen. Vor allem Befunde zu
evtl. psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen sind häufig sehr
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
wichtige Hintergrundinformationen, bspw. im Hinblick auf erforderliche
Behandlungsangebote. Jedoch ersetzen solche Informationen nicht die
genaue Recherche, welche Fürsorge und Erziehung betroffene Kinder
tatsächlich bislang erfahren haben.
Da sich Eltern mit ein und derselben Diagnose in ihrer Erziehungsfähigkeit sehr
unterscheiden, stärkt die Konzentration auf die tatsächlichen Erfahrungen mit
Fürsorge und Erziehung die Orientierung am konkret vorhandenen Kind. Ist
es im Rahmen der Betreuung und Erziehung durch die Sorgeberechtigten zu
Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch gekommen, so reagieren
Kinder hierauf sehr unterschiedlich. In einem Teil der Fälle zeigen sich
Folgen, die geeignet sind, die Lebenswege betroffener Kinder nachhaltig zu
beeinflussen, wie etwa Entwicklungsverzögerungen oder Posttraumatische
Belastungsstörungen. Eine in manchen Fällen festzustellende Verengung im
Verfahren auf die Verhinderung gravierender einzelner Schädigungsereignisse
stellt insofern nicht das Kind in den Mittelpunkt, da sie wesentlich häufigere
und zudem erhebliche Schädigungen aufgrund chronischer, sich allmählich
aufbauender Belastungen übersieht. Es herrschen vielfach große Unsicherheiten,
wie chronische Schädigungsprozesse ohne lebensbedrohliche Einzelereignisse
von bloß ungünstigen familiären Lebensumständen abzugrenzen sind. Auch
hier ist es notwendig, die Reaktionen des Kindes genau in den Blick zu nehmen,
ggf. mit diagnostischer und gutachterlicher Unterstützung.
(2.) Das Kind mit den Möglichkeiten und Grenzen seiner Äußerungsfähigkeit in
den Blick nehmen
Mit dem in § 8a SGB VIII geforderten Einbezug betroffener Kinder in Prozesse der
Gefährdungseinschätzung, mit der Einführung der Verfahrensbeistandschaft
sowie mit der Rechtsprechung zur Anhörung von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB wurden in Deutschland wichtige Voraussetzungen geschaffen, um den geäußerten Perspektiven von Kindern mehr
Beachtung schenken zu können. Es stellt sich die Aufgabe, die Beteiligung von
Kindern so auszugestalten, dass diese gehört werden, sich gehört fühlen und
sich einbringen können. Dazu gehört auch die sorgfältige Dokumentation von
und Auseinandersetzung mit Äußerungen der Kinder.
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christian schrapper
Die bisherige Umsetzung der Beteiligung von Kindern ist häufig noch
unzureichend und enttäuschend. Sie ist zunächst einmal enttäuschend, weil
sich in vielen Verfahren nach wie vor keine oder nur banale Aufzeichnungen
zu Gesprächen mit Kindern finden, die darüber hinaus im weiteren Verlauf
auch keinerlei Rolle spielen. Enttäuschend ist die Situation aber auch deshalb,
weil Gesprächsansätze im Kinderschutzverfahren häufig bei Äußerungen
von Kindern zu einer Fremdunterbringung und zu im Raum stehenden
gravierenden Gefährdungsereignissen im Rahmen kurzer Konversationen
stehen bleiben. Damit jedoch wird auf der einen Seite die Situation von
Kindern, die häufig in ihrem bisherigen Leben wenig Anlass zu Vertrauen
gegenüber Erwachsenen hatten, auf schwer nachvollziehbare Weise
ignoriert. Ihnen wird zugemutet, mit einer weitgehend fremden Person
über ebenfalls weitgehend unbekannte oder von negativen Stereotypen
überlagerte Hilfemöglichkeiten zu sprechen. Auf der anderen Seite kommt
die für die Interpretation kindlicher Willensäußerungen notwendige
Ebene des erlebten Familienalltags und der Bilder des Kindes von Fürsorge,
Versorgung und Zugehörigkeit häufig nur unzureichend ins Spiel, sodass
kindliche Angaben im Verfahren oft schon deshalb wenig Beachtung finden,
weil große Unsicherheiten bezüglich der Interpretation bestehen oder
sogar unreflektiert von notwendig verzerrten Angaben ausgegangen wird.
Allerdings ist die derzeit hochgradig unbefriedigende Situation schwerlich
der Fachbasis vorzuwerfen, die kaum Angebote und Möglichkeiten
entsprechender Fortbildung hat und der zudem von den beteiligten
Fachwissenschaften auch wenig verwertbare Befunde für eine bessere
Praxis sowie Wertschätzung für das Fachthema „Gespräche mit Kindern im
Kinderschutz” vermittelt werden.
Mit dem Erstarken des Stellenwerts von Kinderrechten verbindet sich der
Anspruch, die Perspektiven von Kindern auf ihre eigene Situation stärker zu
berücksichtigen und Kinder nicht einfach als Objekte von (an sich häufig
vernünftigen) Experteneinschätzungen zu begreifen. Diese Entwicklung ist
prinzipiell geeignet, doppelten Ohnmachtserfahrungen von Kindern – erst in
der Familie, dann im familiengerichtlichen Verfahren – entgegenzuwirken.
Allerdings bedürfen Äußerungen von Kindern stets der Interpretation, damit
Kindern nicht unangemessen Verantwortung zugeschoben wird und sie in
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
ihrer kommunikativen Kompetenz überfordert werden. Angeregt wird in
Verfahren nach § 1666 BGB, regelhaft nach der Anhörung des Kindes schriftlich
protokollierte Auseinandersetzungen von Verfahrensbeistand, Jugendamt und
ggf. Sachverständigen zu den Äußerungen des Kindes einzufordern und zur
Akte zu nehmen, um Gerichte bei der Interpretation kindlicher Äußerungen zu
unterstützen.
(3.) Das Kind als Kind seiner Eltern in den Blick nehmen
Ist eine (zeitweise) Fremdunterbringung unumgänglich und nur durch
einen teilweisen Sorgerechtsentzug umsetzbar, so behalten die bisherigen
Bezugspersonen in der inneren Welt des Kindes, zumindest zunächst,
ihre Bedeutung. Wenn diese, auch nach einem Sorgerechtsentzug, dafür
gewonnen werden können, die ergriffenen Maßnahmen gegenüber dem
Kind mitzutragen, erleichtert dies Kindern i. d. R. die Anpassung an die
neue Situation. Auch bei erfüllten Tatbestandsmerkmalen für einen
Eingriff nach § 1666 BGB muss daher wenigstens versucht werden, die
bisherigen Sorgeberechtigten ins Boot zu holen. Mitgefühl für Eltern, die
am grundlegenden Wunsch gescheitert sind, das Beste für ihre Kinder zu
erreichen, kann dabei eine Rolle spielen und steht dem vorrangigen Schutz
des Kindes nicht entgegen, sondern dient ihm. Von großer Bedeutung
kann aber auch eine klare und einfache Sprache des Gerichts sein. Es ist zu
überlegen, ob Eltern in Kinderschutzfällen kostenlos eine Vermittlung von
Urteilen in einfacher Sprache erbitten können sollten, da diese Anforderung
von juristischen Fachkräften häufig als berufsfremd empfunden wird.
Das prinzipiell akzeptierte Ziel einer vorrangigen Wiederherstellung der
elterlichen Erziehungsfähigkeit steht praktisch vor den Schwierigkeiten,
dass Eltern manchmal keine Orientierung dazu erhalten, welche Schritte
vor einem Rückführungsversuch von ihnen erwartet werden. Viele Eltern
erhalten zudem während einer andauernden Fremdunterbringung keine
Hilfen zur Erziehung mit dem Ziel einer Wiederherstellung der elterlichen
Erziehungsfähigkeit. Die rechtliche Grundlage dafür ist in § 37 Abs. 1 S. 2,
3 SGB VIII gegeben, in der Praxis werden jedoch häufig keine Ressourcen
für diese Hilfen bereitgestellt. Vonseiten der Gerichte könnte hier überlegt
werden, bei Überprüfungen der Notwendigkeit eines fortbestehenden
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christian schrapper
Sorgerechtsentzugs nach § 1696 BGB regelmäßig Vormund und Eltern um
Auskunft zu bitten, welche Informationen zu Hürden gegeben wurden, die
vor einer Rückführung überwunden werden müssen, und welche konkreten
Hilfen zur Erziehung zur Widerherstellung der Erziehungsfähigkeit angeboten
wurden. Da Kinder die Kinder ihrer Eltern sind, besteht ein Zusammenhang
zwischen Kindeswohl und Familienwohl. Selbst wenn Kinder im Ergebnis
nicht bei ihren Eltern leben können, hilft das entschiedene Bemühen um die
Aufrechterhaltung der Familie doch, um – im Fall des Scheiterns – die dann
neue Perspektive des Kindes außerhalb der Familie absichern zu können und
für das Kind akzeptabel zu machen.
(4.) Das Kind mit seinem Bedürfnis nach Klärung und Perspektive in den Blick
nehmen
Das Bedürfnis von Kindern, die Vernachlässigung, Misshandlung oder
Missbrauch erleben mussten, nach Klärung ihrer Lebensperspektive verlangt
eine Weiterentwicklung der rechtlichen Situation. Es ist ein Weg dafür zu
suchen, die Bedeutung dauerhafter Perspektiven für Kinder nach Gefährdung
anzuerkennen und rechtlich höher zu gewichten. Für die Praxis stellt sich nach
neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen die Herausforderung, so schnell wie
möglich nach dauerhaft tragfähigen Lösungen zu suchen und Umplatzierungen
noch weitgehender zu vermeiden. Im familiengerichtlichen Verfahren nach
§ 1666 BGB wird geprüft, ob anstelle der bisherigen Sorgerechtsinhaber
eine andere Person die rechtliche Verantwortung für ein Kind übernehmen
muss bzw. welche anderen familiengerichtlichen Maßnahmen zur Abwehr
bestehender Gefahren erforderlich und geeignet sind. Eine langfristige Klärung
der Perspektive für das Kind steht zu diesem Zeitpunkt nicht im Vordergrund.
Vielmehr sind sorgerechtliche Maßnahmen des Gerichts so schnell wie möglich
wieder aufzuheben, und das Kind ist ggf. zurückzuführen.
Selbst bei der längeren Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie, die
ihrerseits unter dem Schutz des Grundgesetzes steht, gibt es im Familienrecht
keine konfliktunabhängige Möglichkeit, Kindern eine dauerhafte Perspektive
aufzuzeigen. Allenfalls kann nach § 1632 Abs. 4 BGB ein zur Unzeit erfolgender
Rückführungsanspruch abgelehnt werden. Jedoch hat die Rechtsprechung klar
herausgearbeitet, dass es hier nicht um eine Entscheidung über den dauerhaften
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im mittelpunkt und doch aus dem blick?
Verbleib eines Kindes in der Pflegefamilie gehen kann. Es ist daher festzustellen,
dass in Kinderschutzverfahren in Deutschland die Anerkennung der Bedeutung
einer kontinuierlichen Lebensperspektive für Kinder nur schwach abgebildet
und abgesichert ist, wenn diese außerhalb der Herkunftsfamilie liegt.
Zwar ist die Situation im Jugendhilferecht anders (§ 37 SGB VIII) und dortige
Klärungen können indirekt Bedeutung gewinnen, wenn über Beratung
ein – nachhaltiges – Einverständnis aller Beteiligten erreicht wurde. Kommt
ein solches Beratungsergebnis jedoch nicht zustande, ist die Festlegung des
Jugendamts zur Perspektive der Fremdunterbringung für das Familiengericht
weitgehend ohne Belang.
Im Ergebnis kann es daher sein, dass Kinder innerlich jahrelang große
Unsicherheiten bezüglich ihres Verbleibs aushalten müssen, ebenso wie
manche Eltern verführt werden, einen im Ergebnis aussichtslosen Kampf ums
Kind fortzusetzen.
Insoweit die erste ethische Verpflichtung von Fachkräften aller Berufsgruppen
darin besteht, nicht durch eigenes Handeln jemandem ohne rechtfertigenden
Grund zu schaden, ist hier eine große Herausforderung entstanden. Es stellt sich
die Frage, ob eine radikale Beschleunigung der gerichtlichen und Platzierungsverfahren möglich ist oder ob das System der Bereitschaftspflege oder anderer
Interimslösungen für manche Fälle aufgegeben werden muss. Auf einer übergeordneten Reflexionsebene könnte sich an dieser Problematik auch einiges
über Gefahren der Selbsttäuschung lernen lassen, wenn Hilfesysteme mit
positiven Zielen, aber unabhängig von empirischer Forschung entwickelt werden.
Auf der Einzelfallebene sind Verfahrensbeistände und Jugendämter zu ermutigen,
mehr als bisher in der Verfahrensdauer wurzelnde Belastungen von Kindern an
die Gerichte heranzutragen.
(5.) Das Kind als Nutzer und Ko-Nutzer von öffentlichen Angeboten in den Blick
nehmen
Zu einer Weiterentwicklung des familiengerichtlichen Verfahrens bei
Kindeswohlgefährdung gehört es auch, wissenschaftliche Erkenntnisse, die
Grundlagen für Entscheidungen bilden können, zu gewinnen. Dazu gehört
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Forschung zu den Wirkungen von Hilfen zur Erziehung, insbesondere auch
dazu, wie sich die (an die Eltern gerichteten) Hilfen auf die Kinder und ihre
Entwicklung auswirken. Auch für „Nutzer(innen)“, Sorgeberechtigte und
Kinder wäre es ein großer Fortschritt, würden sie über die Wirkungen
und Erfolgswahrscheinlichkeiten von Hilfen informiert. Kinder, die
durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch belastet oder
verletzt wurden, haben ebenso wie Eltern mit Einschränkungen der
Erziehungsfähigkeit Anrecht auf öffentliche Unterstützungsangebote.
Bislang normiert das Jugendhilferecht nur Beteiligungsrechte von Eltern
und Kindern bei der Festlegung von Hilfezielen und der Auswahl von
Hilfen. Als Nutzer bzw. Ko-Nutzer, die vermittelt durch ihre Bezugspersonen
profitieren sollen, gehen „Konsumentenrechte“ von Kindern in diesem
grundrechtsnahen Bereich aber noch weiter, wenn auch nur in ethischer
Hinsicht. Obwohl kaum gesicherte Erkenntnisse über die Wirkungen der
folgenreichen staatlichen Interventionen in das Leben von Kindern und
Eltern vorliegen, werden diese gerne auf ihre Rolle als Koproduzenten der
Wirkung von Hilfen verwiesen. Das ist nicht verkehrt, entlässt aber Anbieter,
Jugendhilfeplanung und politisch Verantwortlich in ungebührlich starkem
Maß aus der Verantwortung für die Weiterentwicklung wirksamerer
Hilfekonzepte. Ebenso fehlt es in der Regelpraxis des Kinderschutzes bisher
an in Modellprojekten zum Thema „Aus Fehlern lernen“ entwickelten
Ansätzen, um aus fehlgelaufenen Fällen wenigstens rückblickend Lehren
zu ziehen. Das hier grundsätzlich angesprochene Problem schwacher
Nutzerrechte kann nicht von einzelnen, i. d. R. hochengagierten Fachkräften
oder einzelnen Gebietskörperschaften bzw Trägern gelöst werden.
Hier sind Weiterentwicklungen in der Forschung und der Umsetzung
von Forschungsergebnissen in die Praxis unumgänglich, wenn nicht
Bemühungen in der Rechtsprechung, das Wohl von Kindern stärker in den
Mittelpunkt zu rücken, teilweise ins Leere laufen sollen.
Kinder in den Blick zu nehmen und entsprechende kindgerechte Entscheidungen zu fällen, bedeutet eben auch, sich soweit möglich auf Wissensbestände stützen zu können und nicht nur auf persönliche Erfahrungen und
Merksätze.
94
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
8. Was ist zu tun? Hinweise für eine Weiterentwicklung und Qualifizierung
familiengerichtlicher Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, die „das Kind“ in den
Mittelpunkt rücken
Wie kann ein Verfahren bei Kindeswohlgefährdung vor dem
Familiengericht so gestaltet werden, dass sowohl möglichst objektiv über
Kindeswohlgefährdungen und ihre Abwendung verhandelt und entschieden
wird, als auch die Kinder und Jugendlichen in ihrer Subjektivität verstanden,
berücksichtigt und beteiligt werden? Zu dieser zentralen Herausforderung
sollen abschließend fünf grundlegende Aspekte zur Weiterentwicklung und
Qualifizierung familiengerichtlicher Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung
herausgestellt werden.
· Basis für die Weiterentwicklung des familiengerichtlichen Verfahrens nach
§ 1666 BGB ist die Auseinandersetzung mit seinen rechtlichen Grundlagen.
Verletzungen kindlicher Grundrechte im Verantwortungsbereich der Eltern
können Eingriffe des Staats in die Eltern-Kind-Beziehung und damit die
elterlichen Grundrechte legitimieren. Die Akteurinnen und Akteure aus
Jugendhilfe und Gesundheit müssen sich immer wieder die schwer wiegende Bedeutung von staatlichen Eingriffen in die verfassungsgemäßen
Grundrechte von Eltern und das Eltern-Kind-Verhältnis in den Blick
zurückholen, während die Akteure aus Justiz und Gericht sich vergegenwärtigen müssen, dass mit ihren Entscheidungen auch im Sinne der
Grundrechte der Kinder auf Würde und Entwicklung (Art. 1 Abs. 1 und Art.
2 Abs. 1 GG) positive Perspektiven für diese eröffnet werden müssen.
· Kinder sind in diesen Verfahren Anlass und „Gegenstand“ der gerichtlichen Auseinandersetzung. Über ihr (zukünftiges) Leben wird entschieden. Sie sind daher strukturell und konkret – nach Alter und Erfahrung – in der schwächsten Position. Das gilt sowohl in Bezug auf ihre
Eltern als auch auf die professionellen Verfahrensbeteiligten. Eine Praxis,
die darauf zielt, dieses „strukturelle Manko“ durch eine bewusste und
geeignete Verfahrensgestaltung auszugleichen, erfordert erhebliche
Anstrengungen von den professionellen Beteiligten. Das Kind bewusst in
den Blick zu nehmen, ist keine „Kleinigkeit“. Die Anstrengungen werden
sich zum einen auf die konkrete Gestaltung des Verfahrens richten müssen,
95
christian schrapper
·
·
96
um zu sichern, dass Kinder gehört werden und sich gehört fühlen. Zum
anderen geht es auch darum, die Anschlussfähigkeit der fachlichen
Berichte und Anregungen an das materielle Recht sicherzustellen.
Das Kind muss in seinen Erfahrungen, Reaktionen und Perspektiven
präzise in den Blick genommen werden, Gefährdungen und begründete
Maßnahmen zu deren Abwendung konkret benannt sowie eine präzise
Vorstellung entwickelt werden, wie diese Maßnahmen eine positive
Entwicklung des Kindes (wieder) ermöglichen können.
Kinder haben den Anspruch und das Recht, in Verfahren, die so zentral
ihre aktuelle Lebenssituation und ihre zukünftigen Lebenschancen
betreffen, „im Mittelpunkt zu stehen“, allerdings so, dass sie nicht neuerlich
geschädigt werden. Eine Weiterentwicklung des familiengerichtlichen
Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung in diesem Sinne erfordert, dass
Verfahrensführung und -ablauf auf die Situation, Bedarfe und Bedürfnisse des Kindes abgestimmt werden und nicht zufällig erfolgen (etwa
Verzögerung durch lange Begutachtungszeiten) oder den jeweiligen
Vorlieben und Gewohnheiten der Beteiligten folgen. Voraussetzung dafür
ist, dass die professionellen Akteure in Justiz und Jugendhilfe Kriterien
dafür entwickeln, was ein Verfahren allgemein und für ein konkretes
Kind „leisten“ muss, um als gelungen bewertet zu werden. Die Gewichtung
von Ergebnisorientierung und Zügigkeit oder Prozessorientierung und
genaues Erforschen der Situation kann als ein erstes solches Kriterium
genannt werden.
Kinder „in den Blick zu nehmen“ erfordert von den professionellen
Akteuren auch und vor allem, ihren „Blick“ zu schulen und zu
reflektieren, um der immer erheblichen Gefahr zu begegnen, nur „das
Kind“ zu sehen, das sie sehen wollen. Um scheinbare Gewissheiten
über das Kind, über sein Wohl und mögliche Gefährdungen zu
überprüfen, ist es vor allem nötig, die aktive Beteiligung von Kindern
zu implementieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Durch
Gespräch und Beobachtung von Interaktion können unmittelbare
Äußerungen von Kindern zugänglich werden. Dabei muss im
Bewusstsein behalten werden, dass kindliche Äußerungen immer im
Kontext gedeutet werden müssen.
im mittelpunkt und doch aus dem blick?
Kinder haben ein Recht darauf, dass professionelle Akteure, die in Grundrechte
eingreifen, um Grundrechte zu schützen, „wissen, was sie tun“. Dieses Wissen
der professionellen Akteure muss sowohl erarbeitet als auch in der Praxis
wirksam berücksichtigt werden. Hierzu tragen vor allem Forschungen zu
Wirkungen des Handelns der staatlichen Gemeinschaft bei, also vor allem
der Justiz und der Jugendhilfe: Die Forderung nach einer vertiefenden
Wirkungsforschung zu staatlichen Interventionen setzt sich ab von ökonomischen Zielsetzungen (Erkenntnisse für eine gesteigerte Effektivität und
Effizienz gewinnen) und ist hier vor allem verfassungsrechtlich und verbraucherschutzrechtlich begründet. So einschneidende Eingriffe, wie sie
Entscheidungen in familiengerichtlichen Verfahren bei Kindeswohlgefährdung
regelmäßig darstellen, bedürfen auch einer besonders sorgfältig abgewogenen
Einschätzung und Beurteilung ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen.
Hierzu tragen weiter Fortbildungen und Qualifizierungen der Akteure und
Entwicklung ihrer Kooperationen und ihrer Organisationen bei. Hierfür sind
erhebliche Anstrengungen der Qualifizierung und Fortbildung für alle
Akteure im familiengerichtlichen Verfahren erforderlich, aber auch die Entwicklung und Erprobung praktischer Konzepte und Methoden für eine aktive
Beteiligung von kleinen Kindern, Gespräche mit Kindern in konflikthaft
aufgeladenen Situationen, die Interpretation und Dokumentation kindlicher
Äußerungen, Vorgehen und Gesprächsführung von Richter(inne)n bei Unklarheiten und divergierenden Einschätzungen der Beteiligten sowie angemessene
Informationen über das gerichtliche Verfahren für Eltern und Kinder.
Insgesamt ist eine kritische Revision der Praxis in Justiz und Jugendhilfe
unumgänglich. Im Kontext der zunehmend auch (fach-)öffentlichen
Aufarbeitung sog. „problematischer Kinderschutzfälle“ muss die Chance
genutzt werden, auch die Bedeutung und konkrete Gestaltung von
Verfahren vor Familiengerichten kritisch in den Blick zu nehmen. Gerade
für die Zusammenarbeit der professionellen Akteure sowie für die
Bewertung konkreter Formen der Beteiligung von Kindern können hieraus
weiterführende Erkenntnisse gewonnen werden. Erforderlich dafür ist
die Bereitschaft der involvierten Institutionen in Justiz und Jugendhilfe,
solche kritischen Revisionen auch jenseits bisher vorgesehener rechtlicher
Möglichkeiten zu vereinbaren.
97
R
michael winkler
Reformpädagogik
Um etwas ungewöhnlich zu beginnen, nämlich mit einem subjektiven und sehr
persönlichen Eingeständnis: Pädagogische Debatten lassen einen zuweilen fast
verzweifeln, gleich ob es sich um öffentliche Auseinandersetzungen handelt oder
um fachliche, gar um erziehungswissenschaftliche. Selbst wenn sich gut und
gerne nachvollziehen lässt, wie auf disziplinärer und erst recht auf professioneller
Ebene mit Ausdifferenzierung, mit einer Vielfalt der Auffassungen und Konzepte
gerechnet werden muss, bedrückt einen nicht nur, wie gering die fachlichen
Übereinstimmungen ausfallen. So als ob es keinen gemeinsamen Bestand an
Begriffen und Theorien gibt. Vielmehr irritiert, wie rasch die Urteile gefällt und
Verurteilungen vorgenommen werden – ohne Vergewisserung über Grundlagen,
über die Komplexität des Geschehens, ohne historische oder systematische
Klärung, wohl aber politisch und moralisch akzentuiert und entschieden, als ob
die Vorstellung von dem Korrekten jenseits sachlicher Prüfung und kritischen
Bedenkens möglich ist. Der Mainstream des Urteils reißt offensichtlich schnell
mit; gegen ihn zu schwimmen, ist wohl unmöglich, ebenso wenig das Innehalten
und die Prüfung der Lage.
Eine solche Debatte ist die um Reformpädagogik, die nun seit geraumer Zeit die
Gemüter erhitzt, in Publikumsmedien ebenso wie in politischen Gremien wie
auf fachlichen Tagungen.
Nun darf und sollte man weder überheblich noch ungerecht sein. Im Gegenteil:
Selbstverständlich setzen sich nicht wenige mit großem Wissen, kenntnisreich
und differenziert abwägend mit dem auseinander, was als Reformpädagogik
bezeichnet wird – um eine kurze Werbeeinblendung zu machen, mit der Bitte an
Sie, dranzubleiben: Eben hat Ralf Koerrenz ein spannendes Buch zur Einführung
in die Reformpädagogik veröffentlicht, eine Reihe von Einzelstudien sind
dem vorangegangen, die ihm ordentlich Kritik eingebracht haben. Weitere
Veröffentlichungen wären zu nennen, durchaus kontrovers diskutiert – so
gehört sich das schließlich. Nüchtern betrachtet bestimmen jedoch andere das
Gespräch und die Wahrnehmung, zum Teil mit verheerenden Folgen: Lange
99
michael winkler
wurde Reformpädagogik euphorisch in den Himmel gehoben und als allein
selig machend für einen modernen Unterricht gesehen. Dabei wurden weder
ihre dunklen Seiten gesehen, allzumal die politischen Aufladungen, dann die
seltsam männerbündischen und fatal erotischen Tendenzen, noch aber ist
klar geworden, dass manche Handlungsangebote eben nicht zu generalisieren
sind, weil sie Geltung nur für spezifische, oft elitäre Kontexte beanspruchen
können. Man darf nicht vergessen, dass und wie die – um es etwas platt zu
formulieren – linken, nämlich auf die Arbeiterklasse gerichteten Theorien
und Praktiken schon immer eher vernachlässigt wurden – übrigens nach
der Wende mehr denn je. Der Überbewertung korrespondiert nun heute eine
ziemlich törichte Abwertung, bei der Reformpädagogik in Bausch und Bogen
verworfen wird. Ein gefährlicher Vorgang. Reformpädagogik gilt nun als
irrational und von dunklen Mächten getrieben. Das aber gibt technokratischen
Modellen in der Pädagogik Raum, wie sie gegenwärtig fast überall beobachtet
werden können, in der Schule mit ihrer Orientierung an Kompetenzen und
Standards, in der Sozialpädagogik mit einer geradezu blinden Wut, Risiken und
Gefährdungen zu verhindern, mit einer Tendenz zu einer Pathologisierung
menschlichen Verhaltens. Zu einer Pathologisierung, bei der sich, nebenbei
gesagt, das Gefühl einstellt, alles soll der Psychologie unterworfen werden, dort
den Kognitionspsychologen hier den Verhaltenstherapeuten, die den Trotzanfall
eines Kindes als Störung nach DSM-Code 313.81 für behandlungswürdig halten.
1. Im Grunde steht also der Umgang mit der Reformpädagogik für das dreifache
Elend der Pädagogik schlechthin, leider auch der Erziehungswissenschaft:
· Zum einen fehlt den Auseinandersetzungen um Pädagogik die nötige
– um ein wenig ungewöhnlich zu formulieren – Esoterik, die eine
jede wissenschaftliche Disziplin sowie eine Profession unvermeidlich
auszeichnet und auszeichnen muss. Esoterik meint nicht Spiritualität –
hier besteht eher das Problem, dass Pädagogik ähnlich wie Psychologie
heute zu einer Form des Religionsersatzes gewonnen ist, mit Heilsversprechen, Erweckungs- und Bekenntnisformen operiert, wie das
gegenwärtig sehr schön dort zu verfolgen ist, wo man sich zu dem Gott
Bildung bekennt und von ihm die Rettung aller, der Gesellschaft wie
100
reformpädagogik
der Einzelnen, verspricht. Mit Esoterik ist vielmehr gemeint, dass jede
Wissenschaft und jede fachlich bestimmte Praxis über Begriffe, Theorien
und Praktiken verfügen muss, die sie spezifisch und exklusiv für sich
bestimmt, sodass sie nicht beliebig öffentlich verhandelt werden können.
Man kann dagegen argumentieren, dass Erziehung doch eine im Kern
unspezifische Angelegenheit sei, die in den Bereich des Privaten falle,
in den der Familie insbesondere, dass Unterricht hingegen weitgehend
mit Öffentlichkeit zu tun habe; beides spricht dafür, über pädagogische
Angelegenheiten doch so zu verhandeln, dass alle an diesem Gespräch
teilnehmen können. Für eine solche demokratische Beteiligung spricht
zwar einiges, in der Realität aber wird dennoch das fachliche Urteil
gefordert: Lehrerinnen und Lehrer sollen kompetent sein, guten und
insofern richtigen Unterricht machen; wer den Eltern zur Seite steht, sollte
pädagogisch und psychologisch geschult sein. Die Gesellschaft will also
pädagogische Spezialisten – übrigens in hochkritischem Ausmaße, weil
die Nebenfolge von Institutionen und Professionalität in Lebenspraxen
ignoriert wird, die auf Informalität angewiesen sind.
Die Spezialisten werden verlangt, sollen aber in einer Weise reden, denken
und handeln, dass jegliche Professionalität verschwunden ist. Selbst Fachleute
sprechen dann nur noch didaktisch, trivial oder mit wohlfeilen Worthülsen,
wo Fachtermini und Komplexität, wo Differenziertheit und Abwägung nötig
wären, um ein sachgerechtes und gegenstandsorientiertes Gespräch führen
zu können. Auf der Strecke bleibt nicht zuletzt die Einsicht in Spannungen
und Widersprüche, wie sie in einer guten Praxis bewältigt werden müssen.
Sie werden nicht benannt, um nicht zu überfordern, man will schließlich
verständlich und publikumsnahe sein sowie Worte vermeiden, die anstößig
erscheinen: Der Begriff des Zöglings beispielsweise soll vermieden werden,
inzwischen wird sogar der Begriff Erziehung mit einem Tabu besetzt, während
der der Bildung populär gemacht wird, obwohl er nur selten ernsthaft diskutiert
wird. Am Ende steht er dann nur für Schule und Unterricht. Damit wird die
Sache verfehlt. Denn Bildung ist nun etwas anderes als Schule und Unterricht,
man würde sich ja auch über den Arzt beschweren, der statt des Blinddarms
einen Teil des Ulkus entfernt. In der Pädagogik macht das aber offensichtlich
nichts aus. Erziehung ist dann – etwas grob formuliert – die Bearbeitung eines
101
michael winkler
Kindes durch einen Erwachsenen, der jenes nach seinen Zielen formt. Wer
jemals mit Kindern zu tun hatte, weiß, dass das nicht geht. Dennoch wird
so schlicht gesprochen – und bitter beklagt, wenn das Verfahren in der
Wirklichkeit nicht funktioniert.
· Zweitens leidet die Pädagogik unter einer inzwischen problematischen
Nähe zur Politik. Um nicht missverstanden zu werden: Pädagogisches
Denken und Handeln zeichnet immer eine politische Dimension aus,
weil es von der politischen Gemeinschaft verantwortet und in den
Grundorientierungen bestimmt wird, die von jungen Menschen erwartet
werden; es geht schließlich darum, sie zu befähigen, in eine politische
Gemeinschaft einzutreten, ihren Vorstellungen und Normen zu folgen oder
diese zu verändern. Und Pädagogik hat immer eine politische Dimension,
weil im Nachdenken über das gegenwärtige und künftige Leben einer
jungen Generation ein Entwurf für ein gutes Zusammenleben diskutiert
wird; Wohlbefinden beispielsweise wird immer eine politische Kategorie
sein, zugleich aber steht der Begriff als Leitvorstellung dafür, warum und
wie wir pädagogisch agieren. Aber auf dieser Ebene werden das zoon
politicon und eine historisch geprägte Vorstellung von Anthropologie
verhandelt. Bei der Debatte um Reformpädagogik geht es aber inzwischen
um eine andere Dimension des Politischen; sie hat auch mit der zunehmenden Ausdifferenzierung eines Systems von Politik zu tun, das mit sich
selbst beschäftigt ist und zuweilen vorrangig ein Politainment (Andreas
Dörner) betreibt, das auf die Umwelt des politischen Systems gerichtet ist:
In den Vordergrund rückt, welche politischen Auffassungen Autor(inn)
en und Praktiker(innen) hatten oder haben – und damit wird ihr Werk
be- oder verurteilt, zugleich wird die Nähe zur Bildungs- und Sozialpolitik
gesucht, wo es doch darum gehen müsste, ein fachliches Verständnis von
Pädagogik vielleicht sogar gegenüber dem zu verteidigen, was politisch
als wünschenswert gilt. Um es provokativ zu formulieren: Macht und
Herrschaft werden politisch und insofern moralisch diskutiert, nicht
aber als Asymmetrien, die mit Entwicklungsprozessen zu tun haben,
übrigens auch nicht – und das ist besonders ärgerlich – als Gleichheit in
pädagogischen Interaktionen; es gibt eine pädagogisch notwendige Form
der Partizipation in der Erziehung, die nicht preisgegeben werden darf.
102
reformpädagogik
· Drittens gelingt es der Pädagogik damit jedoch selbst nicht, ein
hinreichendes epistemologisches Bewusstsein zu entwickeln, mithin
Theorien als Versuche zu fassen, Erkenntnis in Sachen Pädagogik zu
gewinnen und praktische Entwicklungen als Versuche zu begreifen,
experimentell Wissen und Fähigkeiten zu sammeln, wie Erziehung (besser)
gelingen kann oder veränderten sozialen und kulturellen Umstände eher
gerecht wird. Mit anderen Worten: sie diskutiert sofort moralisch oder
politisch, aber nicht analytisch oder theoretisch; und das bedeutet, dass
eine Unterscheidung nicht gemacht wird, die im ersten Semester gelehrt
werden sollte, nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was eine Person
als Person, aufgrund ihres Charakters, vielleicht bedingt durch Umstände,
möglicherweise wegen ihrer moralischen Defekte anrichtet und anstellt,
auf der einen Seite, und dem, was sie gleichwohl geleistet hat, theoretisch
oder praktisch, das unabhängig von der Person beurteilt werden kann und
muss. So sehr das irritieren mag: Es gibt Pädagogen (wie übrigens auch
Philosophen, der Fall Heidegger gehört zu den besonders bekannten), die
politisch und sogar moralisch, letztlich persönlich kaum zu ertragen sind;
dennoch können sie die Erkenntnis vorangebracht haben. Ernst Krieck
wäre hier zu nennen (bei allen unsäglichen Schriften, mit welchen er sich
vergeblich den Nazis anzubiedern suchte), vielleicht wird Peter Petersen
ebenfalls einmal in diesen Kreis gerechnet werden (wobei man, nebenbei
gesagt, die Affinität der Jenaer Universität zum Nationalsozialismus nicht
verschweigen darf).
2. Damit steht dann endgültig das Thema Reformpädagogik zur Debatte.
Zum Warmlaufen darf aber noch eine kleine Geschichte zum Besten
gegeben werden, aus dem Sommer des Jahres 2014: Der Kultusminister
von Mecklenburg-Vorpommern wollte seinen Lehrerinnen und Lehrern
etwas Gutes tun und hat ihnen ein Exemplar von Enja Riegels „Schule kann
gelingen“ als Ferienlektüre geschenkt. Versehentlich wurde jedoch die vierte
Auflage nachgedruckt, nicht die aktualisierte fünfte. Sie unterscheiden
sich im Nachwort. Denn in der alten Auflage bedankt sich die Wiesbadener
Schulleiterin bei Gerold Becker für seine Unterstützung und dafür, dass sie bei
ihm so viel über guten Unterricht habe lernen können. Dieser Dank ist in der
neuen Auflage gestrichen, nachdem nun endgültig öffentlich geworden ist, in
103
michael winkler
welchem Ausmaße Becker sich an den Kindern vergriffen hat. Die Tatbestände
selbst waren bekannt. Aber Becker wie sein Mentor und Freund Hartmut von
Hentig galten dereinst als die strahlenden Größen der Pädagogik, Kritik an
ihnen durfte man nicht äußern, sie waren sakrosankt, heute werden sie aus der
Erinnerung verdrängt. Abgesehen von aller Heuchelei illustriert dies doch, was
eben als Hypermoralismus anstelle von epistemologischer Haltung beklagt
wurde. Denn: moralisch mag das zwar anstrengen, gleichwohl gilt: Wenn
Frau Riegel bei Gerold Becker gelernt hat, wie man guten Unterricht macht,
dann bleibt dies ein gültiger Tatbestand, der weiterhin Dank verdient, wie
verwerflich das Tun Beckers dann gewesen ist. Man kann schließlich den mit
dem Dank ausgesprochenen Tatbestand nicht tilgen, möglich wäre nur eine
relativierende Bemerkung zu Becker. Oder Frau Riegel muss eingestehen, dass
sie dann doch nicht das Richtige bei Becker gelernt hat, dass Prämissen des
Tuns ihr verborgen geblieben sind. Dann aber müsste sie ihr Buch insgesamt
revidieren. Offensichtlich ging es also in der Dankesbemerkung nicht um
Sachstrukturen, sondern vornehmlich darum, einem Heroen die Reverenz
zu erweisen, Heiligenverehrung zu betreiben; es ging um pädagogischen
Monumentalismus.
Das Problem besteht darin, dass mit solchen Formen letztlich ideologischer
Rhetorik Tür und Tor für pauschale Urteile geöffnet werden – wie das der
früheren nordrhein-westfälischen Kultusministerin Gabriele Behler. Sie
hat in der Wochenzeitung „die Zeit“ eine Generalabrechnung mit der
Reformpädagogik schlechthin vorgenommen, die in der Formel gipfelte:
„Die Reformpädagogik hat versagt“. Das ist kühn, um nicht zu sagen
tollkühn, spiegelt aber eine auf rhetorische Figuren reduzierte Debatte. In
dieser ist es nahezu unmöglich geworden, sachlich und begründet über
Reformpädagogik und darüber zu sprechen, was im Kontext des mit diesem
Ausdruck Bezeichneten an Einsichten und Erfahrungen gewonnen worden
ist. Sachlich und begründet – das würde zunächst einmal verlangen, dass
der Begriff der Reformpädagogik selbst kritisch infrage gestellt wird. Es
ist nämlich ziemlich unklar, was er eigentlich benennt. Jürgen Oelkers
hat einmal – einen Gedanken Luhmanns aufgreifend – gesagt, eigentlich
wäre alle Pädagogik Reformpädagogik, weil es immer um Verbesserung
wenigstens des Erziehungssystems gehe. Das klingt ganz witzig und ist
104
reformpädagogik
ein netter Gag, verdoppelt aber den schon angedeuteten Fehler, jeglichen
pädagogischen Text normativ und nicht als einen theoretischen Beitrag
lesen zu wollen, der uns ein Verständnis von Erziehung ermöglicht. Um
noch einmal ein Beispiel aufzunehmen: Kein vernünftiger Mensch wird
Rousseaus Emile als praktische Anleitung oder gar als Text zur Verbesserung
der Erziehungspraxis nehmen, obwohl der – wie er sich selbst nannte – Genfer
Bürger vielleicht sogar diesen Anspruch hatte. Die Pointe besteht jedoch
darin, dass Rousseau in seinem Roman und mit diesem gedanklich eine Art
Laborsituation konstruiert hat, in der die binnenstrukturellen Veränderungen
des Erziehungsgeschehens sichtbar wurden. Oelkers wandte sich dabei
zugleich gegen die üblich gewordene historiographische Einordnung, den
Begriff der Reformpädagogik für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930
zu reservieren. Tatsächlich aber können wir doch sehr genau historische
Epochen unterscheiden, in welchen formal gesehen die pädagogische
Publizistik häufiger und insofern vordergründig reformorientierter wurde.
Das war der Fall nach dem Dreißigjährigen Krieg, dann insbesondere
zwischen 1770 und 1820, endlich eben in dem schon angedeuteten Zeitraum
um die Wende zum 20. Jahrhundert. In all diesen Epochen musste die
Pädagogik aufgrund der historischen und gesellschaftlichen Umstände
neu gefasst und bestimmt werden, in all diesen Epochen wurden zentrale
pädagogische Erkenntnisse gefunden – was übrigens daran erinnert, dass
wir offensichtlich bei den pädagogischen Sachverhalten mit einer mehr
oder weniger anthropologischen Struktur zu tun haben, die immer wieder
neu, im Blick auf veränderte gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse
modifiziert werden muss. Man kann das so fassen: Es gibt ein pädagogisches
Problem, das zu erkennen ist, wenn in einer geschichtlichen Situation die in
der Gesellschaft bislang üblichen Traditionsmechanismen zusammenbrechen;
die Grundstruktur des pädagogischen Problems tritt nun hervor und konturiert
sich unter den gegebenen Bedingungen so, dass die pädagogische Praxis
neu organisiert werden muss. Platt formuliert: Pädagogik kann nun ihrer
Problemstruktur erkannt werden, die praktische Praxis als Lösung des
Problems muss gewissermaßen neu erfunden werden. Insofern kann es nun
gar nicht überraschen, dass um die Jahrhundertwende eine Vielzahl von
pädagogischen Ansätzen theoretisch, konzeptionell wie praktisch entwickelt
und erprobt worden sind: In dieser – wie Historiker gerne sagen – goldenen
105
michael winkler
Zeit des Kapitalismus war es schlicht unvermeidbar geworden, Erziehung neu
zu denken und zu gestalten – und zwar durchaus in einer Weise, die bis heute
nachwirkt. So verändert haben sich die Verhältnisse nicht.
Der Begriff der Reformpädagogik ist insofern nur mehr oder weniger
metaphorisch zu gebrauchen, als eine Art Überbegriff für einen Zeitraum, in
welchem viele Entdeckungen gemacht worden sind – von ganz unterschiedlichen
Akteuren und mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und Perspektiven.
Man muss genau hinschauen – und darf den Ausdruck Reformpädagogik nicht
als Begriff für eine einheitliche und klar definierte pädagogische Wirklichkeit
oder Konzeption nehmen. Das wäre Unfug, vor allem historisch problematisch,
weil man sich einen polemisch gemeinten Ausdruck zu eigen machen würde,
den einige Vertreter der Pädagogik genutzt haben, um sich disziplin- und
professionspolitisch zu positionieren. Sie wollten mit diesem Etikett die
sogenannten Herbartianer als konservativ desavouieren, die mit ihren Theorien
und – übrigens sehr klugen Praktiken – das Feld bislang beherrschten. Platt
gesagt: Mit dem Ausweis als Reformpädagogen wollten sich manche als
die besseren Pädagogen präsentieren und lukrative Positionen in der Politik,
der Verwaltung und den Hochschulen besetzen. Was übrigens durchaus
gelungen ist, mit dem Effekt, dass die Herbartianer in Deutschland nahezu
vollkommen verdrängt wurden, nicht so übrigens in Österreich oder den K. u. K.
Kronländern.
Nur: das war eine wissenschafts- oder sogar wissenspolitische Aktivität, die
aber keineswegs mit der Breite und der Vielfalt identifiziert werden kann,
wie sie sich in den pädagogischen Debatten und Handlungsfeldern zeigten,
übrigens in einer Vielzahl von Ländern – dennoch muss man skeptisch
gegenüber Auffassungen bleiben, die – wie Herman Röhrs das tut – von
einer internationalen Reformbewegung sprechen. Obwohl oder weil ein
reger Austausch stattgefunden hat, gab es massive Kontroversen zwischen
den Akteuren, bei vielen wissen wir gar nicht, ob sie einander kannten oder
nicht bloß ähnliche soziale und kulturelle Erfahrungen gemacht haben,
die sie zu vergleichbaren Erkenntnissen geführt haben. Um nur einen Fall
zu nennen: Janusz Korczak, der berühmte polnische Pädagoge, der mit
seinen dramatischen Rechten des Kindes bis heute für Furore sorgt – u. a.
106
reformpädagogik
fordert er ja ein Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod – wird zwar zur
Reformpädagogik gerechnet, Kontakte aber mit prominenten Vertretern
sind bislang nicht nachgewiesen. Zugleich finden wir in seinen Schriften
Ansätze wie bei Siegfried Bernfeld, sowohl soziologischer Art wie bis hin
übrigens zu Überlegungen, die durch die Psychoanalyse beeinflusst scheinen.
Anders gesagt: Die knapp fünfzig Jahre um 1900 bilden einen Zeitraum
der pädagogischen Entdeckungen und Erkenntnisse, um gewissermaßen
Erziehung und Unterricht in das Zeitalter der Moderne zu bringen – und
diese Erkenntnisse tragen und provozieren uns bis heute. Auf den einen
Nenner aber sind sie nicht zu bringen, wie er nun in positiver oder negativer
Konnotation mit dem Ausdruck Reformpädagogik versucht wird. Denn da
ist so viel Unterschiedliches entstanden und erkannt worden, dass eine
Pauschalformel gar nicht taugt.
3. Um nur einige Hinweise auf diese Vielfalt der Reformpädagogik in
alphabetischer Reihenfolge und somit einigermaßen willkürlich zu benennen:
· Bernfeld erkennt die prinzipiell konservative Funktion aller Pädagogik,
mithin ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen. Er beschreibt
aber zugleich das komplexe Zusammenspiel zwischen biologischen
Bedingungen, mit diesen vermittelten elementaren Sozialformen – etwa der
Urhorde – und den gesellschaftlichen Reaktionen auf diese, sowie endlich
das Problem der individuellen Einstellung und Haltung. Bernfeld konstituiert
so ein modernes Grundverständnis von Erziehung als Zusammenhang
natürlicher und sozialer Prozesse (das übrigens sowohl in der
Soziologisierung wie in der Psychologisierung der Pädagogik gegenwärtig
verloren geht).
· Blonski erkennt die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Erziehung,
entwirft eine Arbeitsschule, die der Idee von Marx folgt, mithin das – um
die Unterscheidung von vorhin aufzugreifen – Problem der modernen
Industrie ganz anders zu fassen versucht, als Kerschensteiner dies tut, der
eher an handwerkliche Traditionen anknüpft.
107
michael winkler
· Dewey entwickelt mit Kilpatrick eine Form des Unterrichts, der sich vom
Lehrplan verabschiedet und mit Projekten operiert, die im Alltag fundiert
sind und auf die Fundierung eines demokratischen Gemeinwesens
gerichtet ist – übrigens mit Anleihen bei dem deutschen Philosophen Hegel.
· Makarenko begründet eine differenzierte Kollektivpädagogik, die schon
aufnimmt, dass pädagogische Gruppen Submilieus bilden. Er entwirft
dann eine Pädagogik des Erziehungsprozesses, der Perspektiven folgt.
Diese Pädagogik hat als Theorie und Praxis inhaltlich bis heute Bestand,
obwohl sie aus politischen Gründen in Vergessenheit geraten ist. Über
einen Sowjetpädagogen darf man halt nicht reden, selbst wenn er als einer
der ganz wenigen die spezifische innere Dynamik von Pädagogik erfasst
hat, nämlich den Zusammenhang zwischen der Veränderung sozialer
Wirklichkeiten und der der inneren Wirklichkeiten junger Menschen, die
ihrerseits dann die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.
· Montessori begreift ebenfalls die Zusammenhänge zwischen sozialer
Herkunft und Erziehung, entwickelt aber eine Pädagogik der Individualität.
Sie sieht, wie das Kind in dem ihm gegebenen Raum sich selbst „polarisiert“
entwickelt, wobei seine individuelle spezifische Normalität als normgebend für das pädagogische Handeln gelten muss – noch bis zur Vorstellung seiner Renormalisierung gegenüber den gesellschaftlichen ihm
angetanen Verstörungen. Und wieder fällt übrigens auf, dass naturbedingte Entwicklungen, das Innere des Kindes in den Vorgängen der
Selbststeuerung sowie soziale Einflussnahme miteinander interagieren
– übrigens noch vermittelt mit einer Dimension der Transzendenz, die
bei Montessori durch Gott gegeben ist, nüchtern vielleicht als die Notwendigkeit einer utopischen Energie bezeichnet werden kann.
· Neill zeigt, wie Unterricht der Selbststeuerung des Kindes folgen kann
und dennoch Lernprozesse ermöglicht, die nicht nur dauerhaften
Bestand haben, sondern schon vorwegnehmen, was heute als Kompetenz
beschrieben wird. Selbst formale Lernprozesse lassen sich durch die Kinder
selbst entscheiden und organisieren, sie bestimmen, ob und wann sie in
die Schule gehen. Wider alle Unkenrufe erwerben sie selbst alles, was sogar
108
reformpädagogik
noch den ohnedies seltsamen Kriterien der Kompetenztests erforderlich
ist, die heute im Rahmen von large scale assessments durchgeführt
werden.
· Peter Petersens Jenaplan hebt alle Formen eines curricular und an der
Schulklasse ausgerichteten Unterrichts auf, um der selbstgesteuerten
individuellen Entwicklung Raum zu geben, die er zugleich in einen sozialen
Zusammenhang in der Schulgemeinde mit ihren Ritualen gewissermaßen
gegen die Gefahr absichert, nur noch als Individuum zu gelten und so Opfer
einer Überwältigung durch die Anforderungen moderne Arbeits- und
Konsumgesellschaften zu werden – übrigens kann Petersen auch für die
seltsamen Verdrehungen herangezogen werden, die eine Interpretation der
Reformpädagogik allein unter politisch-moralischen Gesichtspunkten nach
sich zieht. Ihm wird – wohl zu Recht – vorgeworfen, dass er als Professor
der übrigens als nationalsozialistische Kaderuniversität berüchtigten
Universität Jena Vorträge im KZ Buchenwald gehalten habe; unsicher ist, ob
er im Thüringer Wald bei der Ausbildung von Wehrmachtssoldaten und SSAngehörigen tätig war – es gab hier einen Namensvetter. Aber: ist damit
das Werk von Petersen diskreditiert, darf man seinen Namen nicht mehr
nennen, sich aber ungeniert der Jena-Plan-Pädagogik bedienen?
· Karl Wilker endlich hat gezeigt, wie Fürsorgeerziehungsheime als totale
Institutionen zu begreifen sind, sich aber in einem Prozess der Öffnung in
einen spannenden und guten Lebensort für junge Menschen transformieren
lassen, die sich so als Subjekte erfahren und erleben, übrigens nicht zuletzt
in ihrer Leiblichkeit, weil er mit ihnen auf ganz radikale Weise praktiziert,
was damals Freikörperkultur genannt wurde.
4. Man kann hier abbrechen, die Botschaft ist klar genug geworden: Jede
Rede von der Reformpädagogik schlechthin ist – vorsichtig formuliert –
ziemlich unscharf und erhellt nur wenig; weder in der positiven Affirmation,
in der blinden Verehrung für die Reformpädagogik, noch in der Ablehnung
lernt man wirklich etwas über Pädagogik. Nötig ist die Frage darnach, was
man bei pädagogischen Autoren, bei Theoretikern und Praktikern begreifen
kann. Nötig sind selbstverständlich Kritik und Prüfung. Noch einmal:
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michael winkler
schon in den 20er Jahren sind die Debatten kontrovers geführt worden,
um zuweilen sogar aus der Erkenntnis der kontroversen Einsichten in die
pädagogische Sachproblematik zu gewinnen. Einen schon fast klassischen
Beleg bietet das berühmte Buch von Theodor Litt über Führen oder
Wachsenlassen.
Doch nicht genug damit: Unter dem Vorbehalt, dass es darum geht zu
verstehen, was als Pädagogik in der modernen Gesellschaft gelten kann, wird
man hinter die damals gewonnenen Einsichten nicht zurück können. Sie
bilden die Grundlage eines modernen pädagogischen Denkens. Gleichwohl
muss klar sein, dass sie weder dogmatisch gelesen noch in Formen eines
technischen Handelns gegossen werden dürfen – wie das heute zunehmend
der Fall scheint, übrigens sogar bei jenen, die sich zur Reformpädagogik
bekennen. Um nur ein paar Kernpunkte solcher Erkenntnis zu nennen:
Deutlich ist geworden, dass pädagogisches Handeln begriffen und organisiert
werden muss als ein Prozess-Geschehen, bei dem die – um noch einmal den
alten Ausdruck zu verwenden –Zöglinge selbsttätig und selbstgesteuert
sich mit den Gegebenheiten der Welt auseinandersetzen, dass mithin die
Aufgabe zu bewältigen ist, Menschen in Entwicklungsprozessen Autonomie
und letztlich Freiheit in einem substanziellen Sinne des Ausdrucks zu
ermöglichen, bei dem die Zusammenhänge des sozialen Lebens mit
reflektiert sind. Reformpädagogik hat mit Autonomie und Freiheit zu tun, mit
dem, was heute technisch als Selbstwirksamkeit bezeichnet wird. Sie zeigt
Züge, die im Konstruktivismus wieder auftauchen, dort aber dogmatisch
verkürzt werden. Den Reformpädagogen war schon bewusst, dass und wie
jede Pädagogik mit einer objektiv gegebenen Welt zu tun hat. Das aber
bedeutet, dass Erzieher(innen) und Kinder nebeneinander stehen und
gemeinsam sich die Wirklichkeit zu eigen machen, dass eine sorgfältige
Balance gestaltet werden muss zwischen Gemeinschaft, Individualität und
dem, was wir als Beziehung bezeichnen. Dass Nähe und Distanz austariert
werden müssen; Entwicklungs- und Bildungsprozesse sind auf Begegnung,
Begleitung, auf eine Umfassung angewiesen, die den Schutz und das Gefühl
der Sorge ebenso impliziert wie eben doch die Sicherheit, nicht vereinnahmt
oder gar überbewältigt zu werden. Eben hier wäre festzuhalten, was Jürgen
Oelkers zuletzt kritisch notiert hat: die Bedeutung des Eros, die dann mit
110
reformpädagogik
Machtausübung und Überwältigung einhergeht, weil sie eben nicht kritisch
und kontrolliert zur Debatte gestellt wurde, als Einsicht in die Bedeutung
letztlich auch der Sexualität als einem wichtigen Antrieb menschlichen Lebens.
In der Tat darf man sich nichts vormachen: Herman Nohls Beschreibung des
pädagogischen Bezugs klingt mehr als schmierig, was dort als pädagogischer
Eros bezeichnet wird, fand ich schon als Erstsemester eklig und ziemlich
widerwärtig. Es ist auch theoretisch falsch und in der Sache der Erziehung
nicht angemessen, den Bezug oder die Beziehung als Kern des Geschehens zu
begreifen. Nur: nicht minder gefährlich ist es, die Dimension der erotischen
Zuneigung ebenso wie die der Ambivalenzen ausblenden zu wollen, so zu tun,
als ob – um bewusst diesen Ausdruck aufzunehmen – Liebe keine Rolle spielt,
als ob Sexualität in einer neokonservativen Verdrängung und Verklemmung
erledigt werden könnte. Urie Bronfenbrenner hat einmal gesagt, dass die
Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen darin besteht, dass ein Kind
fühlt, wie jemand verrückt nach ihm ist. Das ist eine gefährliche Formulierung,
die aber präzise die Gefährlichkeit des pädagogischen Geschehens bezeichnet,
um die wir wissen müssen – die wir aber eben auch nicht los bekommen.
Insofern gilt: Es kann niemand heiliggesprochen werden. Nicht wenige der
Pädagoginnen und Pädagogen in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten
Jahrhunderts waren ziemlich schräge Vögel, die eine falsche Theorie
und eine falsche Praxis betrieben haben. Sie haben Grundprämissen von
Pädagogik ignoriert. Manche werden bis heute zitiert und in Einführungen
wie Vorlesungen präsentiert – ganz ohne die nötigen Zusatzbemerkungen:
Ellen Keys Buch Das Jahrhundert des Kindes ist beispielsweise ein schier
unerträgliches Machwerk aus sozialdarwinistischen und rassekundlichen
Versatzstücken, das für Euthanasie eintritt. Und dennoch hat sie eine
Denkposition gesetzt, die das öffentliche pädagogische Denken geradezu
revolutioniert hat; auch schlechte Bücher können Wichtiges bewirken: Kinder
sind als Personen ernst zu nehmen, sie haben einen Status, der durch alle
Erziehungsabsicht nicht verletzt werden darf. Mehr noch: Erziehung muss so
gedacht und organisiert werden, dass doch immer schon Anerkennung und
Gleichheit mit ihr verbunden sind. Korczak hat das viel radikaler und klüger
formuliert, dabei diese Pädagogik in all ihren Konsequenzen ausbuchstabiert
(soweit, dass seine Pädagogik mit allem bricht, was vorher über Pädagogik zu
111
michael winkler
lesen war) – und Bernfeld ernüchtert uns, indem er sagt: in einer Gesellschaft
der Klassenverhältnisse wird die Pädagogik ebenfalls Ungleichheit mit
transportierten.
Nicht minder sind jene dann als gefährlich zu erinnern, die – wie Lietz – die
Abgeschiedenheit des Landerziehungsheims und seine charismatisch zu
nennende Stellung ausgenutzt haben, um junge Menschen buchstäblich zu
vergewaltigen. Die Odenwaldschule, gepriesen und als Hort moderner Pädagogik
gefeiert, war wohl immer schon ein Ort der Abgründigkeit. Nur: daraus ein
Verdikt über die Reformpädagogik ableiten zu wollen, grenzt an Absurdität.
Denn es waren auch Pädagogen, die heute der Reformpädagogik zugeordnet
werden, welche die Machtprozesse in der Pädagogik aufgedeckt haben, wie
gefährlich das Bündnis zwischen kontrollierendem Staat und Erziehungssystem
werden kann. Die Kritik an der Heimerziehung hat ihren Ursprung in den
Gegenmodellen der 20er Jahre. Das Wissen um die totalen Institutionen und
die Gefährdung durch jegliche Form von Institution ist damals entstanden. Man
muss schon arg ignorant sein, um so zu tun, als wären die Reformpädagogen
schlechthin schuld daran, wenn in Institutionen Übergriffe und Gewalt
begegnen. Nein: wer sich mit ihnen beschäftigt und sich von ihnen belehren
lässt, wer sich mit ihrer Kritik auseinandersetzt, wird erkennen, dass und
wie Institutionen eben gefährlich sind; es täte uns allen gut, diese Einsichten
angesichts des blinden Vertrauens in Institutionen der Elementarpädagogik
wieder aufzunehmen.
Um noch einmal an die anfangs ausgesprochene Verwunderung über die
Debatte anzuknüpfen: Es ist schlicht und einfach nicht zu verstehen, dass
und wie pädagogische Debatten immer wieder als Glaubensbekenntnisse
für oder gegen die Reformpädagogik und zugleich mit einer Naivität
und in einer Trivialität geführt werden, die unter jeglichem Niveau
historischen und – notabene – rationalen Denkens bleiben. Dabei lässt sich
der Affekt gegenüber der Reformpädagogik noch insofern nachvollziehen,
weil er aus dem Motiv eines Ennui, einer Überdrüssigkeit an dem
dauernden Reform- und Innovationsgerede erwächst, mit dem wir in allen
Zusammenhängen des Erziehungs- und Bildungssystems konfrontiert
werden – und das sich bei näherer Betrachtung als ziemlich schal und meist
112
reformpädagogik
durch Kostenminimierungsvorstellungen gespeist erweist. Nur: mit den
Einsichten in das pädagogische Denken hat das wenig zu tun – im Gegenteil:
Sie widersprechen eigentlich dem, was an Einsichten zur Verfügung steht.
Möglicherweise muss aber die Kritik an reformpädagogischen Ansätzen
durchaus als Teil einer Tendenz gesehen werden, mit der neue Formen von
Herrschaft und Kontrolle durchgesetzt werden sollen, möglicherweise sogar
als ein fataler Nebeneffekt von durchaus fortschrittlich gemeinten Initiativen,
die sich dann zum Büttel von Aktivitäten machen, die ihrer eigenen Intention
widersprechen. Was gegenwärtig unter dem Vorzeichen von Bildung passiert,
hat ja durchaus trübe Dimensionen der Zurichtung von Arbeitskräften für
eine zynische und menschenverachtende kapitalistische Ökonomie. Und
ähnliches könnte man ja auch für die Kinder- und Jugendhilfe sagen: Wenn
Kinderschutz dazu pervertiert, buchstäblich alle Familien als riskant zu
überwachen und in ihren Leistungen infrage zu stellen, dann wird damit eben
Kontrolle etabliert, die wenig mit Autonomie und Freiheit zu tun hat. Wenn
in Heimen Partizipation infrage gestellt wird, um stattdessen rigoros Normen
zu überwachen, dann bleibt auf der Strecke, was man vor wenigen Jahren als
Emanzipation bezeichnet hat – nämlich die pädagogische Leistung, Autonomie
und Selbstbestimmung zu ermöglichen.
113
michael winkler
Literatur
Koerrenz, Ralf (2014): Reformpädagogik. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh.
Zur Geschichte mit Enja Riegels Buch finden sich zahlreiche Belege. Ich nenne
hier einen:
http://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Brodkorb-laesstPaedagogik-Buch-zurueckrufen,buchrueckruf100.html [11.1.2015]
114
W
birgit maschke
Wie viel Parteilichkeit ist kindgerecht?
Wie parteilich ist systemischer Kinderschutz?
Und was ist eigentlich der Unterschied?
Ergebnisse einer Telefonbefragung
Fallbeispiel
In der zweiten Klasse einer Grundschule wurde mit Kindern und Eltern
ein Projekt zur Stärkung von Kindern zum Schutz vor sexueller Gewalt
durchgeführt. Anlässlich dieses Projektes sucht die Mutter der siebenjährigen
M. das Gespräch mit ihrer Tochter, um diese auf ihr Recht hinzuweisen, alleine
über ihren Körper bestimmen zu dürfen. Sie sagt M., dass ihr das ja bestimmt
noch nicht passiert sei. Als M. nicht eindeutig verneint, hakt sie nach.
M. erzählt darauf, dass sie einmal auf dem Rücken von Herrn X (Angestellter
der Schule) saß und dieser sie „da“ gekitzelt hätte (zeigt auf den Unterbauch).
Als sie ihm sagte, dass er aufhören solle, hätte er das auch sofort gemacht und
gesagt, sie solle das niemandem erzählen.
Die Eltern wenden sich an die Rektorin der Schule und fordern eine
Versetzung des Angestellten.
Im weiteren Verlauf kommt es schnell zu Spaltung und hoch emotional
gesteuerten Deutungsprozessen und Interventionen. Die Eltern wenden sich
zeitnah um Unterstützung an eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
mit spezifischer Fachkompetenz gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und
Jungen. Die Rektorin holt sich Fachberatung, als eine Verständigung nicht
mehr gelingt. Die beiden Fachkräfte, die nun das System Schule und die Eltern
beraten, geben im weiteren Verlauf zum Teil gegenteilige Empfehlungen zu
grundsätzlichen Fragstellungen.
117
birgit maschke
Entstehung der Idee für die Telefonbefragung
Seit 30 Jahren arbeite ich im Themenfeld Kinderschutz. Ich bin beruflich
sozialisiert in einer damals sogenannten „parteilichen Beratungsstelle“ gegen
sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Als junge Frau erlebte ich eher in
zweiter Reihe die „Grabenkriege“ zwischen Vertreter(inne)n der systemisch
und analytisch orientierten Kinderschutz-Zentren und Frauen der feministisch
und politisch orientierten parteilichen Beratungsstellen. Gegenseitig wurde
sich damals fachlich falsches und schädigendes Vorgehen vorgeworfen.
Nach vielen Jahren praktischer Berufserfahrung im Feld Kinderschutz und
zahlreichen überwiegend systemisch orientierten Weiterbildungen war ich
überrascht, als ich in diesem Jahr (2014) mit obigem Fallbeispiel befasst war.
Ich war erstaunt über die zeitnahe Empfehlung der Kindertherapeutin an die
Eltern, es hätte keinen Sinn, wenn sie selbst oder eine andere Fachkraft in
Gesprächen mit dem Kind und auch der Mutter die beschriebene Situation
noch einmal fachlich und mit Zeit explorieren würde. Auch das persönliche
Einbringen ihrer fachlichen Einschätzung als Vertreterin von Eltern und Kind
in eine Hilfekonferenz (auf Wunsch der Eltern) gelang nicht.
Gleichzeitig erleben wir zurzeit eine erhebliche Medienpräsenz des Themas
sexuelle Gewalt, die – wie in den breiten Medien üblich – hoch emotional und
polarisierend geführt wird. Auch in eigenen fachlichen Zusammenhängen
begegnete mir diese Polarität vereinzelt wieder neu.
Dies zusammengenommen entstand der Wunsch herauszufinden, wie die fachlichen Haltungen und Orientierungen in diesem Themenfeld in Deutschland heute
sind. Insbesondere interessierten mich Antworten auf die Frage, ob es noch heute
einen Unterschied macht, wenn ich mich als Eltern oder Fachkraft mit meiner Bitte
nach Beratung und Unterstützung an eine „parteilich orientierte Beratungsstelle“
wende oder an ein Kinderschutz-Zentrum / eine Erziehungsberatungsstelle.
Aufbau und Rahmen der Telefonbefragung
Zunächst suchte ich mir eine Partnerin für mein Projekt. Sie sollte in einer
spezialisierten Beratungsstelle arbeiten, in deren Konzept die parteiliche
118
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
Orientierung für betroffene Mädchen und Jungen von sexueller Gewalt
formuliert ist. Diese Partnerin für das Projekt fand ich in Birthe Roden, angestellt
bei der Beratungsstelle Zornrot e. V. in Hamburg-Bergedorf.1
In Abstimmung mit ihr entstand der Interviewleitfaden.
Unser Ziel war es, Haltungen von Fachkräften einzusammeln, die seit vielen
Jahren Berufserfahrungen in diesem Themenfeld haben.
Die Befragung erhebt keinerlei wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist
unter der Rubrik: „Fachkräfte aus der Praxis befragen andere Fachkräfte aus
der Praxis“ anzuordnen. Die Gespräche wurden nicht auf Band aufgezeichnet,
sondern während der Telefonate in Stichworten von uns mitgeschrieben. Die
so entstandenen ausführlichen Protokolle sind auf der Seite der KinderschutzZentren veröffentlicht.2
Befragt wurden jeweils zehn Fachkräfte aus Arbeitskontexten, die ihr Angebot
auf das Themenfeld sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen spezialisieren,
und Beratungsstellen, die im weiteren Feld Kinderschutz tätig sind, jeweils aus
dem ganzen Bundesgebiet.3
Ausgewählt wurden ausschließlich Fachkräfte, die seit vielen Jahren und bis
heute Eltern oder Fachkräfte beraten, wenn diese sich Sorgen um das Wohl eines
Mädchens oder Jungen machen, sie könnten durch eine Bezugsperson sexuelle
Gewalt erfahren.
Sie sollten mindestens 50 Jahre alt sein.
Die Fachkräfte, die wir fragten, ob sie bereit wären, ein ca. halbstündiges
1 Birthe Roden, Lehrerin für die Grund- und Mittelstufe, staatlich anerkannte Erzieherin, systemisch-integrative Beraterin, insoweit erfahrene Fachkraft nach § 8a SGBVIII, Traumafachberaterin DeGTP. Angestellt in der Fachberatungsstelle Zornrot e. V., Hamburg-Bergedorf. Beratung und Therapie für direkt und indirekt von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche, für Angehörige und für Fachkräfte, ebenso Prävention und Intervention sowie Fortbildung und Fall-Supervision. www.zornrot.de / [email protected].
2 www.kinderschutz-zentren.org.
3 Genauer: Fachkräfte aus Beratungsstellen, die auf sexuelle Gewalt spezialisiert sind (n=9) und eine auf das Thema spezialisierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (davon ein Mann) sowie Fachkräfte aus Kinderschutz-Zentren (n=7) und Erziehungsberatungsstellen (n=2) und eine Fachberatungsstelle angesiedelt im Jugendamt (davon zwei Männer).
119
birgit maschke
Telefoninterview zu machen, fanden wir durch berufliche Kontakte,
Mundpropaganda und Internetsuche.
Die gestellten Fragen sind unterteilt in drei Themenabschnitte mit jeweils einem
offenen und einem geschlossenen Fragekomplex. Im ersten Themenkomplex
geht es um die Formulierung eigener allgemeiner Grundhaltungen. Im zweiten
um spezifische Merkmale – ggf. auch in Abgrenzung zur anderen fachlichen
Ausrichtung. Der dritte Themenkomplex befasst sich spezifisch mit den
Grabenkriegen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre und der Frage nach den
Auswirkungen, die diese hoch emotional geführte Debatte auf fachliches
Handeln damals und heute hatte.
Frau Roden interviewte die Fachkräfte der auf sexuelle Gewalt spezialisierten
Beratungsstellen, ich die Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren und
Erziehungsberatungsstellen.4
Ergebnisse der Telefonbefragung
An dieser Stelle geht unser Dank an die Fachkräfte, die uns ihre Haltungen
und Erfahrungen in den Interviews zur Verfügung stellten. Die geführten
Interviews waren durchweg auf einem fachlich hohen Niveau, reflektiert und
anregend und für unsere eigene fachliche Entwicklung ein Gewinn!
Bevor ich im letzten Teil dieses Artikels, die für mich herausragenden
Lernerfahrungen formuliere, gebe ich in diesem Abschnitt einen Überblick
über die Ergebnisse, die uns bei der Auswertung und dem Vergleich der
Antworten beschäftigten. Dabei verwende ich aus Gründen der Lesbarkeit im
Folgenden die Bezeichnungen Spezialisierte Beratungsstellen und KinderschutzZentren.
Auf die Frage nach handlungsleitenden Theorien und Grundüberzeugungen im
Themenfeld Vorgehen bei Verdacht der sexuellen Gewalt gegen Mädchen und
Jungen durch eine Bezugsperson5 springt die unterschiedliche Häufung von
Begrifflichkeiten ins Auge. Während Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren bei
4 Bis auf jeweils eine Ausnahme.
120
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
den ersten zwei offenen Fragen häufiger Hypothesenvielfalt und ein nicht zu
schnelles Festlegen hervorheben – betonen die spezialisierten Beratungsstellen
vermehrt den Schutzaspekt (das Wort Schutz wird von diesen z. B. doppelt so
häufig genannt wie bei den Kinderschutz-Zentren (10 zu 5).
Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren:
… Interessen aller Beteiligten im Blick halten und berücksichtigen …
… Sexuelle Übergriffe kommen vor – wir müssen aber sehr genau hingucken.
Aus professioneller Sicht ist es richtig, sich einem Verdacht nicht sofort
anzuschließen. Selbstverständlich kann es sein – selbstverständlich kann es
auch andere Gründe geben …
… Wir dürfen nicht zu schnell festgelegten Begrifflichkeiten folgen …
… Grundsätzlich ist der 1. Schritt, die Aussagen ernst nehmen. Im 2. Schritt
alternative Hypothesen prüfen, wie lässt sich das, was das Kind gesagt hat,
vielleicht auch anders erklären? 3. Schritt: das Umfeld des Kindes genauer
anschauen und im 4. Schritt schauen, wen man zur Klärung noch mit
einbeziehen kann. … eher nicht der parteiliche Ansatz, sondern insgesamt, die
Familie im Blick haben und eher ein umfassendes Konzept …
… Oberstes Prinzip ist es, Ruhe zu bewahren, nicht überstürzt handeln –
Ausnahmen sind hier natürlich die klaren Aussagen eines Kindes, ich will
nicht mehr nach Hause – aber das ist ja nicht die Regel … an der Seite des
Kindes bleiben und die anderen mit einbeziehen …
… Nicht gleich in Panik geraten, erst in Ruhe schauen, welche Erklärungen
noch für die Verhaltensauffälligkeiten infrage kommen, keine
Vorverurteilung, offene Herangehensweise.
Da geht es ja schon gleich los … was ist handlungsleitend, und was ist
Theorie? … Es geht darum, erstmal in Kontakt zu kommen … wer hat was, wo
erlebt und worum geht es? … es gibt immer unterschiedliche Konstellationen
und Kontexte.
Ausgewählte Zitate spezialisierte Beratungsstellen:
… zielorientiert zum Schutz des Kindes mit individuellem Vorgehen …
… immer erst nehmen; wer zu uns kommt, egal, bei was, wird ernst genommen …
5 Fragen 1.1 und 2.1.
121
birgit maschke
… Ich arbeite parteilich für die betroffenen Kinder -> äußere Sicherheit, d. h.
der Missbrauch muss aufhören, der Schutz der Kinder muss gewährleistet
werden …
… Es geht primär um den Schutz der Kinder, erstes Prinzip unabhängig vom
Verdacht und davon, ob es real oder unbegründet ist …
… Oberste Priorität: Schutz des Kindes, immer individuell …
… Der zentrale Punkt ist der Schutz der betr. Kinder: Äußere Sicherheit geht vor …
Gleichzeitig lassen sich aus jeder Richtung auch Gegenbeispiele finden, die
zum Teil gleichzeitig wieder relativiert werden:
Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren:
… Kinder müssen geschützt sein …
… Ziel ist immer, in Sicherheit aufwachsen, so sicher, wie möglich.
… zunächst mit den Betroffenen sprechen …
… Ich gehe davon aus, Missbrauch hat stattgefunden, wenn ich davon höre –
und prüfe auch andere Möglichkeiten …
… Ich nehme zwar, was das Kind sagt, ernst – heißt nicht, dass ich es
wortwörtlich übernehme, trotzdem eine klare Haltung gegenüber der Tat,
also was ich als solche bezeichnen würde – …
Ausgewählte Zitate spezialisierte Beratungsstellen:
… Grundüberzeugung: Wertschätzung, Transparenz, größere
Zusammenhänge betrachten, Druck nehmen, Ressourcen aktivieren …
… und immer haben wir auch im Blick, dass mehrere Institutionen sich
im Hilfenetz befinden; auch: aus der Distanz heraus betrachten, bei
einer Verdachtsbewertung schlagen die Wogen mitunter sehr hoch, trotz
Parteilichkeit nicht auf eine Seite ziehen lassen, auf jeden Fall unterstützen
und beraten.
Das andere Prinzip ist, dass wir so viele Informationen erhalten und in alle
Richtungen orientiert sind, wir öffnen uns …
… Nach Einholen aller verfügbaren Informationen: Erstellung Plan A,
immer auch Plan B, Plan A wird fortwährend überprüft anhand von neuen
Informationen …
… ‚Das Denken in Beziehung‘; Verdachtsfall in Bezug sehen und nicht
122
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
vereinzelt, und: alle Faktoren und Personen sehen; …vielleicht ist das der
Unterschied zu rein parteilich arbeitenden… Dennoch: ich arbeite in einer
parteilichen Beratungsstelle und vertrete die Interessen meiner Klientin; aber
die strikte Trennung zwischen Täter und Opfer ist meiner Meinung nach nur
Theorie, eine Ausblendung der Realität …
… Wir integrieren parteiliche und systemische Arbeit; wir haben immer
das Ganze im Blick und arbeiten nicht dogmatisch systemisch. Wir
arbeiten vernetzt und sensibilisieren die Erwachsenen, ebenso arbeiten wir
geschlechterorientiert …
Mit der ersten geschlossenen Frage baten wir die 20 befragten Fachkräfte
darum, sich dem methodischen Vorgehen der Kategorie zuzuordnen, welche am
ehesten ihrer methodischen Haltung entspricht. Dabei konnten sie auswählen
zwischen:
a)parteilich
b)systemisch und
c) keine der beiden, sondern …
Fünf Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren ordnen sich hierbei der Kategorie
„systemisch“ zu. Zwei der Antwort „parteilich“.
Drei wählen c) als Antwort, wovon zwei ausführen, dass sie sich beiden
Kategorien zuordnen, und eine Fachkraft eine dritte Kategorie benennt:
c) Das ist kein Widerspruch: parteilich für Opfer und systemisch drauf gucken, es geht nicht darum, es allen Recht zu machen.
Kinder sind die schwächsten Glieder, es ist selbstverständlich dass sie parteilichen Schutz genießen.
c) parteilich und systemisch
systemisch = es betrifft immer alle im System, die Verschiebungen, die es gibt, müssen berücksichtigt werden und gleichzeitig parteilich für das Kind.
c) keines der beiden – das sind Schlagworte, hinter denen ideologisches Kon strukt steht, ich würde eher etwas Beziehungspsychodynamisches wählen.
Nur drei Fachkräfte der spezialisierten Beratungsstellen ordnen sich selbst
ausschließlich der Kategorie „parteilich“ zu“, ebenso viele wählen die Kategorie
„systemisch“, fünf wählen keine der beiden Kategorien:
123
birgit maschke
a) parteilich seit 20 Jahren und b) systemisch neu als wichtige Bereicherung
c) keines der beiden, sondern: mittlerweile arbeiten wir integrativ, also eher beides
c) keines der beiden, sondern: nein, beides! Das kann ich gar nicht trennen!
Insgesamt wird deutlich, dass die befragten Fachkräfte die von uns vorgegebenen Kategorien als allgemeine Zuschreibungen eher ablehnen und wenig
hilfreich finden, sondern die Wichtigkeit von Methodenvielfalt betonen.
Im zweiten Teil der ersten Frage geht es um herausragende Merkmale im
Vorgehen bei der Verdachtsbewertung, die sich ggf. von anderen unterscheidet.
Hier betonen die Kinderschutz-Zentren vermehrt die Eigenverantwortung,
insbesondere auch von Müttern und Jugendlichen selbst, sowie die Vermutung,
dass bestimmte Settings in spezialisierten Beratungsstellen nicht zustande
kommen:
… Ich versuche immer, die Elternteile mit einzubeziehen – soweit der wirksame
Schutz der Kinder dadurch nicht gefährdet wird. Das diskutieren wir
Fachkräfte immer wieder untereinander rauf und runter in jedem Einzelfall.
Eine vernünftige Diagnostik ist ohne Umfeld meiner Ansicht nach nicht
möglich …
… wir sprechen auch mit dem Beschuldigten, das macht dann eine andere
Fachkraft, das machen die parteilichen eher nicht. Und … wir schauen
eher, was hat im Gesamtgefüge dazu geführt, was hat (bei lange Jahre
andauernden Übergriffen) ggf. die Mutter dazu beigetragen durch nicht
Hingucken, warum musste sie wegschauen? Insgesamt gehen wir nicht so
sehr von einem schematischen Machtgefüge aus, sondern sehen systemische
Gesichtspunkte, jeder im Personenkreis trägt etwas dazu bei, dass es zu
Missbrauch kam …
… die Mutter will ggf. auch nicht wahrhaben, braucht vielleicht die
missbrauchende Bezugsperson, weil diese sich besser ums Kind kümmert. Die
nicht missbrauchende Bezugsperson hat einen wichtigen Anteil im Gefüge,
wir müssen herausfinden, kann sie überhaupt schützen? …
… bei Jugendlichen: in welcher Entwicklungsphase ist das Kind? Ist es gehört
oder eigenes Erleben? Wie ist das familiäre System?
124
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
… Also dass wir grundsätzlich in unserer Arbeit die Möglichkeit bieten, mit
sowohl Opfer und Täter zu sprechen. … Möglichkeit für Gespräch einräumen …
grundsätzlich Respekt gegenüber allen …
Die spezialisierten Beratungsstellen äußern sich auch zum Thema
„unterschiedliche Settings“, mit verschiedenen Haltungen:
… Bei den pro-systemisch arbeitenden Beratungsstellen kann es passieren,
dass alle an einen Tisch kommen, also auch ‚Täter‘ und ‚Opfer‘; bei der
parteilichen Arbeit geht das nicht (Die Opfer gehen dann Kompromisse ein,
das ist eine Bagatellisierung; und auch: Retraumatisierung; …
… Wir in der parteilichen Arbeit behalten den Fokus auf der vermutlich
Betroffenen, egal, wie interveniert wird …
… Wir nähern uns eher an. Wo es z. B. heute stark zum Ausdruck kommt, ist,
dass wir auch (für die Diagnostik) den oder die ‚Tatverdächtige_n‘ einladen
und mit ihr/ihm sprechen; dieses immer nur zu zweit. So haben wir früher nie
gearbeitet …
Im „geschlossenen“ Teil des zweiten Fragekomplexes lasen wir unseren
Interviewpartner(inne)n insgesamt zehn Aussagen vor und baten sie, sich
jeweils zu entscheiden, ob diese Aussage ihrer fachlichen Meinung nach
zutrifft, eher zutrifft, eher nicht zutrifft oder sie gar keine Antwort darauf
geben wollen. Insgesamt wird hier in den zusätzlich gegebenen Ausführungen
die Unterschiedlichkeit des Einzelfalls betont. Gleichzeitig wird sich zum Teil
auch positioniert, sodass ein Vergleich der beiden Befragungsgruppen möglich
wird.
Eine relativ hohe Einigkeit finden wir in den Antworten auf die Aussagen 3, 4,
6, 7 und 96.
Eine deutliche Mehrheit der Fachkräfte stimmt (eher) nicht der Aussage 3 zu,
sie würden dazu raten, nicht mit dem Kind über die eventuell erlebte Gewalt zu
reden (11) oder entscheiden sich für die letzte Kategorie (7) und machen in ihren
Ausführungen deutlich, warum sie hierauf keine geschlossene Antwort geben
wollen:
6 Vgl. Auswertung: Übersicht zu den Antworten 2.2.*
125
birgit maschke
… Wenn ein Kind reden möchte, muss es Raum haben. Nicht puschen. Es
braucht jemanden, der das Kind begleitet. Sehr individuell …
…Puschen nein, Raum geben ja …
… Manchmal rate ich Fachkräften, das nicht zu tun, z. B. wenn sie nicht in der
Lage sind, offene Fragen zu stellen oder kein guter Kontakt besteht zum Kind.
In die Therapie gehört es hinein, und auch die Strafverfolgungsbehörden
müssen mit dem Kind reden …
… Ist wichtig, um die subjektive Perspektive des Kindes einzusammeln, was ist
gut, was nicht.
Kann sein, dass es manchmal wichtig ist, mit dem Kind zu reden, dann ist zu
prüfen, wer ist die richtige Person hierfür und wie sprechen wir mit dem Kind.
Da gibt es keinen Automatismus.
Kommt drauf an … ich rate dazu, nicht auszufragen – und ich rate immer
dazu, Augen und Ohren offen zu haben, wenn das Kind etwas sagen möchte,
offen dafür zu sein, dem Kind signalisieren, die nehmen mich ernst, denen
kann ich das erzählen, ich bitte Eltern immer darum, achten Sie darauf – wie
signalisieren Sie Ihrem Kind: wenn du etwas erzählen möchtest – erzähle …
… Kommt drauf an – wenn Kind selbst das Bedürfnis äußert – ja – aber nicht
ständig nachfragen. Es kann entlastend für ein Kind sein und belastend, wenn
der Erwachsene sich entlasten will + das Thema immer wieder anspricht …
… Wenn es reden möchte, ist das immer gut, wenn ein Gegenüber da ist, was
dafür offen ist …
… Wem rate ich das und wann? Natürlich ist es gut, mit dem Kind zu reden,
wenn es das möchte – es sei denn, auf ungute Weise: neugierig, eindringend
oder bagatellisierend …
… Grundsätzlich ist es gut, mit dem Kind zu reden …
18 der 20 interviewten Fachkräfte bringen die Perspektiven derjenigen, die sie
beraten mit deren Einverständnis in Helferkonferenzen ein (Aussage 4).
Bis auf eine sind alle Fachkräfte der Meinung, dass es zu den Aufgaben der
Jugendhilfe gehört, in diesem Themenfeld Einschätzungen zu machen (vgl.
Aussage 6). In den Ausführungen wird hier häufig auf die hierfür notwendige
Erfahrung und Fachkompetenz verwiesen und das Jugendamt als hierfür
zuständig benannt.
126
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
… Kommt drauf an, ob sie dafür ausgebildet sind. Irgendeine Fachkraft im
Jugendamt ohne Erfahrung eher nicht, die sollte sich dann von erfahrenen
Menschen, Kollegen, Fachberatung holen …
… Das Jugendamt kommt aus der Nummer nicht raus, die müssen schauen,
wie kommen sie zu der Einschätzung. Freie Träger brauchen Unterstützung
dabei, eine Einschätzung zu treffen, hier sind die Beratungen durch die
Insofas sehr gut …
… Ist ja ihre Aufgabe, dass sie das machen. Sie müssen dafür natürlich
Erfahrungen haben, sich möglicherweise Unterstützung holen … keine
Position zu entwickeln fänd ich fatal – in der Realität machen sie das ja viel,
manchmal holen sie dafür nicht die fachliche Unterstützung und haben
trotzdem eine Einschätzung…
… Doch, das müssen sie, sie müssen sich hierfür qualifizieren …
… Doch natürlich. Das müssen sie doch, das ist doch ihr Job! Ausreichend
ausgebildet müssen sie natürlich sein, kompetent in der Wahrnehmung …
Auffallend bei den Ausführungen zu dieser Aussage ist die häufig gewählte
Formulierung „sie müssen“ oder „sie sollen“ (in 9 von 11 Ausführungen).
Dies erweckt den Eindruck, dass sich die Fachkräfte selbst nicht in der
Verantwortung sehen, Einschätzungen zu formulieren und/oder sich nicht
als Teil der Jugendhilfe betrachten. Das also für die Einschätzungen, die ja alle
notwendig finden, die öffentliche Jugendhilfe zuständig wäre, weniger sie
selbst.
Nur zwei Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren sprechen in diesem
Zusammenhang von „jeder“ oder „wir“:
… Ohne Einschätzung können wir nicht hilfreich tätig werden. Manchmal
braucht es eine klare Haltung. Das heißt nicht, dass wir uns als Gutachter
präsentieren …
… Um zu einem Ziel zu kommen, muss jeder seinen Eindruck schildern …
Alle Fachkräfte widersprechen der Aussage 9, wer nach den Ursachen für
sexuelle Übergriffe forsche, suche nach Entschuldigungen für die Täter(innen).
(Einmal keine Antwort.)
127
birgit maschke
Ähnlich einheitlich sind mit 15 Verneinungen die Antworten auf die Annahme
10, in systemisch orientierten Einrichtungen würden die Taten und deren
Auswirkungen eher verharmlost. Immerhin drei Fachkräfte spezialisierter
Einrichtungen antworten hier aber auch mit (eher 2) „ja“.
… Nicht verharmlost, dennoch: der reine systemische Ansatz birgt das Risiko,
zu wenig bzw. weniger grenzgebend zu sein …
Eine eher unterschiedliche Streuung finden wir in den Positionierungen auf
die restlichen Aussagen:
Der Aussage 1: „Sexuelle Übergriffe sollten nicht durch Dritte bewertet werden.
Entscheidend ist das subjektive Befinden der Betroffenen.“ stimmen 7 Fachkräfte
der spezialisierten Beratungsstellen zu (davon eher 4), Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren verneinen dies dagegen klar (6) oder eher (1).
Zitate aus den begleitenden Ausführungen der Kinderschutz-Zentren:
… In Bezug auf die Konsequenzen, Bewertung nicht alleine durch Betroffene …
… Die Verortung des Wahrheitsgehaltes muss passieren, dass kann nicht im
Subjektiven belassen werden …
… Subjektives Erleben ist wichtig, aber es sollte auch fachlich bewertet werden …
… Was ist das für eine Aussage! Kommt auf den Kotext an: wenn es um
therapeutische Bearbeitung geht: stimmt. Wenn es um strafrechtliche
Verfolgung oder um familiengerichtliche Entscheidungen geht, muss
bewertet werden …
… Das subjektive Erleben der Betroffenen ist wichtig … Frage ist, wer bewertet
und wofür? Klar bewerte ich, wenn mir z. B. ein Kind erzählt, es wurde an die
Brust gefasst, dann nehme ich das sehr ernst – heißt trotzdem nicht, dass der
Mann gleich aus dem Verkehr gezogen werden muss … immer das Kind und
seine subjektive Bewertung ernst nehmen …
… Hängt vom Alter der betroffenen Person ab. Bei Kindern müssen andere
bewerten. Bei Erwachsenen ist das was anderes. Hängt von den Umständen
und der Person ab. Natürlich steht das subjektive Empfinden immer im
Vordergrund – aber es hängt vom Kontext ab – es kann nicht allgemeingültig
beantwortet werden. Wenn der Missbrauch nachweislich stattgefunden hat,
habe ich nicht zu bewerten …
128
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
… Wenn sie gar nicht durch Dritte bewertet werden, würden sie ja nie
nach außen dringen. Ist ja Blödsinn, dann bliebe ja alles unter der Decke.
Eine Gesellschaft, die Kinder zu Objekten sexueller Lust macht, ist nicht
erstrebenswert …
Auch unterscheiden sich die fachlichen Haltungen zum Thema Strafanzeige
(Aussage 2): „Eine Anzeige ist in der Regel nicht ratsam.“: Während 5 Fachkräfte
der spezialisierten Einrichtungen (davon eher 4) der Aussage zustimmen, sind
6 Fachkräfte der Kinderschutz-Zentren (davon eher 2) nicht dieser Meinung. Die
Zahl der Fachkräfte, die sich auf keine Antwort festlegt, ist hier mit der Anzahl
4 und 3 verhältnismäßig hoch.
Insgesamt wird in den begleitenden Ausführungen auch hier von vielen die
Besonderheit jedes Einzelfalls betont:
… Anzeige ist ja ganz oft problematisch, in jedem Fall nicht der erste logische
Schluss. Vorher genau überlegen mit den Betroffenen, was hat es für Folgen?
Wozu soll es dienen?
Wenn die Betroffenen das wollen, kann es hilfreich sein. Oft sind die Folgen
anders, als man bezwecken wollte …
… Ist in jedem Fall abzuwägen …
… Die Frage ist wann? In vielen Fällen kann es auch ein Teil der
therapeutischen Aufarbeitung sein.
Auch gesellschaftlich ist wichtig, dass das bekannt wird, auch damit wir im
Strafrechtssystem weiterkommen.
… Eine Schnellschussanzeige ist nicht gut, dann sind wir eher beim stimmt …
… Auch wieder schwierig … kommt drauf an, was passiert ist und was will das
Kind? Eher würde stimmen, eine Anzeige muss gut überlegt werden. Bei einer
Vergewaltigung und sichtbaren Verletzungen – da – ja klar – aber bei vagen
Aussagen … da wird das Kind später durch ein Gerichtsverfahren eher belastet
und es geht aus wie das Hornberger Schießen und das ist dann eine unnötige
Belastung, da würde ich eher abraten von einer Anzeige…
… Pauschal so nicht richtig. Durchaus Fälle erlebt, in denen Anzeige sehr
sinnvoll war.
Das ist differenziert zu betrachten: Was will das betr. Kind/Jugendliche(r).
129
birgit maschke
Während sich die spezialisierten Einrichtungen einig zu sein scheinen, dass
Täter(in) und Betroffene sich nach der Gesprächsöffnung über die sexuelle
Gewalthandlungen nicht mehr begegnen dürfen und die Betroffenen vor so einer
Belastung geschützt werden müssen (Aussage 7 ja (davon eher 1)), stimmen nur
fünf Befragte der Kinderschutz-Zentren dieser Aussage zu (davon eher 3). Auch
hier werden zum Teil sehr differenzierte Ausführungen gemacht:
(eher ja) … Zumindest während der Klärungsphase …
… Wär gut, wenn das immer funktionieren würde und dieser Schutzraum
organisiert würde.
Es kommt darauf an, ob es eine starke, schützende Person in der Nähe gibt.
Wünschenswert ist, dass sie sich nicht begegnen, das passiert aber oft in der
Realität …
… Schwierig so eine Konstellation hinzukriegen ohne dass die Kinder/
Jugendlichen immer wieder getriggert werden. Jugendliche wollen oft weiter
Kontakt, sie wollen selbst über ihr Leben entscheiden und gleichzeitig tut es
ihnen nicht gut …
… Kommt drauf an. Wenn Betroffene das wünscht, kann das hilfreich sein, wenn
es gut begleitet und vorbereitet ist – nur auf Wunsch der/des Betroffenen …
… Kommt drauf an … wenn Kinder sagen, wir möchten den sehen, dann
müssen wir die Möglichkeiten der Begegnung schaffen, ohne, dass Übergriffe
stattfinden können. Wir müssen den Wunsch der Kinder respektieren …
… Hängt auch von Betroffenen ab, kann nicht verallgemeinert beantwortet
werden, genau gucken, wer möchte was … Frage: wie wäre ein
Zusammentreffen zu organisieren? …
… Würd ich erstmal zunächst so zustimmen aber nicht ausschließlich
– zu einem bestimmten Prozentsatz kann es Fälle geben –
Verantwortungsübernahme … nach einer bestimmten Zeit …und viele Dinge
geschehen, mit eigener Sexualität und Taten auseinandergesetzt … und
therapeutischer Behandlung – kann auch wieder Kontakt möglich sein.
Ich reduziere das Opfer nicht nur auf das Opfersein und den Täter nicht
nur auf das Tätersein … es braucht viel Zeit und Vorbereitung, damit ein
Zusammenkommen nicht zu einer Fortsetzung von Manipulation und
Gewalt führt. Je länger und intensiver die Übergriffe waren, desto seltener
wollen Kinder wieder den Kontakt. Kinder mit vitalen Ressourcen, die die
130
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
Übergriffe selbst gestoppt haben, wollen eine Begegnung manchmal schnell
wieder herstellen – ist aber nicht oft der Fall …
Deutlich unterscheiden sich die Antworten bei der Aussage 5: „Parteilich
orientierte Beratungsstellen hinterfragen die Angaben und Interpretationen
von Betroffenen nicht.“ Die speziellen Beratungsstellen halten diese Aussage
mehrheitlich (6) für falsch (davon eher 2), vier (davon 1 eher) sind der Meinung,
diese Aussage trifft zu. Bei den Kinderschutz-Zentren ist die Streuung nicht so
hoch, hier Stimmen 7 (davon eher 6) der Aussage zu und nur zwei verneinen
klar. Gleichzeitig wird die Positionierung von einigen aber auch wieder
relativiert:
… Vielleicht ist das auch ein Vorurteil. Ich hoffe …
… Mit Einschränkungen, ich kenne Kolleginnen, die das schon tun …
… Hab ich schon erlebt. Gibt auch welche, die das tun …
Zur offenen Frage des dritten Fragekomplexes gab es die ausführlichsten
Rückmeldungen. Wir fragten hier danach, wie die Grabenkriege Ende der 80er,
Anfang der 90er Jahre (s. o.) damals das Handeln der Fachkräfte beeinflussten
und ob sie ihrer Meinung nach noch heute einen Einfluss auf ihr methodisches
Vorgehen hätten.
Letzteres wurde insgesamt mehrheitlich verneint. Bei der danach gestellten
geschlossenen Frage, ob es noch heute einen Unterschied mache, ob ich mich
als Eltern oder Fachkraft mit meiner Bitte nach Beratung und Unterstützung
an eine parteilich orientierte Beratungsstelle wende oder an ein KinderschutzZentrum / eine Erziehungsberatungsstelle, waren dann jedoch insgesamt
16 von 20 Fachkräften der Meinung, es mache einen Unterschied (davon 10,
also alle, der spezialisierten Beratungsstellen), nur drei Fachkräfte aus den
Kinderschutz-Zentren fanden, dass es keinen Unterschied mache.
Gehäuft findet sich in den Ausführungen aus beiden Interviewgruppen die
Betonung darauf, dass es eher auf die Persönlichkeit der Beraterin ankommt,
als darauf, in welcher Institution sie arbeitet:
… nein – Ich lehne die Kategorisierung ab. Jede Beratungsstelle hat ihr eigenes
Profil. Je nachdem, wo du landest, kriegst du unterschiedliche Unterstützung
131
birgit maschke
… das ist auch eher von den Personen abhängig …
… hängt von der handelnden Person ab. Ich erlebe sogar in meinem Umfeld
Unterschiede – möglicherweise bei Wildwasser denke ich – oh, die sind
sehr parteilich, vielleicht ist das aber auch ein Vorurteil … haben sich
angenähert … Kind im Zentrum und Kinderschutz-Zentren sind nicht mehr so
unterschiedlich im Vorgehen … Auf welche Person treffen die Ratsuchenden?
Wichtiger ist aber, wer ist da und wie ausgebildet …
… Wenn es spezifisch um sexuelle Gewalt geht, wende ich mich natürlich
eher an eine spezialisierte Beratungsstelle. Aber wenn in einem Kinderschutz-Zentrum jemand ist, der gut spezialisiert ist, kann ich natürlich
genauso gut dahin gehen. Es kommt eher auf den Menschen an, als auf die
Institution …
Häufig in beiden Interviewgruppen sind außerdem Äußerungen, die damalige
Schwierigkeiten beschreiben und dann feststellen, dass die Kooperation heute
gut ist.
Ausgewählte Zitate Kinderschutz-Zentren:
… Die alten Hasen der anderen Richtung hatten schon zum Teil ein sehr
parteiliches Vorgehen, das war manchmal hinderlich und an vielen Stellen
schwer zu lösen. Heute sind die Claims abgesteckt, regional gibt es keine
Schwierigkeiten, keine Konkurrenz, wir haben uns arrangiert …
… Die Grabenkriege sind nicht mehr so da. Nicht mehr so viel Vorbehalte
spielen noch eine Rolle und werden manchmal sichtbar. Wir müssen uns
beide fragen: haben wir da blinde Flecken? …
… Heute eine hohe Akzeptanz in der unterschiedlichen Vorgehensweise …
… Die hitzigen Diskussionen waren oftmals vielleicht interessanter als das
Wohlsortierte heute. In einem sehr schnelllebigen Arbeitsalltag bevorzuge ich
dennoch eine gewisse Struktur …
… die sehr Parteilichen arbeiten heute aber auch nicht mehr so, dass sie nach
Bestätigungen suchen, das hat sich sehr angenähert … innere offene Haltung
heute …
… Ich erinnere mich schon an unschöne Diskussionen. Personelle
Anfeindungen, verleumdet als Täter stärkend, mit Blindheit geschlagen, als
unfachlich diskreditiert – das hat sich sehr verändert. Heute gibt es eine ganz
132
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
andere fachliche Kooperation. Bei uns hier in der Region gibt es eine gute
Kooperation mit parteilichen Einrichtungen …
Zitate aus spezialisierten Beratungsstellen:
… Ja, damals gab es solche Grabenkriege, die dazu führten, dass die
Zusammenarbeit brach lag. Heute gibt es einfach Hürden, allerdings nicht
ganz so krass …
… Damals waren wir schon eine parteiliche BS und haben uns klar gegen die
KSZ positioniert. Heute hat es einen geringen bzw. viel geringeren Einfluss
und noch weniger untereinander (Fachkräfte); wir sind mittlerweile in einem
akzeptablen Austausch …
… heute gibt es mehr Respekt für die Fachkollegen in anderen Fachbereichen;
heute ist es weniger ein Kampf …
… meiner Meinung nach ist das heute nicht mehr der Punkt der
Auseinandersetzung. Und damals, damals haben wir z. B. großen Wert
darauf gelegt, dass wir bei häuslicher Gewalt zwischen sexueller Gewalt
und körperlicher Gewalt unterscheiden und dieses klar benennen. In
Kinderschutz-Zentren wurde damals eher von ‚Schädigungen‘ gesprochen.
Heute sind wir mit unseren Fragen näher am systemischen Denken. Heute
geht es nicht mehr so sehr um Abgrenzungen …
… Ja, das haben sie. Damals: Ich war sauer und ich habe leidenschaftlich den
parteilichen Ansatz vertreten. Zudem war ich hochkritisch am systemischen
Ansatz und habe bei der Auseinandersetzung damit genau hingeschaut.
Damals war es eine Schwarz-Weiß-Malerei, es gab kein Miteinander, und das
war wenig hilfreich. Und: Diese ‚Grabenkämpfe‘ sind noch gar nicht so lange
her, auch noch vor 7, 8 Jahren fanden sie statt. Heute: Wir sind mittlerweile
im Dialog und müssen beides zusammenbringen. Die kritischen Momente
sollen angeguckt werden mit einem wichtigen: wie-geht-es-miteinander? …
… Heute nicht mehr, seit mehr als 25 Jahren arbeite ich hier in der
Beratungsstelle. Am Anfang war es ein Aufbruch, da wurden Sachen/
Dinge mal auf den Tisch gepackt. Klar gab es unterschiedliche Ansätze und
Sichtweisen (z. B. kein Kontakt zwischen Täter(in) und Betroffener …
… ich habe die Ausläufer von den ‚Grabenkriegen‘ mitbekommen. Der
politische Hintergrund war damals anders, das waren andere Leute. Wir
fühlen uns eher den parteilichen Beratungsstellen zugehörig. Und in der
133
birgit maschke
konkreten Fallarbeit, denke ich, dass sich im Laufe der Jahre die beiden Seiten
angeglichen haben, es dient noch der Orientierung …
An mehreren Stellen wird von Fachkräften beider Interviewgruppen eine
Bedeutung der damaligen Auseinandersetzung reflektiert.
Zitate aus Kinderschutz-Zentren:
… Diese Bewegung (Frauenbewegung) war ein großes Verdienst. Zunehmend
habe ich gemerkt, das passt nicht immer, das gibt mir nicht auf alle Fragen
Antwort, diese Grundhaltung alleine funktioniert nicht in der Arbeit mit den
Klientinnen. Als ich die Kinderschutz-Zentren kennenlernte, war ich froh
über die andere Sichtweise und gleichzeitig skeptisch und misstrauisch: kann
man da systemisch drauf gucken … Hilfe statt Strafe? Es ist eben nicht eine
Misshandlungsform unter vielen – damit tu ich mich bis heute schwer mit
diesem Spannungsfeld …
… vorsichtige Haltung gegenüber denen … beeinflusst in dem Sinn, eigenes
Handeln zu hinterfragen – sind wir vielleicht zu familienorientiert? In dem
Sinne war die Debatte auch positiv …
… Das ist ein Spannungsbogen. Parteilich ist eher wie mit dem Holzhammer,
erwarten eine Haltung, die ich haben muss, sonst schützen wir nicht –
gleichzeitig braucht es die systemische Haltung – aber die kann nicht
schützen. Beides hat mir weitergeholfen, um eine individuelle Haltung zu
entwickeln …
Zitat aus parteilichen Beratungsstellen:
… Ja, ich war dabei; natürlich hat es einen Einfluss auf meine Arbeit gehabt;
innerhalb meiner persönlichen Entwicklung hat sich etwas verändert, dadurch
auch in meiner Arbeit; sie ist offener geworden, ich bin nicht mehr am Polarisieren.
Damals war es total wichtig für die Zeit (80/90), ebenso die Frauenbewegung, wie
gesagt; sehr wichtig auch damals dieses Polarisieren, dieser Kampf, diese Extreme,
um eine Haltung zu entwickeln …
Nur zwei Fachkräfte (Gruppe Kinderschutz-Zentren) äußern sich kritisch zur
aktuellen Entwicklung:
134
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
… Wie ich anfangs sagte – nicht zu schnell auf eine Seite schlagen. Damals
– und mit damals meine ich noch bevor man über Misshandlungen an
Jungen sprach – kamen bestimmte Settings gar nicht zustande. Zum Beispiel
konnten auch keine Väter eingeladen werden … Grundkonstellationen, die
wichtig gewesen wären, wurden ausgeschlossen, das ist auch heute noch so.
Systemisch betrachtet handelt es sich ja häufig nicht nur um ein Problem,
sondern um viele … z. B. psychische Gewalt, Vernachlässigung, psychische
Erkrankungen eines Elternteils, körperliche Gewalt. Die Einschränkung auf
eine Gewaltform habe ich immer als problematisch empfunden. Da gibt es
auch sowas wie einen Selbsterhaltungstrieb – ich brauche das Thema – das
wird auch jetzt wieder mehr aktuell bei den Diskussionen um den Runden
Tisch usw. – das Gewaltthema sexuelle Gewalt ist wieder einseitig gestärkt
worden, sodass wir heute eher wieder weiter auseinanderrücken. Geht es in
der Diskussion um Schutzkonzepte nur um sexuelle Gewalt oder um sichere
und demokratische Orte für Kinder? …
… Ich erinnere aber auch in jüngster Zeit … eine Kollegin wurde angefeindet,
die sich für Täterarbeit stark gemacht hat – das find ich traurig – gibt es
immer noch mal – ich hoffe, das wird sich ausschleichen – eine Phase, die zu
Ende geht, weil wir mit Alter und Lebensweisheit von ganz harschen alten
Positionen lassen können …
Persönliches Fazit
Wenn ich mir die eingangs – hier in der Überschrift – genannten Fragen
anschaue, wie wir sie ursprünglich zur Vorbereitung auf das Werkstattgespräch
abgestimmt hatten, stelle ich selbstkritisch fest, dass wir uns – zusammen
mit allen 20 Interviewpartner(inne)n – um eine wirkliche Beantwortung der
Fragen gedrückt haben. Und vielleicht ist eine wichtige Erkenntnis daraus, dass
wir Fachkräfte heute uns weigern, in diesen Kategorien von vermeintlichen
Gegensätzen zu denken. Vielleicht verharmlosen wir aber auch die
unterschiedlichen Haltungen und Glaubenssätze, die unser Handeln in diesem
Themenfeld steuern. Ganz sicher können wir diese Unterschiedlichkeiten nicht
mehr in zwei große Schubladen mit der Aufschrift „Kinderschutz-Zentren“ und
„parteilich orientierte Beratungsstellen“ sortieren.
135
birgit maschke
Eine wichtige Lernerfahrung im Zuge dieser Interviews war die Tatsache, dass
sich nur drei der Beratungsstellen selbst als „parteilich“ einordneten, obwohl
wir in der Auswahl ja alle zehn dieser Kategorie zugeordnet hatten. Den
Kinderschutz-Zentren hatten wir die Kategorie „systemisch“ zugeordnet, wo
sich nur fünf der zehn interviewten Fachkräfte wiederfinden konnten. Um diese
eindeutig nicht gewollten Kategorien zukünftig nicht weiterzufüttern, sollten
wir uns vielleicht angewöhnen, nicht mehr von „parteilichen Beratungsstellen“
zu sprechen, sondern von „auf sexuelle Gewalt spezialisierte Beratungsstellen“.
Insgesamt bin ich beeindruckt von den differenzierten und fachlich hoch
kompetenten Antworten, die handlungsleitende Prinzipien von fachlich
gebotener Ruhe und die Wertschätzung von Perspektivenvielfalt spiegeln.
Als (teilzeit) Angestellte in einem Jugendamt haben mich die Ausführungen
zu Aussage 6 irritiert, die darauf hindeuten könnten, dass sich nur zwei der
20 Befragten mit der Idee identifizieren, selbst ihre Einschätzungen in den
Hilfeprozess einzubringen, sondern hierzu auf das Jugendamt verweisen.
Die hierfür nötige Kompetenz kann von den Fachkräften des ASD alleine
nicht erwartet werden, denn sie sind nicht diejenigen, die auf dieses
Themengebiet spezialisiert sind und die ggf. hierfür notwendige zahlreiche
Gespräche mit Eltern und Kindern führen. Sie brauchen, um ihren Job gut
machen zu können und nach Sammlung der verschiedenen Perspektiven
Hilfeentscheidungen zu treffen – hierfür die Einschätzung der Fachkräfte aus
den Kinderschutz-Zentren und den spezialisierten Beratungsstellen, welche
ja auch einheitlich das Einbringen der Perspektiven von Eltern und Kindern
in den Hilfeprozess zusagten. In den wie im Fallbeispiel oben beschriebenen
Fällen braucht es mehr als das „neutrale“ Einbringen der Perspektive von
Eltern und Kindern, es braucht zusätzlich so etwas wie eine „fachliche
Übersetzung“ der verschiedenen Einzelperspektiven, also auch eine eigene
fachliche Einschätzung und Bewertung der Fachkräfte, die mit dem Familienoder Fachkräftesystem arbeiten (selbstverständlich deren Einwilligung
vorausgesetzt). Eine andere Möglichkeit der Interpretation wäre die Hypothese,
dass sich die Befragten schon durch die Formulierung der Frage selbst nicht als
Teil der Jugendhilfe fühlen, sondern mit „Jugendhilfe“ im Kontext dieser Frage
selbstverständlich nur die „öffentliche Jugendhilfe“ assoziieren. Bestimmt gibt
136
wie viel parteilichkeit ist kindgerecht?
es auch noch ganz andere Interpretationsmöglichkeiten, die wir im weiteren
fachlichen Dialog noch einsammeln können.
Im Zuge der Interviews habe ich mich auch (wieder) neu mit den verschiedenen
Theorien auseinandergesetzt – was heißt denn in diesem Themenfeld „systemisch“
oder „parteilich“ handeln? Selbstverständlich muss es einen Unterschied machen,
ob die Beratungsstelle, die ich um Rat frage, „Kind“ einer sozialmedizinischen oder
einer gesellschaftspolitischen Bewegung ist. Und trotzdem klingen die Antworten
glaubhaft, dass es (inzwischen) mehr auf die Persönlichkeit der/des einzelnen
ankommt als darauf, bei welchem Träger ich angestellt bin. Oder machen wir uns
da nur etwas vor, weil wir alle glauben wollen, dass wir ganz frei, unabhängig
und individuell agieren (können)?
In jedem Fall gibt es viel Öffnung und Wertschätzung füreinander, wenn auch
die alten Vorwürfe „Kinderschutz-Zentren verharmlosen“ und „Spezialisierte
blenden Wesentliches aus“ hin und wieder durchscheinen.
Als bekennende Anhängerin humanistischer und systemischer Grundüberzeugungen stimme ich der Aussage einer Interviewpartnerin zu: „… beide Seiten der
Medaille anzuschauen, heißt nicht, etwas zu entschuldigen – systemische Haltung
heißt auch, klar Position zu beziehen und Übergriffe zu benennen“ … und Schutz
zu organisieren. Gleichzeitig achte ich die Verdienste der Frauenbewegung, denn
dass das Vorkommen sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder in unserer
modernen Gesellschaft jahrelang verschwiegen wurde, ist auch eine Tatsache.
Abschließend denke ich, dass es auch heute noch einen Unterschied machen
kann, ob ich mich in Fällen des Verdachtes sexueller Gewalt gegen ein Kind
als Eltern oder Fachkraft mit meinem Wunsch nach Beratung zunächst an
ein Kinderschutz-Zentrum oder eine spezialisierte Beratungsstelle wende.
Die Chance, dass ich in beiden auf Fachkräfte treffe, die mich mit hoher
fachlicher Kompetenz darin unterstützen, mit fachlich gebotener Ruhe und
Hypothesenvielfalt meine Entscheidungen zu treffen, ist sehr viel größer
als noch vor 25 Jahren. Und – wir können uns noch so viel Mühe geben, gute
fachliche Arbeit in diesen Fällen zu beschreiben – jeder Fall bleibt ein Einzelfall
mit zahlreichen Facetten, sodass wir aufhören können, nach allgemeingültigen
Antworten zu forschen. In jedem Einzelfall ist ein dialogischer Prozess
notwendig – immer wieder neu.
137
birgit maschke
Literatur
Enders, Ursula (2001): Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. (Erw. Neuausgabe.) Köln: Kiepenheuer & Wisch.
Rutschky, Katharina/Wolff, Reinhart (1999): Handbuch Sexueller Missbrauch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
138
I
michael böwer / britt heinrichs / mareike naß
Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen
der Erziehungshilfe
Befunde einer Forschungswerkstatt im Rahmen
des Forschungsprojektes „ISkE“
Das soziale Phänomen von Gewalt gegen junge Menschen in Institutionen
und die sich daraus ergebende Frage der Ursachen, wie der Verbesserung des
institutionellen und fachlichen Umgangs mit Gewalt und Grenzverletzungen,
hat im Anschluss an Berichte und Selbstzeugnisse Betroffener und der öffentlichen Aufarbeitung im Rahmen Runder Tische eine wichtige Rolle für die
Neuregelungen des Bundeskinderschutzgesetzes und de jure zur Entwicklung
institutioneller Präventionsrichtlinien in dessen weiterem Nachgang gespielt.
Auf Basis grundlegender und zunehmend auch spezifischer Beiträge zur
Diskussion1 scheint es geboten, dem Risiko von Gewalt gegen Kinder und
Jugendliche in professionellen Betreuungsverhältnissen, die sich durch strukturelle und alltagsförmige Abhängigkeiten der Adressat(inn)en auszeichnen,
institutions- und organisationsbezogen besondere fachliche Aufmerksamkeit
zukommen zu lassen. Mit Blick auf erste empirische Analysen und Bestandsaufnahmen des DJI (2011), Fegert et al. (2011), Zimmer et al. (2014) und des
Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (vgl.
UBSKM 2013) sowie unter Berücksichtigung auch kriminologischer, soziologischer und sexualpädagogischer Erkenntnisse2 besteht gegenwärtig ein
Forschungsdesiderat dahingehend, welche Strategien und Konzepte in der
1 Vgl. zum Phänomen des Risikos grundlegend Luhmann 2003, zu Kontexten sorgender Arrangements die Beiträge in Thole et al. 2012 sowie systematisierend: Willems/Ferring (2014), Böllert/Watzlawick (2014), Wolff (2012, 2013), transnational vergleichend: Bundschuh (2011), organisationssoziologisch: Bode/Turba (2014).
2 Vgl. nähere Diskussion u. a. bei: Stadler et al. 2012, Wilmers et al. 2002, Sutterlüty 2003, Sielert 2011.
141
michael böwer / britt heinrichs / mareike naß
„Tiefe“ organisationaler Praxis Sozialer Arbeit Verwendung finden und welche
Erfahrungen in bisheriger Umsetzungspraxis gewonnen wurden.
Forschungsprojekt „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe (ISkE)“
Die qualitativ-explorative Studie „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der Erziehungshilfe (ISkE)“ richtet den Blick auf die Umsetzung von
(vorhandenen) institutionellen Schutzkonzepten in der alltäglichen Praxis
von freien Trägern der Hilfen zur Erziehung und auf ihren organisationalen
Umgang mit dem Risiko von bzw. mit erlebter Grenzverletzung. Damit sollen
Erfahrungswerte im Feld sichtbar gemacht werden, um Anregungen für die
Praxis der Erziehungshilfen anderswo geben zu können und die jedenfalls für
den deutschsprachigen Raum erkennbare Forschungslücke zu schließen.3
Dabei kann angeschlossen werden an neure sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu Organisationen, von denen seitens ihrer Umwelt ein hohes Maß an
Zuverlässigkeit erwartet wird, obwohl sie mit schwer vorhersehbaren und
unklaren Fallkonstellationen konfrontiert sind (vgl. Weick/Sutcliffe 2010, Müller 2012a u. 2012b, Böwer 2012). Parallel andernorts begründeter Fokussierung
insbesondere auch der Adressat(inn)en-Perspektive,4 interessiert organisationskulturell gesehen hier der Fokus von Fach- und Führungskräften auf eigene
Erfahrungen und Erkenntnisse im Erziehungshilfealltag und in der praktischen Umsetzung (primär-) präventiver Konzepte. Untersucht werden soll,
welche fachlichen Akzente, Prämissen und Betrachtungen hinsichtlich lokaler
Praxen auch in ihren Herausforderungen, in alltäglichen oder institutionellen
Stolpersteinen bzw. Hindernissen im Hinblick auf eine achtsame Organisationskultur (vgl. ebd.) gesetzt werden. Anschließend an eigene Untersuchungen
zur Kinderschutzpraxis in bundesdeutschen Jugendämtern (vgl. Böwer 2012,
3 Demgegenüber lässt sich mittlerweile (relativ gesehen) ein breites Spektrum an Publikationen zur historischen Aufarbeitung von Gewalt und Grenzverletzungen u. a. in der Heimerziehung beobachten (vgl. UBSKM 2014).
4 Vgl. Forschungsverbund Ulm/Landshut/Hildesheim (2014)
142
institutionelle schutzkonzepte
2013) wird davon ausgegangen, dass professionale, organisationale bzw. organisationskulturelle Praxen sich in subjektiver und kollektiver Perspektive des
Handelns unter Bedingungen loser Kopplung in Prozessen des Organisierens
im Expert(inn)enwissen ablichten lassen und daher sinnvoll dort versammelt
zu erheben sind.5
Mit dem Blick auf die fachliche Umsetzung in den Einrichtungen vor Ort stellen sich folgende Forschungsfragestellungen: (1.) Wie kann präventiv grenzverletzendem Verhalten im Alltag auf Ebene der einzelnen, meist hinsichtlich
von Hilfen differenziert ausgebildeten Einrichtung mit welchen, ggf. auch
schon erprobten, sich bewährenden fachlichen Herangehensweisen begegnet
werden? (2.) Was kennzeichnet aus Sicht der Expert(inn)en eine gelingende
Praxis vor Ort? (3.) Welche Erfahrungswerte zur Umsetzung können ggf. gerade
auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen6 an Einrichtungen der
Hilfen zur Erziehung andernorts empfehlend weitergegeben werden, um im
Sinne eines gelingenden Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung zu einem
gelingenden (bzw. gelingenderen) institutionellen Schutz vor Grenzverletzungen zu kommen?
Um dorthin zu gelangen, wurde im Rahmen des 10. Kinderschutzforums ein
(offenes7) Expert(inn)en-Hearing in Form einer Gruppendiskussion (vgl. Bohnsack 2004) durchgeführt, um auf Basis der hier vorhandenen Expertise teilnehmender Fach- und Führungskräfte als Expert(inn)en des Feldes institutioneller
Schutzpraxis vorliegendes Wissen und vorliegende Erfahrungen sichtbar zu
machen. Auf Basis dieser ersten Systematisierung sollen in Ergänzung zur vor-
5 Vgl. näher: Wolff (1981), Weick (1985), Meuser/Nagel (1991), Schein (2003), Böwer/Wolff (2011).
6 Vgl. zur Relevanz als präventiver Faktor: Wolff/Hartig (2013), systematisch Verfahren zusammenfassend: Wolff (2013, 2014).
7 Der Teilnehmer(innen)kreis wurde im Vorhinein nur durch die sicherheitstechnisch zulässige Raumbelegung begrenzt, um angesichts des festgestellten Forschungsdesiderats und des insoweit notwendigen explorativen Zugangs eine i. S. der in qualitativer Forschung interessierenden Expert(inn)enschaft (vgl. Meuser/Nagel 1991) möglichst offene Perspektive zu eröffnen und vielfältige Expertise auf das soziale Phänomen anzureichern. Der
Bezug zur Erziehungshilfe wurde erst kurz zum Schluss der Ausschreibung im Tagungsprogramm hergestellt und in drei, grundlegende Positionierungen des UBSKM aufgreifenden Diskussionsimpulsen schrittweise präzisiert.
143
michael böwer / britt heinrichs / mareike naß
liegenden Datenbasis und Diskussion vorläufige Eingrenzungen zur Konzeptionierung einer leitfadengestützten Interviewstudie nach Grounded-Theorybasiertem Forschungsstil gebildet werden, mittels derer sodann weiterführend
systematisch die lokale Praxis der Umsetzung des institutionellen Schutzauftrags unter die Lupe genommen wird.8
Forschungswerkstatt auf dem 10. Kinderschutzforum: „ISkE“-Expert(inn)en-Hearing
Das Angebot des Expert(inn)en-Hearings fand großen und engagierten Zuspruch; während der vom Programm her vorgegebenen Zeit von 90 Minuten
nahmen an dem Hearing insgesamt 41 Teilnehmer(innen) des bundesweit
ausgeschriebenen und im Fachgebiet etablierten Kongresses in den Räumen
der Universität zu Köln teil.
Das auf Tonband aufgezeichnete und in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (vgl. Selting et al. 2009) verschriftlichte Material
der Gruppendiskussion wurde basierend auf der dokumentarischen Methode
nach Bohnsack (2001, 2014) ausgewertet. Dabei lassen sich Sinn- und Bedeutungszuschreibungen rekonstruieren, die kollektives soziales Handeln und
Interpretationen der Akteure im organisationalen Kontext begründen (vgl.
Friebertshäuser et al. 2010, Bohnsack 2014). Subjektive und gemeinsam mit
anderen Diskutant(inn)en geteilte Sinnhaftigkeit sind alsdann zu vergleichen,
um kollektive Erfahrungen und Orientierungen aus geteilten Erfahrungshintergründen hinsichtlich von Einstellungen und handlungsleitendem Wissen
rekonstruieren zu können (vgl. Bohnsack et al. 2010).
Deutlich wurde, dass die Akteure des Feldes über keine in sich abgeschlossenen
„fertigen“, schon systematisch-profilierten Einschätzungen zur professionellen
Praxis des Schutzes vor Grenzverletzungen verfügen. Vielmehr lässt sich das,
8 Die zweite Erhebungsphase des Forschungsprojektes beginnt im April 2015; die Publikation der Ergebnisse ist 144
für Februar 2016 terminiert. Das Forschungsprojekt insgesamt wird realisiert durch Etatmittel der Senatskommis-
sion für Forschungs- und Entwicklungsaufgaben der Katholischen Hochschule NRW.
institutionelle schutzkonzepte
was „Schutzkonzept“ als Begriff oder Produkt „ist“, „sein soll“ bzw. „sein könnte“,
als gegenwärtig (noch) diffus erkennen. Dies und parallel die Prozesshaftigkeit
institutioneller Neuerung in „Prozessen des Organisierens“ (Weick 1995) illustriert die Beschreibung einer Teilnehmerin:
„Also das hat so`n ganz langen Weg und ich finde wir sind aufm guten Weg und
ähm, ja, das ist wie so eine Verlaufsdiagnose, es verl- ne, es läuft und das ist schön,
es ist im Fluss.“ [T1/Z. 150–152].
Gleichwohl bestehen vielfältige Praxiskonzepte und unterschiedliche Entwicklungsstände in unterschiedlichen Praxisfeldern und Institutionen. Es lassen sich
erste, aber vermutlich noch stärker spezifisch geteilte „Erfahrungsräume“ (re-)
konstruieren. So scheint der Bedeutungszusammenhang im Spektrum von
der Dynamik Institution – Kollege – Klientel über die baulich-atmosphärischer
Beschaffenheit sozialer Orte und sonst interpretativer Muster (z. B. „Mann“ als
Fachkraft und Risiko) bis hin zu neuen Settings bzw. Interventionskonzepten (z. B.
„Ansprechpartner in Parallelgruppe“, „opferorientierter Tätertherapeut“) zu reichen. Geht man näher in die Analyse des Diskurses, werden zentrale Kategorien
erkennbar, innerhalb derer sich institutionelle Schutzkonzepte ablichten lassen:
· Schutzkonzepte scheinen spezifisch engagierte Akteure vor Ort („Kümmerer“)
als aktiv interessierte Expertise in den Einrichtungen wie auch im trägerübergreifenden Netzwerk zu benötigen. Diese scheint eine gesonderte
Ebene gegenüber dem Alltagsgeschäft zu bilden, in separaten Settings oder
anderen kompetenzbezogenen Zugängen begründet zu sein. Günstig sei,
wenn „die Türen an ganz oberer Stelle ganz weit auf sind“ [T2/Z. 456] – also
dass Schutzkonzepte die institutionelle Spitze „interessieren“, d. h. vom
Vorstand bzw. der Hierarchiespitze her aktiv gewollt sind. Für zuständig
erklärte Mitarbeiter(innen) kennen zugleich angesichts der Größe der
Aufgabe ein Gefühl der Verunsicherung bzw. Irritation – sie sehen sich in
einer Zwickmühle, wenn sie sich organisational nicht in der Lage sehen,
eine Passung herzustellen:
„Wir sind ein großer Träger, wir haben offene Einrichtungen, Schulsozialarbeit,
offene Ganztagseinrichtungen, also wir sind sehr verschieden, […] und das ist
145
michael böwer / britt heinrichs / mareike naß
im Moment so ein bisschen die Quadratur des Kreises, ein Konzept für alle
zu schreiben, weil eigentlich klar ist: das geht gar nicht. Aber alles andere
sprengt auch den Rahmen, das geht auch nicht.“ [T1/Z. 319–323].
· Schutzkonzepte benötigen offenbar einen spezifischen Aufforderungscharakter: eine klare, regelgeleitete, leicht verständliche Aufmachung jenseits
von „Präambeln“, die sie „lebendig“ werden lässt, der einen „Transfer
(schafft,) in das Leben der Kinder und Jugendlichen“ [T2/Z. 31] und „Annäherungen“ an das Thema auch für Fachkräfte. Schutzkonzepte müssen
sich dadurch auszeichnen, dass sie für den Fall der Fälle konkrete Folgen
und Hilfsmöglichkeiten zum Umgang mit grenzverletzenden Personen
und Ansprechpartner(innen) benennen, die „Ahnung haben“ [Z. 14]. Diese
müssen nicht direkt selbst alle weiteren Schritte einleiten und Handlungspläne abarbeiten können, sondern sollten hinsichtlich von Zuverlässigkeit
und Kompetenz ein vertrauensvoller Zuhörer sein, der die Betroffenen erst
einmal ernst nimmt. Die Expertise zur Erstellung von Schutzkonzepten
erhält man oft aus Kooperationen mit anderen Kolleg(inn)en oder Stellen
(u. a. Jugendämtern) – der Nutzen kann aber auch darin liegen, Kinder
und Jugendliche als Expert(inn)en zur Formulierung der Schutzkonzepte
einzubeziehen:
„Was ich ganz wichtig finde, ist der Einbezug der Adressaten- weil der kannder kann sich besser mitteilen: was schützt mich an - als [.] die Kinder oder
Jugendlichen selbst.“ [T2/Z. 281–283].
Befragt man nämlich Adressat(inn)en, werden Erkenntnisse möglich, die
auf blinde Flecken im Schutzkonzept-Alltag, z. B. zu Dialogchancen und
Kompetenzzumessung, verweisen:
„Wir haben jetzt mit fünf unterschiedlichen Einrichtungen gearbeitet, von
denen wir alle wissen, dass die auch ähm Schutzkonzepte haben oder (.) dabei
sind die zu erstellen (.) und die Jugendlichen haben- von fünf Einrichtungen
haben vier gesagt: Hm nee, also über sexuelle Gewalt im Internet da würden
wir nicht mit den Erzieherinnen drüber sprechen, die haben keine Ahnung, ja
sooo- [mehrfache Zustimmung im Plenum] das heißt also, da wurde für mich
146
institutionelle schutzkonzepte
noch ma so nen Stück deutlich mh (.) dass eben dieser: Teil der Lebenswelt
vielleicht auch noch mal ein Stück ausgeblendet wird- auch im Sinne der
Schutzkonzepte (.) ja also so dieses m-h ja da passiert etwas und da ist auch
etwas, wo die Jugendlichen mh eigentlich auch gerne mh mit diesem Thema
in Beziehung treten wollen- aber sie kriegen eigentlich weniger: das Signal von
uns Erwachsenen [..] zu sagen: oh ja da kennen wir uns aus- wir gehen hier
auch auf- auf diese Ebene und: Zeig mir, was du da machst.“ [T2/Z. 10–21]
· Schutzkonzepte benötigen für ihre Vollzüge reflexive Strukturen, Toleranzen, (ggf. smarte) Rahmungen und An- wie Aufschübe: Zeit, bis sie am
Laufen gehalten werdend „durchsickern“ im Sinne organisationalen Prozessierens, damit sich diese „festigen“ und auch „gelebt werden“ [T2/Z.109f.].
In diesem Sinne gilt es, durch eine stets mitlaufende „Kultur der Reflexion“
auf dem Weg zu einer „sexualpädagogischen Haltung“ aller Sorgeleistenden [T1/Z.402-405] und nachlaufende Organisierungen z. B. von „kleinen
Steuerungsgruppen“ Vorkehrungen für Nachhaltigkeit zu treffen. Parallel
gilt es, die Weite und Unabgeschlossenheit des Themas in insoweit offenen
Prozessen auszuhalten und trotz anderer Aufmerksamkeiten andere Institutionen für gemeinsame Prozesse und neue Rahmungen aufzuschließen:
„(…) Denn das ist es ja (.) mit der (.) äh (.) Situation: dass, wenn ich damit
anfange, (..) dass nicht mehr aufhört, dass ich immer `ne neue Tür aufmache
[…] - dann auch` Rahmen zu machen, wo mitgearbeitet werden kann (..) äh (.)
aber (.) das wird `ne spannende (...) Motivation auch von Einrichtungen, die
dann sagen, das ist jetzt gar nicht so wichtig für uns (.) weil wir haben gerade
(..) drei andere Sachen (..) also wie- wie kann das trotzdem funktionieren bei
uns“ [T2/Z. 229–234].
Perspektiven
Auf Basis der gewonnenen ersten Erkenntnisse ist es naheliegend und geboten,
spezifischen Bedingungen von Erfahrungsräumen im Feld in einer umfassenderen systematischen Untersuchung nachzugehen. In einer leitfadengestützten Interviewstudie in Einrichtungen der Erziehungshilfe mit Laufzeit
147
michael böwer / britt heinrichs / mareike naß
von März 2015 bis Februar 2016 sollen anschließend an die notwendigerweise
ersten orientierenden Befunde des Hearings nun systematisch örtliche Praxen,
Hindernisse und Lösungsstrategien näher eruiert, reflektiert und betrachtet
werden – auch und gerade im Hinblick darauf, welche möglicherweise konkreten Handlungsempfehlungen daraus für die Praxis und Organisation von
Prävention in der Erziehungshilfe gegeben werden können.
148
institutionelle schutzkonzepte
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151
K
mike lenkenhoff
Kinderschutz zwischen ASD, SPFH und Familien:
Explizite Kontrolle in ambulanten Erziehungshilfen
Viele Jugendämter sind im Kontext der aktuellen Diskussion zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen dazu übergegangen, explizite Kontrolle
(häufig als Schutzkonzept benannt) an die Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII anzukoppeln. Die Begrifflichkeiten und konkreten Bestandteile sind nicht explizit
gesetzlich vorgesehen. Zudem gab es auch kaum fachliche Empfehlungen zu
dieser weit verbreiteten Praxis. Einige wenige Veröffentlichungen beschäftigen
sich mit möglichen Gegenständen und Modalitäten für Schutzkonzepte (vgl.
u. a. Rotering 2008, Lüttringhaus/Streich 2010). Eine fehlende überregionale
Fachdebatte zur Legitimation von Anforderungen an Personensorgeberechtigte im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung war Auslöser für ein Forschungsprojekt
der Fachhochschule Münster, des LWL-Landesjugendamtes und des Vereins
„Kinder haben Rechte“. Unter Leitung von Prof. Dr. Reinhold Schone wurde Kontakt zu einigen Jugendämtern aufgenommen, die die Aktualität des Themas
bestätigten. Sechs Jugendämter erklärten sich bereit, an einer qualitativen
Studie teilzunehmen. Es fanden sich zahlreiche ASD-Fachkräfte, die mitwirken
wollten und entsprechende Fälle identifizierten. Die Fachkräfte nahmen Kontakt mit den jeweiligen Familien auf und fragten deren Bereitschaft zu einem
Interview ab. Das Forschungsteam hat sich im Rahmen der Interviews die Erlaubnis eingeholt, auch mit der fallführenden Fachkraft im Jugendamt und der
leistungserbringenden Fachkraft des freien Trägers ein Interview durchführen
zu dürfen sowie in die Hilfeplanprotokolle Einsicht zu nehmen. Die Vorgaben
für die Fallauswahl waren sehr gering. Der Fall sollte abgeschlossen sein oder
schon sehr lange laufen, weitere Einschränkungen gab es nicht (vgl. Lenkenhoff
et al. 2013, S. 26f.).
Trotzdem wiesen die von den ASD-Fachkräften ausgewählten Fallkonstellationen viele Gemeinsamkeiten auf. In allen Fällen war die Hilfeform eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), die Kinder waren bis auf zwei Ausnahmen
0–6 Jahre alt, die zentrale Gefährdungslage war in allen Fällen Vernachlässigung.
153
mike lenkenhoff
Bei über der Hälfte der Familien lag eine Sucht- und/oder psychische Erkrankung mindestens eines Elternteils vor, und bei den Müttern handelte es sich oft
um junge, alleinerziehende Frauen (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 27–34).
Thematisch knüpft das Forschungsprojekt an die, in der Sozialen Arbeit und
insbesondere in der Jugendhilfe bereits intensiv diskutierte, Herausforderung
durch das doppelte Mandat von Hilfe und Kontrolle an (vgl. u. a. Urban 2004,
S. 9ff.). Der Wandel der Jugendhilfe von der Fürsorge hin zur Lebenswelt- und
Dienstleistungsorientierung, zeitgleich mit dem verstärkten Kontrolldiskurs
rund um die Einführung des § 8a SGB VIII im Jahr 2005, erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Hilfe und Kontrolle unter dem Fokus
dieser neuen Entwicklung.
Die Studie betrachtet einen spezifischen Aspekt von Schutz und Kontrolle. Durch die Umsetzung von Hilfen zur Erziehung ist eine Gefährdung von
Kindern und Jugendlichen nicht automatisch abgewendet. Um das Kindeswohl zu sichern oder wiederherzustellen, können ergänzende Anstrengungen
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen erforderlich sein. Dieser Prozess
der Kontrolle soll die Grundrechte der Kinder und ein bestimmtes Niveau der
Daseinsfürsorge absichern. Die Forschungsfragestellung lautete daher, wie ein
solches kontrollierendes Handeln ausgestaltet sein muss, um einen optimalen
Schutz für Kinder zu gewährleisten, ohne die individuelle Freiheit von Eltern
und Privatheit familiären Lebens in verfassungswidriger Weise einzuschränken (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 6f.).
Konkret interessierten das Forscherteam die Anlässe für kontrollierendes Handeln in den Hilfen zur Erziehung. Auch die Kontrollmodalitäten und -verfahren
sowie deren Legitimation sollte unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit erforscht werden. Ein besonderer Fokus wurde auf den Aspekt Beteiligung
der betroffenen Eltern bzw. Personensorgeberechtigten und der Kinder und Jugendlichen gelegt. Fragen zum Beispiel nach der Berücksichtigung der Eltern-/
Kindperspektive bei der Gefährdungseinschätzung, nach der Beteiligung im
Hilfeplanungsverfahren bei Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle oder
nach der Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechtes standen beispielsweise im Mittelpunkt des Forschungsinteresses.
154
kinderschutz zwischen asd, spfh und familien
Wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet
ist, haben die Personensorgeberechtigten einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur
Erziehung (gem. § 27 SGB VIII). Eine solche Dienstleistung kann im Rahmen
des SGB VIII nur auf der Grundlage des Hilfeplanverfahrens (gem. §§ 36, 37 SGB
VIII) mit hohen Partizipationsrechten der Leistungsberechtigten durchgeführt
werden. Die Eingangssituation für diese Hilfen, eine fehlende Gewährleistung
einer dem Wohl des Kindes entsprechenden Erziehung, ist deutlich zu unterscheiden von einer Kindeswohlgefährdung (insbesondere § 8a SGB VIII und
§ 1666 BGB). Der Bundesgerichtshof versteht unter Gefährdung „eine gegenwärtige in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren
Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH 1956). Das Kindeswohl ist nach § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB demnach dann gefährdet, wenn sich bei Fortdauer einer identifizierbaren Gefährdungssituation für ein Kind eine erhebliche Schädigung seines körperlichen,
geistigen oder seelischen Wohls mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen und
begründen lässt (vgl. Schone 2012a, S. 19f.).
Die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung ist somit eine fachliche Bewertung beobachtbarer, relevanter Sachverhalte, bezogen auf mögliche Schädigungen, der Erheblichkeit der Gefährdungsmomente und des Grades der
Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung ist immer eine in die Zukunft gerichtete fachliche Prognose und
löst beim Jugendamt die Verpflichtung aus, den Eltern geeignete und notwendige Hilfen zur Abwendung der Gefährdung anzubieten (vgl. § 8a SGB VIII).
Bei der Betrachtung der Funktionen und Auswirkungen einer SPFH mit expliziter Kontrolle werden große Unterschiede zwischen den Akteuren deutlich.
Perspektive der ASD-Fachkraft
Hilfen zur Erziehung anzubieten, bedeutet nach der Einschätzung einer akuten
Kindeswohlgefährdung für viele ASD-Fachkräfte Handeln in Unsicherheit.
Die Aufgabe, hochkomplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen der
Lebensbedingungen von Kindern wahrzunehmen, erfolgt oft auf einer lückenhaften Datenlage mit teilweise widersprüchlichen Wahrnehmungen. Fehlende
155
mike lenkenhoff
objektive Standards zur Beurteilung von Lebenslagen können durch kollegiale
Beratung intersubjektiv abgesichert werden (vgl. Schrapper 1994, S. 68). Sozialpädagogische Entscheidungen beruhen bei diesen Fallkonstellationen oft auf
Deutungen und Hypothesen und können daher fehlerhaft oder falsch sein. Die
sozialpädagogische Fachlichkeit ist daher eher über Qualität des Verfahrens zu
bestimmen als über das Ergebnis zu definieren. Die Risikodiagnostik ist eine
besonders herausfordernde Form der sozialpädagogischen Diagnostik. Fachkräfte können sich im Ergebnis der Risikodiagnostik u. a. für eine Intervention,
durch eine ambulante Hilfe, abgesichert mit expliziter Kontrolle, entscheiden.
Dies setzt eine Bereitschaft der Personensorgeberechtigten zur Abwendung der
Gefahr voraus.
Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle anzunehmen, bedeutet für viele
Familien einen massiven Eingriff in ihre Privatsphäre zuzulassen. Die Konfrontation mit der fachlichen Prognose Kindeswohlgefährdung und dem Angebot,
Hilfen anzunehmen, die mit expliziter Kontrolle kombiniert sind, trifft Familien meistens unvorbereitet und schlecht informiert. Wahrgenommen wird
in der Regel eine Ohnmacht und ein (unterschwelliger) Zwang, diese Hilfen
anzunehmen. Oft wurden alternative Interventionen, meistens Fremdunterbringungen, durch die Fachkräfte benannt. Im Rahmen der Studie gaben viele
Eltern an, nicht „das Gefühl einer Wahl gehabt zu haben“ und sich nicht als
Antragssteller(in) einer Dienstleistung gefühlt zu haben (vgl. Lenkenhoff et al.
2013, S. 80ff.).
Hilfen zur Erziehung mit expliziter Kontrolle anzubieten, bedeutet für die
Fachkräfte des Leistungserbringers, die implizite Kontrolle, die staatliche
Interventionen in der Privatsphäre von Familien schon immer hatten, nun mit
transparentem Mandat ausführen zu können. Der Umfang und die Qualität
der Kontrolle scheint nach Angaben von vielen SPFH-Fachkräften zuzunehmen
(vgl. Lenkenhoff 2013 et al., S. 107ff.).
Die ursprüngliche Konzeption der SPFH (vgl. u. a. Elger 1990, Rothe 1990) hat sich
in den meisten Regionen Deutschlands weiterentwickelt. Der generelle Trend
geht von der pauschal finanzierten SPFH, die Familien berät bzw. begleitet und
gegenüber dem Jugendamt keine Daten weitergibt, hin zu einer SPFH, die über
die Hilfeplanung gesteuert wird, oft „smarte“ Aufträge und Ziele bearbeitet
156
kinderschutz zwischen asd, spfh und familien
und in der Regel über Fachleistungsstunden im Einzelfall finanziert wird. Diese
auch durch die Kinderschutzdiskussionen ausgelösten Veränderungen sind weit
entfernt vom ursprünglichen Konzept der SPFH. Die Übernahme von Schutz- und
Kontrollfunktionen durch die SPFH wirft die Frage nach der Legitimität einer
solchen Intervention tief in der Privatsphäre der Familien auf (vgl. Schone 2012b).
In den im Forschungsprojekt vorgefundenen Konstellationen von Eltern und
Fachkräften wurden vielfältige Gefährdungssituationen von den Interviewpartnern als Auslöser von Schutzkonzepten beschrieben.
· Hierzu zählte bei nahezu allen Familien die Sicherstellung materieller
Versorgung, überwiegend waren die Familien im SGB II-Bezug.
· Suchterkrankungen, insbesondere THC, Heroin und Alkohol, erschweren es
vielen Eltern, die Pflege- und Versorgungsleistungen zuverlässig wahrzunehmen.
· Die mangelnde Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse durch die Eltern,
oft beeinträchtigt durch psychische Erkrankung oder Behinderung.
· Familiäre Gewalt, die sich in der Regel nicht direkt auf das Kind bezog, sondern meistens als Partnergewalt beschrieben wurde.
· Im Kontext von Trennung und Scheidung wurden mehrere Schutzkonzepte
durch Vorwürfe des Elternteils, bei denen die Kinder nicht leben, ausgelöst
(Vorwürfe der Misshandlung oder Vernachlässigung).
· Mangelnde oder ausfallende Versorgung aufgrund der familiären oder individuellen Problemlagen.
· Mangelnde Sicherheit und mangelnder Schutz von Kindern zielte oft auf die
Beaufsichtigung von kleinen Kindern oder auch auf konkrete Gefahren
wie das Sichern von Steckdosen, Aschenbechern oder Balkonen und die Aufbewahrung von Substitutionsmitteln ab (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 47–54).
Die Gegenstände der vorgefundenen Schutzkonzepte waren sehr unterschiedlich. Auch deren Begrifflichkeiten variierten zwischen Vereinbarung, Aufträgen
und Auflagen. Thematisch lassen sich die meisten Gegenstände in vier Themenblöcken zusammenfassen:
· Versorgung der Kinder sicherstellen,
· Gefahren in der Wohnung abstellen,
157
mike lenkenhoff
· Suchtmittelkonsum reduzieren/einstellen,
· Auflagen zur Organisation des Familienlebens (vgl. Lenkenhoff et al. 2013,
S. 54–58).
Zentrales Instrument der Kontrolle war in der Untersuchung der Hausbesuch.
Er wurde angekündigt und unangekündigt sowohl von ASD- als auch von
SPFH-Fachkräften durchgeführt. Weitere Kontrollmodalitäten sind der Einsatz
von Hebammen oder Familienhebammen als auch die Verwendung von ärztlichen Schweigepflichtentbindungen und Drogentests (vgl. Lenkenhoff et al. 2013,
S. 65–68).
Teilweise wurden Schutzkonzepte im Rahmen von Hilfeplangesprächen
entwickelt. Meistens bei latenten Gefährdungslagen. In anderen Fällen
wurden Schutzkonzepte direkt nach dem Erstkontakt noch vor dem Eintritt
in die Hilfeplanung zur Bewältigung akuter Gefährdungslagen eingesetzt. Die
Schutzkonzepte waren meistens als unabhängiges Verfahren neben der Hilfe
zur Erziehung geplant und zeitlich kürzer befristet als der Hilfeplan. In vielen
analysierten Fällen wurden seitens der Sozialarbeiter(innen) keine Konsequenzen für die Nichteinhaltung der Schutzkonzepte benannt. Die meisten Schutzkonzepte setzten vor der unmittelbaren Gefährdungsschwelle (akute Gefährdung) an und lassen noch Spielraum für sozialpädagogische Interventionen
unterhalb eines Eingriffes in das Sorgerecht. Es handelte sich in den meisten
Fällen somit nicht um die Abwendung von konkreten Gefährdungssituationen, sondern zumeist um klare Erwartungen seitens der Fachkräfte bezüglich
potenzieller Gefährdungsrisiken.
Häufig bezogen sich Auflagen nicht lediglich auf die unverzichtbaren Erziehungs-, Betreuungs- und Versorgungsmindeststandards zur Abwendung von
Gefahren (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 58–65).
Die Forschungsgruppe konnte kein überregionales fachliches Konzept sowie
keinen gemeinsamen Qualitätsrahmen für die Umsetzung von Schutzkonzepten in der Hilfeplanung erkennen. Dadurch wird den Fachkräften ein relativ
breites Tor geöffnet. Die, immer aus den Interessen der Kinder begründeten,
Schutzkonzepte werden, je nach Verständnis der Fachkräfte, als klar formulierte letzte Maßnahme vor der Anrufung des Familiengerichtes bzw. im Fami-
158
kinderschutz zwischen asd, spfh und familien
liengerichtlichenverfahren oder als letztlich unverbindliches „Druckmittel“
gegenüber den Eltern verwendet (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 108f.).
Die Forschungsgruppe hat, abgeleitet aus ihren Ergebnissen, eine Arbeitsdefinition erstellt, nach der sich das Schutzkonzept im Rahmen einer Hilfe zur
Erziehung durch eine konkrete Anforderung an die Personensorgeberechtigten
kennzeichnet, um ihre Kinder vor Gefahren für ihr Wohl (im Sinne des § 8a
SGB VIII und des § 1666 BGB) zu schützen. Solche konkreten Anforderungen
an das Verhalten der Personensorgeberechtigten lassen sich nur aus konkreten Gefährdungsmerkmalen herleiten und können keinesfalls allgemeine
Erziehungsanforderungen sein. Es bleibt den Eltern, unterhalb der Schwelle
einer Gefährdung, selbst überlassen, wie sie ihre Kinder erziehen und welchen
Belastungen sie ihre Kinder ggf. aussetzen wollen. Schutzkonzepte können
daher ausschließlich zur Abwendung von konkreten Gefährdungsrisiken eingesetzt werden. Solche Schutzkonzepte können auch vor oder außerhalb einer
Hilfe zur Erziehung greifen, wenn es darum geht, dass Eltern bei gewichtigen
Anhaltspunkten für eine Gefährdung ihres Kindes nicht an einer Gefährdungseinschätzung mitwirken (vgl. § 8a Abs.1 Satz 2 SGB VIII) oder wenn sie versuchen, identifizierte Gefährdungen ihrer Kinder auch ohne Hilfen zur Erziehung
abzuwenden.
Ein Schutzkonzept enthält in der Regel drei wichtige Elemente:
1. ein Hilfekonzept (§ 36 SGB VIII), das dazu dient, die Erziehungssituation
des Kindes oder Jugendlichen nachhaltig zu verbessern (meist mittel- bis
langfristig);
2. ein Sicherheitskonzept zur kurzfristigen Sicherstellung des Kindeswohls
(bzw. zur kurzfristigen Abwendung von Gefahren, § 8a SGB VIII). Dies steht
neben dem Hilfekonzept, da es sich (ungeachtet der Notwendigkeit ihrer
Beteiligung) weniger aus individuellen Hilfeerwartungen der Eltern speist,
sondern eher aus dem Schutzauftrag des staatlichen Wächteramtes. Dieses
Konzept muss sich logisch und nachvollziehbar aus einer Gefährdungsanalyse ableiten lassen und sich genau auf diese Analyse beziehen;
3. ein Kontrollkonzept, welches sicherstellt, dass die zum Schutz des Kindes/
Jugendlichen verabredeten Maßnahmen auch durchgeführt werden und
im Sinne des Kinderschutzes greifen (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 112).
159
mike lenkenhoff
Für die Umsetzung von Schutzkonzepten in den Erziehungshilfen empfiehlt
die Forschungsgruppe, nach mehreren Workshops mit Praxisvertretern, als
Qualitätsmerkmale, dass
· die Gefährdungsrisiken, auf die sich die Schutzaufgaben beziehen, konkret
benannt werden sollten.
· eine gemeinsame Risiko- und Gefährdungseinschätzung von Jugendamt
und Eltern (und freiem Träger) (im Sinne der §§ 8a SGB VIII und 1666 BGB)
vorgenommen und eine Kongruenz der Problemsichten angestrebt wird.
· die im Schutzkonzept verankerten Auflagen sich an dem Ziel der Gefährdungsvermeidung bzw. Gefährdungsabwehr orientieren und sich damit
die Kontrollaufträge auf genau definierte, abgrenzbare Bereiche beschränken.
· die Eltern ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Mitarbeit zeigen und sowohl die Schutzelemente als auch die Kontrollelemente des Schutzkonzeptes möglichst gemeinsam mit den Eltern geplant werden.
· die Durchführung des Schutzkonzeptes zeitlich terminiert wird und ggf.
Vereinbarungen über Reduzierungen der Kontrolle im Verlauf der Hilfe
getroffen werden.
· die beteiligten freien Träger ein klares und transparentes Mandat hinsichtlich ihrer Schutz- und Kontrolltätigkeit erhalten und sie sich selbst in dieser Hinsicht permanenter Kontrolle unterziehen lassen (Berichtspflichten,
kollegiale Beratung/Kontrolle).
· auch die beteiligten Fachkräfte sich an der Erfüllung spezifischer Schutzaufgaben für die Kinder verbindlich beteiligen (eigene Pflichten übernehmen).
· alle Aktivitäten im Rahmen des Schutzkonzeptes strengen Begründungsund Dokumentationspflichten unterliegen (Welche Gefährdungslage?
Welche Vereinbarungen/Auflagen? Welche Kontrollmodalitäten? Welche
Dauer? etc.) (vgl. Lenkenhoff et al. 2013, S. 58–65).
Fazit
Ein Verfahren zum Einsatz von Schutzkonzepten in der ambulanten Jugendhilfe sollte kommunal, losgelöst vom Einzelfall, zwischen den Fachkräften von
freien und öffentlichen Trägern ausgehandelt werden. Dann können Schutz-
160
kinderschutz zwischen asd, spfh und familien
konzepte, unter Berücksichtigung einiger Qualitätsstandards, zur Verbesserung
der Transparenz, in ambulanten Hilfen zur Erziehung mit Kontrollanteilen
durch den freien Träger, beitragen. In der Praxis können Anforderungen, Aufgaben, Zuständigkeiten und Konsequenzen in einem Schutzkonzept übersichtlich
und für alle Beteiligten nachvollziehbar dokumentiert werden.
161
mike lenkenhoff
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162
N
bernd reiners
Neue Ansätze in der Arbeit mit Kindern:
Kinderorientierte Familientherapie
Wenn Kinder Symptome oder „Störungen“ zeigen, herrscht seit Langem ein
sogenannter „unerklärter Krieg“ (Mc Dermott/Char 1974, S. 74), ob die Therapie
mittels Kindereinzeltherapie oder Familientherapie geschehen soll. Für die
Kindertherapie spricht, dass sich das Kind auf seine Weise (z. B. im Spiel) ausdrücken kann und so den therapeutischen Prozess stark steuern kann. Für die
Familientherapie spricht, dass die Eltern als wichtigste Bezugspersonen in den
Veränderungsprozess stärker einbezogen werden. Gerade bei Vorschul- und
Grundschulkindern stellt sich aber die Frage, ob Kinder sich am Familiensetting genügend beteiligen können.
Die Kinderorientierte Familientherapie bietet hier ein Setting, das eine
Verknüpfung der beiden Ansätze und ihrer Vorteile bereithält. Sie vereint die
Möglichkeit, dass sich Kinder im Spiel ausdrücken – und zwar sowohl ihr innerpsychisches Innenleben als auch die Interaktion mit ihren Eltern – mit dem
Einbezug der Eltern in den kindlichen Veränderungsprozess.
Kinderorientierte Familientherapie wurde in den 1980er Jahren von dem norwegischen Psychologen und Kindertherapeuten Martin Soltvedt (2005) entwickelt.
Ihm war wichtig, den Kindern die Möglichkeit zu belassen, ihre eigene Sicht auf
Probleme und ihre Veränderung zu demonstrieren. Hierzu hielt er es für entscheidend, dass die Eltern diese Sicht der Kinder selbst erleben und verstehen können.
So sollen die Eltern dem kindlichen Spiel in einem ersten Schritt zuschauen.
Häufig wird freies Rollenspiel mit Figuren gespielt, aber auch andere Varianten
des Spiels sind möglich. Soltvedt geht von diesen kindlichen Ausdrucksformen
aus und versucht, sie gemeinsam mit den Eltern zu entschlüsseln. So kann sich
das Kind auf seinem gewohnten Kommunikationsweg, dem Spiel, ausdrücken,
wie es in der Kindertherapie seit ihrer Entstehung genutzt wird (z. B. Freud 1927,
Axline 1972, Oaklander 1978).
165
bernd reiners
Soltvedt (2005) hat einen idealtypischen Ablauf der kinderorientierten Familientherapie entwickelt, der nicht zwanghaft einzuhalten ist, sondern lediglich als
Orientierung dienen soll.
Ablauf der Kinderorientierten Familientherapie
1. Zwei bis drei Vorgespräche mit den Eltern (Auftragsklärung, Joining; Erläu terung des Settings)
Selbstverständlich findet in der kinderorientierten Familientherapie zu Beginn
der Therapie systemisches Grundwissen seine Anwendung. So ist die Auftragsklärung (vom Anlass über Anliegen zu Auftrag und Kontrakt, z. B. Schlippe/
Schweitzer 2010) ein zentraler Aspekt dieser ersten Phase. Daneben ist es wichtig, eine veränderungsförderliche Beziehung zu den Klient(inn)en/Patient(inn)
en zu gestalten. Klient(inn)en sollten sich verstanden und mit ihrer Problemsicht ernst genommen fühlen. Gleichzeitig kann Hoffnung auf Veränderung
gefördert werden.
In der Kinderorientierten Familientherapie wird zudem die Bedeutung des
Spiels für die kindliche Entwicklung und Therapie erklärt. Zudem werden die
Eltern informiert, dass die Therapeutin1 das Kind im Spiel kennen lernen möchte, dass dieses Spiel auf Video aufgenommen werden soll und anschließend
mit den Eltern analysiert werden soll.
2. Erste Spielsequenz mit Videoaufzeichnung (ca. 15 min) – Therapeutin und Kind spielen, Eltern schauen zu
Die Therapeutin spielt mit dem Kind, während die Eltern in einigem Abstand
zusehen. Zunächst baut die Therapeutin ein Haus mit einem Zaun darum auf.
In das Gelände setzt sie ihre Alter-Ego-Figur (wörtlich: Zweites-Ich-Figur) und
deren Haustier. (Beim Verfasser sind dies Björn und sein Hund Hasso.) Das
1 Es wird jeweils die weibliche Form verwendet. Männliche Kollegen sind jedoch selbstverständlich mitgedacht.
166
neue ansätze in der arbeit mit kindern
Kind wird gefragt, ob es ebenfalls ein eigenes Zuhause aufbauen möchte. Björn
beginnt sofort, sich mit Hasso darüber zu „unterhalten“, was auf der Seite des
Sandkastens geschieht. Kommen neue Nachbarn, wie sieht es dort aus, was
tun die Nachbarn etc. Im Spiel erhält die Therapeutin ein eigenes Bild von der
kindlichen Entwicklung, seinem Kommunikationsvermögen und seinen Fähigkeiten zum Zusammenspiel. Außerdem fungiert sie als Vorbild für die Eltern in
folgenden Spielsequenzen, wenn es zum Beispiel um die Art der Grenzsetzung
geht etc.
3. Video-Nachgespräch mit den Eltern (ca. 60 min)
Das Nachgespräch wird in der Regel nur mit den Eltern ohne das Kind durchgeführt. Hier wird besprochen, wie das Kind Kontakt zu der Therapeutin
aufgenommen hat. Ist es ihm gut gelungen? War es schwierig? Durch welche
Handlungen der Therapeutin fiel es dem Kind leichter etc.? Was erkennen die
Eltern aus ihrem Leben mit dem Kind wieder? Was im Spiel könnte mit dem
Anliegen der Therapie zusammenhängen bzw. dieses spiegeln?
Wenn im ersten Spiel der Kontakt zum Kind nicht von allen als „hinreichend
gelungen“ angesehen wird, folgen weitere Spielsequenzen zwischen Therapeutin und Kind – ansonsten geht es weiter mit Punkt vier.
4. Zweite Spielsequenz mit Videoaufzeichnung (ca. 15 min) – Familie und Therapeutin spielen gemeinsam
Jedes Familienmitglied baut sich idealerweise ein eigenes Zuhause. Die therapeutische Spielfigur nimmt dabei am Spiel teil. Sie versucht, gemeinsame
Handlungen in der Familie zu unterstützen oder zu ermöglichen. Dabei kann
sich mit ihrer Tierfigur darüber unterhalten, was um sie herum geschieht, oder
einen Rundgang machen, in dem sich alle Mitspieler vorstellen etc.
So entsteht ein Bild des Zusammenspiels zwischen Eltern und Kind und zwischen den Eltern. Wie behandeln die Eltern ihr Kind? Wie geht es mit seinen
Eltern um, wie ist die Interaktion des Paares? Gibt es Unterschiede zum ersten
Spiel mit der Therapeutin etc.?
167
bernd reiners
5. Video-Nachgespräch mit den Eltern (ca. 60 min)
Dieses Gespräch, erneut ohne Kind, ähnelt dem ersten Nachgespräch: Welche
Parallelen (diesmal auch der Interaktion) zum Alltag der Familie finden sich?
Welche Verhaltensweisen der Eltern oder der Therapeutin begünstigen das
erwünschte Verhalten des Kindes?
6. Zwei bis drei Wiederholungen der familiären Spielsequenz mit Nachgespräch
Nach jeder Spielsequenz findet ein Nachgespräch statt, in dem reflektiert wird,
wie die veränderten Verhaltensweisen der Eltern sich im Verhalten des Kindes
niederschlagen bzw. welche neuen Verhaltensweisen die Eltern im nächsten
Spiel ausprobieren wollen. So werden von den Eltern Ziele für die nächste Spielsituation formuliert, z. B.:
· „Wie könnte es gehen, mit dem Krokodil zu reden, das so plötzlich den Zaun plattgemacht hat?“
· „Wie können wir Kevin dazu bekommen, etwas länger bei einem Treffen zu bleiben?“
7. Bilanzgespräch mit den Eltern
Soll weiter gespielt werden, gilt es eher andere Wege zu verfolgen, zeigen sich
die Veränderungen im Spiel auch im familiären Alltag etc.
Insgesamt sind sechs bis zehn Spielsequenzen mit der ganzen Familie üblich.
Von diesem Vorgehen können immer wieder Abweichungen auftreten, dass
sich z. B. Paarprobleme zeigen, die in einem anderen Setting bearbeitet werden
sollen, ein weiteres Nachgespräch gewünscht wird etc.
168
neue ansätze in der arbeit mit kindern
Indikation
Besonders geeignet ist die Kinderorientierte Familientherapie für Familien
mit einem Kind im Vorschul- oder Grundschulalter bzw. einem entsprechenden Entwicklungstand, also Kinder, die es gewohnt sind, sich im Spiel
auszudrücken. Bei folgenden Problemfeldern sollte an die Behandlung mit
Kinderorientierter Familientherapie gedacht werden (vgl. Brolin-Bjurmark/
Nilsson 1996):
· Eltern verstehen ihr Kind nicht,
· Tempo- und Aktivitätsunterschiede zwischen Eltern und Kind z. B.:
· schüchterne, ängstliche, zurückhaltende Kinder,
· Kinder, die aggressive Verhaltensweisen zeigen,
· hyperaktive Kinder,
· Kontaktprobleme (als besondere Formen: Autismus oder selektiver Mutismus),
· Konzentrationsprobleme, ADS,
· Diagnostik der familiären Beziehungen,
· Anbahnung von Adoption oder Pflegefamilien, Rückführung in die Herkunftsfamilie, Umgangsanbahnung.
Eine nähere Beschreibung dieser Anwendungsfelder gibt es bei Reiners (2013).
Theoretischer Hintergrund
Soltvedt (2005) beschreibt drei theoretische Eckpfeiler:
· Die psychodynamische Kindertherapie mit ihrem Wissen um Entwicklungspsychologie, dem kindlichen Spiel mit der Symbollehre, der Bindungstheorie und der neueren Säuglingsforschung.
· Die systemische Therapie mit ihrem Blick auf das ganze System, seine
Beziehungen, seine Interaktionsmuster und seine Kommunikation. Besonders betont er Allparteilichkeit und Neutralität als Grundhaltungen sowie
Auftragsklärung und Joining als wesentliche Methoden.
169
bernd reiners
· Die Verhaltenstherapie mit ihrer Betonung der konkreten Handlungen, der
Möglichkeit, verändertes Verhalten auszuprobieren und einzuüben, sowie
der Lerntheorie als Hintergrund.
Die genauere Beschreibung dieser Theorien ist in der Grundlagenliteratur zu
finden. Angewendet auf die Kinderorientierte Familientherapie sind sie bei
Reiners (2013) beschrieben. Aufgrund der Unterschiede zu humanistischen und
psychoanalytischen Spieltherapien soll die Interaktionsorientierung im vorliegenden Text näher erläutert werden.
Die Interaktion als Fokus der therapeutischen Aufmerksamkeit
Während die klassische Kindertherapie (beispielhaft Freud 1923, Axline 1972,
Oaklander 1978, Kalff 1979) das Innenleben des Kindes betont und daher
besonderen Wert darauf legt, dem Kind zu ungehindertem Selbstausdruck zu
verhelfen, liegt das Augenmerk bei der Kinderorientierten Familientherapie
eher auf der Interaktion. Dieser Unterschied hat weitreichende Konsequenzen,
insbesondere folgende:
a. Die Therapeutin ist wesentlich aktiver. (Unterbrechen von Wiederholungen, ausschweifenden Inszenierungen, sie lässt ihre Figur und die der
Mitspieler/Eltern nicht töten etc.)
b. Die Eltern haben die „Deutungshoheit“ über das Spiel.
c. Die Eltern spielen mit.
Zu a) In der klassischen Kindertherapie hält sich die Therapeutin im Spiel
zurück, um den Selbstausdruck des Kindes nicht zu beschränken. Wenn Interventionen der Therapeutin beschrieben werden, dann in der Regel eher als Unterstützung des Selbstausdrucks (z. B. Axline 1972, Oaklander 1978). In neueren
Ansätzen interveniert die Therapeutin auch etwas direktiver (z. B. Schmidtchen
1999). Eine gespielte Geschichte wird mithilfe der Therapeutin durch das Kind
zu einem guten Ende gebracht (Brächter 2010), die andauernde Reinszenierung
eines Traumas wird unterbrochen (Weinberg 2005) etc. In der Kinderorientierten Familientherapie nimmt die Therapeutin eine aktiv mitspielende Rolle ein.
170
neue ansätze in der arbeit mit kindern
Ihre Interventionen zielen darauf ab, mit dem Kind eine gelungene, für alle
Beteiligten befriedigende Interaktion zu gestalten. Dabei folgt das Verhalten
der Therapeutin weitgehend den Regeln einer spontanen gelungenen Interaktion, wie es z. B. auch im Improvisationstheater gefordert wird (Johnstone
1993). Dabei geht es darum, grundsätzlich jedes Verhalten des Gegenübers
als Interaktionseinladung anzunehmen und positiv darauf einzugehen (s. u.).
Auch hier werden ausschweifende Inszenierungen oder andauernde Wiederholungen unterbrochen. Wenn z. B. das Kind immer wieder beim Versteck-Spielen
schummelt, könnte die therapeutische Alter-Ego-Figur mit ihrem Haustier oder
mit der kindlichen Figur darüber sprechen, dass sie lieber Verstecken spielt,
wenn die andere Person nicht schon vorher weiß, wo sie sich versteckt. Dabei
geht es nicht darum, zu moralisieren und dem Kind den Spaß zu nehmen, sondern im Gegenteil darum, den Spaß im Spiel zu erhöhen.
Eine Besonderheit der therapeutischen Figur ist, dass sie Tote im Spiel verhindert. Hierin wird vermutlich die Interaktionsorientierung besonders deutlich.
Es kann hilfreich für ein Kind sein, im Spiel Figuren zu töten und durch dieses
Ausleben seiner Aggression innere Konflikte zu lösen. In der Kinderorientierten Familientherapie wird jedoch nicht zugelassen, dass Mitspielende getötet
werden. Wie soll eine befriedigende Interaktion mit toten Figuren gelingen?
Es wäre zwar möglich, die tote Figur wieder von einem Zauberer zum Leben
erwecken zu lassen. Zwei zentrale Gründe sprechen gegen Tötung der Figur.
Der erste ist pragmatischer Natur: Wir als Therapeut(inn)en sind möglicherweise erfahren und finden Tötungen nicht schlimm. In der Kinderorientierten
Familientherapie sollen jedoch auch die Eltern mitspielen, bei denen man
eine solche Toleranz nicht voraussetzen kann. Der zweite Grund ist, dass sich
in der Aggression des Kindes gegen seine Mitspielenden auch seine Form der
Interaktion zeigt. Hier geht es um Grenzziehung, um Umgang mit kindlichen
Aggressionen etc. Vermutlich wird ein Kind, das ein solches Spiel inszeniert,
auch im Alltag aggressive Ausbrüche zeigen. Das Spiel in der Kinderorientierten Familientherapie soll modellhaft den Alltag zeigen und Veränderungen auf
der Probebühne des Spiels ermöglichen. Sich umbringen zu lassen, sprich die
Aggressionen des Kindes im Alltag zu erdulden, ist meistens nicht wirklich die
heilende Option. Eher könnte es darum gehen, die Aggression durchaus anzu-
171
bernd reiners
nehmen, ihr aber so zu begegnen, dass die eigene Freiheit nicht beschnitten
wird. Im Alltag würde das z. B. bedeuten, darauf zu bestehen, dass Kinder ins
Bett gehen, obwohl sie darauf keine Lust haben und möglicherweise die Eltern
anschreien oder sogar nach ihnen schlagen. Im Spiel ist es sinnvoll, das Töten
zu unterbinden ohne das Kind für den Impuls zu bestrafen. Dies soll durch eine
kleine Fallvignette erläutert werden:
Der fünfjährige Tobias2 kommt mit seinen Eltern zur Therapie, weil
er sich zu Hause sehr zurückzieht. Die Eltern, insbesondere der Vater,
kommen kaum „an ihn heran“. Außer Haus falle er durch plötzliche Aggressionen auf. Im Spiel wählt Tobias sich einen Dinosaurier und einen
kleinen Hund aus. Der Dinosaurier gräbt zunächst einen tiefen Graben
im Sand und versteckt sich dann hinter dem entstandenen Hügel. Den
Hund versteckt Tobias hinter einem Baum. Als sich Björn mit Hasso
dem Hund nähert, kommt der Dinosaurier aus seinem Versteck und
läuft mit lautstarken Drohgebärden schützend vor Tobias’ Hund umher.
Björn murmelt zu Hasso, dass er noch nie einen Dino gesehen habe,
dieser aber offenbar sehr stark sei und gerade irgendetwas beschützen
müsse; er würde den Dino gerne mal anfassen, um zu fühlen, wie er sich
anfühlt, aber das mache er jetzt lieber nicht. Als sich Hasso dem Hund
nähert, nachdem sich der Dinosaurier etwas beruhigt hat, sagt Björn
zu Hasso, dass dieser wohl mit dem Dino spielen wolle. Der Dinosaurier kommt näher und will den Hund auffressen. Björn stellt sich ganz
schnell davor und meint: „Oh, oh, oh, stopp, stopp!“ Ich nehme meine
Hand hinzu und halte sie zwischen Hund und Dino. Björn zum Hund:
„Puh, das war knapp! Du willst doch bestimmt nicht gefressen werden?“
Als der Hund nicht antwortet, spricht er zu dem Dino: „Hast du Hunger?“
Der Dinosaurier bestätigt dies mit einem Grunzen. Björn: „Hm. Du bist
offensichtlich ein Fleischfresser … Vielleicht habe ich noch was Fleisch in
der Tiefkühltruhe …?“ Da sich der Dinosaurier abwartend verhält, geht
Björn zurück zu seinem Haus und holt etwas Fleisch (einen Glasperlen-
2 Namen und andere Erkennungsmerkmale sind so verfremdet, dass ein Wiedererkennen der Personen nicht 172
möglich ist.
neue ansätze in der arbeit mit kindern
stein). Mit diesem füttert er anschließend den Dino. Doch nach einem
Fleischstück ist der Dinosaurier nicht satt – nach zweien auch nicht.
Björn bittet ihn, noch einen Moment zu warten, da er noch etwas Fleisch
kaufen müsse. Darauf lässt sich der Dinosaurier ein und wartet in Ruhe
ab. Dies ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu seinem ursprünglichen Gebaren. Nachdem Björn vom Einkaufen zurückkehrt, wirft er dem
Dinosaurier drei weitere Fleischstücke zu, bis Tobias murmelt: „Jetzt
ist genug.“ Björn wendet sich nun wieder dem Hund zu. Im weiteren
Verlauf gelingt es Hasso, mit Tobias’ Hund fangen und schließlich sogar
gemeinsam mit Björn verstecken zu spielen.
Im Fallbeispiel gelang es mit einigen Hilfsmitteln, die Aggressionen des Jungen
zu befriedigen und eine gelungenere Interaktion mit einer anderen Figur (man
könnte sagen, einem anderen Anteil) des Jungen zu initiieren.
Zu b) Auch im Nachgespräch liegt der Fokus auf der Interaktion im Spiel. Es
wird versucht, zu verstehen, warum sich das Kind auf eine bestimmte Weise
verhält. Dabei wird der Blick sowohl auf die Eigenheiten des Kindes als auch
auf die Besonderheiten der Situation gelenkt. Das kindliche Spielverhalten zu
analysieren ist dabei kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste des Verständnisses des kindlichen Alltagsverhaltens. Da die Eltern das Kind aus dem Alltag
kennen, die Therapeutin jedoch nur aus der Spielsituation, sind hier die Eltern
gefragt: Kennen sie dieses Verhalten aus dem Alltag? Immer wieder wird so
eine Parallele zum Alltag hergestellt.
Tobias’ Eltern wurden gefragt, wie sie Tobias’ Verhalten verstehen. Beide
konnten die verschiedenen Anteile ihres Sohnes, hier dargestellt in verschiedenen Tieren, gut im Alltag wiederfinden. Der Vater fand beeindruckend, dass man an den „lieben Hund“ erst herankommen kann, wenn der
„böse Dino“ beruhigt ist. Befragt, wofür denn das Fleisch im Alltag stehen
könne, fiel der Mutter ein, dass sich ihr Sohn oft mit etwas Süßem, noch
besser aber mit der Ankündigung seines Lieblingsspiels (ein Tischspiel)
„bestechen“ lasse. Dann sei es oft möglich, dass er seine vorherige aggressive
Verweigerung aufgebe.
173
bernd reiners
Zu c) Die Interaktionsorientierung zeigt sich noch deutlicher im familiären
Spiel. Dies ist gerade die Besonderheit der Kinderorientierten Familientherapie.
Dabei werden sowohl die Eigenheiten der einzelnen Familienmitglieder aber
eben auch ihre Interaktion deutlich.
Die Therapeutin versucht, das Zusammenspiel der Familie zu unterstützen.
Dazu kann sie einzelnen verhelfen, sich am Spiel der anderen zu beteiligen
oder auch den anderen Zeit für sich zu lassen. Sie kann auch auf Mitspielende
zugehen und eigene Vorschläge machen etc. Im Gegensatz zu eher „diagnostischer“ Spieltherapie, die möglichst viel über das Innenleben der Kinder
erfahren möchte, interessiert in der Kinderorientierten Familientherapie
auch, wie das Kind auf seine Umwelt reagiert. Jedes Verhalten wird in der
systemischen Therapie als kontextbezogen betrachtet. Das bedeutet, ein Kind
zeigt sein Verhalten nicht „von sich heraus“, sondern auch als Reaktion auf
seine Umwelt. Natürlich haben Kinder (und Erwachsene) Eigenheiten, sie
reagieren häufig auf bestimmte Weisen. Sie zeigen aber dieses Verhalten
eben nicht in jeder Situation gleich. So kann z. B. ein Kind, das als schüchtern
beschrieben wird, in bestimmten Situationen durchaus frech sein. Es reagiert
aber vielleicht häufiger schüchtern als andere Kinder. Im Spiel der Kinderorientierten Familientherapie soll deutlich werden, wie die Umwelt, also z. B.
die Eltern, den Kontext beeinflussen können, sodass dieses Kind sich seltener
schüchtern zeigt. Dazu ist es sinnvoll, dass die Eltern auch im Spiel mit dem
Kind interagieren.
Wenn man die Interaktion als zirkulär mitursächlich für Veränderungen
betrachtet, wie es die systemische Therapie tut, ist es sinnvoll, die Interaktion
zu betrachten und nicht ausschließlich das Innenleben einer Person.
Wirkfaktoren in den verschiedenen Phasen
In den verschiedenen Phasen der Kinderorientierten Familientherapie sind
verschiedene Faktoren therapeutisch wirksam. Das erste Spiel von Kind und
Therapeutin inklusive seinem Nachgespräch verhilft den Eltern insbesondere,
ihr Kind auch mit dem Verhalten, das sie selbst so problematisch erleben, besser zu verstehen. Sie können dieses Verhalten besser als nicht ausschließlich
174
neue ansätze in der arbeit mit kindern
kindgesteuert sondern interaktionsbedingt erkennen. So verstehen sie das
Verhalten und das Innenleben des Kindes besser. Für manche Eltern ist dieser
erste Schritt bereits ausreichend. Sie verstehen ihr Kind besser und können ihr
eigenes Verhalten daraufhin so verändern, dass die Interaktion hinreichend
befriedigend erlebt wird. Nicht zuletzt ist das erste Spiel für das Kind selbst
heilsam, wie es in der Kindertherapie seit Beginn ihres Bestehens genutzt wird.
Tobias‘ aggressive Seite könnte durch das Spiel ein Stück beruhigt worden sein,
sodass er sie im Alltag nicht mehr so ausgeprägt zu zeigen braucht.
Im ersten familiären Zusammenspiel und seinem Nachgespräch erkennen die
Eltern ihr eigenes Verhalten und seine Auswirkungen auf das Kind.
Bei Tobias fällt zunächst auf, dass sein Zuhause mit dicken Mauern geschützt wird. Im Nachgespräch fragten sich die Eltern, warum er diesen
Schutz aufbaute, wenn er mit ihnen, nicht jedoch, wenn er mit mir spielte.
Sie hatten den Eindruck, ihr Sohn habe mehr Angst vor ihnen als vor mir.
Im Verlauf des Spiels zeigt sich jedoch, dass die Mauern den Dinosaurier
„ersetzen“. Der Dinosaurier aus dem ersten Spiel konnte anders verstanden
werden: Er war nicht in erster Linie aggressiv, sondern tatsächlich eher
zum Schutz des Hundes. Im familiären Spiel schützten die Mauern den
Hund. Tobias verteidigt sich in verschiedenen Situationen auf verschiedene Weisen. Zu Hause tut er dies eher mit stillem Rückzug, bei Fremden
(hier: in der Spielsituation mit mir, im Alltag: in der Kindertagesstätte)
eher durch Angriff.
Im weiteren Spiel zeigt sich auch die Strategie des Vaters als wenig
hilfreich, der in Erinnerung an das erste Spiel selbst einen Dinosaurier gewählt hat. Er geht auf seinen Sohn zu, der wieder den Hund, aber diesmal
kein zweites Tier genommen hat. Als der Dinosaurier ihm zu nahe kommt,
winselt der Hund und vergräbt sich im Sand. Der Dinosaurier zieht sich
daraufhin in sein eigenes Land zurück. Die Mutter, die sich hinter einem
Zaun mit einer dichten Baumreihe davor versteckt hält, wird von ihrem
Sohn immerhin besucht – kurz nachdem der Vater dem Hund zu nahe
gekommen ist. Zu einem fröhlichen Zusammenspiel aber kommt es auch
hier nicht.
175
bernd reiners
Im Nachgespräch zeigten sich beide Eltern über das Spiel insgesamt etwas
frustriert. „Genau so“ sei es auch zu Hause immer. Ihr Sohn gehe ihnen aus
dem Weg etc. Das Weglaufen des Hundes zu der mütterlichen Figur ärgerte
den Vater. Tatsächlich hole Tobias häufig völlig unnötig bei seiner Frau Schutz.
Tobias Mutter erwiderte, dass ihr Mann tatsächlich häufig etwas grob sei.
Deutlich wurde, wie die unterschiedlichen Umgangsformen der Eltern einen
Kontakt zum Sohn erschweren und sie sich gegenseitig „boykottieren“.
Hier wurde eine Abweichung des üblichen Vorgehens vorgenommen.
Zunächst fanden einige Gespräche ausschließlich mit den Eltern statt, um
ihren Konflikt zunächst besser zu verstehen und schließlich zu verändern.
In weiteren familiären Spielsituationen können die Eltern andere Verhaltensweisen ausprobieren und erhalten auf Spielebene eine Art Feedback oder
Erfolgskontrolle.
Tobias‘ Vater hatte sich in den Elterngesprächen vorgenommen, vorsichtiger auf seinen Sohn zuzugehen. Tobias’ Mutter hingegen wollte weniger
Angst vor ihm haben. Dies sei im Alltag sehr schwierig, daher wünschten
sie eine erneute Spielsituation mit expliziter Unterstützung durch Björn. Im
zweiten familiären Spiel etwa zwei Monate nach dem ersten Spiel wählte
Tobias nicht mehr den Hund, sondern einen Hasen und einen Menschen
zum Spielen. Seine Mutter nahm ebenfalls einen Hasen, sein Vater einen
Menschen mit einem Papagei. Unterstützt durch Björn gelang es, dass alle
drei Figuren miteinander spielten. Die Eltern waren sehr zufrieden.
Auch wenn in diesem Fall das Spiel nun eine gelungene Steuerung durch die
Eltern erfahren hat, ist noch unklar, ob diese Steuerung im familiären Alltag
auch gelingt. Der Transfer in den Alltag gelingt vielen Eltern wie von selbst.
Tobias’ Eltern hatten nun erlebt, wie ihr Sohn mit ihnen in Kontakt geht, wenn
sie vorsichtig und einander ähnlich auf ihn zugehen. Dies gelang ihnen in der
Zukunft auch im Alltag besser.
In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, mit Eltern darüber zu sprechen, was
es für Hindernisse gibt, das im Spiel erfolgreiche Verhalten auch im Alltag zu
176
neue ansätze in der arbeit mit kindern
zeigen. Dies können biografische Gründe, innere Überzeugungen oder auch
bislang nicht verstandene Details in der Interaktion sein. Manche wollen das
veränderte Verhalten auch wiederholt im Spiel „einüben“, um im Alltag leichter
darauf zurückgreifen zu können.
Fazit
Kinderorientierte Familientherapie wird von vielen Familien als enorm bereichernd erlebt und macht auch den Therapeut(inn)en häufig Spaß. Sie kann
dabei helfen, ein Kind besser zu verstehen, da sie insbesondere in den Spielsequenzen das emotionale Erleben anspricht, das gemeinsam mit den Eltern
reflektiert wird. So werden Sterns (1991) zwei Wege der Veränderung beschritten: Die Veränderung der elterlichen inneren Bilder im Nachgespräch und die
Veränderung der tatsächlichen Handlungen zunächst im Spiel als Probebühne
und später im Alltag der Familie.
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bernd reiners
Literatur
Axline, V. (1972, 1999): Kinderspieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. 9. Aufl. München: Reinhardt.
Brächter, W. (2010): Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen
systemischen Spieltherapie. Heidelberg: Carl-Auer.
Brolin-Bjurmark, G./Nilsson, G. (1996): Arbete med barnorienterad familjeterapi –
BOF. Stockholms läns landsting, omsorgsnämndens rapportserie, S. 96–103.
Freud, A. (1923, 1995): Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 7. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer.
Johnstone, K. (1993): Improvisation und Theater. Berlin: Alexander.
Kalff, D. M. (1979): Sandspiel. Genf: Rentsch.
McDermott, J./Char, W. F. (1974): The undeclared war between child and family therapy. Journal of the American Academy of Child & Adolescend Psychiatry, 13 (3), pp. 422–436.
Oaklander, V. (1978, 1999): Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. 11. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
Reiners, B. (2013): Kinderorientierte Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schlippe, von A./Schweitzer, J. (2010): Systemische Interventionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schmidtchen, S. (1999): Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie. Weinheim: Beltz.
Soltvedt, M. (2005): BOF. Barnorienterad Familjeterapi. Falun/Schweden: Mareld.
Stern, D. (1991): Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. München: Piper.
Weinberg, D. (2005): Traumatherapie mit Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta.
178
K
peter mosser
Kinder schützen – auch vor Kindern!
Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen
Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter
Gewalt
Um die Sexualität unserer Kinder gruppieren sich gesellschaftliche, kulturelle
und fachöffentliche Debatten, die häufig eher unter vorgehaltener Hand
geführt werden und nur zum Teil geeignet sind, zuverlässige Orientierungen
und tragfähiges Handlungswissen zu vermitteln (für einen aktuellen Überblick siehe Quindeau/Brumlik 2012). Kinder sind sexuelle Wesen. Sie leben ihre
Sexualität auf eine Weise, die manchmal für Erwachsene sichtbar ist, manchmal nicht (Bancroft/Herbenick/Reynolds 2003). Für Eltern und pädagogische
Fachkräfte in Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen
und Schulen stellt sich die Frage der erzieherischen Einflussnahme. Sie stellt
sich auf andere Weise als bei anderen kindlichen Entwicklungsaufgaben. Der
Umgang mit Sexualität ist nämlich mit einem Umgang mit Intimität assoziiert
und somit einer diskursiven Verhandlung im Alltag nur begrenzt zugänglich.
Weil der Raum des selbstverständlichen Dialogs aber begrenzt ist, sind Erwachsene – sowohl als Eltern als auch als pädagogische Fachkräfte – in hohem Maße
auf eigene Emotionen und häufig nicht ausreichend reflektierte Einstellungen
zurückgeworfen, wenn sie sich mit kindlicher Sexualität konfrontiert sehen.
Sexualpädagogik ist die praktische Disziplin, die den Raum für Dialoge öffnet
und auf diese Weise die kindliche Sexualität einer verantwortungsvollen und
handlungsorientierten Erziehungspraxis zugänglich macht. Aber Sexualität
wird auch als gefährdend wahrgenommen, sodass häufig der Schutz vor sexualisierter Gewalt in das Zentrum pädagogischen Handelns gerückt wird. Das ist
der Bereich der Prävention. Wie verträgt sich das? Übersieht Sexualpädagogik
das schädigende Potenzial sexuellen Handelns? Reduziert Prävention die kindliche Sexualität auf etwas, was eigentlich verhindert werden muss? Das Problem manifestiert sich besonders deutlich im Bereich der sexuellen Grenzverlet-
181
peter mosser
zungen zwischen Kindern. Sind Kinder für andere Kinder tatsächlich gefährlich,
oder besteht das Problem hauptsächlich darin, dass Kinder vor allem von der
übertriebenen Besorgnis Erwachsener in ihren sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden?
Sexualisierte Grenzverletzungen zwischen Kindern
Das Problem ist nicht neu, aber es findet erst in den letzten Jahren zunehmend
Eingang in die psychosoziale Praxis und in den wissenschaftlichen Diskurs
(Mosser 2012). Schon Sigmund Freud sprach von „Akten sexueller Aggression“, die Kinder gegen andere Kinder ausüben (Freud 1896, zit. n. Masson 1995).
Sexuelle Grenzverletzungen zwischen Kindern lösen bei Erwachsenen in der
Regel starke Emotionen und erhebliche Verunsicherungen aus. Im Gegensatz
zu sexuellem Missbrauch, den Erwachsene gegen Kinder verüben, sind sexuelle
Handlungen zwischen Kindern prinzipiell einem gewissen Interpretationsspielraum zugänglich: Ist das noch in Ordnung? Was ist hier normal? In welchem Ausmaß werden Kinder dadurch geschädigt?
Fälle sexualisierter Grenzverletzungen zwischen Kindern ziehen bei Erwachsenen häufig Leugnungs- und Bagatellisierungstendenzen nach sich. Eltern, deren
Kinder der sexuellen Grenzverletzung bezichtigt werden, reagieren nicht selten
mit Abwehr: „Mein Kind macht so was nicht!“, „Das ist doch ganz normal!“
„Wollen Sie mein Kind als Sexualtäter abstempeln?“ Auch Einrichtungen, in denen es zu solchen Vorfällen kommt, gehen häufig in Deckung: „Wir haben davon
nichts mitbekommen.“, „Wir wissen nicht genau, was passiert ist (bzw.: „Wir
können es nicht in Worte fassen.“), „Wir können doch nicht alle Kinder rund um
die Uhr beaufsichtigen!“ Solche Reaktionen folgen der Logik des Selbstschutzes
und zeigen, dass die Unsicherheiten, die mit sexuellem Verhalten von Kindern
assoziiert sind, erheblich sind. Im Untergrund lauern existenzielle bzw. existenzbedrohende Fragen wie: „Haben die Eltern ihr Kind sexuell missbraucht?“ oder
„Ist die Einrichtung ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen?“ Wichtig ist,
dass in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Ebenen in Augenschein
genommen werden müssen: (1) Das sexuelle Verhalten der Kinder und (2) Die
Bewertung dieses Verhaltens durch (interessengeleitete) Erwachsene.
182
kinder schützen – auch vor kindern!
Die zentrale Bewertungskategorie äußert sich in der Frage: „Was ist normal?“
Ein damit verbundenes Problem besteht in der Vermischung unterschiedlicher Dimensionen von Normalität (Araji 1997, Lamb/Coakley 1993, Schuhrke
2002): Geht es um Fragen der Gesundheit? („Ist das Verhalten für die Kinder
schädigend?“), um Fragen der Moral („Ist das Verhalten der Kinder anständig
bzw. anstößig?“), um Fragen der Entwicklung („Ist das Verhalten der Kinder
altersangemessen?“) oder um Fragen der Statistik? („Ist das Verhalten deshalb
abnormal, weil es selten vorkommt?“). Hier wird deutlich, wie kompliziert eine
zutreffende Einschätzung sexuellen Verhaltens von Kindern ist. Dabei sind
mindestens folgende Kriterien in Betracht zu ziehen (Johnson/Feldmeth 1993):
Eigenschaften der beteiligten Kinder (Alter, körperliche Größe, …), Beziehungsfaktoren (Status in der Gruppe, …), emotionale Qualität bei der Ausübung der
sexuellen Handlungen (Affekt), Art der Handlung (kindliches Verhalten vs.
Praktiken der Erwachsenensexualität). Der Charakter sexuellen Verhaltens von
Kindern ist nicht anhand eines Entweder-Oder-Schemas einzuordnen („Entweder es ist in Ordnung oder es ist ganz schlimm“), sondern auf einem Kontinuum
anzusiedeln, auf dem unterschiedliche Ausmaße an Grenzverletzung Berücksichtigung finden.
Bettina Schuhrke (Schuhrke 2013) hat auf einer Tagung der KinderschutzZentren im Jahr 2013 in Kiel die Frage aufgeworfen: Wie sexuell sind eigentlich
sexuelle Grenzverletzungen? Im Zusammenhang mit dieser Frage sind zwei
Tatsachen zu berücksichtigen: (1) Kinder können anderen Kindern Schaden
zufügen. (2) Kinder sind sexuelle Wesen. Dies bedeutet zunächst, dass die
Art und Weise, wie Kinder anderen Kindern Schaden zufügen (Demütigung,
Beleidigung, Bedrohung) auch sexuell gefärbt sein kann. Nicht die Sexualität
des Kindes ist gefährlich. Aber die Verletzungen, die Kinder anderen Kindern
zufügen, können mit sexuellen Mitteln geschehen bzw. sexuell konnotiert sein.
Gesellschaftliche Hintergründe und psychiatrische Störungsbilder
Es können keine gesicherten Angaben dazu gemacht werden, ob sexualisierte
Grenzverletzungen zwischen Kindern tatsächlich häufiger vorkommen als in
früheren Zeiten (König 2011), aber es existiert ein gesellschaftliches Risikopo-
183
peter mosser
tenzial, welches dazu beitragen könnte, dass es zu einer Häufung entsprechender Fälle kommt. Dieses Risikopotenzial entspricht demjenigen, das bestimmten Diagnosen wie ADHS, Bindungsstörungen und PTBS bei Kindern in den
letzten Jahren zu einer auch jenseits der Fachöffentlichkeit wahrgenommenen
Prominenz verholfen haben. Es handelt sich hier um pathologische Phänomene, die etwas mit Vernachlässigung, Entfremdung, Grenzenlosigkeit und
Beschleunigung zu tun haben. Der Traumatherapeut Lutz Besser (Besser 2012)
hat im Rahmen einer Fortbildung die allgemeine Beobachtung geäußert, dass
viele Kinder bindungsgestört, traumatisiert und reizüberflutet wirkten. Solche
Einschätzungen sind global und verallgemeinernd, aber sie verweisen auf eine
Veränderung kindlicher Lebenswelten, die kritisch in Augenschein genommen
werden muss. Gesellschaftliche Imperative sind nicht gemeinschaftsorientiert,
sie befördern Ich-Orientierungen viel stärker als Beziehungsorientierungen.
Lebensprojekte Erwachsener beziehen sich primär auf den eigenen Erfolg,
auf die eigene Attraktivität und auf ein Nicht-abgehängt-Werden auf dem
Arbeits- und Beziehungsmarkt. Zentral ist hier das Problem der zeitlichen
Desynchronisation zwischen kindlicher und Erwachsenenwelt (Rosa 2013). Es
ist zu bezweifeln, ob Erwachsene ihre Geschwindigkeiten noch kindgerecht
organisieren, d. h. ob die Erfüllung kindlicher Bindungswünsche strukturell
vereinbar ist mit dominanten erwachsenen Handlungsmustern. Es stellt sich
in diesem Zusammenhang die Frage, unter welchen Bedingungen Kinder, die
von Bindungsstörungen, Traumatisierungen und/oder Reizüberflutungen
bedroht und betroffen sind, ihre Sexualität organisieren. Hier sind zumindest
gesellschaftliche Risiken in Betracht zu ziehen, die sich unter anderem auch in
einem erheblich veränderten Konsum elektronischer Medien manifestieren
(Quayle/Taylor 2006).
Probleme der Einvernehmlichkeit
Pädagogische Initiativen, die darauf abzielen, Kinder zu stärken und ihnen
Kompetenzen zum Umgang mit Grenzüberschreitungen zu vermitteln, beinhalten unter anderem zwei zentrale Botschaften, die mit folgenden Formeln
beschrieben werden können: (1) „Du musst lernen zu spüren, was dir gefällt
bzw. was dir nicht gefällt!“ (2) „Wenn dir etwas nicht gefällt, dann musst du
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kinder schützen – auch vor kindern!
‚Nein!‘ sagen!“ Diese Anforderungen wirken zunächst relativ einfach. Bei
genauerer Betrachtung erweisen sie sich allerdings als hochkompliziert, weil
sie die Frage der Einvernehmlichkeit sexueller Handlungen betreffen. Um
einer sexuellen Handlung zuzustimmen, bedarf es komplizierter Voraussetzungen im Sinne eines „informed consent“ (Cunningham/McFarlane 1996):
(1) Der Vorschlag muss verstanden werden. (2) Es muss ein Wissen über
gesellschaftliche Standards im Zusammenhang mit dem, was vorgeschlagen
wird, existieren. (3) Mögliche Konsequenzen der vorgeschlagenen Handlungen
müssen antizipierbar sein. (4) Es muss von der Annahme ausgegangen werden,
dass eine Ablehnung des Vorschlags in gleicher Weise akzeptiert wird wie eine
Zustimmung. Dies bedeutet, dass einer sexuellen Handlung genau genommen
nur in Form einer willentlichen Entscheidung auf der Basis einer ausreichenden kognitiven Kompetenz zugestimmt werden kann. Dies kann bei Kindern
klarerweise nicht vorausgesetzt werden, aber es ist wichtig, Behauptungen
von Freiwilligkeit im Zusammenhang mit kindlichen sexuellen Interaktionen
kritisch zu hinterfragen.
Sexualpädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt – ein Widerspruch?
Pädagogisches Handeln, das sich auf kindliche Sexualität bezieht, muss sensibel sein für die Vereinbarkeit institutioneller und familiärer Kulturen (Larsson/
Svedin 2002, Friedrich/Trane 2002). Es ist daher wichtig, dass Eltern und Fachkräfte diesbezüglich miteinander ins Gespräch kommen. Dabei ist auch die
strukturelle Unterschiedlichkeit zwischen Institution und Familie als öffentlicher Raum einerseits und privater Raum andererseits zu berücksichtigen.
Öffentlichkeit und Privatheit sind zentrale Kriterien für die Angemessenheit
sexuellen Verhaltens – auch bei Kindern. Es ist daher die Frage zu diskutieren,
inwieweit Institutionen (z. B. Kindertagesstätten) sich überhaupt als Raum
verstehen sollten, innerhalb dessen sexuelles Verhalten von Kindern befördert
wird. Zumindest müssen sich Institutionen aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wo sie sich zwischen den Extrempolen eines „offenen sexuellen Experimentierfeldes“ einerseits und einer strengen Sanktionierung jeglicher sexueller Äußerung andererseits verorten wollen. Dies führt zu der Frage, welche
pädagogischen Akzente zu setzen sind: Sexualpädagogik, um Kinder bei ihrer
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peter mosser
sexuellen Entfaltung zu begleiten – oder Prävention vor sexualisierter Gewalt,
um Grenzverletzungen zu verhindern? Es taucht dabei auch die Frage auf, ob
es sich hierbei nur um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen handelt oder
gar um gegenläufige Zielrichtungen. In der Praxis ist zu beobachten, dass hinter
den jeweiligen pädagogischen Ansätzen häufig auch unterschiedliche Berufskulturen mit unterschiedlichen Ideologien zu Kindheit und Sexualität stehen.
Die Grundausrichtung besteht in einem Fall in der Entfaltung, im anderen Fall
im Schutz. Dabei wird oft übersehen, dass die Schnittmenge durchaus groß ist
und darin besteht, dass Kinder in einer Weise (auch körperlich) in Beziehung
zu treten lernen, die möglichst wohltuend ist und möglichst keine Grenzen
verletzt.
Was ist zu tun?
Inhaltliche Klärung
Im Sinne einer pädagogischen Selbstverortung sollten sich Einrichtungen mit
folgenden Fragen auseinandersetzen: (1) Sehen wir unsere Aufgabe primär
darin, die sexuelle Entwicklung der Kinder pädagogisch zu begleiten? Oder
aber (2) geht es uns vor allem darum, die Kinder vor sexuellen Grenzverletzungen zu schützen? Es ist evident, dass es sich hier um kein inhaltliches
Gegensatzpaar handelt, dass solche Schwerpunktsetzungen aber dennoch in
hohem Maße die pädagogischen Herangehensweisen modulieren und mit
persönlichen Einstellungen und Haltungen des Personals mehr oder weniger
korrespondieren. Um die eigene Position zuverlässig zu reflektieren, ist es
sinnvoll, die oben gestellten Grundfragen noch weiter zu differenzieren und
(exemplarisch) folgende Fragen zu diskutieren: Welche Kultur vertreten wir?
Was ist uns wichtig? Ermuntern wir zu sexuellen Handlungen oder reagieren
wir auf das, was uns innerhalb der Einrichtung begegnet? Was wollen unsere
Auftraggeber? Was wollen wir nach außen vermitteln? Welche Bedeutung
messen wir der Sexualität in der kindlichen Entwicklung zu? Welche Rolle
weisen wir uns selbst im Zusammenhang mit der sexuellen Entwicklung der
uns anvertrauten Kinder zu? Was können wir im Rahmen unserer Ressourcen
leisten?
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kinder schützen – auch vor kindern!
Differenzierungen vornehmen
Zumindest für die Kinder- und Jugendhilfe schreibt das Bundeskinderschutzgesetz die Entwicklung von Konzepten zum Schutz von Mädchen und Jungen vor
(sexualisierter) Gewalt vor. Analog dazu sollen auch Kindertagesstätten ihrem
Schutzauftrag durch die Entwicklung und Implementierung entsprechender
Konzepte nachkommen. Entsprechende gesetzliche Vorgaben legen bestimmte pädagogische Schwerpunktsetzungen nahe. Sie befördern ein Primat des
Schutzgedankens gegenüber einer sexualpädagogischen Herangehensweise,
die zunächst von einem positiv besetzten Sexualitätsbegriff ausgeht und auf
eine wohlwollende Begleitung kindlicher Sexualität fokussiert. Schutzkonzepte
müssen sensibel sein für Unterschiede. Die Verhinderung von sexuellem Missbrauch eines Erwachsenen gegen ein Kind erfordert andere Interventionsmaßnahmen als sexuelle Grenzverletzungen zwischen Kindern. Für jede Gefährdungskonstellation müssen daher passende Verhaltensrichtlinien entwickelt
werden. In Bezug auf die Prävention von Grenzverletzungen zwischen Kindern
muss unter anderem die Frage der Beurteilung von Einvernehmlichkeit in den
Mittelpunkt gerückt werden. Schutzkonzepte bedürfen daher (1) klarer Regelungen darüber, was innerhalb der Einrichtung erlaubt ist und was nicht und (2)
für alle Fälle, die von diesen Regelungen nur unzureichend erfasst werden, die
Beschreibung eines Modus, wie Einvernehmlichkeit festgestellt werden kann.
Der Diskurs über die Frage der Einvernehmlichkeit berührt die Präventionspraxis
genauso wie die Sexualpädagogik. Schutzkonzepte funktionieren nicht, wenn
sie allein auf die Verhinderung sexualisierter Übergriffe abzielen und keine
Differenzierungen vornehmen. Und Sexualpädagogik greift zu kurz, wenn die
Frage der Einvernehmlichkeit sexuellen Handelns nicht ausreichend Berücksichtigung findet.
Fazit
Aus dem Gesagten lassen sich gemeinsame Anforderungen an Sexualpädagogik und Präventionsarbeit ableiten, die die Basis für eine Integration beider
Zugänge bilden könnten:
187
peter mosser
(1) Konzepte sind grundsätzlich als prozesshaft zu verstehen. Sie müssen
einen Modus beschreiben, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben können. Sie müssen
auch Angaben darüber enthalten, wie aktuelle Entwicklungen Berücksichtigung finden und Verhaltensregeln immer wieder evaluiert werden
können.
(2) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten eigene Haltungen in Bezug auf
kindliche Sexualität offen legen und zur Diskussion anbieten. Dadurch
findet eine Entideologisierung und Entdogmatisierung der pädagogischen
Arbeit zugunsten eines authentischen, reflektierten und fachlich fundierten Zugangs statt.
(3)Einrichtungen müssen sich im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen über ihren Auftrag und inhaltliche Schwerpunktsetzungen klar
werden und dies gegenüber Auftraggebern und Eltern deutlich kommunizieren. Dadurch soll ein kooperatives Klima in der sexualpädagogischen
und präventiven Zusammenarbeit zwischen Einrichtung und Eltern
entstehen.
Nachdem die Notwendigkeit der Entwicklung von Schutzkonzepten allgemein
erkannt wurde, besteht der nächste – und schwierigere – Schritt darin, Kriterien für zuverlässige Implementierungspraxen zu identifizieren. Eines dieser
Kriterien besteht in einer sinnvollen Verbindung sexualpädagogischen und
präventiven Handelns. Hierfür bedarf es noch weiterer praktischer Erfahrungen
und theoretischer Begründungen.
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kinder schützen – auch vor kindern!
Literatur
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189
peter mosser
Quindeau, I./Brumlik, M. (2012): Kindliche Sexualität. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Schuhrke, B. (2013): Erklärungsmodelle zur Entstehung sexuell auffälligen Verhaltens. Vortrag auf dem Fachkongress „Sexuell übergriffige Kinder und
Jugendliche. Fachliche Herausforderungen und Wege der Hilfe“. Die Kinderschutz-Zentren, Kiel, 19.06.2013.
190
B
gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
Bindungs- und traumasensibel arbeiten: Traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinderund Jugendhilfe
Abstract
Traumatische Belastungen stellen Mitarbeiter(innen) der stationären Kinderund Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Werden traumatisierte Kinder
und Jugendliche jedoch adäquat unterstützt, kann ihre Überlebenskraft und
-kreativität jedoch eine Reihe konstruktiver Kräfte entfalten. Traumapädagogische Konzepte bieten hier, so zeigt eine gemeinsame Studie der Einrichtung
„Tabaluga“ mit der Donau-Universität Krems, Lösungsangebote. Durch spezifische Fort- und Weiterbildungen und durch die Schaffung tragfähiger Strukturen können die Fachkräfte bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe unterstützt
werden. Bei der Implementierung von Traumapädagogik erweisen sich die
bereits publizierten Standards der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik (BAG-TP) zudem als hilfreich. Der Artikel veranschaulicht die erfolgreiche
Arbeit an einem Fallbeispiel aus der Studie.
Einleitung
In der „Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe“ wird Kindern und Jugendlichen,
die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in den Herkunftsfamilien
leben können, ein Aufwachsen in familienähnlichen Wohngruppen geboten.
Die zumeist sozial benachteiligten und traumatisierten Kinder werden im
überwiegenden Fall über einen langen Zeitraum hinweg von Tabaluga begleitet. Dabei bieten die dortigen Einrichtungen eine geordnete und sichere
Alltagsstruktur sowie ein breites pädagogisches und therapeutisches Angebot. Dies alles soll dem übergeordneten Ziel der Entwicklung eines individuell
abgestimmten Lebenskonzeptes dienen, das sich für die Zeit nach der Kinder-
193
gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
und Jugendhilfemaßnahme als tragfähige und realistische Basis erweist.
Tabaluga Kinderhäuser gibt es in Tutzing, Schongau und Peißenberg. Für die
älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen steht außerdem betreutes
Wohnen zur Verfügung.
Aber was nützt den Kindern und Jugendlichen dieser Aufenthalt? Eine gemeinsame Studie der Einrichtung „Tabaluga“ gemeinsam mit der Donau-Universität
Krems ist dieser Frge nachgegangen. Ein Forschungsteam begleitete eine über
drei Jahre hinweg in der Stiftung durchgeführte traumapädagogische Schulungsreihe, deren Ergebnisse in die Qualitätsstandards der Einrichtung implementiert wurden. Die Studie zeigt, wie sehr traumatische Folgeerscheinungen
durch adäquate traumapädagogische Begegnungs- und Behandlungsstrategien,
die zuvor durch eine Schulung vermittelt wurden, mitgestaltbar sind und wie
viele Chancen das Hilfesystem darüber ermöglichen kann.
Traumapädagogische Intervention
Im Zentrum der Traumapädagogik: Trauma biografisch verstehen
Ausmaß und Ausformung von Traumafolgen sind abhängig von der Art, den
Umständen und der Dauer der traumatischen Einwirkung, v. a. aber vom
Entwicklungsstand, in dem sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt befindet (Gahleitner 2011). Zu den Umständen zählt insbesondere, ob es vor, während oder
nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat. Der unumstritten wichtigste Schutzfaktor sind „schützende Inselerfahrungen“ (Gahleitner
2005, S. 63). Bei früher Vernachlässigung oder Gewalt ohne schützende Inseln
kommt es daher nicht selten zur Ausbildung „desorganisierter Bindungsmuster“, häufig ein Prädiktor für spätere psychische Erkrankungen (vgl. Brisch
2009).
Auf diese Erfahrungszusammenhänge, die durch entwicklungsbedingte
Verletzlichkeiten sowie individuelle Vorerfahrungen geprägt sind, treffen
die jeweiligen Umfeldfaktoren. Die traumatischen Erlebnisse werden dabei
ständig aktualisiert und modifiziert (Becker 2012). Bei frühen und schweren
194
bindungs- und traumasensibel arbeiten
Einwirkungen resultiert daraus eine „komplexe Traumafolgestörung“ (Sack
et al. 2013) oder „Traumaentwicklungsstörung“ (Schmid et al. 2010), die als Verarbeitungsstrategie gegen die traumatische Einwirkung zu verstehen ist. Man
spricht auch von sequenzieller Traumatisierung (Keilson 1979). Insbesondere
bereits früh in desolate Verhältnisse eingebundene Kinder- und Jugendliche
sind daher existenziell auf soziale Ressourcen angewiesen, die als positive
Gegenhorizonte stabile psychosoziale Geborgenheit verbürgen (Keupp 1997).
Der nächste Schritt: Verstehend Beziehung ermöglichen
Traumatisierte Kinder benötigen daher möglichst viele „Alternativ-Erfahrungen“, d. h. möglichst viele Räume des Verstehens und immer wieder neu
Anknüpfens an konstruktive Veränderungsmöglichkeiten. Dazu haben sie
das Potenzial, es muss jedoch professionell geweckt und begleitet werden.
Trauma- und bindungskompetente Interaktionen stellen auf diese Weise
einen Mikrokosmos von Veränderungspotenzialen zur Verfügung. Gelungene
Begegnungen mit bedeutsamen Personen – als Basis für die (Neu-)Strukturierung der inneren, beängstigenden, evtl. traumatischen Erfahrung – werden
auf diese Weise insbesondere für komplex traumatisierte Klient(inn)en Stück
für Stück zu einem grundlegenden Prinzip der emotionalen, sozialen und
kognitiven Entwicklung. Voraussetzung dafür ist jedoch eine umfassende
biopsychosozial angelegte Diagnostik (vgl. ausführlich Gahleitner 2011, Gahleitner et al. 2014).
Bereits Bowlby (1988/1995, vgl. auch Holmes 1993/2002) betonte die Bedeutung der professionellen Bindungsbeziehung sowie ihre Funktion als sichere
Basis für freies Explorieren, das konstruktive Lernerfahrungen ermöglicht und
negative Bindungserfahrungen revidieren hilft. Auch nach den Ergebnissen
der Psychotherapieforschung gilt die therapeutische Beziehung als stärkster
allgemeiner Wirkfaktor (Orlinsky et al. 1994, vgl. bereits Alexander/French
1946). In der Traumapädagogik wurden diese Überlegungen zu einem komplexen Konzept des sog. „sicheren Ortes“ (Gahleitner 2011, Kühn 2006, Weiß 2013)
weiterentwickelt, der Kindern und Jugendlichen in den bestehenden Einrichtung zur Verfügung gestellt werden muss.
195
gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
Im sicheren Terrain traumapädagogisch intervenieren
Nach dem Verständnis der Traumapädagogik sind Folgeerscheinungen also
nicht nur als Konsequenz traumatischer Ereignisse zu verstehen, sondern
v. a. als Versuche, das traumatische Ereignis möglichst gut zu verarbeiten. Bei
aller scheinbarer Absurdität und Dysfunktionalität stehen sie – zunächst – im
Dienst des Überlebens (Birck 2001). Traumapädagogische Konzepte bauen auf
dieser Grundlage auf und etablieren daher auf Basis der zwischenmenschlichen Beziehungen zunächst innere wie äußere Sicherheit. Diese wiederum ist
die Voraussetzung für alle weiteren Schritte, um dann als Brücke zur Außenwelt zu fungieren und auch dort Veränderungsprozesse zu ermöglichen.
Im Unterschied zur Psychotherapie bemüht sich die Traumapädagogik jedoch
bewusst nicht um eine dyadische Ausschließlichkeit. Denn bei den betroffenen
Kindern bedarf es nicht nur einzelner dyadischer Beziehungen, sondern umfassender Beziehungsnetzwerke aus stabilen Bindungsverhältnissen – bis hinein
in gezielte Elternarbeit und konstruktive Vernetzungssettings unter Institutionen (vgl. Gahleitner 2011, vgl. auch Weiß 2011), um gelungene Hilfeprozesse zu
ermöglichen. Auf dieser Basis ist es möglich, mittels kontrollierter Rekonstruktion des Traumas und eines Verständnisses der Wirkung vergangener Erfahrung auf die momentanen Gefühle und Verhaltensweisen gemeinsam mit den
Kindern einen differenzierteren Umgang mit Symptomen und belastenden
Gefühlen zu erarbeiten.
Auf diese Weise entsteht für die Kinder die Chance, andere Muster der Selbstwahrnehmung und damit ganz konkrete Selbstheilungsmöglichkeiten zu
entwickeln und alltagsnah ein Mehr an Handlungskompetenz, Selbstkontrolle
und Selbstwirksamkeit zu erreichen. Das geschieht über Interventionen zur
Selbstbemächtigung entlang neurophysiologischer Konzepte (dreigliedriges
Gehirn), des Umgangs mit Triggern und übertragungsrelevanter Vorgänge.
Voraussetzung dafür jedoch ist, dass die Gedanken und Gefühle auf die oben
beschriebene Weise professionell diagnostiziert, verstanden und angenommen
werden (vgl. auch das Curriculum von DeGPT und BAG 2011). Auf diese Weise
zu einer Annahme des Traumas zu verhelfen, zu einer Einsicht in die Grenzen
und Möglichkeiten der Bearbeitung und der damit verbundenen Veränderun-
196
bindungs- und traumasensibel arbeiten
gen, erleichtert eine Zuwendung zu aktuellen Lebens- und Alltagsthemen im
umgebenden Kontext und eine Annäherung an die eigenen Fähigkeiten und
Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen für das zukünftige Leben. Für ein
junges Mädchen bei Tabaluga, nennen wir sie Anna, ist dies scheinbar recht
gut gelungen.
„Also, ich finde es schön hier auch. Weil, hier ist es also etwas anders wie zuhause“ –
Fallbeispiel Anna, 9 Jahre
Aufbau einer unterstützenden Beziehung
Das Leben vor Tabaluga war für Anna mit einer großen Anzahl an Problemen
verbunden: „Und, ja dann hatte ich auch meistens Probleme“ (A. 78). Die Mutter
konnte nicht viel bei den Kindern sein, und die Betreuung von Anna und ihren
Geschwistern gestaltete sich problematisch. Annas Leben war daher von unterschiedlichen Betreuungspersonen geprägt: „Hat sich bisschen verändert, weil
hier habe ich eigentlich jetzt nicht mehr so viele Probleme. Aber auch selten
noch welche. Bei meiner Mutter hatte ich eher ein bisschen mehr, weil meine
Mutter ja auch immer arbeiten musste. Dann hatte ich immer jemand anders,
der auf mich aufpasst und so, dann hatte ich schon ein Problem“ (A. 80). Auch
Hilfe in schulischen Angelegenheiten war vor ihrer Zeit bei Tabaluga wenig
vorhanden: „Also, wenn ich früher, als ich bei meiner Mama noch war, ... da
musste meine Mama auch viel meinen Geschwistern helfen, weil ich ja mehrere Geschwister noch hab. Und die ja jetzt schon in einer größeren Klasse sind,
und die haben dann immer viel mehr Hilfe bekommen“ (A. 55). Bei Konflikten
wurden Anna und ihre Geschwister sich selbst überlassen: „Bei meiner Mama
war es so, wir mussten es meistens eigentlich selber klären“ (A. 56).
Anna besucht das Tabaluga Kinderhaus vor ihrem Einzug mehrfach. In der Anfangszeit, als noch keine engen Kontakte zu andern Kindern bestehen, vermisst
sie v. a. ihre Mutter und ihre Geschwister. Der erste Anknüpfungspunkt bei Tabaluga für Anna sind die anderen Kinder dort und die Tiere: „Es haben mir die
anderen Kinder geholfen“ (A. 326). „Dann haben wir auch die Hasen bekommen.
197
gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
Dann war es auch, dann haben sie mich auch beruhigt, weil man auf die Tiere
aufgepasst hat“ (A. 328). Der in der Einrichtung übliche Umgang mit Tieren
spielt für Anna eine sehr wichtige Rolle: „Also, toll finde ich, dass man mit Tieren, wenn man andere Tiere auch kennenlernt. Also nicht immer aus Büchern
lesen oder im Internet schauen oder Bilder drucken, dass man so richtige Fotos
oder so machen kann“ (A. 50). Im Rahmen des Therapieprogramms erhält Anna
Reittherapie. Auch die Ergotherapie bewertet Anna als hilfreich: „Toll, weil wir
auch schreiben oder lesen, das ist besser für mich“ (A. 140).
Der Vertrauensaufbau kann so Stück für Stück wachsen. Das Verhältnis zu den
Pädagog(inn)en beschreibt Anna als sehr gut. In vielen Dingen erhält Anna
Unterstützung von ihren Betreuer(inne)n: „Und hier kriege ich halt so viel, also
zuerst muss ich alleine probieren, aber dann krieg‘ ich Hilfe, kommt drauf an,
bei was ich nicht verstehe“ (A. 54). Hilfreich für Anna ist auch die Unterstützung in Konfliktsituationen durch die psychosozialen Fachkräfte: „Wenn wir
irgendwie Streit oder so haben, dann helfen die eigentlich auch, weil dann
wird immer gemacht: ‚Mit wem möchtest du spielen?‘ oder so. Und dann wird
geredet“ (A. 56).
Annas kleines Geschwisterkind lebt ebenfalls bei Tabaluga. Die Betreuung
hilft, die Geschwisterbeziehung angemessen zu gestalten: „Wenn sie immer in
mein Zimmer wollte, und nie rausgeht. Dass ich sie dann geholt habe“ (A. 100).
Auch für die Gruppenphänomene, die sich in Kindergruppen entfalten können,
bedarf es eines regulierenden Eingreifens durch die Betreuer(innen). Anna
erzählt: „Ja, wenn man, also meistens wenn die Großen dabei sind, wenn man
sich verletzt oder so, oder wenn man irgendwie runterfällt, dass die im ersten
Augenblick lachen, aber dann nicht mehr lachen“ (A. 66).
Hilfreich für Anna ist auch, dass die Einrichtung die Ursprungsfamilie stetig in
die Betreuung einbezieht. Der Kontakt zu Annas Mutter erfolgt in regelmäßigen Intervallen: „Und, eigentlich jedes zweite Wochenende, also ein Wochenende holt sie mein Geschwisterchen ab, dann das Wochenende darauf mich“ (A.
146). Zu ihren anderen Geschwistern hat Anna ebenfalls Kontakt: „Die kommen
auch manchmal hierher, um mich abzuholen. Oder wir machen auch mal hier was.
Oder wir fahren zu ihnen. Oder zu meiner Mama“ (A. 300). Die anschließende
198
bindungs- und traumasensibel arbeiten
Trennung ist dann manchmal nicht so leicht: „Aber meistens finde ich es
auch schlecht, dass ich Mama manchmal nicht sehe oder so. Aber, oder meine
Geschwister“ (A. 312).
Traumapädagogische Lernerfolge
Angesprochen auf die traumapädagogische Schulung, die in der Einrichtung
durch das Zentrum für Traumapädagogik Hanau durchgeführt wurde, nennt
Anna die drei verschiedenen Gehirnbereiche nach dem Konzept des dreigliedrigen Gehirns, die sie dort vermittelt bekam: Denker, Alarmzentrale und
Reptiliengehirn. Den Bereich des Denkens und die Alarmzentrale beschreibt
sie wie folgt: „Also, wenn man irgendetwas haben möchte oder so, weil da
darüber kann ich nachdenken, oder es sich einfach nimmt, da ist der Denker
mal weg. Oder wenn man nachdenkt, dann kommt der Denker wieder. Und
wenn man irgendwie: ‚Jetzt brennt es!‘ oder ‚Da ist Feuer!‘, da braucht man
diese Alarmzentrale, dass man weiß: ‚Da musst du jetzt schnell weggehen‘ oder
so: ‚Das sollst du nicht machen‘“ (A. 188). Anna konnte die Grundlagen dieses
Konzepts bereits im Alltag anwenden und beschreibt dies anhand eines Beispiels, welches sich auf den Bereich des Denkers bezieht: „So, wie zum Beispiel:
‚Räum jetzt des, räum jetzt dein Zimmer auf‘ oder: ‚Saug jetzt dein Zimmer‘ oder:
‚Wisch dein Zimmer‘ oder: ‚Räume es wieder auf‘ oder: ‚Räume die Bücher in
dein Regal‘ – und dass man manchmal auch ausflippt, ... aber man denkt dann
eigentlich auch wieder nach, ob man es machen soll, weil eigentlich bringt es ja
gar nichts“ (A. 196).
Auch bei Konflikten mit ihrem Geschwisterkind hilft Anna das Konzept
des dreigliedrigen Gehirns: „Wenn sie mir irgendetwas geklaut hat und ich
ihr überhaupt nichts getan habe, und dann hilft es manchmal“ (A. 262). Die
erlernte Selbstbemächtigung beschreibt Anna als die Fähigkeit, sich selbst zu
beruhigen: „Wenn du jetzt ausrastest, dass du dich dann wieder beruhigst“ (A.
222). Anna greift auf diese Fähigkeit bewusst zurück. Sie erzählt, dass ihr in
solchen Situationen ein Kissen hilft, dessen Duft Erinnerungen an einen Baum
im Garten ihrer Mutter weckt. „Wenn ich, ich hab so ein Kissen, wenn ich das in
die Mikrowelle tu, dazu gehört ein Kuscheltier, wenn man das drauf legt, dann
199
gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
duftet es“ (A. 226). „Also, nach Orange“ (A. 228). „Weil, wir haben auch einen
kleinen Baum im Garten bei meiner Mama“ (A. 230). Anna ist auch bewusst,
dass sie nicht in allen Situationen diese Strategie anwenden kann: „Also, wenn
ich jetzt so richtig ausflippe, dass ich was machen muss, was ich eigentlich gar
nicht machen will, was eigentlich für Größere ist, aber ich es trotzdem machen
muss und ja, und dann flipp ich manchmal aus, da hilft‘s mir nicht. Wenn es
jetzt ist, was ich machen sollte, was ich dir auch versprochen habe, dass ich es
mache und dann doch nicht mache, dann hilft es“ (A. 236).
Für Situationen, in denen das Duftkissen sie nicht mehr beruhigen kann, hat
Anna eine weitere Strategie gefunden, die ihr hilft, ihre Wut in den Griff zu
bekommen: „Ich hab so ein Kissen, gegen das haue ich immer. Das kann ich“ (A.
238). Auch zwischenmenschliche Kontakte helfen ihr, belastende Situationen
zu bewältigen. Anna beschreibt, dass eine Fachkraft ihr in diesen Situationen
hilft, indem sie sich mit Anna beschäftigt: „Entweder wir gehen zusammen
raus oder spazieren, oder wir setzen uns auf den Balkon“ (A. 252). Auch ihr
Geschwisterkind kann ihr durch sein Handeln in solchen Situationen helfen:
„Also, meistens leiht sie mir Comics. Die les’ ich meistens dann halt schon, weil
sie eigentlich spannend sind. Oder wir spielen irgendwas zusammen“ (A. 250).
Gezielte Übungen zur Traumapädagogik findet Anna dagegen nicht immer
angenehm, weil sie für sie dann keine geeignete Situation treffen: „Eigentlich
mittel. ... Weil jedes Mal irgendetwas anderes ausprobieren, das hat manchmal
auch genervt“ (A. 256, 258).
Ausblick
Stationäre Jugendhilfeeinrichtungen wie die Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe (www.tabalugakinderstiftung.de) haben sich als professionelle Antwort auf die Problematiken schwer in ihrer Entwicklung oder Persönlichkeit
beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher entwickelt, um den Anforderungen
des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nach angemessener und qualifizierter
Hilfe zu entsprechen. Mit der umfassenden Traumapädagogikschulung durch
das Zentrum für Traumapädagogik Hanau betont die Einrichtung Tabaluga
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bindungs- und traumasensibel arbeiten
die Zielsetzung, auch Kinder mit komplexen Traumata (laut Studien 80 %
fremduntergebrachter Kinder, vgl. Schmid et al. 2010, S. 48) in ihrer Einrichtung
angemessen zu unterstützen (vgl. Lang et al. 2013, Weiß 2013). Für die Durchführung einer traumapädagogischen Schulung war zentral, den pädagogischen
Alltag in den Einrichtungen von Tabaluga noch stärker und auch gezielter als
stabilisierenden, geschützten und wirksamen Ort für den sicheren Umgang
mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen sowie für die Behandlung der
Traumata zu nutzen. Ebenso wurde auf eine veränderte pädagogische Grundhaltung der Mitarbeiter(innen) abgezielt.
Tabaluga steuert die gesamte dezentrale Einrichtung zudem seit 2006 mit
einem Qualitätsmanagement, das an die Stelle der pädagogischen Konzeptionen getreten ist. Die Qualitätsstandards werden unter Beteiligung der
Mitarbeiter(innen) im Rahmen von Qualitätszirkeln erstellt. Im Prozess der Implementierung von Traumapädagogik wurden und werden bei der Erstellung
bzw. Revision der Standards traumapädagogische Inhalte berücksichtigt. Der
Aufwand und die Mühen scheinen sich gelohnt zu haben. Die Ergebnisse der
Begleitforschung (Informationen und Hinweise auf den Bericht unter www.
donau-uni.ac.at/de/department/psymed/forschung/projekt/id/20322) zeigen
beeindruckende Ergebnisse, nicht nur aus Sicht der Mitarbeiter(innen), sondern
auch aus Sicht der Kinder selbst.
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gahleitner / schneider / brandstetter / mingazzini / gerlich /
Literatur
Alexander, Franz G./French, Thomas Morton (1946): Psychoanalytic therapy. Principles and application. New York: Ronald.
Becker, David (2012): Traumageschichte(n). supervision, 30 (2), S. 4–13.
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203
D
ilse wehrmann
Die Lebenswelt kleiner Kinder
Herausforderung U3
Eine altersangemessene, professionelle Förderung von Kleinkindern durch
qualifiziertes Fachpersonal ist heute wichtiger denn je. Um im internationalen
Bildungsvergleich mithalten zu können, sollten Kitas daher nicht länger bloß
Verwahranstalten sein. Durch eine Fachkräfteausbildung auf Universitätsniveau gilt es, Kleinkinder optimal zu fördern und auszubilden.
Die Kita als Bildungsstätte verfügt über ein gesteigertes Anforderungsprofil,
in dem professionelles Know-how und didaktisches Handwerkszeug von wesentlicher Bedeutung sind. So gestalten sich kindliche Bildungsprozesse heute
wesentlich komplexer als früher, da sie stärker hinsichtlich sozialer, religiöser,
ethnischer oder kultureller Herkunft divergieren. Besondere Aufmerksamkeit
verlangen dabei Kinder mit Migrationshintergrund, Entwicklungsverzögerungen, Beeinträchtigungen und aus sogenannten fernen Bildungsschichten. Die
Förderung dieser Kinder sollte daher zum konstitutiven Bestandteil der allgemeinen Fort- und Weiterbildungen bzw. des Studiums werden.
Zudem ist es wichtig, die Bildungsangebote für unter Dreijährige durch qualifiziertes Fachpersonal auszubauen. Getreu dem Leitbild „Lieber früh investieren,
als spät (wesentlich teurer) zu reparieren“, muss dieser Entwicklungsphase
besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bei unter Dreijährigen sind
andere entwicklungspsychologische Aspekte zu betrachten als bei Kindern aus
Elementargruppen, denn ihre Bedürfnisse sind an divergente pädagogische
Anforderungen geknüpft. Optimalerweise würden die U3-Gruppen noch in
Altersgruppen von 0 bis 1½-Jahre und 1½ Jahre bis 3 Jahre aufgesplittet werden,
um die bestmögliche pädagogische Betreuung zu gewährleisten.
Mit der Initiative „Aufstieg durch Bildung“ reagiert der Bund zwar auf die Forderung der Fachkräfteprofessionalisierung, doch von einer gelungenen Umsetzung der Programminhalte ist man noch weit entfernt. 80.000 Mitarbeiter und
205
ilse wehrmann
Mitarbeiterinnen aus dem Bereich der Kindertagespflege sollen demnächst an
Weiterbildungsprogrammen und Präsenzangeboten teilnehmen können. Auch
die frühkindliche Bildung für unter Sechsjährige soll mit dem Programm verbessert werden. Die Realisierung dieser Initiative ist jedoch Landessache, und
so wird das Resultat letztlich eher einem föderalen Flickenteppich ähneln.
Die anzustrebenden strukturellen Reformen für die Professionalisierung der
Fachkräfte verlangen eine Förderung der Kooperationsmodelle zwischen
Fachschulen und Fachhochschulen, um einen Ausbildungsabschluss auf
Hochschulniveau zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte die Grundausbildung
mit einem Bachelor-Abschluss angesiedelt werden, in dessen Anschluss z. B.
Kita-Leitungen einen Master-Abschluss erstreben können. Da sich die Betreuungsbereiche zwischen Kita und Schule am Ende der Elementarphase überschneiden, sind gemeinsame Ausbildungsabschnitte für Erzieher(innen) und
Lehrer(innen) obligatorisch. Hier sollte ein Basisjahr mit Praxisanteilen in Kitas
und Schulen absolviert werden.
Letztendlich ist ein bundesweit anerkanntes und koordiniertes Qualifizierungssystem unerlässlich, in dessen Rahmen Ausbildungsinhalte standardisiert werden. Gebraucht wird ein Bundes-Kerncurriculum, das Inhalte, Kompetenzen und Methoden verbindlich formuliert. Im täglichen Kita-Betrieb sollten
schließlich die eingeführten Qualitätskriterien ständig weiterentwickelt und
evaluiert werden. Dies bedarf zusätzlicher externer Qualitätskontrollen, in
denen unabhängige Inspektorenteams die Angebotsqualität, Ressourcenausstattung und Betriebsorganisation in regelmäßigen Abständen von bis zu fünf
Jahren kontrollieren.
Nur so können wir unseren Kindern die bestmöglichen Entwicklungs- und
Bildungsbedingungen ermöglichen.
206
B
anne katrin künster / ute ziegenhain
Krippenbetreuung – eine Frage der Qualität
Ein Kommentar zu „Risiken der Krippenbetreuung
aus tiefenpsychologischer Sicht von Ann Kathrin
Scheerer“
1
Zusammenfassung
Die frühe familienergänzende Betreuung von kleinen Kindern in Einrichtungen
ist ein in der (Fach-) Öffentlichkeit kontrovers diskutiertes Thema. Internationale
Forschungsbefunde belegen sowohl positive wie auch negative Effekte auf die
kindliche Entwicklung. Eine kritische Diskussion dieser Befunde führt zu dem
Schluss, dass insbesondere der Qualität der frühkindlichen Betreuung in vielerlei
Hinsicht Aufmerksamkeit gezollt werden sollte, ist doch die familienergänzende
Kinderbetreuung nicht mehr aus der Lebensrealität zahlreicher Familien wegzudenken und kann u. U. sogar Defizite der familiären Betreuung kompensieren.
Hintergrund
Die familienergänzende Betreuung von Kindern und dabei insbesondere die Betreuung von Kindern unter drei Jahren wurde und wird in Deutschland nach wie
vor kontrovers diskutiert. Dabei werden mögliche negative Auswirkungen früher
Fremdbetreuung angeführt wie hohe Stressbelastung bzw. chronische Überforderung des Kindes, das Risiko einer unsicheren Bindung mit der Mutter sowie
Risiken für seine weitere sozial-emotionale Entwicklung. Ann Kathrin Scheerer
behandelt in ihrem Beitrag diese Risiken familienergänzender Betreuung bei
Krippenkindern.
1 Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Künster, A. K./Ziegenhain, U (2014): Kommentar zu A. K. Scheerer „Risiken der Krippenbetreuung“, päd. prax. Nr. 82, S. 381–386. München: Hans Marseille Verlag.
209
anne katrin künster / ute ziegenhain
Tatsächlich verläuft die Debatte um frühe Krippenbetreuung gewöhnlich eher
polarisiert. Dies lässt sich auch historisch nachzeichnen. In der Vorgeschichte
der beiden deutschen Staaten fand nachgerade ein ideologisierter Systemstreit
darüber statt, inwieweit die Betreuung von Kleinkindern vorrangig der Verantwortung in der Familie oder der gesellschaftlichen Verantwortung unterliege.
Kursorisch genannt seien hier etwa die ideologisch und kontrovers geführten
Debatten in den 1970er und 80er Jahren, in denen „linke“, von der 68er-Bewegung gespeiste Haltungen (Kinderläden) auf konservative familienpolitische
Haltungen prallten, die damals noch die ausschließliche mütterliche Betreuung
vertraten, oder die heftig geführte Diskussion nach der Wende um die Krippenerziehung in der ehemaligen DDR Anfang der 1990er Jahre, die Anfang 2000 mit
einer empirisch fragwürdigen Verknüpfung von Krippenerziehung in der DDR
und Gewalt bei Jugendlichen noch einmal aufflammte. Der folgende konsequente Ausbau von Krippenplätzen verbunden mit einem Rechtsanspruch für die
Betreuung von unter Dreijährigen (TAG, KiFöG) lässt sich nicht zuletzt durch die
demografische Entwicklung und die sinkenden Geburtenzahlen und die damit
verbundene steigende gesellschaftliche Bedeutung jedes einzelnen Kindes
interpretieren. Daraus dürfte sich die vermehrte Verantwortungsübernahme der
Politik und der Gesellschaft für das Aufwachsen von Kindern erklären lassen.
Die Debatte wird dadurch erschwert, dass (fach-) politische Überzeugungen
und die Argumentation auf der Basis von abgesicherten Forschungsbefunden
wenig voneinander demarkiert sind bzw. Forschungsbefunde in ihrer Aussagefähigkeit bzw. Verallgemeinerbarkeit nicht selten auch überzogen, gefärbt und/
oder eher kontextfrei interpretiert werden. Dies ist z. B. in der Diskussion um
die Befunde der groß angelegten Studie des National Institutes of Child Health
and Human Development (NICHD-Studie) der Fall und dabei insbesondere in
der Diskussion um die Befunde zur Stressbelastung von Krippenkindern. Die
dort berichteten Ergebnisse lassen sich, im Übrigen auch nach Ansicht der Autoren der hochrangig publizierten Originalarbeit, noch eher vorläufig interpretieren (Roisman/Susman/Barnett-Walker/Booth-LaForce/Owen/Belsky/Bradley/
Houts/Steinberg/NICHD/ECCRN 2009). Sie können nicht als Beleg dafür herangezogen werden, Fremdbetreuung in den ersten Lebensjahren grundsätzlich
zu verwerfen, wie dies im Zusammenhang mit den Befunden gefolgert wurde
(Böhm 2012).
210
krippenbetreuung – eine frage der qualität
Vielmehr bedarf es für eine Einschätzung möglicher Risiken von früher Fremdbetreuung einer übergreifenden Sichtung und sorgfältigen Abwägung der
vorhandenen Studien. Dabei sind die Auswirkungen früher Fremdbetreuung
insbesondere auch aus bindungstheoretischer Perspektive international mittlerweile gut, wenn auch sicher nicht abschließend erforscht, wie z. B. der Stand
der oben erwähnten physiologischen Daten zeigt.
Die Forschung verlagerte sich in den vergangenen Jahren zunehmend von Fragen nach möglicher Schädigung früher Fremdbetreuung auf die Entwicklung
von Kindern hin zu Fragen nach Qualitätskriterien von familienergänzender
Betreuung. Dabei stützte sich die Argumentation zunächst auf die Annahme, dass eine Trennung von der Bindungsperson das Kind verunsichert und
ängstigt und, damit verbunden, das Vertrauen des Kindes in die emotionale
Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Mutter geschmälert bzw. die mit dem
Krippenbesuch verbundenen alltäglich wiederkehrenden Trennungserfahrungen vom Kind als Zurückweisung erlebt würde und dies in der Folge zur Etablierung einer sogenannten unsicher-vermeidenden Bindung führe (Barglow/
Vaughn/Molitor 1987, Sroufe 1988). Tatsächlich ist dies eine grundlegende und
empirisch gut belegte Annahme, die sich aus der biologischen Angewiesenheit von Säuglingen und Kleinkindern nach Schutz und Sicherheit ableiten
lässt. Allerdings gilt diese Annahme in erster Linie für Situationen abrupter
Trennung und dann, wenn Situationen für Kinder unvertraut sind und keine
vertraute Bezugsperson zur Verfügung steht. Einige frühe Untersuchungen
belegten einen korrelativen Zusammenhang zwischen außerfamiliärer Betreuung im ersten Lebensjahr und unsicher-vermeidender Bindung zur Mutter
(Vaughn/Gove/Egeland 1980, Schwartz 1983, Barglow et al. 1987, Belsky/Rovine
1988). In diesen Studien war die Entwicklung unsicherer Bindung insbesondere mit frühem Betreuungsbeginn und langer täglicher Betreuungsdauer
verknüpft. In folgende Studien wurden diese und andere Qualitätsindikatoren
dann zunehmend systematischer einbezogen und kontrolliert sowie in ihrem
Zusammenwirken mit anderen Einflussfaktoren wie insbesondere den Beziehungsvorerfahrungen mit engen Bindungspersonen, aber auch Merkmalen
der familiären Situation (z. B. soziale Unterstützung, psychosoziale Belastungen) und Faktoren auf Seiten des Kindes (z. B. Temperament) berücksichtigt.
Im Folgenden werden Studien zu Qualitätsaspekten früher Fremdbetreuung
211
anne katrin künster / ute ziegenhain
in ihrem Zusammenhang zu Bindungsvorerfahrungen und elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen diskutiert.
Die Frage nach der Qualität
Die sogenannte Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der Frühen Kindheit, NUBBEK, verglich Krippenbetreuung, Betreuung
von kleinen Kindern in altersgemischten Kindergartengruppen, Kindertagespflege sowie häusliche Betreuung in Deutschland miteinander und zeigte, dass
die Betreuung von Kindern in Institutionen in Deutschland in nur weniger als
10 % der Fälle eine gute Qualität im Sinne von Bildung, Erziehung und Betreuung aufwies (Tietze/Becker-Stoll/Bensel/Eckhardt/Haug-Schnabel/Kalicki/Keller/Leyendecker 2012). Andere Studien zeigten bei schlechter Betreuungsqualität stets einen negativen Zusammenhang mit Aspekten wie der Qualität der
frühen Mutter-Kind-Bindung, der Schulbildung oder Problemverhaltensweisen
des Kindes. Die Effekte, die eine gute oder auch minderwertige Betreuung auf
die Entwicklung der Kinder hatten, schienen zudem lange anzuhalten, zeigte
doch die groß angelegte amerikanische NICHD-Längsschnittuntersuchung,
dass noch im Alter von 15 Jahren eine bessere akademische Leistung der
Jugendlichen mit einer besseren Qualität der außerfamiliären Betreuung zusammenhing (Vandell/Belsky/Burchinal/Steinberg/Vandergrift/NICHD Early
Child Care 2010).
Dennoch ist hervorzuheben, dass insgesamt familiäre Aspekte einen größeren
Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hatten als die jeweilige Betreuungssituation. Die Ergebnisse der NICHD-Studie belegten, dass frühe Tagesbetreuung für sich alleine genommen die Bindungsqualität mit der Mutter nicht
beeinflusste. Gemäß mehrerer Studien, die Kinder im ersten Lebensjahr bis zu
einem Alter von 30 Monaten untersuchten, bestand zwischen der außerfamiliäre Betreuung von kleinen Kindern und der Wahrscheinlichkeit, eine sichere
oder unsichere Bindung an die Mutter zu entwickeln, kein Zusammenhang
(NICHD ECCRN 1997, Erel/Oberman/Yirmiya 2000). Allerdings beeinflusste eine
schlechte Betreuungsqualität und eine unregelmäßige Betreuungssituation die
Entwicklung einer unsicheren Bindung. Die Wahrscheinlichkeit, dass fremd-
212
krippenbetreuung – eine frage der qualität
betreute Kleinkinder eine unsichere Bindung entwickelten, stieg außerdem
dann, wenn Mütter sich wenig feinfühlig mit ihnen verhielten. (NICHD 1997,
Ziegenhain/Rauh/Müller 1998).
Auch der Bildungs- und Entwicklungsstand der Kinder hing in der aktuellen
NUBBEK-Studie im stärkeren Maße von Merkmalen der Familien als von Aspekten der außerfamiliären Betreuung ab (Tietze et al. 2012). Zudem interagierten, wie bereits angeführt, familiäre Aspekte mit denen der außerfamiliären
Betreuung. Dabei lässt sich eine sichere Bindungsbeziehung als Schutzfaktor
beim Krippeneintritt anführen, da, so die Interpretation, Mütter von sicher
gebundenen Kindern in der Regel feinfühliger auf die Bedürfnisse ihrer Kinder
eingehen und sie besser bei der Regulation ihrer Belastungen und Gefühle
unterstützen (Ahnert/Gunnar/Lab/Barthel 2004). Zudem profitierten Kinder
aus sehr belasteten Familien in einigen Entwicklungsbereichen wie etwa der
sozial-emotionalen Entwicklung von einer familienergänzenden Betreuung
bereits im ersten Lebensjahr (Cote/Borge/Goeffroy/Rutter/Termblay 2008,
Vandell et al. 2010).
Eingewöhnung in die Krippe – Übergang und Vertraut-Werden
Insbesondere aus bindungstheoretischer Perspektive ist die Gestaltung des
Übergangs in das neue, zunächst unvertraute Setting der Krippe von besonderer Bedeutung für die Anpassung und die weitere positive Entwicklung
des Kindes. Trennungen von der primären Bezugsperson stellen per se eine
Anforderungssituation für kleine Kinder dar, in der sie Unterstützung brauchen. Dies gilt sowohl für die Kinder, die bei einer Trennung von der Mutter
laut und vernehmlich protestieren, als auch für die Kinder, die vermeintlich
keine Reaktion auf die Trennung zeigen. Spangler und Grossmann zeigten, dass
auch bei den Kindern, die in Trennungssituationen keine oder kaum äußerliche Reaktionen zeigten, sowohl Herzrate als auch Cortisolspiegel nachweislich
ebenso anstiegen wie bei den Kindern, die deutlich protestierten (Spangler/
Grossmann 1993). In Bezug auf die Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten wurde zunehmend begonnen, Kinder seit den 1980er Jahren „sanft
einzugewöhnen“. Nach diesem Konzept können Kinder schrittweise und über
mehrere Wochen hinweg mit der neuen Bezugsperson (Erzieherin) vertraut
213
anne katrin künster / ute ziegenhain
werden, die dann zunehmend in Abwesenheit der primären Bindungsperson
zur Verfügung steht und die Bedürfnisse des Kindes – auch nach Körperkontakt und Geborgenheit – erfüllen kann. Rauh und Ziegenhain untersuchten in
zwei Studien den Übergang von Säuglingen und Kleinkindern in die Krippe
(sanfte vs. abrupte Eingewöhnung, Ziegenhain/Wolff 2000, Rauh/Ziegenhain/
Müller/Wijnroks 2000). Es zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die nach einigen
Monaten Krippenerfahrung sicher an ihre Mütter gebunden waren, signifikant
bedeutsam häufiger sanft eingewöhnt worden waren. Entwicklungspsychologisch interessant war dabei, dass dieser Zusammenhang zwischen Bindung
und Qualität der Eingewöhnungsgestaltung nur bei Kindern ab dem ersten
Lebensjahr, nicht aber bei jüngeren Säuglingen belegt werden konnte (Ziegenhain/Wolff 2000, Rauh et al. 2000). Dies lässt sich mit den noch fehlenden
kognitiven Voraussetzungen jüngerer Kinder interpretieren, Erlebnisse im
Setting Krippe mit ihren Erfahrungen im familiären Setting mit der Mutter zu
verknüpfen. Kinder sind erst gegen Ende des ersten Lebensjahres ansatzweise
fähig, sich der abwesenden Bindungsperson aktiv zu erinnern und sie somit zu
vermissen. Sie dürften auch erst dann in der Lage sein, ihre „Erwartungen“ an
die Mutter emotional zu bewerten.
Verhaltensauffälligkeiten und Krippenbetreuung
Ein weiterer häufig diskutierter Aspekt im Zusammenhang mit der Betreuungssituation in der frühen Kindheit sind Verhaltensauffälligkeiten von
Kindern. Es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob die Kinder, die fremdbetreut wurden, mehr Verhaltensauffälligkeiten zeigten als die Kinder, die in
ihrem häuslichen Umfeld betreut wurden. Auch hier lohnt sich ein Blick in die
Details aktueller Befunde, da sich sowohl negative als auch positive Effekte auf
das sozial-emotionale Verhalten von Kindern nachweisen ließen, die jeweils
komplexen Wechselwirkungen zu unterliegen scheinen (Linkert/Bäuerlein/
Stumpf/Schneider 2013).
Sowohl eine Metaanalyse aus dem Jahr 2000 als auch neuere Befunde der
großen amerikanischen NICHD-Längsschnitt-Untersuchung zur frühkindlichen Betreuung zeigten, dass insbesondere ein Zusammenhang zwischen
der Fremdbetreuung von Kindern im ersten Lebensjahr in einer Einrichtung
214
krippenbetreuung – eine frage der qualität
und der Entwicklung von Problemverhalten wie externalisierenden Verhaltensweisen oder impulsivem Verhalten bestand (Violato/Russell 2000, NICHD
ECCRN 1998/2003a/2003b/2005, Belsky/Vandell/Burchinal/McCartney/ClarkeStewart/Owen 2007, Vandell et al. 2010). Linkert und Kollegen arbeiteten
aus diesen Befunden heraus, dass komplexe Zusammenhänge zwischen der
Betreuungsdauer, der Betreuungsqualität und den Problemverhaltensweisen
der Kinder bestanden: Externalisierende Problemverhaltensweisen bei Kindern
waren umso wahrscheinlicher, je länger ein kleines Kind täglich fremdbetreut
wurde sowie bei schlechter Betreuungsqualität in Kombination damit, dass die
Kinder viel Zeit in einer großen Gruppe verbrachten (Linkert et al. 2013). Die
Wahrscheinlichkeit des Auftretens von externalisierenden Problemverhaltensweisen stieg zudem mit der Anzahl an unterschiedlichen Betreuungskontexten,
in denen das Kind betreut wurde (Bacharach/Baumeister 2003).
Demgegenüber stehen Befunde, die die Vorteile einer Fremdbetreuung in einer
Gruppe von kleinen Kindern für ihre sozial-emotionale Entwicklung belegen.
Die EPPE-Studie, die in Großbritannien mit mehr als 3.000 Kindern durchgeführt wurde, zeigte beispielsweise, dass eine längere Betreuung der Kinder
mit mehr Kooperation und Selbstvertrauen bei den Kindern einherging und
eine frühere Fremdbetreuung mit mehr prosozialem Verhalten im späteren
Entwicklungsverlauf der Kinder assoziiert war (Melhuish/Sammons/SirajBlatchford/Taggart 2001, Sammons/Sylva/Melhuish/Siraj-Blatchford/Taggart/
Barreau/Grabbe 2007).
Krippenbetreuung und Stressbelastung
Im Rahmen der Erforschung der familienergänzenden Betreuung von kleinen
Kindern werden seit den 1990er Jahren zunehmend auch biologische Parameter zur Erfassung der Stressbelastung von Kindern wie die Herzrate und der
Cortisolspiegel untersucht. Besondere Beachtung fanden jüngst die Ergebnisse
aus mehreren Untersuchungen, die Kinder in Familienbetreuung und in famlienergänzender Betreuung hinsichtlich Cortisol miteinander verglichen. Dabei
wurden vordringlich zwei Phänomene berichtet und kontrovers diskutiert:
Zum einen berichteten Forschergruppen davon, dass Kinder, die fremdbetreut
wurden, entgegen der üblichen circadianen Rhythmik einen Cortisolanstieg
215
anne katrin künster / ute ziegenhain
über den Tag aufwiesen. Dies wurde als akute Stressreaktion gewertet (z. B.
Watamura/Kryzer/Robertson 2009). Solche Anstiege zeigten sich insbesondere dann, wenn das Gruppengeschehen in der Krippe nicht gut gesteuert war
(Geoffrey/Cote/Parent/Seguin 2006, Vermeer/van IJzendoorn 2006). Andere
Untersuchungen befassten sich hingegen mit dem morgendlichen Cortisolspiegel, der – wenn er niedriger als üblich ist – als Indiz für eine chronische Stressbelastung diskutiert wird, insofern als die Aktivität der HPA-Achse dauerhaft
auf niedrigem Niveau reguliert ist. Dieses Phänomen berichtete beispielsweise
die NICHD-Forschergruppe. Sie begleitete die Kinder ab der Geburt bis zur
sechsten Klasse und untersuchte sie nochmals im Alter von 15 Jahren. Hier zeigte sich, dass ein niedriger Morgencortisolspiegel sowohl mit frühem nicht-feinfühligem Verhalten der Mutter assoziiert war sowie – unabhängig vom Fürsorgeverhalten der Mutter – mit einer längeren Zeit (im Sinne von mehr Monaten)
der Fremdbetreuung in einer Einrichtung. Die Autoren selbst diskutierten ihre
Befunde kritisch in mehrerlei Hinsicht: Zum einen erklärte das mütterliche
Verhalten sowie die Fremdbetreuung nur 1 % des Zusammenhangs mit einem
niedrigen Cortisolspiegel, und dies bei einer sehr großen Untersuchungsgruppe,
was Zufallsbefunde begünstigt bzw. zumindest zu einer Überakzentuierung
von marginalen Zusammenhängen führen kann. Zudem wurden im Rahmen
der Längsschnittuntersuchung keine Morgencortisolwerte von den Kindern
genommen, als sie noch klein waren. So ließ sich nicht herausarbeiten, ob diese
Kinder schon immer einen sehr niedrigen Morgencortisolspiegel hatten oder
dieser erst im Lauf der Entwicklung auftrat (Roisman et al. 2009).
Diese Befunde und auch die anderer Autor(inn)en bezüglich des Cortisols bei
kleinen Kindern erscheinen auf dem heutigen Wissenstand noch nicht eindeutig interpretierbar. Sie zeigen jedoch, dass es nach wie vor wichtig ist, die
Bedingungen möglicher Stressbelastung bei kleinen Kindern detailliert zu untersuchen, will man die Entwicklungschancen und -risiken für unsere Kinder
differenziert betrachten und Wirkzusammenhänge herausfinden, die letztlich
individuelle Lösungen für jedes einzelne Kind ermöglichen können.
216
krippenbetreuung – eine frage der qualität
Diskussion
Die häufig kontroverse und zuweilen sogar polemische Diskussion in Deutschland um eine frühe familienergänzende Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen spiegelt die berechtigte Sorge junger Eltern um eine
gelingende Entwicklung ihrer Kinder außerhalb der Familie wider. Tatsächlich
ist der Bereich der außerfamiliären Betreuung und deren Bedeutung für die
sozial-emotionale Entwicklung von Kindern, insbesondere der Aspekt der Bindungsbeziehung mit der Mutter, einer der empirisch am besten untersuchten
Bereiche in Bezug auf die familienergänzende Betreuung kleiner Kinder (wenn
auch nach wie vor sicher nicht abschließend untersucht – siehe beispielsweise
Stress und Cortisol). Danach zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit der
untersuchten Kinder in qualitativ guter außerfamiliärer Tagesbetreuung gut
zurechtkam. Darüber hinaus profitierten Kinder aus psychosozial belasteten
Familien von guter außerfamiliärer Tagesbetreuung. Familienergänzende
Tagesbetreuung an sich beeinflusste die Sicherheit der Bindung mit der Mutter
weder negativ noch förderte sie sie. Allerdings erhöhten bestimmte Bedingungen außerfamiliärer Betreuung in Kombination mit der Qualität elterlichen
feinfühligen Verhaltens die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder eine unsichere
Bindung mit ihrer Mutter entwickelten. Schlechte Betreuungsqualität, wechselnde Betreuerinnen, ein schlechter Personalschlüssel, mehr als zehn Stunden
Betreuung pro Woche oder Wechsel der Betreuungseinrichtungen wirkten
sich nur dann negativ auf die Bindungssicherheit aus, wenn die Mütter wenig
feinfühlig waren (NICHD 1997). Die Dauer des täglichen Aufenthaltes schließlich stand im Zusammenhang mit häufigeren Problemverhaltensweisen bei
Kindern, die von der frühen Kindheit bis ins Kindergartenalter fremdbetreut
wurden. Dieser Effekt war statistisch nicht bedeutsam und das beschriebene
Verhalten klinisch nicht auffällig (NICHD 2003a).
In Deutschland ist gemäß den Ergebnissen der oben erwähnten NUBBEKUntersuchung die Qualität der Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern
in Einrichtungen eher mittelmäßig (Tietze et al. 2012). Im Zusammenhang
mit dem quantitativen Ausbau von Krippenplätzen in der Folge des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz für Kinder ab einem Jahr besteht zudem
die berechtigte Sorge, dass dieser auf Kosten der Qualität vorangetrieben
217
anne katrin künster / ute ziegenhain
wurde. Demgegenüber hat der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen in
seinem Betreuungsgutachten (www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/
publikationen,did=110292.html 2008) schon sehr früh deutlich darauf hingewiesen, dass Kennzahlen wie Betreuungsschlüssel und Beziehungsqualität
zentrale Merkmale bei der Umsetzung des Kita-Ausbaus sein müssen. Fegert
(2012) forderte kürzlich ein Betreuungsqualitätsgesetz, um entsprechende
Standards zu sichern und Impulse für eine gezielte Qualitätsentwicklung in der
außerfamiliären Betreuung zu geben.
Die familiären und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern in der Familie haben sich in den vergangenen 50 Jahren in
vielerlei Hinsicht geändert (Walper 2004). Zu diesen Veränderungen gehören
die eingangs erwähnten demografischen Veränderungen mit einer sinkenden
Zahl von Geburten, aber auch ein hoher Anteil nichtehelicher Geburten, eine
steigende Scheidungsquote und damit verbunden die Anzahl von vermehrt
Alleinerziehenden bzw. Stieffamilien. Längst wachsen zahlreiche Kinder in
vielfältigen Familienkonstellationen auf, die nur teilweise dem Modell der
„klassischen“ Ehe entsprechen. In diesem Zusammenhang ist auch familienergänzende Tagesbetreuung und dabei auch Krippenbetreuung ein wichtiger
Faktor in der Unterstützung junger Familien geworden.
Aber gerade auch deswegen ist die Qualitätsfrage in der außerfamiliären
Betreuung zentral. Tatsächlich dürfte es auch eine gesellschaftspolitische
Frage sein, wie viel uns unsere Kinder wert sind. In einer Gesellschaft, in der
Wertschätzung und Anerkennung weitgehend über Geld alloziert werden,
ist etwa die schlechte Ausbildung und Vergütung von Erzieherinnen und
Erziehern im internationalen Vergleich durchaus verräterisch. Im Sinne einer
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für eine gelingende Entwicklung und
Förderung von Kindern ist die Qualität außerfamiliärer Tagesbetreuung sicher
nur ein Aspekt, um junge Familien in der Betreuung, Erziehung und Bildung
zu unterstützen. Insgesamt geht es darum, mit gut aufeinander abgestimmten
und aufeinander aufbauenden Maßnahmen Familien mehr Optionen und
Wahlfreiheit für ihre Lebensgestaltung im Sinne einer individuellen Lösung für
jedes Kind und jede Familie zu ermöglichen. Die Entwicklungen und Initiativen,
die im Rahmen der sogenannten Frühen Hilfen in den vergangenen Jahren
218
krippenbetreuung – eine frage der qualität
stattgefunden haben, zeigten, dass viele junge Familien Unterstützungsangebote unterschiedlichster Art benötigen. Dies sind meist Hilfen, die sich
interdisziplinär aus Leistungen unterschiedlicher Systeme zusammensetzen,
aufeinander bezogen sind und sich ergänzen. Strukturelle Probleme liegen
darin, bestehende Versäulungen und fehlende Durchlässigkeit zwischen den
Versorgungssystemen (insbesondere des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe) aufzuheben. Hinzu kommen Herausforderungen, die
Angebotsstrukturen an die individuellen Bedürfnisse von Familien anzupassen.
Dies bedeutet etwa, Familien durch flexible Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen und Schulen in ihrer Alltagsorganisation zu entlasten und
eine familienfreundliche Alltagsgestaltung zu fördern. Flexible Arbeitszeitregelungen können zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf
beitragen. Nicht zuletzt müssen Familienleistungen auch finanziell anerkannt
werden. Familien wirtschaftlich zu stabilisieren, bedeutet auch der Armut von
Kindern entgegenzuwirken. Insofern kann Familienpolitik konkrete inhaltliche (Versorgungs-) Angebote für Familien gestalten und eine angemessene
Infrastruktur zur Verfügung stellen.
Auch wenn Betreuungsqualität und weitergehend eine intelligente Familienpolitik Geld kostet, wären alleinige Lösungen in finanziellen Investitionen zu
kurz gedacht. Sichere Bindungen für Kinder bedeuten emotionales Engagement, Verlässlichkeit und Zeit. Sie sind aber zentrale Voraussetzung für bestmögliche Entwicklungsbedingungen von Kindern und Voraussetzung, sich der
Umwelt offen zuwenden zu können. Damit sind sie im Übrigen auch Grundbedingung von Lernen und Bildung. Die Frage danach, was uns unsere Kinder
wert sind, beinhaltet einen verstärkten und breiteren gesellschaftspolitischen
Diskurs um die Bedingungen und die Qualität des Aufwachsens von Kindern,
und zwar gleichermaßen im häuslichen Umfeld als auch in der familienergänzenden Betreuung.
219
anne katrin künster / ute ziegenhain
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223
D
philipp ikrath
Die Überforderung in der digitalen Kultur und
antidigitaler Eskapismus
Ein Essay zu jugendlichem Medienverhalten
Der „Jugend von heute“ wurden schon zahlreiche Labels und Etiketten aufgeklebt.
Einmal spricht man von der „Generation Y“, ein anderes Mal von der „Generation
Null Bock“, ein drittes Mal von der „Generation Praktikum“. Im Zusammenhang
mit jugendlicher Mediennutzung und jugendlichen Kommunikationsvorlieben fallen insbesondere zwei dieser Labels ins Auge: jenes der „Digital Natives“
und das der „Generation @“. Während andere Generationenbegriffe vor allem
vermeintlich typische Geisteshaltungen Jugendlicher thematisieren wollen,
so beziehen sich „Digital Natives“ und „Generation @“ auf das technologische
Umfeld, in dem die Altersgruppe der heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgewachsen ist. Anders als für die bis etwa 1980 Geborenen haben sie die
„Digitale Revolution“ nie als eine Revolution kennengelernt. Sie wurden in eine
Welt hineingeboren, in der ein Internetzugang genauso selbstverständlich ist wie
Kabelfernsehen oder fließendes Wasser. Der Umgang mit digitalen Informationstechnologien ist für diese Gruppe folglich ganz selbstverständlich. Wegen ihrer
unterschiedlichen Mediensozialisation, so legen die beiden Labels nahe, gehen sie
auch fundamental anders mit zeitgenössischen Informationstechnologien um.
An dieser Stelle hilft es, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf die
mediale Umwelt zu werfen, die Jugendliche heute prägt. In diesem Zusammenhang sind vor allem vier Phänomene von Bedeutung, auf die in Folge näher
eingegangen werden soll.
Digitalisierung und Konvergenz
Die Digitalisierung medialer Inhalte hat dazu geführt, dass ehedem getrennte Medien zunehmend miteinander verschmelzen; ein Phänomen, das als
225
philipp ikrath
Konvergenz bezeichnet wird. Wurde vor nicht allzu langer Zeit noch zwischen
schriftlichen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Büchern etc.), Audiomedien
(Radio, Tonträger wie CDs etc.) und audiovisuellen Medien (Fernsehen, Kino)
klar unterschieden, so fällt diese Unterscheidung heute nicht mehr ganz so
einfach. Gedruckte Zeitungen bieten einen Webauftritt an, den „Tatort“ vom
Sonntagabend kann man sich zeitversetzt in den Mediatheken des öffentlichrechtlichen Rundfunks (oder sogar auf der Videoplattform YouTube) ansehen,
moderne Fernsehgeräte sind mit dem Internet verbunden und Kinofilme stehen spätestens zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Netz zum Download
parat. Das hat auch zu einer Veränderung der Erwartungshaltungen junger
Menschen an die Anbieter von Inhalten geführt. Aufgrund der technischen
Möglichkeiten des Internets, in dem Schrift, Videos und Audioclips parallel angeboten werden können, erwarten sich die Jugendlichen inzwischen auch, dass
die Anbieter multimedial informieren. Multimedial bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die Anbieter ihre Botschaften über unterschiedliche
Kanäle verbreiten, sondern vor allem auch, dass sie sich im Internet aller zu
Verfügung stehenden Möglichkeiten bedienen, also schriftliche Elemente mit
Audio und vor allem Video kombinieren. Wer auf lange Texte setzt, wird in
der Kommentarspalte mit einem süffisanten „TLDR“ (Too Long, Didn’t Read)
abgestraft. Jugendgerechte Online-Kommunikation beruht auf dem Primat des
(bewegten oder unbewegten) Bildes über das Wort. Kernbotschaften dürfen
sich nicht in langen Texten verstecken, sondern werden idealerweise über ein
ausdrucksstarkes Bild kommuniziert. Kommunikation im Internet ist Kommunikation, die auf Emotionen setzt, die mittels Bildern verführt, anstatt mit
Worten zu überzeugen. Das bedeutet auch, dass ästhetische Fragen hier eine
besonders wichtige Rolle spielen. Jeder Inhalt muss schön verpackt sein, um
von Jugendlichen überhaupt wahr- und ernstgenommen zu werden.
Pluralisierung, Diversifizierung und Segmentierung von Publika
Aufgrund der Digitalisierung steht den jungen Medienkonsumentinnen und
-konsumenten heute eine unübersehbare Vielfalt von Informationskanälen
zu Verfügung. Konnten sich die Menschen in Österreich in den 1970er Jahren
noch zwischen einer Handvoll Zeitungen und zwei Fernsehsendern entschei-
226
die überforderung in der digitalen kultur
den, so findet heute jede/r passgenaue Inhalte für den eigenen spezifischen
Geschmack wieder. So klein eine Subkultur auch sein mag, im Internet gibt
es zahllose Angebote für jede nur denkbare Vorliebe, und sei sie auch noch so
obskur. Durch diese Vielfalt fällt es dem einzelnen Anbieter umso schwerer,
ein in zahllose Subgruppen diversifiziertes, also aufgesplittertes, Publikum
zu erreichen. Dies gilt insbesondere für all jene Institutionen, die es sich zur
Aufgabe gemacht haben, nicht nur eine klar definierte Subkultur, sondern
ein möglichst breites Publikum zu erreichen – wie etwa öffentlich-rechtliche
Rundfunkanstalten oder auch andere Institutionen der öffentlichen Hand, die
nicht unmittelbar mit Medien zu tun haben. Denn jede Subgruppe verfügt über
jeweils spezifische Kommunikationsvorlieben. Eine Webseite für Heavy-MetalFans sieht ganz anders aus also eine für Anhänger(innen) des Hip-Hop. Das
EINE Angebot für alle gibt es nicht mehr. Die Webseite für Heavy-Metal-Fans
signalisiert allen anderen alleine durch ihre Gestaltung: „Ich bin nicht für euch
gemacht!“
Verdichtung und Beschleunigung der Information
Eine weitere Konsequenz der Digitalisierung ist der Umstand, dass Medien auf
aktuelle Ereignisse unmittelbar reagieren können. Ein Beispiel dafür sind die
Liveticker großer Nachrichtenportale, die ein Geschehen in Echtzeit kommentieren, angefangen beim weltgeschichtlichen Ereignis über eine Nationalratssitzung bis hin zum Fußball-Länderspiel. Ohne an dieser Stelle auf die Nachteile einer solchen Beschleunigung eingehen zu können, lässt sich hier lediglich
festhalten, dass insbesondere junge Menschen das Tempo, das digitale Medien
diesbezüglich vorgeben, als normal empfinden. Die Tageszeitung, einst Sinnbild aktueller Berichterstattung, ist in den Augen vieler junger Menschen ein
langsames, schwerfälliges Medium.
Mediatisierung
Der Begriff der Mediatisierung bezeichnet die Omnipräsenz medialer Angebot
in allen Lebensbereichen und Situationen. In der Früh meldet sich als erstes der
227
philipp ikrath
Radiowecker, in der U-Bahn hört man über das Smartphone Musik, während
man auf dem Bildschirm im Waggon den neuesten Klatsch liest. In der Schule
ist das Internet zum wichtigen Lehrmittel geworden. Zurück zu Hause wird vor
dem Fernseher „gechillt“, also entspannt, parallel dazu wird Facebook gecheckt.
Während der Hausaufgaben läuft nebenbei ein Chat-Programm auf dem Computer, der Fernseher wird währenddessen auf stumm geschaltet, läuft aber weiter. Vor dem Zubettgehen spielt man schließlich noch eine Partie des OnlineMultiplayer-Shooters „Call of Duty“, vor dem Einschlafen meldet man sich noch
mal über Facebook, um allen eine gute Nacht zu wünschen. Unter den zehn am
häufigsten ausgeübten Freizeitbeschäftigungen österreichischer Jugendlicher
im Alter von 15 bis 19 Jahren finden sich sechs, die sich um die Beschäftigung
mit Medien drehen (vgl. T-Factory 2012). Der Prozentwert in der Klammer bezeichnet den Anteil der Befragten, die die jeweilige Freizeitbeschäftigung „häufig“ ausüben. Es sind dies in absteigender Reihenfolge: Musikhören (81 Prozent),
die Beschäftigung mit dem Internet (60 Prozent) bzw. mit sozialen Netzwerken
wie Facebook (55 Prozent), Fernsehen (44 Prozent), Filme und Serien im Internet
Schauen (29 Prozent) sowie Radiohören (28 Prozent). Nicht zwangsläufig mit
Medien zu tun haben: Unternehmungen mit Freunden (70 Prozent), Sport (40
Prozent), Faulenzen (38 Prozent) und das Draußensein (32 Prozent). Eine vollständige Trennung in „mediale“ und „nicht mediale“ Freizeitbeschäftigung ist
jedoch schwer möglich, da man davon ausgehen kann, dass mediale Angebote
gerade beim Entspannen und auch bei Treffen mit Freunden oder beim Sport
(etwa im Fitnesscenter oder beim Laufen) meistens mit an Bord sind.
Über die Mediennutzung im jugendlichen Alltag
An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, wie sich das jugendliche Mediennutzungsverhalten im Detail gestaltet. Welche Medien sind für Jugendliche
überhaupt noch relevant? Welche Endgeräte nutzen sie, um ins Internet einzusteigen? Antworten darauf geben die Ergebnisse der deutschen JIM-Studie,
durchgeführt vom Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest sowie
jene der T-Factory Trendstudie TIMESCOUT, die sich beide seit vielen Jahren im
Rahmen einer Zeitreihenanalyse unter anderem mit jugendlichem Mediennutzungsverhalten auseinandersetzt und dessen Veränderung aufzeigt.
228
die überforderung in der digitalen kultur
Fernsehen und Zeitungen sind out
Das Internet ist innerhalb der letzten 20 Jahre zum jugendlichen Leitmedium
Nummer 1 geworden und hat damit den Fernseher abgelöst. Das belegen unter
anderem die Daten der ORF Medienforschung. Sehen Österreicherinnen und
Österreicher über 60 am Tag noch durchschnittlich 257 Minuten fern, sinkt die
Fernsehnutzung auf 207 Minuten bei den 50- bis 59-Jährigen und weiter auf
146 bzw. 133 Minuten unter den 40- bis 49-Jährigen bzw. den 30- bis 39-Jährigen.
Die 12- bis 29-Jährigen sehen mit lediglich 88 Minuten täglich noch einmal
deutlich weniger fern, nämlich nur in etwa halb so lange wie der österreichische Durchschnitt, der bei 158 Minuten täglicher Fernsehzeit liegt (vgl. ORF
Medienforschung 2013). Das bedeutet aber nicht, dass Jugendliche Inhalte aus
dem Fernsehen gar nicht mehr rezipieren würden. Aufgrund der zunehmenden
Medienkonvergenz weichen sie lediglich auf andere Kanäle aus: Inhalte, etwa
des ORF, sieht man über die Mediathek des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,
Serien und Filme rezipiert man über – einmal mehr, einmal weniger legale –
Seiten im WWW. Die abnehmende Bedeutung des Fernsehens belegen auch die
Zahlen der JIM-Studie. Während rund drei Viertel der 12- bis 19-Jährigen einen
Computer oder Laptop besitzen, verfügt lediglich etwas mehr als die Hälfte
über ein eigenes Fernsehgerät. Die Internetsättigung, also der Anteil jener, die
über einen eigenen Internetzugang verfügen, liegt sogar bei über 90 Prozent.
Besonders schwierig haben es in diesem Umfeld Printmedien. Tageszeitungen
und Magazine haben über die letzten Jahren hinweg maßgeblich an Gunst verloren. So greift heute nur mehr jede/r Dritte zumindest mehrmals die Woche
zu einer Tageszeitung, damit wird in jungen Zielgruppen sogar schon weniger
Zeitung gelesen als Bücher, in denen zumindest vier von zehn der 12- bis 19-Jährigen regelmäßig lesen. Diese Tendenz zeigt sich auch daran, dass Jugendliche
und junge Erwachsene die Mediengattung „Print“ als solche als nicht besonders zukunftsträchtig wahrnehmen. Jeweils rund 40 Prozent sagen, Tageszeitungen und Magazine würden in der Zukunft an Bedeutung verlieren, rund ein
Viertel prognostiziert einen Bedeutungsverlust des Fernsehens (vgl. Institut für
Jugendkulturforschung 2011). Interessant ist, dass sowohl Tageszeitungen als
auch Bücher wenn, dann noch bevorzugt auf Papier und nicht in elektronischer
Form gelesen werden. Denn sowohl Online-Zeitungen als auch -Magazine wer-
229
philipp ikrath
den von jeweils weniger als 15 Prozent der Jugendlichen mehrmals pro Woche
oder täglich genutzt, E-Books sind mit lediglich 5 Prozent noch ein Randphänomen in der ansonsten sehr online-affinen jungen Zielgruppe.
Smartphones und Tablets verdrängen Laptop und PC
Besonders wichtig im Rahmen der hier vorliegenden Fragestellung rund um
das Thema Apps ist die Frage, wie viele Jugendliche ein internetfähiges mobiles Gerät ihr Eigen nennen. Beträgt dieser Anteil bei Tablet PCs noch lediglich
20 Prozent, so besitzen 90 Prozent der Mädchen und 87 Prozent der Jungen ein
eigenes Smartphone (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
2014, S. 6). Das bedeutet also, dass inzwischen mehr Jugendliche mobil als
über ein Standgerät ins Internet gehen. In diesem Zusammenhang ist davon
auszugehen, dass auch die Tabletnutzung in den kommenden Jahren deutlich
zunehmen wird. Denn betrachtet man die Verbreitung von Smartphones, so
zeigt sich, dass im Jahr 2012 weniger als die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen ein
solches in ihrem Besitz hatten, der Anteil der Smartphonebesitzerinnen und
-besitzer hat sich in den letzten zwei Jahren also fast verdoppelt (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014, S. 45). Im Rahmen der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und, wenn auch in geringerem Ausmaß,
Tablets, hat sich auch die Art und Weise des Zugangs zum Internet grundlegend
verändert. Waren im Zeitalter der Standgeräte noch Browser (wie der Internet
Explorer von Microsoft oder der Mozilla Thunderbird) und Suchmaschinen
das Tor zum Internet, so sind es heute kleine, bunte, durch eine Berührung mit
der Fingerspitze aktivierbare Icons auf den kleinen Bildschirmen, Apps. Die
„Startseite des Internets“ ist für viele Jugendliche heute nicht mehr Google,
sondern das soziale Netzwerk Facebook. Die Facebook-App ist die mit Abstand
beliebteste, gefolgt von der des Instant-Messaging-Dienstes WhatsApp und der
des Google-Kalenderdienstes Doodle. Die anderen Google-Dienste (Maps und
die Suchmaschine) liegen mit deutlichem Abstand dahinter. Eine Zwischenstellung nehmen hier die äußerst populären Instant-Messenger-Dienste wie
WhatsApp ein, die zwar internetbasiert sind, von den Jugendlichen selbst aber
eher wie SMS/MMS-Dienste genutzt werden. Zentral ist hier die Eins-zu-einsKommunikation bzw. der Austausch innerhalb von Kleingruppen.
230
die überforderung in der digitalen kultur
Darüber hinaus ist die Frage relevant, für welche Zwecke man das mobile
Internet und für welche man PCs oder Laptops bevorzugt. Hier zeigt sich
ganz eindeutig, dass das mobile Internet vor allem für die Kommunikation und die Unterhaltung genutzt wird, während die Internetnutzung an
PC oder Laptop deutlich informationszentrierter ausfällt. Nachrichten an
Freunde werden demnach zu 90 Prozent über mobile Endgeräte verschickt.
Die gezielte Suche nach Informationen findet hingegen nur zu 33 Prozent
am Smartphone und zu 10 Prozent am Tablet, aber zu 54 Prozent zu Hause
am Computer oder Laptop statt. Mobile Endgeräte werden also vor allem für
die Kommunikation und Unterhaltung benutzt, während der herkömmliche
Stand-PC/Laptop immer noch die bevorzugte Wahl darstellt, wenn es um die
Informationssuche geht.
Das Unbehagen in der digitalen Kultur
All das erweckt den Eindruck, als wäre jede Nische jugendlicher Lebenswelten,
und sei sie noch so klein, vollständig von digitalen Medien, vor allem Kommunikations- und Unterhaltungsangeboten, kolonialisiert. Jugendliche befänden
sich willenlos am Gängelband einer globalen Unterhaltungskultur, in der für
Reflexion und stille Einkehr kein Raum mehr übrig bliebe, der nicht sofort
von den ständig sendenden und empfangenden mobilen Geräten gestört und
nachgerade vernichtet wird. Welt- und Selbstverlust seien die Konsequenz
einer Kaskade immer neuer Twitter-Nachrichten, Facebook-Meldungen und
neuer Kommunikationsangebote, die über den unter Jugendlichen hochgradig
populären Instant-Messaging-Service WhatsApp fließen. Unwillkürlich denkt
man an das Gedicht Rainer Maria Rilkes von 1902 über den Panther im Pariser
Jardin des Plants, hinter dessen Gittern von tausend Stäben die Welt aufgehört
hat zu existieren. Was dem Zootier die Stäbe sind, ist dem zeitgenössischen Jugendlichen die auf Dauer gestellte Ablenkungsmaschine der digitalen Medien.
Die US-amerikanische Psychologin Sherry Turkle hat sogar festgestellt, dass
junge Menschen inzwischen sogar schon das Telefonieren als überfordernd erleben, da man sich dabei mit den mehr oder weniger angenehmen Emotionen
eines unmittelbar (wenn auch medial vermittelten) Anwesenden auseinandersetzen muss – eine Herausforderung, die in der zeitversetzten Kommunikation
231
philipp ikrath
über soziale Netzwerke, SMS oder Instant Messenger weniger drängend ist
(vgl. Turkle 2012). Und auch in Deutschland stimmen zwei Drittel der 14- bis
19-Jährigen und mehr als die Hälfte der 20- bis 29-Jährigen dem Statement „Ich
schreibe lieber SMS, Facebook- und Chat-Nachrichten oder Mails, statt jemanden anzurufen.“ tendenziell zu (vgl. jugendkulturforschung.de e. V. 2013).
Fraglos ist „das Internet“ zum jugendlichen Leitmedium geworden. Plakativ
befragt, ob Bücher oder das Internet besser zum eigenen Lebensstil passen,
entscheidet sich ein Fünftel der befragten 16- bis 19-jährigen Jugendlichen
für Bücher, 6 von 10 für das Internet. Der Rest gibt sich unentschieden. Überraschend stark, nämlich zu rund einem Drittel, identifizieren sich weibliche
Jugendliche eher mit Büchern, unter den Jungs beträgt dieser Anteil lediglich
10 Prozent (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2011). Weniger gewiss ist
aber, ob dieser Fixierung auf das Internet eine unkritische Umarmung dieses
hochgradig ambivalenten Mediums zugrunde liegt oder ob es sich dabei um
eine mehr oder weniger einverständliche Unterwerfung unter die davon
geschaffene Macht des Faktischen handelt. Offensichtlich schafft auch die
digitale Kultur ein spezifisches Unbehagen in ihr selbst. Soziale Netzwerke wie
Facebook schaffen Gefühle der Vereinsamung und der Entfremdung, etwa von
der Emotionalität des unmittelbaren menschlichen Kontakts, wie an dem von
Sherry Turkle festgestellten Beispiel.
Obwohl die sozialen Netzwerke, auf den ersten Blick, vor lauter Emotionalität
aus allen Schaltkreisen platzen, darf man dabei nicht aus den Augen verlieren,
dass der Selbstdarstellung hier keineswegs eine herkömmliche Auffassung
von Authentizität zugrunde liegt. Vielmehr basiert sie auf dem Prinzip einer
Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der Informationen und Emotionen strategisch, also ganz gezielt, eingesetzt werden, um eine bestmögliche Außenwirkung in den relevanten Zirkeln zu erreichen. Welche Musik man mag oder wen
man in der eigenen Freundesliste führt, muss mit den eigenen Vorlieben nicht
unbedingt übereinstimmen. So wird man sich etwa davor hüten, den heimlich
verehrten Schlagersänger Hansi Hinterseer als Lieblingskünstler anzugeben,
wenn es um die Anerkennung innerhalb von progressiven jugendkulturellen
Gruppierungen geht. Die Inszenierung des Individuums erfolgt hier also vor
allem in Gestalt mächtiger Realfiktionen, die in Folge auch auf die nicht-digi-
232
die überforderung in der digitalen kultur
tale Welt zurückstrahlen. Deswegen verfängt auch die von Erwachsenen strikt
vollzogene Trennung in eine „reale“ und eine „virtuelle“ Welt für Jugendliche
nicht. Da postmoderne Lebenswelten, für jung wie für alt, total mediatisierte
Welten sind, durchschauen sie in weit höherem Ausmaß die Wechselwirkungen zwischen den von Erwachsenen oft noch künstlich separierten Sphären
(vgl. Heinzlmaier/Ikrath 2014).
Antidigitaler Eskapismus
Das Ressort des Digitalen gilt gemeinhin als Fluchtpunkt vor den Wirren eines
überfordernden Alltags. Nun haben wir gesehen, dass die Anforderungen der
digitalen Sphäre zwar andere, dabei aber nicht weniger kompliziertere sind
als die der nicht-digitalen Welt – vorausgesetzt, dass eine solche Trennung
überhaupt noch aufrechtzuerhalten ist. Hier geht es explizit nicht nur um
ganz offensichtlich spezifisch digitale Problemlagen wie das Cybermobbing,
Identitätsdiebstahl oder Viren und Trojaner, sondern ganz allgemein um neue
Herausforderungen für das total vernetzte Individuum. Die Entfremdungsdynamiken der „realen Welt“ perpetuieren sich lediglich in der digitalen Sphäre.
Facebook & Co. sind nicht Ursache, sondern vielmehr reinster Ausdruck einer
Welt, in der sämtliche Lebensbereiche längst bis auf das letzte durchrationalisiert, transparent gemacht und dem Diktat der Ökonomie unterworfen
sind. Angesichts dessen kehren sich auch die Vorzeichen des Eskapismus um
– anstatt sich in digitale Welten zu flüchten, in denen die Gesetze des Marktes
noch unbarmherziger regieren als überall sonst – entsteht unter jungen Menschen zunehmend das Bedürfnis der Flucht zurück in die nicht-digitale Sphäre.
Selbstgestrickte Schals, selber eingekochte Marmeladen und eine Inflation des
Retrodesigns als eine Referenz an eine vermeintlich weniger vernetzte Welt
geben davon Zeugnis. Gerade unter Jugendlichen wächst das Bedürfnis, sich
dem Digitalen zu entziehen, und sei es auch nur vorübergehend. So gibt rund
ein Viertel der 14- bis 29-Jährigen an, schon einmal eine digitale Diät gemacht,
also ganz gezielt auf Smartphone, Computer, iPad und Laptop verzichtet zu
haben. Auch unter jenen, die damit noch keine Erfahrungen gesammelt haben,
können sich zwei Drittel vorstellen, das Experiment einmal zu wagen. In die
Tat umgesetzt oder nicht, die Zahlen zeigen jedenfalls, dass sich gerade junge
233
philipp ikrath
Menschen den Zumutungen der digitalen Kultur, zumindest vorübergehend
gerne, entziehen würden – durch eine Flucht ins Nicht-Digitale. Und mehr als
40 Prozent haben schon einmal über „digitalen Selbstmord“, also den totalen
Ausstieg aus den sozialen Netzwerken nachgedacht (vgl.jugendkulturforschung.de e. V. 2013).
Besonders auffällig wird die zunehmende Skepsis etwa auch daran, dass
lediglich 24 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland die Datenbrille
„Google Glass“ für eine gute Erfindung halten, auch dem „next big thing“,
dem „Internet der Dinge“, in dem, ganz zu schweigen von Kühlschränken und
Fernsehgeräten, noch jeder Staubsauger ständig online ist, können nur knapp
3 von 10 Befragten etwas abgewinnen. Aber 60 Prozent sagen, dass sie das
Gefühl plagt, der technischen Entwicklung nicht mehr hinterherzukommen
(vgl.jugendkulturforschung.de e. V. 2013). Wohlgemerkt, wir sprechen hier
über Jugendliche und junge Erwachsene, also jene Bevölkerungsgruppe, die
von technischen Neuerungen, glaubt man der öffentlichen Meinung, nicht
genug bekommen können.
Fazit: Die antidigitale Revolution bleibt aus, die Skepsis wächst
Aus all dem kann wohl nicht abgeleitet werden, dass wir in der näheren
Zukunft einen Exodus aus dem weltumspannenden Netz erleben werden. Ein
total entnetztes Leben ist für die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wohl genauso utopisch wie es die Eremitenidylle eines Henry David
Thoreau für Generationen begeisterter Leserinnen und Leser von „Walden“
ist. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die „Digital Natives“ heute eine
noch wesentlich heterogenere Gruppe sind, als sie es vorher schon waren, dem
eingängigen Label zum Trotz. Die gegenwärtige Jugendgeneration wächst
nicht mehr in einer Zeit auf, in der das Digitale Lösung für jedes Problem und
das Internet eine Utopie kurz vor ihrer Verwirklichung ist. Die Internetgiganten und die NSA haben der Utopie den Rest gegeben, und man darf, wenn man
optimistisch ist, erwarten, dass die Nachwachsenden einen differenzierteren
Umgang mit digitalen Medien lernen als die, die in einer Zeit aufgewachsen
sind, in der das Internet seine Unschuld noch nicht verloren hatte.
234
die überforderung in der digitalen kultur
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235
F
catarina katzer
Facebook, WhatsApp & Co: Neue Welten für Kommunikation und Selbstdarstellung
Risiko für Grooming und Cybermobbing?
Mediale Lebenswelten werden von Jugendlichen immer stärker als Raum für die
eigene Selbstdarstellung genutzt. Privatheit und Intimität wird über Facebook,
Instagram, Snapchat oder WhatsApp zur Schau gestellt und Trends wie Sexting
(„Sex“ und „Texting“) entstehen (Buchegger 2011, Döring 2012). Die Suche nach
emotionaler Nähe, Aufmerksamkeit oder die Steigerung des Selbstwertgefühls
sind häufige Motive (s. Döring 2012; Sexting-Beitrag, Frau-TV, WDR, 26. Juni 2014).
Allerdings fehlt meist der Weitblick, was solche Einblicke in die Privatsphäre
auslösen können und welche Risiken dabei entstehen. Cybermobbing, sexuelle Erpressung oder Grooming können die Folge sein (Katzer 2010, 2013, 2014a; Wachs et
al. 2014). Auch Schutzmechanismen, Empathie-Fähigkeit oder Unrechtsbewusstsein sind oft nicht vorhanden. Im Umgang mit diesen Entwicklungen stellen sich
somit neue Herausforderungen an die Bereiche Erziehung, Schule, Kinder- und
Jugendschutz sowie Beratungsstellen und Opferhilfen.
1. Kommunikation und Selbstdarstellung von Kindern und Jugendlichen im WorldWideWeb
WhatsApp, Facebook und Youtube waren die drei beliebtesten Apps bei den
12–19-Jährigen im Jahr 2013 (JIM-Studie 2013). Allein wenn wir diese Zahlen betrachten, wird deutlich, dass Kommunikations- und Selbstdarstellungsplattformen im WorldWideWeb für Kinder und Jugendliche eine immer größere Rolle
spielen. Hierdurch wird allerdings noch eine andere wichtige Entwicklung
sichtbar: Kinder und Jugendliche nutzen heute immer häufiger das Internet
mobil, quasi von der Hosentasche aus, über ihr Smartphone. So ist die Verbreitung von Smartphones in der Altersgruppe der 12–19-Jährigen in den letzten
drei Jahren rasant angestiegen: von 14 % im Jahr 2010 auf 72 % im Jahr 2013. Da-
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catarina katzer
mit gehen mittlerweile rund 2/3 der 12–19-Jährigen regelmäßig per Smartphone ins Netz (Jim-Studie 2013). Eine aktuelle Studie aus den USA zeigt sogar, dass
im Jahr 2013 bereits 75 % der 0- (!) bis 8-Jährigen einen mobilen Internetzugang
zur Verfügung hatten, 63 % besaßen schon ein eigenes Smartphone und 38 %
der unter 2-Jährigen nutzten schon mobile Endgeräte (https://www.commonsensemedia.org/zero-to-eight-2013-infographic).
Das Smartphone wird also immer mehr zum alltäglichen Begleiter unserer
Jugend. Diese Entwicklungen haben natürlich Folgen, z. B. für die Erziehung. So
gerät die Internetnutzung immer stärker aus dem Blickfeld der Eltern. Kinder
können ihre Handlungen leicht verbergen, wenn man ihnen zu Hause nicht
über die Schulter schauen kann und sie alles von unterwegs aus machen:
Chatten, Fotos posten, Webseiten besuchen, die eigentlich nicht für sie geeignet
sind und auf denen z. B. Hardcorepornos und Gewaltvideos gezeigt werden,
sowie das Surfen auf rechtsradikalen oder islamistischen „Rekrutierungsplattformen“. Es fehlt somit immer mehr die Möglichkeit der Kontrolle, Verbotenes
zu tun wird kinderleicht.
Schaut man sich genauer an, was Kinder und Jugendliche im Netz machen,
wird deutlich, dass Facebook, WhatsApp und Co. aus ganz unterschiedlichen
Motiven und Bedürfnissen heraus genutzt werden: Ob Alltägliches oder Belangloses besprochen wird, man einfach Smalltalk hält, Freunde kontaktiert,
neue Freundschaften findet oder einfach nur wissen möchte, was „los ist“.
Allerdings üben gerade die Bereiche Identitätssuche und Selbstdarstellung,
die in der Pubertät eine wichtige Rolle spielen, auch online eine starke Faszination aus (s. auch Katzer 2013, Renner et al. 2005, Döring 2002). So zeigen
auch eigene Studien, dass 1/3 der 10–19-Jährigen online austesten, wie sie
bei anderen ankommen (s. Cyberlife im Spannungsfeld zwischen Faszination und Gefahr 2013, Bündnis gegen Cybermobbing e. V. und ARAG SE). Dies
geschieht immer häufiger über das eigene Facebookprofil oder sogenannte
Selfies, also Fotos und Videos, die sie z. B. von sich in privaten Situationen,
beim Sport, beim Ausüben von Hobbys oder beim Einkaufen machen. So
veröffentlichten im Jahr 2013 bereits 2/3 der 12–19-Jährigen (JIM 2013) und
30 % der 6–12-Jährigen Fotos oder Videomaterial von sich im Netz (KIM 2013).
Der Trend der Selfies bzw. der Selfie-Manie sollte somit stärker auch in den
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facebook, whatsapp & co
Fokus von Erziehungsberechtigten, Pädagog(inn)en und Beratungsinstitutionen gerückt werden.
Doch wie sieht diese Selbstdarstellung im WorldWideWeb nun genau aus?
2. Trends jugendlicher Selbstdarstellung: Neknomination, Spornosex und Sexting
Schaut man sich an, welche Art von Fotos und Videos Kinder und Jugendliche von sich online verbreiten, wird deutlich, dass diese eben nicht nur lustige oder alltägliche Szenen von zu Hause, der Schule, aus dem Sportverein,
mit Familie oder Freunden abbilden. Immer häufiger zeigen sich neuartige
Trends der Selbstdarstellung und Selbstpräsentation, so z. B. Neknomination.
Hierbei handelt es sich um Mutproben, die unter Alkohol durchgeführt, dabei gefilmt und dann online gestellt werden. Es ist eine Art Wettbewerb, bei
dem die verschiedenen „Stunts“ auch noch von anderen bewertet werden (s.
auch Russell 2014).
Auch der Begriff „Spornosex“ (zusammengesetzt aus Sport und Sex), in Deutschland noch recht unbekannt, macht die Runde, gerade bei jungen sportlich aussehenden Männern und wird auch von Jugendlichen immer häufiger aufgegriffen.
Hierbei wird der gut gestylte und trainierte Sixpack wirkungsvoll nackt oder
halbnackt in Szene gesetzt, fotografiert und z. B. auf Instagram veröffentlicht
(Reichert 2012).
Ein weiterer Trend jugendlichen Online-Verhaltens ist das sogenannte Sexting.
Der Begriff kam sogar 2009 bei der vom New Oxford American Dictionary
ausgerichteten Wahl zum „Wort des Jahres 2009“ unter die Finalisten. Sexting, das Veröffentlichen von Fotos in sexy, aufreizenden Posen in Bikini oder
Unterwäsche, das zeigen nackter Brüste, der Genitalien oder ganzer Nacktfotos,
ist ein Verhaltenstrend, der in den USA seit Längerem diskutiert wird (Chalfen
2009, 2010; Calvert 2009; PewResearchCenter 2009; Katzman 2010; Ferguson
2010; The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and
Cosmogirl.com 2009). In Deutschland ist Sexting erst in letzter Zeit stärker in
den Blick der Öffentlichkeit geraten, insbesondere durch publik gewordene
Vorfälle an Schulen (Berendsen 2014).
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catarina katzer
Formen der Online-Selbstdarstellung
In den Medien werden Sexting und Spornosex häufig als Problemverhalten diskutiert. Dabei wird allerdings meist ausgeblendet, dass solche Verhaltensweisen auch bestimmten Motiven und Bedürfnissen pubertierender Jugendlicher
entsprechen. Deshalb sollten wir hier nicht nur die Risikogefährdung diskutieren, sondern auch versuchen zu verstehen, warum Jugendliche dies überhaupt
machen. Sozialpsychologisch stellen sich demnach auch Fragen nach den
Hintergründen solchen Verhaltens, nach dem „Warum“.
Schaut man zu Beginn erst einmal darauf, wer Sexting überhaupt ausübt, zeigt
sich, dass es sich hierbei nicht nur um einen Trend unter Jugendlichen handelt.
Auch Erwachsene sind in diesem Bereich aktiv und verschicken regelmäßig
sexy Bildmaterial an andere. In den USA sind es unter den 20–26-Jährigen immerhin 1/3 (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany
and Cosmogirl.com 2009). Unter den erwachsenen Frauen zwischen 30 und 45
Jahren sind es immerhin 25 % der Smartphone-Besitzerinnen, die Nacktfotos
an ihre Partner senden (https://www.netnanny.com/blog/adult-smartphoneusers-are-sexting-too-yes-really).
Blickt man auf Kinder und Jugendliche wird deutlich, dass es sich auch bei den
jugendlichen minderjährigen Sextern und Sexterinnen nicht nur um eine Minderheit handelt: Studien aus den USA sprechen von 20 % der 13–19-Jährigen, die
regelmäßig „Nude-Fotos“ von sich selbst versenden (The National Campaign to
Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2009) bzw. von 18 % in
dieser Altersgruppe, die solche Fotos erhalten (Knowledge Networks 2009). Eine
französische Publikation spricht von 15 % der 15–24-jährigen Mädchen, die sich
nackt fotografieren oder filmen (Generation YouPorn, mythe ou realité?, enquete
lfop 2013). Und in der Gruppe der 13–16-Jährigen, die zum Teil ja noch zu den Kindern (unter 14 Jahren) zählen, zeigt sich in den USA, dass bereits jedes 10. Mädchen
Sexting ausübt (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2009). Für Deutschland liegen konkrete Sexting-Daten für
Kinder und Jugendliche aktuell noch nicht vor. Allerdings zeigt die erste ausführliche deutsche Studie, dass ca. 19 % der 18–27-jährigen jungen Erwachsenen
Sexting-Material regelmäßig erhalten und 16 % selbst verschicken (Döring 2012).
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facebook, whatsapp & co
Dabei wird insgesamt auch ein Genderaspekt deutlich: Mädchen sind häufiger
unter den Absenderinnen zu finden als Jungen (The National Campaign to
Prevent Teen an Unplanned Pregnancy and Cosmogirl.com 2008, Döring 2012).
Dies ist allerdings nicht unbedingt überraschend. So hat gerade die Körperlichkeit für Mädchen eine ganz besondere Bedeutung: Das Gefühl, hübsch, begehrenswert und attraktiv zu sein, ist gerade bei Mädchen in der Pubertät stark
ausgeprägt. So antwortet die Mehrheit der Sexterinnen auch auf die Frage,
warum sie sexy Fotos von sich an andere verschicken: „Weil man von anderen
Aufmerksamkeit bekommen möchte, man sich ‚interessant‘, ‚besonders‘ und
sexy fühlen will.“ (The National Campaign to Prevent Teen an Unplanned
Pregnancy and Cosmogirl.com 2008).
Welche Motive stecken hinter Sexting?
Insgesamt sind die Motive und Bedürfnisse, die hinter Sexting stecken,
vielfältig. Fragt man Jugendliche, warum gerade Mädchen Fotomaterial
in sexy Posen verschicken, dann hört man vor allem Antworten wie: um
Aufmerksamkeit von Jungen zu bekommen, um überhaupt beachtet zu werden, weil sie flirten wollen, um von einem bestimmten Jungen gemocht zu
werden, sich sexy zu fühlen oder Komplimente und ein positives Feedback
zu bekommen (Buchegger 2011). Allerdings scheint auch Gruppendruck oder
der Druck vom eigenen Freund eine Rolle zu spielen. Dieser Meinung sind
immerhin 20 % der 14–19-jährigen Befragten einer Studie aus den USA (The
National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.
com 2009).
Möchte man nun die verschiedenen Motive, die hinter Sexting-Verhalten stecken können, einander zuordnen, so lassen sich fünf grobe Motiv-Kategorien
bilden: 1. Spaß und Flirt, 2. Beziehungspflege und Beziehungsaufbau bzw.suche (s. auch Döring 2012), 3. Stärkung des Selbstbewusstseins und sexuelle
Identitätsfindung, 4. Ausgleich emotionaler Vernachlässigung und 5. Druck
und Zwang.
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catarina katzer
(1) Spaß und Flirt
Die Motive „Spaß haben“ und „flirten wollen“ erweisen sich für Sexting-Verhalten in fast allen Studien als wichtigste Motive (s. Buchegger 2011, The National
Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009).
Spaß, z. B. auch unter Freundinnen, auf der Pyjama-Party oder dem Sleepover
untereinander sexy Fotos zu machen oder das Abchecken zwischen Freundinnen „Findest du die neue Unterwäsche cool?“ sind wichtige Handlungsfaktoren.
Auf der anderen Seite spielt das Experimentieren mit der eigenen Sexualität,
dem lockeren Flirtverhalten, ohne dabei „etwas Festes“ zu wollen, gerade in der
Pubertät eine wichtige Rolle. So geben auch rund 20 % der Jugendlichen, die
sich aktiv an Sexting beteiligen, als Adressaten reine Online-Bekanntschaften
oder unverbindliche Flirt-Kontakte an (The National Campaign to Prevent Teen
and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009, Knowledge Networks
2009). Allerdings bleibt dieses leichte Flirtverhalten nicht immer ohne Auswirkungen auf das Image der Sexter(innen). So werden insbesondere Mädchen, die
Sexting ausüben, von der Mehrheit Gleichaltriger als flirty (65 %) oder sogar
als regelrecht verzweifelt bei der Kontaktaufnahme zu Jungen beurteilt (65 %).
Vor allem Sexterinnen werden häufig stigmatisiert, als „slutty“ (Schlampe)
bezeichnet und bekommen somit ein negatives Image bzw. einen schlechten
Ruf verpasst (72 %) (The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned
Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Auch wenn die Stigmatisierung von Sexterinnen durchaus häufiger ist als die Stigmatisierung von Sextern, zeigt sich in
geschlechtsgetrennten Schülerworkshops zum Thema Sexting: auch Jungs, die
Nacktfotos von sich verschicken, sind nicht unbedingt beliebt bei den Gleichaltrigen. Oft fällt bei der Beurteilung der Sexter durch andere Jungen der Begriff,
das ist doch „schwul“ (s. Katzer 2014b).
(2) Beziehungspflege, Beziehungsaufbau bzw. -suche
Das richtige „Verliebtsein“, als Grund für Sexting-Verhalten, spielt bei rund 1/5
der Sexter und Sexterinnen die wichtigste Rolle. Typisch für Sexting in diesem
Bereich ist z. B., dass man seinem Freund ein sexy Foto als Geschenk machen
möchte. So benennen insgesamt 70 % der Sexter und Sexterinnen als Adressaten
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facebook, whatsapp & co
auch den aktuellen festen Freund oder die feste Freundin (Cox Communication
2009, The National Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and
Cosmogirl.com 2009, Knowledge Networks 2009). Dabei verschicken auch 1/3
der Sexterinnen Fotos an einen Jungen, mit dem sie gerne zusammen sein
möchten, in den sie also aus der Ferne verliebt sind. Ein sexy Foto oder StripVideo hat hier also die Funktion einer Liebesbotschaft und ist Teil der Intimkommunikation (s. auch Döring 2012).
(3) Stärkung des Selbstbewusstseins und sexuelle Identitätsbildung
Sexting hat hier die Funktion, die Suche nach Aufmerksamkeit, Bewunderung
und Bestätigung zu unterstützen. Jugendliche, insbesondere Mädchen, wollen
sich sexy fühlen und auch als solche wahrgenommen werden. Sie möchten
in erster Linie erproben und herausfinden, wie andere sie einschätzen und
beurteilen: Ist man in den Augen der anderen hübsch, sexuell attraktiv, und
was denken sie über den Körper bzw. das gesamte Erscheinungsbild usw.?
Diese Informationen beeinflussen dann in bestimmtem Maße auch das eigene
Selbstbild. Das gilt immerhin für 1/3 der Sexterinnen (The National Campaign
to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Komplimente zu bekommen und sich interessant zu fühlen, sind also wichtige Handlungsmotive (Buchegger 2011) und ist typisch für Verhalten von Jugendlichen in
der Pubertät.
(4) Ausgleich emotionaler Vernachlässigung
Ein weiteres Motiv für Sexting ist auch der Ausgleich emotionaler Vernachlässigung, des Gefühls, allein und unverstanden zu sein, also die Suche nach
emotionaler Nähe. So antworten auf die Frage, warum gerade Mädchen Sexting
ausüben, 65 % der 14–17-jährigen Jugendlichen einer europäischen Vergleichsstudie: „Damit sie überhaupt beachtet werden!“ (Buchegger 2011). Um aus der
Vernachlässigung, der gefühlten Missachtung und dem Ignoriertwerden durch
die Gleichaltrigen, herauszukommen, bedienen sich diese Mädchen dann der
eigenen Darstellung in sexy Posen. Dabei ist das zeigen des eigenen Körpers
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catarina katzer
auch ein starker Vertrauensbeweis. Man zeigt sich jemandem völlig hüllenlos
und damit auch schutzlos, weil man glaubt, diese Person will einem nur Gutes
tun, wird einen beschützen, versteht die eigenen Sorgen und ist ein guter
Freund (auch wenn man diesen nur online kennt). Dass ein solches Verhalten
auch Risiken wie Erpressungen, Grooming oder Cybermobbing bergen kann,
werden wir später noch diskutieren. Allerdings macht die Aussage einer europäischen Studie, dass sich nur die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 17
Jahren der Gefahren bewusst ist, deutlich, wie wichtig hier Präventionsarbeit
ist (Buchegger 2011).
(5) Druck und Zwang
Sexting geschieht allerdings nicht immer ganz freiwillig. Auch Druck, der durch
den festen Freund ausgeübt wird, kann Mädchen dazu bringen, sexy oder
„Nude“-Fotos von sich zu machen und zu verschicken. Denn gerade Nacktfotos
auf Handy oder Smartphone gelten bei Jungs als Trophäe: Je mehr man hat,
desto cooler ist man. Aber auch der Gruppendruck aus dem gesamten Umfeld,
also auch von Freundinnen, nach dem Motto: „Das macht doch jeder! Stell dich
nicht so an!“, können der Grund für Sexting-Verhalten sein. Dies bestätigen
rund 20 % befragter Jugendlicher zwischen 14 und 19 Jahren (The National
Campaign to Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009).
Dabei kann Zwang allerdings auch auf andere Art und Weise ausgeübt werden:
Online-Bekanntschaften freunden sich mit einem Mädchen oder Jungen an.
Mit der Zeit kennt man sich immer besser, und der „Fremde“ fragt irgendwann
nach einem Foto in Bikini oder am Strand. Der Jugendliche fühlt sich geschmeichelt, willigt ein und schickt diese. Danach folgen Erpressungen nach immer
mehr kompromittierenden Aufnahmen. Immer mit der Drohung, man würde
Eltern oder den Freunden die Fotos, die man schon hat, zeigen oder auf Facebook veröffentlichen, falls die Jugendlichen nicht einwilligen. Dies kann durch
Einzelpersonen (www.srf.ch/news/schweiz/sexting-faelle-halten-richter-auftrab), aber auch durch ganze Sexting-Erpresserbanden geschehen (http://www.
fr-online.de/panorama/sexting-interpol-verhaftet-bande-von-sex-erpressern,1472782,27006506.html)
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facebook, whatsapp & co
3. Mögliche Risiken und Gefahren sexueller Selbstdarstellung im Netz: Grooming und Cybermobbing
Sexting-Verhalten als Mittel der Selbstdarstellung und Kommunikation der
Jugendlichen untereinander ist durchaus als wichtiger Jugend-Trend einzuschätzen. Allerdings sehen Jugendliche selbst auch Risiken in solchen Verhaltensweisen z. B. darin, sexuelle Übergriffe zu erleben (45 %), auf gefährliche
Leute zu treffen (57 %), aber auch in möglichen Problemen mit den Eltern (49 %)
oder späteren Arbeitgebern (30 %) (Buchegger 2011).
Der Sexting-Trend birgt also durchaus Gefahren, die diskutiert werden müssen. So können Sexter und Sexterinnen wie bereits angesprochen Opfer von
Sexting-Erpressungen oder Grooming werden. Gerade wenn man bedenkt, dass
rund 15 % der Sexter(innen) ihre Fotos an vollkommen Fremde schicken, dann
ist hier doch verstärkt Vorsicht geboten (The National Campaign to Prevent
Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). So zeigen Studien
auch aus Deutschland, dass 20 % bis 1/3 der 12–19-Jährigen online ungewollt
Sexgespräche aufgezwungen werden, sie nach ihrem Körper oder sexuellen Erfahrungen gefragt werden usw. (Katzer 2008, 2009a, 2010, Katzer/Fetchenhauer 2007; Ybarra/Mitchell 2004, et al. 2011). Jugendliche sollten somit bedenken,
dass sexy Fotos auf Instagram und Co. durchaus solches Verhalten provozieren
können.
Aber auch Cybermobbing (engl. Cyberbullying) ist nicht selten die Folge eigenen Sexting-Verhaltens. Möchte man gerade als Außenseiter durch Sexting
auf sich aufmerksam machen, kann dies genau das Gegenteil bewirken:
Andere machen sich lustig darüber und fangen an, den- oder diejenige zu
mobben, auch im Netz z. B. durch die Verbreitung eines „Schlampenimage“.
Cybermobbing kann aber auch durch die Fremdveröffentlichung zuvor gesendeter Nacktfotos geschehen, d. h. wenn z. B. aus Rache der Verlassene es
seiner Ex-Freundin heimzahlen möchte, ein abgeblitzter Verehrer gekränkt
ist oder es in einer Mädchenfreundschaft Streit gibt:„…eine Freundin von mir
hat Nacktfotos, weil wir die aus Spaß gemacht haben. Jetzt erpresst sie mich
damit, sie allen weiterzuschicken …“ (Döring 2012). Dabei wird den Opfern
solcher Cybermobbing-Fälle häufig selbst die Schuld zugeschoben, das soge-
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catarina katzer
nannte victim-blaming (s. auch Fein 2011): „Warum ist die denn so blöd und
verschickt solche Fotos? Die ist doch selber schuld, dass ihr sowas passiert.“ (s.
Grimm/Rhein 2007, Katzer 2014). Insgesamt zeigen Studien weltweit, dass 20 %
bis 1/3 der 10–19-Jährigen Opfer von Cybermobbing werden (s. auch Cyberlife
zwischen Faszination und Gefahr 2013; Grimm et al. 2008; Katzer 2005, 2009b,
2011a,b, 2013; Katzer/Fetchenhauer 2007, Katzer et al. 2009a, b; Patchin/Hinduja
2013; Pfetsch et al. 2014; Riebel et al. 2009; Schultze-Krumbholz/Scheithauer
2009; Techniker Krankenkasse 2011). Die Bedeutung der Cybermobbing-Problematik ist somit nicht wegzudiskutieren.
Cybermobbing:
„[…] jedes Verhalten, das von Individuen oder Gruppen mittels elektronischer
oder digitaler Medien ausgeführt wird und wiederholt feindselige oder
aggressive Botschaften vermittelt, die die Absicht verfolgen, anderen Schaden
oder Unbehagen zu bereiten“ (Tokunaga 2010).
Grooming:
„Gezieltes Ansprechen von Personen im Internet mit dem Ziel der Anbahnung
sexueller Kontakte. Besondere Form der sexuellen Belästigung im Internet“
(Wikipedia, 06.09.2012). In Deutschland auf minderjährige Opfer bezogen, d. h.,
es wird versucht, Vertrauen zu Minderjährigen aufzubauen (z. B. über soziale
Netzwerke), um später reale sexuelle Handlungen auszuüben (auch Vergewaltigungen, Sadomaso-Sex, Cybersex vor Webcam etc.).
Sexuelle Selbstdarstellung kann also durchaus dramatische Folgen für
Sexter(innen) oder Spornosexler haben. Auch wenn die eigenen Bilder aus
Versehen in falsche Hände geraten, z. B. wenn man beim Versenden die falsche
E-Mail-Adresse oder den falschen Kontakt anklickt. Somit bieten Sexter(innen)
oder auch Spornosexler sehr schnell eine Angriffsfläche für Straftaten wie
Erpressungen, Drohungen oder auch Cybermobbing (denn auch viele Cybermobbingformen fallen unter das StGB). Dabei können Jugendliche aber auch
unbewusst in den Bereich von Straftaten gelangen, nämlich dann, wenn sie z. B.
fremde Nacktfotos einfach an andere weiterverschicken. So geben rund ¼ der
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Jugendlichen an, Fotos bekommen zu haben, die gar nicht für sie bestimmt waren, sondern einfach an sie weitergeschickt wurden (The National Campaign to
Prevent Teen and Unplanned Pregnany and Cosmogirl.com 2009). Hier besteht
also durchaus Handlungsbedarf, auch auf pädagogischer Seite.
4. Psychische und rechtliche Auswirkungen von sexueller Selbstdarstellung über Internet, Handy & Co.
Betrachtet man die möglichen negativen Folgen z. B. von Sexting-Verhalten,
müssen auch mögliche psychische Effekte sowie rechtliche Auswirkungen
diskutiert werden.
So können die Folgen von Sexting den emotionalen Belastungsdruck deutlich
erhöhen. Psychosomatische Folgen, wie sich häufende Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Unwohlsein usw. wie auch dauerhafte Belastungszustände werden
von Jugendlichen berichtet, gerade wenn Grooming oder Cybermobbing hinzukommen (zu Cybermobbing s. auch Katzer/Fetchenhauer 2007; Katzer 2007a,
b, 2013; Katzer et al. 2009a, b; zu Unwanted Sexual Exploitation oder Grooming
auch Ybarra et al. 2011). Dabei geraten immer häufiger auch Fälle von Suiziden/
Suizidversuchen oder selbst-verletzendem Verhalten an die Öffentlichkeit. So
hatte sich bereits im Juli 2008 die 18-jährige Jessica Logan aus Ohio, Cincinnati,
das Leben genommen, nachdem ihr Ex-Freund private Handyfotos verbreitet
hatte und sie ebenfalls in der Schule als „Hure“ beschimpft und attackiert wurde (Celizic 2009). Auch wenn der Suizid zum Glück der Ausnahmefall ist, sollten
wir die steigende Zahl suizidaler Versuche im Zusammenhang mit Cybermobbing durchaus ernst nehmen (Brunner 2012).
Schaut man auf rechtliche Folgen, so ist in Deutschland die grundsätzliche
Verbreitung eigener Nacktfotos durch Jugendliche an andere erlaubt. In den
USA hingegen gibt es seit einigen Jahren ein Gesetz, dass die generelle Verbreitung von Nacktbildern unter Strafe stellt. Einige Jugendliche sind diesbezüglich
bereits verurteilt worden (http://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/
Teenager-schickt-Freundin-Penis-Video-von-sich-Ihm-droht-Gefaengnisid30673647.html). Allerdings sollte man überdenken, ob eine solche Kriminalisierung Jugendlicher, die durchaus ein typisches pubertäres Verhalten zeigen,
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nicht zu weit führt. Hingegen ist das Weiterleiten von Fotos/Videos ohne
Einverständnis der Abgebildeten durchaus eine Straftat nach § 201a StGB (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches), hinzukommt das Recht am
eigenen Bild (KunstUrhG § 22).
Bezüglich Cybermobbing, das durchaus als Folge von Sexting auftreten kann, ist
klar, dass es sich in vielen Fällen um Straftaten gemäß dem StGB handelt. Cybermobbing ist also kein Kavaliersdelikt. Allerdings wird seit 2013 auf Bundesebene
diskutiert, inwiefern ein neues Gesetz bzw. die Erweiterung des bereits bestehenden Straftatbestandes um die Bereiche des Mobbings im „Internet und über andere
Technologien“ sinnvoll ist (http://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/
article129519241/Justizminister-wollen-Cybermobbing-haerter-bestrafen.html).
5. Wie gehen wir mit neuen Jugend-Phänomenen wie „Sexting“ um?
Insgesamt sehen wir deutlich, dass die neuen Jugend-Phänome, ob Sexting
oder Spornosex, die im Internet ausgelebt werden, uns alle vor neue Aufgaben
und Herausforderungen stellen. Hier sind insbesondere die individuelle Ebene
(Kinder, Jugend, Eltern), der Bereich der Schule (umfassendes Präventionsmanagement, neue Schulstrukturen, Beratungsteams in allen Schulen, peer to peer
und peer to parent-Konzepte usw.), die psychologischen Beratungsstellen und
Opferhilfen sowie die Institutionen des Kinderschutzes gefordert: Aufzuklären,
zu sensibilisieren und neue Konzepte auf den Weg zu bringen. Allerdings sollte
auch diskutiert werden, inwiefern die Anbieter der Onlineplattformen wie
Facebook, Youtube, Instagram usw. zukünftig stärker in die Pflicht zu nehmen
sind. So könnten sie z. B. qualifizierte Online-Hilfsangebote und Beratungen
anbieten oder finanzieren bzw. auf solche Portale und Angebote hinweisen.
Auch könnten sie vor Problemverhalten schon auf der Startseite z. B. in Form
von Buttons oder Pop-ups warnen oder auch psychologische Erkenntnisse
nutzen (s. Warnhinweise oder Erinnern an das eigene Verhalten s. http://www.
businessinsider.com/google-science-fair-trisha-prabhu-cyberbullying-2014-8).
In Zukunft ist somit eine differenzierte Auseinandersetzung mit neuen
Netzphänomenen und Jugendtrends dringend notwendig.
248
facebook, whatsapp & co
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A
teresa siefer
Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten:
Chancen, Risiken, Herausforderungen
Anhand von drei Fall-Vignetten möchte ich veranschaulichen, in welchen Situationen Kinder und Jugendliche leicht zu Cyber-Opfern werden können, welche Hintergründe dafür möglicherweise ausschlaggebend sind, wie wir darauf reagieren
können und nicht zuletzt welche besonderen Herausforderungen für den Umgang
mit sexuellen Missbrauchserfahrungen, die – auch über das Internet gemacht – für
den Einzelnen / die Einzelne, für betroffene Eltern, aber auch für Helfer(innen)
bestehen. Es stellen sich auch Fragen, die den juristischen Bereich tangieren.
Durch meine langjährige Tätigkeit im Kinderschutz-Zentrum Lübeck habe ich
seit über 20 Jahren auch mit Kindern, die Opfer sexueller Übergriffe geworden
sind, und deren Familien zu tun.
Häufig sind wir erste Ansprechpartner, wenn es um Hinweise auf sexuelle
Übergriffe geht.
· Fokus ist dabei primär der Schutz des Kindes vor erneuten Übergriffen. Es
geht um Fälle von innerfamiliärem Missbrauch durch Vater, Stiefvater
oder Partner der Mutter an Kind und/oder Geschwistern, aber auch um
Personen aus dem sozialen Nahfeld (Sporttrainer, Schulbetreuer, Nachhilfelehrer, Freizeitpädagogen o. Ä.) – in seltenen Fällen um Personen,
denen die Kinder nur einmal begegnet sind und zu denen keinerlei soziale
Bezüge bestanden haben. In all diesen Fällen sind wir als Berater(innen)/
Therapeut(inn)en manchmal noch in der Situation der Klärung nächster
Schritte beteiligt, die therapeutische Begleitung setzt dann oft erst nach
dieser ersten Phase der Verunsicherung, möglicher Anzeigenerstattung
oder z. T. erst nach einem Gerichtsverfahren ein.
· Pro Jahr sind es etwa 40–60 Fälle, in denen die Thematik sexueller Übergriffe im Vordergrund steht. Zusätzlich sind es jährlich etwa 30 Fälle, in
denen wir als Fachberaterinnen in der Rolle der „Insoweit erfahrenen
Fachkraft“ hinzugezogen werden, um Einschätzungen möglicher Kindes-
255
teresa siefer
wohlgefährdung aufgrund von Anzeichen für sexuellen Missbrauch zu
klären und die Fachkräfte hinsichtlich nächster Schritte zu beraten. Hier
stehen wir nicht im Kontakt mit den betroffenen Kindern / Jugendlichen
und deren Familien.
· Auch etliche Verfahren, die vor Gericht verhandelt werden und in denen
Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden sind (pro Jahr etwa 10–20 Fälle),
werden von uns begleitet, d. h. hier erhalten die Kinder/Jugendliche in
Schleswig-Holstein ein auf den juristischen Prozess zugeschnittenes Unterstützungsangebot psychosozialer Prozessbegleitung (gesamter Landgerichtsbezirk Lübeck, von Fehmarn bis Lauenburg). Dieses Modell der über
die Justizministerien finanzierten Unterstützung kindlicher Opferzeugen
soll zukünftig übrigens bundesweit umgesetzt werden.
In all diesen Verfahren gab es reale Täter, die in direktem Kontakt zu ihrem Opfer
gestanden haben.
Neu ist im digitalen Zeitalter für uns das Phänomen sexueller Übergriffe, ohne dass
es eine Realbegegnung gibt, der Täter möglicherweise auch nie identifiziert wird.
Erpressung von Kindern/Jugendlichen in Internet-Kontakten ohne Realbegegnung
und dennoch fatalen, z. T. traumatisierenden Folgen für die Opfer.
Veränderungen, mit denen wir in unserem Alltag mehr und mehr zu tun haben,
möchte ich an den folgenden drei Beispielen kurz erläutern:
1. 2 006: Manuela, damals 8 Jahre, SM-Handy-Fotos mit sexuellem Inhalt, die
möglicherweise im Internet gelandet sind.
2. 2008: Jessica, 13 Jahre: Sexueller Missbrauch über Chat-Kontakt.
3. 2012: Lara, 11 Jahre, Cyber-Grooming über Online-Spiele-Portal (Moviestarplanet MSP und initiierten Skype-Kontakt).
Fallvignette Nr. 1: Manuela, 8 Jahre
Manuela lerne ich kurz vor Pfingsten im Jahre 2006 kennen, sie ist zu diesem
Zeitpunkt 8 Jahre alt. Ihre Mutter hatte sich spontan an das Kinderschutz-Zentrum gewandt, aufgrund des Verdachts des sexuellen Missbrauchs durch ihren
getrenntlebenden Mann an ihrer eigenen Tochter.
256
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
Lebenssituation
Alleinerziehende Mutter mit 8-jähriger Tochter und 4-jährigem Sohn in Lübeck
nach Trennung vom Vater ein Jahr zuvor. Vater der Kinder lebt ca. 700 km entfernt in Süddeutschland. Mutter selber ist 29 Jahre alt und Steuerfachgehilfin.
Der Mann ist 31 Jahre, Informatikkaufmann.
Die Mutter berichtet, dass ihre Tochter bei ihrer Freundin übernachtet habe.
Dort habe die Mutter der Freundin ein Gespräch zwischen den beiden Mädchen im Badezimmer ‚mitbekommen‘.
Manuela habe gesagt, dass ihr Vater „einiges von ihr verlange“ und „Ob Sabine
auch den Pimmel des Vaters lecken müsse?“. Die Mutter der Freundin habe dann
Manuela angesprochen und gefragt, ob denn ihre Mutter darüber Bescheid
wisse. Manuela habe daraufhin gesagt, dass der Papa ihr gesagt hätte, dass die
Mama das nie wissen dürfe (Schweigegebot). Die Mutter der Freundin habe
Manuela dann noch mitgeteilt, dass ein Vater so etwas nicht tun dürfe.
Manuelas Mutter kam ins Kinderschutz-Zentrum, um dabei Unterstützung zu
erhalten, wie sie mit dieser Situation am besten umgehen kann und ob sie eine
Anzeige machen solle.
Unser erster Beratungskontakt mit der Mutter fokussiert also darauf,
· wie sie der Tochter die Möglichkeit bieten kann, ihr mitzuteilen, was
passiert ist,
· dass sie als Mutter ihrer Tochter Glauben schenkt,
· dass sie Schutz herstellen wird,
· dass der geplante Kontakt zum Vater um Pfingsten herum zunächst ausgesetzt wird und
· dass sie sehr stolz darauf ist, dass ihre Tochter einen Weg gefunden hat, ein
nicht preiszugebendes Geheimnis trotzdem jemandem mitzuteilen.
→ Anzeigenerstattung bei der Polizei.
· Das Mädchen war zu dem Zeitpunkt fähig, eine verwertbare Aussage bei
der Polizei zu machen.
· Es ging darum, dass ihr Vater zum damaligen Zeitpunkt mit einem
Handy Fotos von ihr gemacht hatte, Fotos auf denen sie unbekleidet war,
257
teresa siefer
auch Fotos davon, dass sie sein Genital anfassen musste.
· Diese Aussagen führten dann zu einer unmittelbaren Überprüfung des
Vaters, Konfiszierung seines Laptops und des besagten Handys in der
Wohnung und schließlich zu einer Eröffnung des Hauptverfahrens.
· Über 1¾ Jahre später kam es letztlich erst zu einer Verurteilung des Mannes, zu
einer Haftstrafe von vier Jahren, die er dann zum Großteil auch abgesessen hat.
Zur Situation der Auswirkungen dieser Missbrauchshandlungen auf das Mädchen:
· Es folgten ein Dreivierteljahr Spieltherpiekontakte aufgrund deutlicher
psychosomatischer Belastungsanzeichen,
· Bearbeitung ihrer Ambivalenz-Konflikte, aufflackernde Schuldgefühle,
· Stärkung hinsichtlich der Wahrnehmung eigener, auch ambivalenter
Gefühle (Papa ist böse …, ich mag Papa aber auch ...),
· klare Normorientierung, dass Erwachsene Verantwortung tragen müssen,
für Dinge, die Kindern wehtun, schaden, nicht erlaubt sind …,
· Stärkung hinsichtlich der Einordnung eigener Grenzen und Überschreiten dieser,
· Gestattung des Ausdrucks der gesamten Gefühlspalette,
· Förderung ihrer gesunden Anteile, Interessen (Sport, Musik),
· Stärkung ihrer Sozialkompetenz mit zunehmender Integration in Klassenverband und Festigung von Freundschaften.
Ich lernte Manuela als ein kontaktoffenes Mädchen kennen, das allerdings kurze
Zeit nach Anzeigenerstattung mit psychosomatischen Beschwerden reagierte.
In spieltherapeutischen Kontakten wurden erhebliche Ambivalenzkonflikte mit
sich entwickelnden Schuldgefühlen offenkundig.
Es traten bei ihr Verunsicherung durch Schuldübernahme auf, das Gefühl,
„wegen mir kommt Papa jetzt ins Gefängnis“, konnte spieltherapeutisch gut aufgearbeitet werden; sie hatte Vorstellungen darüber, dass der Vater im Gefängnis
nichts zu essen bekäme, es traten sprachliche Regressionen auf, sie wechselte in
Babysprache. Sie konnte es gut ausdrücken (in Bildern, kreativ), dass sie es böse
fand, was der Papa gemacht hat und es ging eben auch darum, ihr Gefühl, dass
sie auch gute Anteile an ihrem Vater erinnerte, zuzulassen.
Dieser Konflikt offenbarte sich in Schlafstörungen, in nächtlichen Träumen,
258
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
die sie aufweckten und durchaus als psychotraumatische Folgeerscheinungen
durch Öffnung des sexuellen Missbrauchs zu begreifen waren, da sie unter
einem enormen Geheimhaltungsdruck über einen langen Zeitraum gestanden
und der zu einer Kommunikationssperre geführt hatte.
Zwei Jahre reifer in ihrer Entwicklung, hatte sie letztendlich dann den Ausweg
gefunden, sich zunächst einer Gleichaltrigen anzuvertrauen, damit sie dem
Gebot, der Mama nichts zu sagen, Folge leisten konnte.
Sehr entscheidend neben der Bearbeitung ihrer Ambivalenzkonflikte in der
Spieltherapie sind Stärkung ihrer eigenen Wahrnehmung, Erlaubnis zum
Ausdruck der gesamten Gefühlspallette, und eine Stärkung hinsichtlich der
Einordnung von eigenen Grenzen und Überschreitung dieser Grenzen mit
psychoedukativem Anteil, dass Erwachsene Verantwortung für Dinge, die nicht
gut sind für Kinder, tragen müssen.
Zu einer deutlichen Entlastung des Kindes trug die Tatsache bei, dass vor allem
ihre Mutter, aber auch die weitere Umgebung ihrer Mitteilung Glauben schenkte,
sie ernst nahm und klar normativ reagierte – insgesamt für den Heilungsprozess
immer eine gute Prognostik.
Manuela entwickelte zunehmende Sicherheit und Autonomie, sie wurde offener im Kontakt zu Klassenkameraden, knüpfte Freundschaften und entwickelte
sich hinsichtlich ihres emotionalen und sozialen Verhaltens stabil.
Da Manuela insgesamt viele positive Fähigkeiten (breitgefächerte Interessen)
mitbringt, dieses Trauma zu verarbeiten, haben wir die erste Phase der therapeutischen Begleitung auf ein Dreivierteljahr begrenzt.
So weit, so gut.
Typischerweise kommt es zu kritischen Phasen, etwa, als es in der Schule im Alter von 10 Jahren um Themen der Sexualaufklärung geht, auch um das Thema
„Missbrauch“, und sie sich plötzlich „beschmutzt“ fühlt.
Neu ist allerdings, dass im Alter von 14 Jahren eine neuerliche Verunsicherung
auftritt, als sie mit zunehmender Nutzung des Internets und den Erfahrungen im schulischen Kontext realisierte, dass möglicherweise auch die von ihr
gemachten Fotos inzwischen im Internet kursieren könnten. Diese Dimension
war für sie zum Zeitpunkt des ersten Outings überhaupt nicht in ihrem Vorstellungsrahmen gewesen.
259
teresa siefer
Dies führte zu einer kurzfristigen Destabilisierung mit depressiven Episoden.
Erneute ambulante Kontakte im Kinderschutz-Zentrum mit einem therapeutischen Angebot und Methoden des EMDR führten zur Wiedererlangung der
Kontrolle über sich. Mithilfe von Stabilisierungstechniken verblassten ihre
belastenden Vorstellungen und damit einhergehenden Ängste. Das Anknüpfen
an ihr reales, mittlerweile recht erfolgreiches Leben als sehr gute Schülerin,
die für den Realschulabschluss vorgeschlagen war, gelang insoweit, als die depressive Symptomatik verschwand, sie sich in ihren sozialen Beziehungen gut
unterstützt fühlte und sie sich außerschulisch im Sport engagierte – allein das
Wissen um ihre Sorge bezüglich des möglichen Verbleibs der Fotos im Netz konnte
auch ich nicht wirklich verändern.
Fallvignette Nr. 2: Jessica, 13 Jahre
Sexueller Missbrauch (?) nach Chat-Kontakt
Ein Fall, der zunächst in den Medien Schlagzeilen macht, da es um ein 13-Jähriges Mädchen geht, das vermisst und kurz darauf bundesweit gesucht wird. Einen Monat lang bleibt Jessica verschwunden, bis sie durch Handy-Ortung 500
km entfernt ihres Wohnortes bei einem 35-jährigen Mann in dessen Wohnung
– die dieser mit seiner Mutter teilt – von der Polizei aufgegriffen wird. Dieser
Mann ist bereits einschlägig verurteilt gewesen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und hat bereits eine Haftstrafe abgesessen.
Jessica wird als „gerettet“ zunächst in die Obhut der zuständigen Jugendbehörde übergeben, dann den Eltern überstellt. Der Mann wird direkt in U-Haft
genommen, da bestätigt wird, dass es zu sexuellen Kontakten gekommen ist.
Jessica wird wenige Tage nach der Inobhutnahme durch das örtliche Jugendamt ihrer Mutter und deren Lebensgefährten wieder „übergeben“. Jessica betonte, dass sie sich nicht „gerettet“ vorkäme, eher widerwillig mit zur Familie
zurückkehre.
Was war hier geschehen, dass es zu einer solchen Entwicklung gekommen war?
Über das für die Eltern zuständige Jugendamt kommt auch das KinderschutzZentrum Lübeck mit der Familie in Kontakt. Jessica betont zunächst, dass sie
260
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
eigentlich nicht zur Familie zurückwollte, sie habe sich „geliebt“ gefühlt bei
ihrer neuen Chat-Bekanntschaft.
Sie hatte ihren neuen Freund in einem Chat-Forum für Jugendliche, „die schon
mal an Selbstmord gedacht hätten“, als vermeintlich einfühlsamen 17-Jährigen
kennengelernt. Sie fühlte sich von ihm verstanden, konnte ihm ihre Lebenssituation, in der sie sich als Älteste in einer neuen Patchwork-Konstellation
ihrer Mutter und deren neuen Lebensgefährten nicht wahrgenommen fühlte,
gut anvertrauen. Ihre zwei jüngeren Halbbrüder beanspruchten die gesamte
Aufmerksamkeit der Mutter, die als Flugbegleiterin immer wieder über längere
zeitliche Etappen nicht für sie zur Verfügung stand. Da Jessica den neuen Partner der Mutter ablehnte, sie sich in ihrem Elternhaus an den Rand gedrängt
fühlte, kamen erstmals Suizidgedanken auf. Sie beschrieb später, dass sie sogar
einmal eine ganze Schachtel Tabletten geschluckt hätte, im Gedanken, sich das
Leben nehmen zu wollen, aber es hätte nicht geklappt und eigentlich hätte keiner etwas gemerkt. Das Online-Forum für Jugendliche schien da ein wohltuender Ort, höchst Privates anderen anvertrauen zu können und sich gleichzeitig
seelisch gestärkt zu fühlen. Dass ein 17-Jähriger so viel Interesse an ihr zeigte,
war sehr selbstwertfördernd.
Dies war letztendlich auch der Impuls dafür, den neuen Freund, der sich ihr
so intensiv und einfühlsam im Chat genähert hatte, real kennenzulernen zu
wollen und von zu Hause „wegzulaufen“.
Jessica berichtet mir bei unserer ersten Begegnung, sie habe gar nicht zurück zu
ihrer Familie gewollt. Es komme ihr so vor, als habe die Mutter sich einfach eine
neue Familie geschaffen, in der für sie halt kein Platz sei.
Dass sie sich eigentlich das Leben habe nehmen wollen, ungefähr acht Wochen
zuvor, sei dort keinem wirklich aufgefallen. Sie hatte eine Überdosis Tabletten
genommen.
Ihr Vater?
Den kenne sie eigentlich nicht, sie sei wohl bei einem One-Night-Stand ihrer
Mutter entstanden. Sie wisse nur, dass der Vater eine eigene Familie in Berlin
habe, sie dort auch nicht zugehöre und er nie Interesse an ihr gezeigt habe. In
ihrem Aufzug, der für die sommerlichen Temperaturen eher düster und etwas
martialisch wirkt (schwarze Kleidung, ein paar Piercings) und gelegentliche,
261
teresa siefer
unnahbar wirkende Gesten, signalisiert Jessica mir eine gewisse ‚Abgeklärtheit‘, versucht auszudrücken, eigentlich alles „im Griff zu haben im Leben“, die
Menschen durchschaut zu haben und sich durch nichts mehr verletzten lassen
zu wollen.
Dass sie erst 13 Jahre alt ist, könnte man übersehen – sie wirkt tatsächlich
äußerlich älter im flüchtigen Hinschauen, ist groß gewachsen, hat nichts
Kindliches mehr an sich, außer wenn man es schafft, ihr kurz in die Augen zu
blicken, dort ahnt man flüchtig die Traurigkeit eines kleinen, zurückgelassenen
Mädchens.
Die mediale Aufmerksamkeit, die „ihr Fall“ bekommen hat, scheint sie auf eine
bedrückende Art zu genießen, berichtet stolz, man habe sogar in der Bravo über
sie berichtet, während sie immer wieder betont, nicht „vergewaltigt“ worden
zu sein, das hätten die alle nicht verstanden.
Überhaupt fragt sie mich gegen Ende unserer zweiten Begegnung sehr verunsichert, was denn nun eigentlich mit XX (dem Beschuldigten) geschehe – sie
wolle nicht, dass er bestraft würde; er habe ihr doch gar nichts getan; eigentlich sei
er der Einzige, der sie richtig verstehe.
Das macht auch deutlich, wie stark die Opfer von sexuellem Missbrauch im Internet in einen Ambivalenzkonflikt geraten, den Täter im Nachhinein womöglich
noch schützen zu wollen!
Wir können im weiteren Verlauf darüber sprechen, dass der Beschuldigte ihr
durchaus das Gefühl gegeben habe, wichtig zu sein und ernst genommen zu
werden in ihren Gefühlen, er sich aber verlassen habe darauf, dass sie sich älter
gemacht habe. (Bei der Realbegegnung war ihr doch aufgefallen, dass er nicht
17, sondern deutlich über 30 Jahre alt war, so hätte er auch merken können,
dass sie nicht 16 Jahre, sondern erst 13 Jahre alt war.) Er als Erwachsener hätte
schon die Verantwortung dafür, wenn er sich ehrlich um ihr Wohlergehen
hätte kümmern wollen, dass sie als Schülerin nicht allein durch die Republik
fahren könne, er auch über die Medien eigentlich hätte erfahren müssen, dass
sie in Wirklichkeit 13 Jahre alt war, bundesweit gesucht wurde und er in diesem
Alter zu ihr keine sexuellen Beziehung hätte aufnehmen dürfen.
Eigentlich nur die Tatsache, dass der Beschuldigte bereits wegen sexuellen Miss-
262
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
brauchs an Kindern eine Strafe hatte absitzen müssen, lässt Jessica erkennen, dass
er sie möglicherweise für seine Interessen benutzt hat und dass er sie wohl auch
nicht freiwillig hätte gehen lassen. Dies wird im Verlaufe deutlich, denn es hatte
wohl Momente gegeben, in denen sie versucht hatte, doch wieder nach Lübeck zu
fahren, er sie aber geschickt an sich binden konnte – spürbar wird natürlich, wie
sehr sich Jessica einfach nach Zuwendung und Interesse an ihrer Person gesehnt hat,
sodass sie die erhaltene Zuwendung durchaus bereit ist, als „Liebe“ zu verklären.
Hier können wir sehen, wie sehr das Internet Online-Täter schützt, die sich hinter
einer Maske der Gutmütigkeit verstecken können und die Kinder in eine manipulative Verstrickung ziehen.
Dass sich Online-Täter „sicher“ fühlen und von ihren Opfern sogar nach öffentlichem Bekanntwerden nicht unbedingt ablassen, zeigte sich im weiteren
Verlauf noch auf unterschiedlichen Ebenen:
Über einen Anruf einer Mitarbeiterin des örtlichen Jugendamtes, die sich im
Auftrage eines Herrn X., der angeblich die Familie sehr gut kenne und sich für
die kürzlich doch bundesweit gesuchte Jessica einsetze, wird mir nahegelegt,
doch bitte mehr auf die Bedürfnisse des Mädchens zu achten – man würde über
eine mögliche Unterbringung in einer Jugendwohngemeinschaft nachdenken, das
würde dem Mädchen nicht guttun.
Aufgrund meiner Nachfrage bzgl. des Namens des angeblich sich so für die Familie
einsetzenden Bekannten wird offenkundig, dass Besagter der beschuldigte Tatverdächtige ist, der weiterhin mit Jessica im Chat-Kontakt stand und auf sie manipulativen Einfluss zu nehmen versuchte. Der Kollegin des Jugendamtes war dies nicht
aufgefallen.
Es zeigt aber auch, wie intensiv eine Einflussnahme in einem derartigen Fall gehen
kann und dass über die neuen Medien eben durchaus weiter auf einem anderen
Kanal „Kontakt gehalten oder gesucht werden kann“ und Missbrauch fortgesetzt
wird. (In welch manipulative Verstrickungen selbst ein Jugendamt geraten kann,
zeigt dies allerdings auch!)
Jessica allerdings entwickelt Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (erhebliche Aggressivität gegenüber Mitschülern, Konzentrations- und
263
teresa siefer
Schlafstörungen, gepaart mit wiederaufflackernder Suizidalität), sodass wir der
Mutter zu einem stationären Klinik-Aufenthalt für die Tochter raten, um diese
aus dem sehr instabilen häuslichen Milieu zu ziehen und ihrer eigenen Problematik die notwendigen Behandlungsintensität zukommen zu lassen.
Nach einem dreimonatigen stationären Aufenthalt erhält Jessica im Anschluss ambulante Einzelgespräche und stabilisiert sich relativ gut. Ihre familiäre Situation hat sich verändert, die Mutter hat sich vom Partner getrennt,
selber eine Therapie begonnen, wird in die Gespräche mit ihrer Tochter
eingebunden.
Sechs Jahre nach diesem Vorfall habe ich noch einmal Kontakt zur Familie
aufgenommen. Die Mutter berichtet, dass Jessica den Realschulabschluss gut
absolviert habe. Mittlerweile lebe sie in Berlin und hätte eine Ausbildung zur
Physiotherapeutin begonnen. Für ihre jüngeren Halbgeschwister sei die damalige familiäre Krise durchaus in vielen Situationen sehr präsent, gerade wenn
es um Mediennutzung, Facebook-Kontakte, Selbstdarstellung, Profileinstellung,
Kontaktdaten-Preisgabe etc. ginge.
Die Mutter berichtet, dass in der Rückschau der Ausbruch von Jessica damals
zwar der falsche Weg – in ihren Worten – „noch einmal glimpflich abgegangen
sei“, aber für sie als Mutter eigentlich ein wichtiges Alarmsignal gewesen sei!
Sie hätte zum damaligen Zeitpunkt als Frau in einer tiefen Lebenskrise gesteckt
und ihre Tochter gar nicht mehr gesehen, sondern komplett überfordert, hätte
sie eher als Erwachsene behandelt, die ihre (mütterliche) Zuwendung so nicht
mehr brauche. Sie sei mit ihrer damaligen Lebensplanung und der Partnerkrise
falsch umgegangen und habe jegliche Anzeichen ihrer Tochter, sich mehr um
sie zu kümmern, sich für sie zu interessieren, komplett ignoriert.
Spät vielleicht diese Einsicht, dennoch zumindest eine Sicht, die eigenen Anteile an der Entwicklung der Tochter nicht zu verleugnen.
Das eingeleitete Strafverfahren endete nach einigen Monaten mit einem
Freispruch für den Beschuldigten. Er konnte dem Gericht gegenüber darstellen
und es davon überzeugen, den Kontakt zur 13-Jährigen Jessica, die sich ihm gegenüber als 16-Jährige ausgegeben habe, nicht erzwungen zu haben, sondern
mit ihr eine Beziehung auf gegenseitiger Freiwilligkeit eingegangen zu sein.
264
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
Fallvignette 3: Lara, 11 Jahre: Cyber-Grooming
Lara hat sich in der Schule ihrer Lehrerin anvertraut, nachdem diese deutliche
Verhaltensveränderungen (einerseits Rückzug, andererseits unvermittelt aggressive Ausbrüche gegenüber Mitschülern) beobachtet hatte. Die Lehrerin riet
ihr dazu, sich den Eltern anzuvertrauen und evtl. Anzeige zu erstatten, da sie
das, was Lara erlebt habe, als sexuelle Übergriffe einstufte.
Die 11-jährige Lara berichtet, wie sie einen vermeintlich 13-jährigen Freund (der
offenbar in Wirklichkeit 26 Jahre alt ist) in einem Chat-Forum kennengelernt
hat, zu dem schnell täglicher Chat-Kontakt über ein Internet-Spiel (MovieStarplanet-Online Spiel für 8–12-Jährige) entsteht, der dann auch zu Skype-Kontakten führt. Über Schmeicheleien entsteht zunehmend ein „vertrauensvolles“
Verhältnis, in dem der spätere Täter viel über das reale Leben des Mädchens
erfährt (z. B. dass eigentlich ein Verbot für Lara bestehe, mit Menschen zu
skypen, die sie nicht kennt). Das Wissen über die reale Situation nutzt der
Chat-Partner schnell zu erpresserischen Drohungen aus: Lara solle ihm ein
Nacktfoto von sich schicken, sonst würde er sie aufsuchen – Lara reagiert mit
Panikgefühlen, spürt einen enormem Druck, und schickt die Fotos von sich in
Slip und Bustier.
Aus Scham mag sie sich keinem Erwachsenen anvertrauen. Der Chat-Partner
lässt aber nicht nach, sendet ihr Fotos seiner Genitalien und zwingt sie, Sätze
wie „Ich möchte so gern an deinem Penis lecken“ nachsprechen. Sobald Lara
online geht, meldet sich der vermeintliche Freund und schickt ihr weitere Aufforderungen, ihm Nacktbilder zu senden, da er sie sonst veröffentlichen würde
und ihre Eltern aufsuchen werde. Der Druck bei Lara wächst, aber selbstständig
findet sie keinen Ausweg, bis sich die Lehrerin ihr zuwendet.
Lara wendet sich an die Eltern (Arzt und Krankenschwester), die – tatsächlich
zunächst – mit Schuldvorwürfen reagieren („wie konntest Du, wir hatten es Dir
doch verboten …“), dann aber klar signalisieren, dass sie ihre Tochter unterstützen wollen. Lara hatte aus Scham alle Chat-Protokolle auf dem PC gelöscht,
allerdings konnte die Polizei, nachdem die Eltern dann umgehend eine Anzeige
erstattet hatten, alles rekonstruieren, sodass man über die IP-Adresse letztendlich auf den potenziellen Täter Zugriff nehmen konnte.
265
teresa siefer
Allerdings handelt es sich um einen Tatverdächtigen außerhalb Schleswig-Holsteins, sodass eine andere Staatsanwaltschaft zuständig wurde, die bis heute
(1,5 Jahre nach Anzeigenstellung!) noch kein Hauptverfahren eröffnete.
Welche Auswirkungen hat dieser Übergriff?
· Die therapeutische Begleitung von Lara zielt zunächst darauf, die eigene
Wahrnehmung und Grenzerleben zu stärken,
· die Ambivalenzkonflikte zu lösen (Täter solle nicht bestraft werden …, „ich
hätte ja eigentlich nicht skypen dürfen“.),
· Verantwortlichkeiten deutlich zu machen und ihre Selbstzweifel sowie
pubertäre Verunsicherungen so aufzugreifen,
· dass an ihren Stärken und Kompetenzen angesetzt wird und
· sie in der Realwelt positive Beziehungserfahrungen machen kann.
Die Einbeziehung der Eltern in familientherapeutische Gespräche lässt schnell
deutlich werden, dass Lara als „Nachzüglerin“ mit einem 10-Jahre älteren
Bruder häufig überschätzt und in den Sorgen der Eltern über die berufliche Entwicklung des Sohnes „aus dem Blick geraten war“ und sich emotional „vernachlässigt“ fühlte → ein Boden, auf dem viele Mädchen im Internet Gefahr laufen,
Opfer zu werden.
Nach gut einem Dreivierteljahr Begleitung hat sich Lara emotional deutlich
stabilisiert, wirkt insgesamt sicherer, ist weniger stimmungslabil und hat
freundschaftliche Beziehungen zu zwei Mädchen in ihrer Klasse aufgebaut.
Zusammenfassung in Stichpunkten
Besonderheiten bei Online-Missbrauch
· Direkter und ungestörter Kontakt zum Opfer möglich,
→ enorm hohe Manipulationsfähigkeit,
· Täter kann sich individuell ohne Rücksicht auf Ablenkungen durch äußere
Welt ideal und permanent auf sein Opfer einstellen,
· analoge Korrektiv-Kommunikation bleibt für die Kinder und Jugendlichen
ausgeschaltet,
266
aufwachsen in mediatisierten lebenswelten
· subjektiv empfundene Anerkennung / Bestärkung des Opfers führt zu
extremer Überlegenheit des Online-Täters,
· Scham und Schuldgefühle verhindern bei den Opfern rechtzeitiges Einbeziehen von Vertrauenspersonen.
Besonderheiten nach sexuellem Missbrauch im Internet
Immer spielen folgende Kriterien eine Rolle für den individuellen Verarbeitungsprozess:
· die Reaktionen der nächsten Bezugspersonen nach Eröffnung,
· das subjektiv erlebte Ausmaß des Missbrauchsgeschehens,
· die Beziehung zwischen Missbraucher und seinem Opfer,
· das Alter zu Beginn des sexuellen Missbrauchs,
· die Dauer/Häufigkeit des Missbrauchs,
· das Mitgefühl gegenüber Opfern von Internet-Missbrauch ist deutlich
geringer, auch bei Peers,
·Endlosviktimisierung,
· Schutzlosigkeit der Opfer (Täter gelangen bis ins Kinderzimmer, sogar nach
Öffnung des Missbrauchs).
Folgen von Missbrauch im Internet
· Auch nach Beendigung des Missbrauchs kann möglicherweise Bildmaterial
im Netz verbleiben (Fall Lara, Fall Manuela),
· auch wenn das aktuelle Missbrauchsgeschehen beendet ist, kann – oft
unentdeckt – ein Täter auf gleiche Art weitermachen (Fall Lara),
· mit entwicklungspsychologischer Reifung kann die Traumatisierung ggf.
noch zunehmen, da Dauerviktimisierung (durch Verbleib der Bilder im
Netz) erst mit entsprechendem Reifegrad erfasst wird,
· die Qualität missbräuchlicher Ausbeutung kann durch internetbasierte
Maskierung des Täters das Opfer weiter im Glauben lassen, nicht missbraucht worden zu sein (Fall Jessica).
Was heißt dies für uns als Helferinnen und Helfer?
· Was müssen wir in der Prävention berücksichtigen?
· Was wünschen wir uns im justiziellen Kontext?
· Wie können wir therapeutische Hilfe sicherstellen?
267
E
dorett funcke
Entschleunigte Familien?
Auswege und Strategien gegen die Beschleunigung
sozialen Lebens
1
1. Einleitung
An die Stelle des erträumten Zeitwohlstandes ist in den westlichen Gesellschaften ein gravierender und sich verschärfender Zeitnotstand getreten. Eine Zeithungersnot und ein Zeitdruck. Bestimmend ist die Grunderfahrung einer ungeheuren Beschleunigung der Welt und des Lebens. Die Familie als eine für relativ
stabil gehaltene Institution ist durch eine zunehmende Dynamisierung auf die
Probe gestellt. Kann diese alte Institution Familie den Beschleunigungskräften
widerstehen? Oder ist Familie offensichtlich doch keine Gegenwelt mehr gegen
das Rationalisierungsprinzip des Wirtschaftslebens? Sondern ist Familie, „der
Hafen in einer herzlosen Welt“ – so hat es der Soziologe Christopher Lasch (1987)
einmal formuliert –, doch eher zu einer Keimzelle des Marktes geworden? Um
diese Fragen wird es gehen. Zu erwarten sind allerdings keine Rezepte oder
handfeste Handlungsanleitungen für ein gutes und richtiges Leben in unserer
beschleunigten Zeit. Die Rede wird sein von Licht- und Schattenseiten.
In dem folgenden Teil werde ich zuerst in eine soziologische Zeittheorie
einführen. Diese Zeittheorie enthält eine Diagnose über unsere Zeit. Sie besagt, dass wir in einer „Beschleunigungsgesellschaft“ leben, so der Soziologe
Hartmut Rosa (2005). Die Erfahrung der Modernisierung sei eine Erfahrung
der Beschleunigung. Diese Theorie ist sicherlich richtig, aber sie für die ganze
Wirklichkeit zu nehmen, ist fraglich. Ich werde in einem dritten Punkt am
Beispiel der Familie zeigen, dass die Zeitstruktur von Familie nicht jener der
1 Der Beitrag basiert weitestgehend auf einem Vortrag gehalten am 11. September 2014 anlässlich des 10. Kinder
schutzforums in Köln.
269
dorett funcke
umfassenden Beschleunigung entspricht. Die gelebte Zeit des innerfamilialen
Austausches gehört einer eigenen sozialen Ordnung an. Doch es gibt einige
Indizien, die den Verdacht aufkommen lassen, dass die Familie als einer der
Stabilitätskerne unserer Gesellschaft wehrlos der Beschleunigung ausgeliefert
ist. Im vierten Punkt werde ich von konventionellen und unkonventionellen
Strategien berichten, wie Familie der Logik des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems standzuhalten, der Zeitfalle versucht zu entkommen. Doch was
nun, wenn die Beschleunigung auch diese Strategien zunehmend bedroht? Ich
werde im fünften Teil mit einigen alternativen Bewältigungsformen Auswege
aus der Beschleunigung vorstellen. Ich schließe mit der Frage: Die Familie –
eine antiquierte Institution?
2. Eine soziologische Zeitdiagnose: Die „Beschleunigungsgesellschaft“
Die Diagnose scheint evident. In allen Bereichen wird alles schneller. Schnelleres Essen hat einen eigenen Namen erhalten: Fast Food. Der Mittagsschlaf lässt
sich angeblich schneller und genauso effektiv gestalten mit Power Napping.
Ein allgemeiner Zeitverlust soll durch Zeiten intensiveren Zusammenseins
kompensiert werden, man nennt das „Quality Time“. Unter „Qualitätszeit“
versteht man die Zeit, in der man seinen Kindern und seinem Partner besondere Aufmerksamkeit widmet. Gefühlsbindungen sollen hier in kurzer, knapp
bemessener Zeit, aktiv, gezielt und von ganzem Herzen betrieben werden. Beim
Speed-Dating, eine Form der Partnervermittlung, kann man im Minutentakt
gleichsam am Fließband seinem neuen potenziellen Partner begegnen. Allerdings wird heute tendenziell der Lebenspartner durch den sogenannten Lebensabschnittspartner ersetzt. Die lebenslange Monogamie wird immer öfter durch
eine neue Form der „seriellen Monogamie“, das „Liebespaar auf Zeit“, abgelöst.
Der Online-Händler Amazon, seit vielen Jahren gefürchtet und verhasst als
übermächtiger Konkurrent des stationären Buchhandels, plant Pakete künftig
noch schneller auszuliefern. Kleine Drohnen sollen die bestellte Ware in 30
Minuten liefern. Die Drohne lässt dann die Box vor der Haustür fallen. Noch
unklar ist allerdings, wie das bei Apartmenthäusern und Bürogebäuden funktionieren soll.
270
entschleunigte familien?
Auch im Personenverkehr soll alles schneller gehen, sollen in kürzeren Zeiten
längere Strecken zurückgelegt werden. Die Magnetschwebebahn, eine Hochgeschwindigkeitsbahn, die eine 30 km lange Strecke in 7 Minuten und 18 Sekunden zurücklegt, gibt es bereits. Sie fährt in China (Shanghai), übrigens stammt
die Technik dazu aus Deutschland. Das Neueste planen die Amerikaner, den
sogenannten „Hyperloop“, eine Art Hochbahn, die Passagiere in Aluminiumkapseln durch eine Stahlröhre transportieren soll. Dieses futuristische Transportmittel soll Passagiere von Los Angeles nach San Francisco in 30 Minuten
bringen, eine rund 650 km lange Strecke.
Dass die Welt sich in einem atemberaubenden Tempo wandelt, ist besonders
auch in der modernen Arbeitswelt spürbar. Mobilität und Termindruck führen
dazu, dass Angestellte keine Zeit mehr haben. Neue Beschäftigungsverhältnisse und damit verbundene Präsenzzumutungen am Arbeitsmarkt lassen
die Grenze zwischen Arbeit und Familie verschwimmen. Feste Arbeitszeiten,
Dienstschluss, den sogenannten Feierabend, gibt es nicht mehr. Die „Projektförmigkeit der Arbeit“ (Burkart 2013, Vortrag auf dem 4. Europäischen Familienkongress) verlangt im Beruf den ganzen Menschen. Berufliche Flexibilität ist
zum Gebot der Stunde geworden. Das hat Auswirkungen auf die Privatsphäre
und das Familienleben. Partnerschaften und Familienbeziehungen passen sich
dem Berufsleben an. Der Binnenraum der Familie schrumpft zur bloßen Verabredungszentrale, aus der Familie wird eine „Verhandlungsfamilie“ (Lenz 2009),
wenn – wie Arlie Hochschild, eine amerikanische Soziologin, es formuliert
– „die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet“ (Hochschild
2006) oder es schließlich dazu führt, dass „Arbeit die Liebe ersetzt“ (Wimbauer
2012).
Eine grundlegende Erfahrung unserer Moderne ist, dass die eigenständige
Strukturierung von Zeit, die gestiegenen Anforderungen an Autonomie, Selbstverantwortung und Eigeninitiative manchmal nur schwierig zu realisieren
sind. Die Folge, so behauptet der Pariser Soziologe Ehrenberg, ist „Das erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg 2004). Psychische Erkrankungen und Depressionen nehmen zu. Nicht selten ist in diesem Zusammenhang vom sogenannten Burnout
die Rede. „Ein Volk der Erschöpften“, so schrieb der Spiegel im Januar 2011, und
die Wochenzeitschrift „Zeit“ schloss den Reigen im Dezember 2011 mit der
271
dorett funcke
rhetorischen Frage: „Noch jemand ohne Burnout?“. Besorgniserregende Statistiken und erschütternde Fallgeschichten wechseln sich ab. Der Burnout-Diskurs
wird getragen von Sprachbildern, in denen die widersprüchlichen Konturen
der Zeitkrankheit und der von ihr gezeichneten deutlich hervortreten. Adressiert werden die Menschen im Burnout-Diskurs als leere Akkus und seelenlose
Roboter, als Langzeitgefangene im Hamsterrad, aber auch als Wartungsingenieure ihres Lebensmotors. Allerdings, so eine Gegendiagnose, nicht nur zu viel
Arbeit macht krank, sondern auch keine Arbeit zu haben. Laut einer Analyse
der Bundespsychotherapeutenkammer (2010) stieg die Zahl der psychischen
Erkrankungen vor allem bei Arbeitslosigkeit dramatisch an, sie sei 3–4 Mal so
hoch wie bei Beschäftigten.
Einigkeit besteht in der Forschungsliteratur darüber, dass es zwei bedeutsame
Beschleunigungswellen gab. Unbestritten ist, dass die Jahrhundertwende vor
und nach 1900 infolge der industriellen Revolution eine Geschwindigkeitsrevolution in allen Bereichen brachte. Auch wenn sich erst im 20. Jahrhundert dank
der Luftfahrt und der Verbesserung des Straßenverkehrs die Transportgeschwindigkeit dramatisch erhöhte, so bedeuteten die Eisenbahn und der Telegraf den
entscheidenden Bruch mit der früheren Geschichte. Sie waren schneller als die
schnellste Pferdekutsche und der schnellste Postreiter. Den zweiten großen
Beschleunigungsschub kann man am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert
ausmachen. Die Geschwindigkeitssteigerung ist hier hervorgerufen vor allem
durch die digitale und politische Revolution von 1989. Im Jahr 2000 hat der Medienwissenschaftler Gundolf Freyermuth die Beschleunigungsdiagnose wie folgt
auf den Punkt gebracht: „Wir sind Zeitgenossen eines Beschleunigungsschubs,
der in der Geschichte der Menschheit einmalig ist und die Industrialisierung im
Nachhinein geradezu gemütlich erscheinen lässt“ (Freyermuth 2000, S. 74).
Auf einen technischen Beschleunigungsschub folgt aber nun immer ein Entschleunigungsdiskurs. Auf die Erfahrung der Beschleunigung folgt der Ruf der
Entschleuniger. ‚Zeitratgeber‘ und ‚Lebenshilfen‘ zum verbesserten Zeitmanagement finden reißenden Absatz. Hier nur einige Titel: „Faulheit adelt. Von
der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun“; „nichts tun. vom flanieren,
pausieren, blaumachen und müßiggehen“, „Anleitung zum Müßiggang“, „Vom
Glück des Nichtstuns“, „Das Sofa-Universum“. Bücher und Bewegungen, die
272
entschleunigte familien?
sich der bewussten Verlangsamung verschrieben haben: der Bestseller „Die
Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny oder der „Verein zur Verzögerung der Zeit“. Am originellsten hat vielleicht der Schriftsteller Walter Benjamin seinem Geschwindigkeitsprotest Ausdruck verschafft. Er forderte dazu auf,
in den Pariser Straßen Schildkröten spazieren zu führen.
Warum macht uns der Umgang mit der Zeit aber so zu schaffen? Was ist
das Problem mit der Zeit? Eine Antwort ist folgende: Unhintergehbar ist für
uns Menschen die Aufgabe, ganz verschiedene Zeitstrukturen nicht bloß zu
reflektieren. Sondern es geht darum, verschiedene Zeitstrukturen auch so miteinander in Verbindung zu setzen, dass daraus für uns als Person eine eigene
glaubwürdige und vertretbare Geschichte entsteht. Eine Geschichte, die uns als
unverwechselbare, einzigartige, nicht austauschbare Person ausmacht. Damit
das gelingt, sind wir herausgefordert, drei unterschiedliche Zeitperspektiven
immer wieder neu zu reflektieren. Wir müssen immer wieder drei Zeitebenen
miteinander in Einklang bringen: die Alltagszeit, dann unsere Lebenszeit und
auch die Zeit unserer Epoche, die Weltzeit. Ich will die drei Zeitebenen kurz
erläutern. Zur Alltagszeit: Wenn von Zeitstrukturen des Alltags die Rede ist,
dann sind damit zum Beispiel wiederkehrende Routinen und Rhythmen von
Arbeit und Freizeit, Wachen und Schlafen gemeint und die damit verbundenen
Probleme, dass alles irgendwie zu synchronisieren: Wie schaffe ich es, meine
Arbeit im Büro zu erledigen und meine Tochter rechtzeitig vom Kindergarten
abzuholen? Soll ich vor oder nach dem Schwimmen einkaufen gehen? Will ich erst
die Gartenarbeit machen und dann die Hausarbeit erledigen? Essen wir zu Abend
vor dem Elternabend oder danach?
Die Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, stellt sich aber nicht nur hinsichtlich unseres Alltags, sondern auch hinsichtlich unseres ganzen Lebens. Ich
komme zur Lebenszeit: Es geht hier um die zeitliche Perspektive auf das ganze
Leben: Wie lange will/darf ich studieren? Bleibe ich als Mutter ganz zu Hause
oder gehe ich Teilzeit arbeiten? Will ich wirklich mein ganzes Leben lang Jurist
sein? Wann gehe ich in den Ruhestand?
Zum anderen erleben wir unsere Alltags- und Lebenszeit auch als eingebettet
in die übergreifende Zeit unserer Epoche, Generation und unseres Zeitalters.
273
dorett funcke
Heinz Abels, ein deutscher Soziologe, hat das in einer seiner Vorlesungen am
Beispiel des Begrüßens durch Küsschen rechts und links auf die Wange geschildert, ein Phänomen der neueren Zeit, für manche – wie die Verabredung übers
Handy oder Smartphone – vielleicht keine selbstverständliche Praktik. Das
Gespür, dass sich die Zeiten geändert haben, wird deutlich, wenn ältere Leute
sagen „zu meiner Zeit war das noch anders“, oder „in unserer heutigen Zeit,
gelten diese Traditionen nicht mehr“.
‚Unsere Zeit‘ ist daher stets zugleich die Zeit unseres Alltags, unseres Lebens
und unserer Epoche. Diese drei Zeitperspektiven müssen wir als Menschen in
Einklang miteinander bringen. Das machen wir über das Erzählen, meistens
das Erzählen von Geschichten. In diesen setzen wir Alltagszeit, biografische
Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung, kritisieren sie und rechtfertigen sie auch. Eine Studentin der FernUniversität in Hagen könnte sagen: ‚Die
Kinder sind jetzt erwachsen, die freie Zeit neben meinem Beruf widme ich dem
Studium der Geschichte und englischen Sprache, das ich damals wegen der Familie nicht beendet habe, die FernUni ist für mich eine Alternative, um die Karten jetzt noch einmal neu zu mischen und eine berufliche Neuorientierung zu
versuchen.‘ In solchen narrativen Entwürfen ist von Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft die Rede. Wer man ist, bestimmt sich immer auch dadurch, wie
man es geworden ist, was man war und hätte sein können und was man sein
wird und sein möchte. Wir konstruieren unsere Lebensgeschichte, indem wir
nicht nur auf unsere Vergangenheit schauen, sondern damit zugleich unsere
Gegenwart deuten und für uns eine mögliche Zukunft entwerfen.
Wenn nun aber alles schneller wird, wir aber als Menschen in alles Sinn hineinlegen müssen, um eine für uns verträgliche Ordnung mit der Welt herzustellen,
dann bekommen wir ein Problem. Wir haben das Gefühl, die sozialen Veränderungen nicht mehr über Deutungsprozesse, die eben auch Zeit brauchen, verarbeiten zu können. Diese Eigenschaft des Menschen, alles mit Sinn versehen zu
müssen, um seine Identität zu erhalten, macht ihn angesichts der bewegenden
modernen Zeiten zu einem antiquierten Wesen. Das Lebenstempo, mit dem
er nicht Schritt halten kann, untergräbt seine Autonomie, verschafft ihm den
Eindruck, über die Gesamtrichtung seines Lebens nicht entscheiden zu können.
Ein klassischer Typ der Spätmoderne ist der „Wellenreiter“ (Hartmut Rosa), der
274
entschleunigte familien?
seine Chancen situativ zu nutzen weiß, langfristige Pläne ganz vermeidet. In
der Soziologie gibt es für die Diagnose, dass die Zeiträume sich verkürzen, in denen das Wissen von gestern heute noch gültig ist, den Begriff der Gegenwartsschrumpfung (Lübbe 1994). Gegenwartsschrumpfung meint, dass das konkrete
Ereignisjetzt kleiner und begrenzter wird. Vergangenheit und Zukunft müssen
in immer kürzeren Abständen umgeschrieben werden. Das, was gestern noch
galt, hat morgen keinen gültigen Orientierungswert mehr. Das Haltbarkeitsdatum von stabilen Wissensbeständen ist verkürzt.
Doch kehren wir noch einmal zu einer zentralen Aussage der soziologischen
Beschleunigungstheorie zurück. Die soziologische Beschleunigungstheorie
beschreibt unsere Spätmoderne als eine Epoche, in der Beschleunigungsprozesse alle Lebensbereiche durchdringe. Zeitressourcen sind knapp. Aus der
erlebnisreichen Gesellschaft wird durch die Nicht-Übersetzbarkeit in Erfahrung
eine erfahrungslose Gesellschaft. Das ist insgesamt gesehen eine negative
Zeitdiagnose. Ich habe am Anfang des Beitrages allerdings schon eine Skepsis
gegenüber der Behauptung angedeutet, dass die Beschleunigung ungeteilten
Einfluss auf alle Gesellschaftsbereiche hat.
3. Die Zeit der Familie – ein Ort mit einer anderen Zeitstruktur
Wer jetzt annehme, ich würde von der Familie als einer Lebensform berichten,
die ganz unabhängig von der Gesellschaft zu betrachten sei, der irrt. Familie
hat einen Doppelcharakter (vgl. ins. Funcke/Hildenbrand 2009, S. 21–26). Sie
ist einerseits auf die Gesellschaft bezogen, andererseits von ihr abgegrenzt.
Mit Bezogenheit auf die Gesellschaft ist gemeint, dass Familien dazu da sind,
Gesellschaftsmitglieder zu sozialisieren, sodass sie dann als Beschäftigte oder
Bürger eines Gemeinwesens die Gesellschaft mit gestalten. In der Abgrenzung
von der Gesellschaft schafft die Familie einen Raum, in welchem das Kind sich
abgeschirmt von den gesellschaftlichen Zumutungen entwickeln kann. Kinder
nutzen diesen Rahmen, um in Muße Erfahrungen zu machen. So gesagt, die
Familie ist ein Ort, von dem aus Kinder den Rest der Welt besichtigen können.
Anpassung an die Gesellschaft und Integration nach innen gehören zusammen.
Zwischen Familie und Gesellschaft besteht – man könnte auch sagen – eine
275
dorett funcke
Grenze. Eine Grenze, die zugleich verbindet und trennt. Um diese Familiengrenze, die einen Raum schafft, in dem eine andere Zeitstruktur als im Wirtschaftsund Beschäftigungssystem herrscht, geht es im Folgenden. Die Frage lautet:
Was geschieht im Inneren von Familien, wenn sie sich von der Gesellschaft
abgegrenzt haben?
Im abgegrenzten Raum bietet die Familie ihren Mitgliedern einen Satz von
modellhaften Erklärungen für sich und die Welt an. David Reiss, ein amerikanischer Psychiater und Familienforscher, nennt das Familienparadigma (Reiss
1981). Dabei geht es um drei grundlegende Themen: um die Trennung der
Familie von ihrer Umgebung, um den Erhalt einer über Generationen weitergegebenen Familienkultur und schließlich darum, dass Familien in unterschiedlicher Weise ihre Beziehung zu ihrer Umwelt gestalten. Die familienspezifischen Vorstellungen von sich und der Welt werden durch zwei Mechanismen
aufrechterhalten: einmal durch Rituale und durch das Familienmuster. Rituale
wie Geburtstage, aber auch Beerdigungen stellen die Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft her. Familienmuster organisieren die zwei grundlegenden
Ressourcen des Alltagslebens: Zeit und Raum. Bei der Zeit geht es um Zeitregulierung im Familienablauf: Wer bringt die Kinder zur Schule, holt sie ab, macht
die Wäsche und wer kocht und wer putzt zu Hause? Es geht aber auch um die
Orientierung in der Zeit, sowohl kurz- wie auch langfristig. So stecken beispielsweise hinter den Handlungsmustern des Sparens bzw. Schuldenmachens ganz
unterschiedliche Zeitmuster.
Auch bedarf es Zeit, die am gemeinsamen Ort verbracht wird. Denn Familie
ist mehr als ein bloßes Nebeneinander von Individuen, die sich nur die Klinke
in die Hand geben. Zum Beispiel finden Trösten und Zuhören während der
gemeinsamen Mahlzeiten statt. Ein „gutes Gespräch“ kann sich ergeben, wenn
ein Elternteil das Kind mit dem Auto zur Schule bringt. „Vermischtes Tun“
ist charakteristisch für Sorgeleistungen in Familien. Beim Raum geht es um
Regulationsprozesse an den innerfamilialen Grenzen sowie an jenen zwischen
Familie und Außenwelt. Innerhalb der Familie bedeutet Grenzarbeit, Privatheit
zu etablieren: Welche Türen sind wann geschlossen, wann geöffnet? Wer hat einen Schlüssel für die Haustür? Wer darf zu welchen Zeiten anrufen und wann
gehört es sich nicht? Jenseits der Familiengrenzen geht es darum, wie sich die
276
entschleunigte familien?
Familie den öffentlichen Raum erschließt: Ob sie sich eher weltoffen oder eher
weltabgewandt verhält, ob die Familie beispielsweise Geburtstage zu Hause
oder in der Öffentlichkeit feiert.
Familien stellen demnach gegenüber der Außenwelt ihre relative Autonomie her und erhalten sie aufrecht. Die Mittel dazu entnehmen sie der Welt,
die sie umgibt und passen sie der Besonderheit ihrer eigenen Welt an. Dazu
kommen innerfamiliale Kommunikationsprozesse, die von Klarheit, Offenheit
und Kooperation geprägt sind. Den Chef kann man auf Distanz halten, wenn
er einen in seine privaten Angelegenheiten hineinziehen will, den eigenen
Partner nicht. Denn für den Chef ist man ein Rollenträger, für den Partner eine
ganze, ungeteilte Person. Es gibt nichts, was nicht thematisiert werden kann.
Auf der Grundlage maximaler thematischer Offenheit besteht in Familien ein
Anspruch auf die Mitteilung von Freude, Trauer und Leid. Der Soziologe Niklas
Luhmann hat es einmal so formuliert: In der Familie besteht die „Erwartung,
dass man hier für alles, was einen angeht, ein Recht auf Gehör, aber auch eine
Pflicht hat Rede und Antwort zu stehen. Man kann erzählen, man darf auch
fragen […]. Man kann eine Kommunikation [aber] über sich selber nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an! Man hat zu antworten und
man darf sich nicht anmerken lassen, mit welcher Vorsicht man auswählt, was
man sagt […].“ Wer bereit ist – so Luhmann weiter – „sich dieser Regel zu fügen,
ist bereit zu heiraten“ (Luhmann 2009, S. 199).
Gesichert wird der Familienrahmen durch Solidaritäten. Gemeint sind damit
zum einen die Unkündbarkeit der Beziehungen und zum anderen die NichtErsetzbarkeit der Personen. Familie ist auf Dauer angelegt und nicht auf eine
befristete Zusammengehörigkeit. Wenn zwei als Paar zusammenkommen,
dann weil sie ineinander verliebt sind. Das gilt selbst für solche Paarbeziehungen, in denen der ökonomische Besitz eine Rolle spielt, der erhalten und
vielleicht bei Aufwärtsheirat noch vermehrt werden kann. Romantische
Verliebtheit, selbst wenn sie vergänglich ist, ist auch grundlegend für moderne bäuerliche Paarbeziehungen, wo neben dem Paar auch Güter verschmelzen.
Geht die Paarbildung allerdings allein auf ein Kalkül zurück, etwa die Versorgung oder ein gemeinsames Geschäft, so ist das zumindest in der westlichen
Welt erklärungsbedürftig.
277
dorett funcke
Was macht eine Paarbeziehung noch aus? Es gilt das Kriterium der Ausschließlichkeit – nur der oder die eine –, Seitensprünge sind i. d. R. nicht vorgesehen.
Liebe ist – in den Worten des Soziologen Niklas Luhmann – „wechselseitige
Komplettannahme im Modus der Höchstrelevanz“ (Luhmann 1982, S. 40). Weiterhin gilt für Paarbeziehungen: Attraktivität, Vertrauen und ein gemeinsamer
Lebensweg – „bis das der Tod euch scheidet“. Trennung und Scheidung sind –
auch wenn sie immer häufiger vorkommen – auch in der moderneren Definition nicht einfach hinzunehmende Tatsachen, sondern Katastrophen.
Wenn aus dem Paar eine Familie wird, aus dem Paar Eltern werden, dann
gelten ebenfalls die Kriterien der Unbegrenztheit der Beziehungen und des
Vertrauens. Vom Partner oder von der Partnerin kann man sich trennen, von
den eigenen Kindern nicht. Selbst wenn das Elternpaar sich trennt und sich mit
neuen Partnern zusammentut – was heute zunehmend der Fall ist – dann gilt
es als geschiedene Mutter bzw. Vater, Zeit mit den leiblichen Kindern zu verbringen. Aus der Forschungsliteratur über Stieffamilien und Patchworkfamilien ist bekannt, wie anstrengend es sein kann, verschiedene Familienwelten,
die alte und die neue, miteinander zu synchronisieren.
Ich habe bisher versucht, Folgendes zu zeigen: Die zeitliche Ordnung der
Familie kann nicht einfach der zeitlichen Ordnung außerfamilialer Welten
gegenübergestellt werden. Die Logik der Familie, die auf Dauer angelegt ist,
entspricht nicht der Logik des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems. Kann
die Familie nun angesichts der zunehmenden Beschleunigung sich der gesellschaftlichen Dynamik zur Wehr setzen? Einige Indizien sprechen dagegen:
Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild (2006) hat sich in einer Studie
mit der Zeitproblematik von Familien befasst. Sie hat dafür Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter eines US-amerikanischen Konzerns interviewt. Das Besondere
an diesem Konzern: Er war für eine familienfreundliche Politik landesweit
ausgezeichnet worden. Diese Politik konnte allerdings nicht verhindern, dass
die Doppelbelastung von Berufsarbeit und Familie zu einer Umkehrung der
Verhältnisse führte. Es war das Unternehmen, in dem gelebt und die Familie,
in der gearbeitet wurde. Der müde Vater oder die müde Mutter flieht aus der
Welt der ungelösten Konflikte und ungewaschenen Wäsche in die verlässliche
278
entschleunigte familien?
Ordnung, Harmonie und gute Laune der Arbeitswelt. Arbeitsplätze ersetzten
die häusliche Geborgenheit, da zu Hause auch nur Arbeit wartet.
Die modernen Arbeitsbedingungen, die Flexibilität, Mobilität, eben den „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) erwartet, kommen ungebundenen Personen
entgegen, also etwa Single-Männern und Frauen ohne Kinder. Neue Studien
zeigen, dass junge Erwachsene heute später ausziehen. 72 Prozent der Männer
in der Altersgruppe der 18–25-Jährigen leben noch zu Hause, bei den Frauen
sind es 56 Prozent (vgl. Koppetsch 2013, S. 365). Auch kann man einen Trend
in der Familienpolitik beobachten: Eltern, vor allem Mütter, von Kindererziehungsaufgaben zu entlasten und stattdessen Angebote öffentlicher Kinderbetreuung bereitzustellen. Ich erinnere an die zahlreichen Gründungen von
Privat- und Ganztagsschulen. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung war am 25.
Februar 2014 von einer Hamburger Ganztagsschule die Rede, an der 93 Prozent
der Eltern für eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder an drei Tagen von 13 bis 18
Uhr stimmten. In dem Maße, so der Soziologe Tilmann Allert, wie die Eltern
sozialisatorisch verschwinden, wandelt sich die Hypothese von der „vaterlosen
Gesellschaft“ zur „elternlosen Gesellschaft“.
Diese Indizien stimmen bedenklich hinsichtlich der Frage, wie es Familien
gelingt, sich gegen die zunehmende gesellschaftliche Beschleunigung zur Wehr
zu setzen. Ich werde im Folgenden von Ressourcen bzw. Resilienzpotenzialen
der Familie berichten. Diese zeigen, dass sich Familien Reservate schaffen, um
gegen Zumutungen der Geschwindigkeit ihre eigene Zeitstruktur zu behaupten.
4. Konventionelle und unkonventionelle Strategien, der Zeitfalle zu entkommen
Ganz individuelle Strategien, um das Zeitregime zu beeinflussen, sind: „Arbeitszeit reduzieren, Abstriche im Berufsleben machen, eine eigene Firma gründen
und so das Zeitregime selbst bestimmen, Bedürfnisse radikal zurückfahren
oder gar ganz aus dem System aussteigen und sich aufs Land zurückziehen“
(Hildenbrand 2009, S. 271). Weitere Möglichkeiten, der Zeitfalle zu entgehen, beziehen sich auf die Nutzung von medialer Erreichbarkeit. Viele kennen womöglich den Kampf gegen den täglichen E-Mail-Wahnsinn. Einige Unternehmen
279
dorett funcke
haben darauf reagiert. So stellt der Konzern Volkswagen von 18.15 bis 7.00 Uhr
auf den Smartphones der beschäftigten Mitarbeiter(innen) die E-Mail-Funktion
ab. Daimler-Mitarbeiter(innen) können E-Mails, die sie im Urlaub erhalten, automatisch löschen. Bei Henkel geht der Chef mit gutem Beispiel voran. Er lese
am Wochenende grundsätzlich keine E-Mails.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Doppelcharakter der Familie. Die
Familie kann beschrieben werden als eine Gruppe von Menschen, die sich
gegenüber ihrer Umgebung abgrenzt, gleichzeitig aber auf die Umwelt, die
Gesellschaft bezogen ist. Ihre Aufgabe ist, zum einen Gesellschaftsmitglieder
zu sozialisieren, also Anpassung an die Gesellschaft, und zum anderen die
Integration aller Familienmitglieder, das meint die Abschirmung nach innen.
Wenn wir diesen Doppelcharakter bedenken, also Integration nach innen und
Anpassung nach außen, dann scheiden zwei Auswege aus, um in der Beschleunigungsgesellschaft mit dem Zeitproblem zurechtzukommen. Keine Alternativen sind zum einen die Flucht aus der Gesellschaft in den Binnenbereich der
Familie. Auch keine Alternative ist zum anderen die Auflösung der Familiengrenze und die Totalöffnung hin zur Gesellschaft. „Wo der Eskapismus nicht in
ein gesellschaftliches Abseits führt, sondern sich die Akteure mit den Mühen
der Ebenen auseinandergesetzt haben, wie zum Beispiel die Zurück-aufs-LandBewegung, sind die früheren Aussteiger Tourismusunternehmer, Landwirte,
Zwischenhändler ländlicher Produkte, Genossenschaftsmitglieder, Bürgermeister etc., die ihren Weg zwischen Rückzug und kapitalistischer Betriebsamkeit
suchen und dabei zu einem beachtlichen Faktor des Erhalts ländlicher Strukturen geworden sind“ (Hildenbrand 2009, S. 277). Ein Beispiel: In Süddeutschland
haben Unternehmer(innen), Wissenschaftler(innen) und Angestellte einen Ort
gegründet, in dem das Leben sozial gerecht, nachhaltig und demokratisch zugehen soll. Tempelhof ist ein Aussteigerdorf. Eine Ansammlung von Häusern im
bayerisch-baden-württembergischen Grenzgebiet. Zur Gruppe der Gründer gehören 20 Frauen und Männer aus München. Sie feilten an der Dorfsatzung, arbeiteten ein Geflecht aus Stiftung, Genossenschaft und Verein aus. Bei Google, der
Suchmaschine im Internet, gaben sie „Dorf kaufen“ ein. Sie fanden den Tempelhof: ein Schlossgut mit 30 ha Land, was einmal ein Behindertenheim war, dann
stand es einige Jahre leer. Heute leben 85 Erwachsene und 27 Kinder im Dorf. Auf
dem Tempelhof finden sich Imkerei, Bäckerei, Käserei, Schreinerei, Schlosserei,
280
entschleunigte familien?
Dorfcafé, Waldkindergarten, bald auch eine Schule. Also: Ein funktionierendes
Dorf. Doch taugt es deshalb als Modell für die echte Welt? Riskant ist das Unternehmen deshalb, da der Aussteiger riskiert, alle Anschlüsse zu verpassen. Wenn
er nach einigen Jahren zur Rückkehr in die Mainstream-Gesellschaft bereit
ist, sind seine Ressourcen hoffnungslos veraltet. Auch die Erwartung, sich auf
dem Tempelhof der Beschleunigungsgesellschaft zu entziehen, ist eine Illusion.
Von Entschleunigung und Ruhe sprechen die Tempelhofbewohner nicht. Eher
das Gegenteil ist der Fall: Da es im Dorf urdemokratisch zugeht, gibt es viele
Sitzungen, Ausschüsse und Plenen. Das hat Folgen: Ein Bauer berichtet, er sei
sehr müde. Die Schulbeauftragte erzählt, sie stehe kurz vor einer Erschöpfungsdepression. Ein Dritter erklärt, er wolle nach seinem Urlaub noch ein bisschen
allein sein, nicht sofort in den „Strudel des Getriebenseins“ geraten – also kein
Ferienidyll und keine „Entschleunigungsoase“ (Rosa 2005), in der man Ruhe vor
der hektischen Betriebsamkeit der Welt findet.
Ein anderes Extrem, mit dem auf die Beschleunigungsgesellschaft reagiert
werden kann, ist die Auflösung der Familiengrenze. Die Auflösung der Familiengrenze führt zur Abwesenheit der Eltern in der Familie. Dazu zwei Beispiele:
zum einen die kollektive Kindererziehung. Die kollektive Kindererziehung ist
uns aus der Kibbuz-Bewegung bekannt, die zur Aufbauzeit des israelischen
Staates zählt. Die Kibbuz-Bewegung ist bekanntlich „mit dem Ziel angetreten,
die Erziehung von Kindern der Gemeinschaft zu überlassen“ (Hildenbrand
2009, S. 277). Die Kinder im Kibbuz sahen ihre Eltern regelmäßig, aber eben nur
in der Kibbuz-Öffentlichkeit und am Wochenende. „Diese Struktur der öffentlichen Erziehung hat ihre charismatische Gründerzeit nicht überstanden“ (ebd.).
Ein Grund dafür: Da es im Kibbuz-Kollektiv keine Privatheit, eben keinen Abschluss der Familie nach innen geben kann, gibt es auch keine Geborgenheit.2
Zunehmend rückt noch eine andere alternative Form in den Vordergrund, um das
familiale Zeitregime zu steuern. Die Auslagerung der Familienarbeit an professionelle Dienste. So wie es Firmen tun, so tun es Arbeitnehmer(innen) mit Teilen ihres
Familienlebens, um Zeit zu gewinnen. Familiäre Aktivitäten werden quasi outge-
2 Empfohlen werden kann hier der Roman von Amos Oz „Unter Freunden“, Suhrkamp 2013.
281
dorett funcke
sourct. Viele dieser Dienstleistungen werden ganz selbstverständlich in Anspruch
genommen: zum Beispiel die Kinderbetreuung, das Sommercamp oder die Putzfrau, die nicht selten aus dem Ausland kommt. Und für die wirklich Vermögenden
gibt es Haushaltsmanager, die eine ganze Mannschaft von Helfern steuern.
Wenn aber nun die Flucht aus der Gesellschaft einerseits (siehe Tempelhof),
aber auch die Auflösung der Familiengrenzen andererseits als Auswege nicht
anzuraten sind, dann stellt sich folgende Frage: Über welche Strategien verfügen Familien, um der Beschleunigung zu entkommen bzw. um dem beschleunigten Tempo der Gesellschaft stand zu halten?
5. Alternative Auswege aus der Zeitfalle
Von den konventionellen Wegen habe ich mit Bezug auf Bruno Hildenbrand
schon berichtet. Dazu zählen u. a. „ein solides Grenzregime, Bezogenheit auf
Nachbarschaft und Verwandtschaft“ (ebd.), Arbeitszeit reduzieren. Was aber
nun, wenn die Beschleunigung diese konventionellen Strategien zunehmend
bedroht? Welche anderen Strategien sind denkbar? Bruno Hildenbrand verweist hier auf den Philosophen Herrmann Lübbe, der zwei Bewältigungsstrategien beobachtet hat (vgl. Hildenbrand 2009, S. 278).
Was sich in unsicheren und schnellen Zeiten herauszubilden beginnt, ist ein
Konservatismus, eine Rückkehr zur Konformität. „Wir kehren kompensatorisch
hervor, was im Wandel der Dinge den Vorzug größerer zeitüberdauernder
Konstanz hat“ (Lübbe 1994, S. 162). Dieser Konservatismus trete dann hervor,
wenn uns die prekären Nebenfolgen des Fortschritts zu schaffen machen. So
ist zum Beispiel interessant zu beobachten, dass die intakte Kleinfamilie zum
höchsten Ideal der Lebensführung erklärt wird. In der Jugend-Shellstudie 2012
geben 75 Prozent der weiblichen und 65 Prozent der männlichen Befragten an,
eine Familie zum Glücklichsein zu brauchen. Auch kann man einen „Traditionalisierungsschub im Geschlechterverhältnis“ (Koppetsch 2013) beobachten. In
Zeiten der Unsicherheit und Beschleunigung erscheint die klassische Familie
mit ihren klaren Rollenvorgaben als „Garant für Stabilität und Grenzerhaltung“
(ebd.). Alternative Lebensformen erfahren eine Entwertung.
282
entschleunigte familien?
Ein weiteres für die Familie relevantes Moment – so der Philosoph Hermann
Lübbe – sei die Historisierung. Beispiele dafür sind das Interesse an Familiengeschichte, an Stammbäumen und an anderen Zeugnissen aus der Vergangenheit
der Familie. Wenn das Bild einer mehrere Generationen umfassenden Familie zu Stammbäumen gerinnt, dann wird der Fluss der Zeit aufgehoben. Die
Familie saugt als generationenübergreifende Größe die Zeit ein. Die Zeit ist still
gestellt durch die vordergründige Thematisierung von Zeit. Wer schon einmal
einen eigenen Stammbaum gezeichnet hat oder Daten dafür zusammengetragen hat weiß, was gemeint ist. „Wir erhalten auf diese Art, sich mit der Familie
zu beschäftigen, unsere eigene, uns immer rascher fremd werdende Vergangenheit als eigene Vergangenheit aneignungsfähig, und halten so erzählbar,
wer wir sind“ (Lübbe 1994, S. 162).
Mit Bezug auf den Erziehungswissenschaftler Michael Winkler sollen noch
drei weitere Strategien genannt werden. Erstens, sich mit anderen Familien
zusammentun. Erleichterung kann verschaffen, wenn Eltern und Kinder in
„mitleidender Solidarität“ sich über die „pädagogische Kunst des Ausbalancierens unterschiedlichster Ansprüche“, die anstrengen, zur Übermüdung und
Überforderung führen können, sich wechselseitig austauschen (Winkler 2012,
S. 139). Zweitens, professionelle Hilfsangebote pragmatisch in Anspruch nehmen. Die Jugendämter und Erziehungsberatungsstellen verfügen mittlerweile
über ausdifferenzierte Hilfeformen, die keineswegs generell mehr als prekär
und diskriminierend erfahren werden. Ohne die „Aktivitäten und Wirkungen
der Erziehungshilfen […] schön zu reden […], zeigen [sich – D. F.] beeindruckende Ergebnisse“. Drittens, „reflexive Elternschaft“ (Burkart 2007). Hier geht es
um ein Nachdenken der Eltern über ihre familiäre Lebenspraxis. Zu resümieren, was über den Tag hinweg in der Familie geschehen ist, ermögliche ein
„Innehalten gegenüber idealisierten Normalitätserwartungen und gegenüber
Optimierungsvorstellungen“ (vgl. ebd., S. 153).
Und schließlich: Resistenz bzw. Widerständigkeit gegen Beschleunigung ist
Grenzsicherung. Grenzsicherung geschieht in Interaktionen, die Zeit brauchen.
Ein wesentliches Medium der Interaktion ist das Gespräch (Berger/Kellner
1965). Das alltägliche Gespräch schafft Ordnung. Das, was wir erlebt haben,
wird durch die Erzählung in Form einer Geschichte als Erfahrung verankert
283
dorett funcke
und bleibt in der Erinnerung weitgehend erosionsbeständig. So haben zum
Beispiel Tischgespräche als eine Form des geselligen Beisammenseins eine
stabilisierende Funktion. Denn, wenn man sich zu einer „Mahlzeit“ zusammenfindet, dann konsumiert man nicht nur Speisen und Getränke, sondern man
widmet sich der Konversation und Diskussion, man tauscht Informationen und
Meinungen aus, erzählt Geschichten und/oder vollzieht vielleicht auch religiöse Zeremonien (Hirschman 1997).
Aber Gespräche brauchen Zeit. Die Gesprächspartner müssen sich koordinieren.
Zeitpläne müssen abgestimmt werden, Muße ist notwendig. Nur so können
emotionale Bindungen, Vertrauen und Fürsorge entstehen.
6. Die Familie – eine antiquierte Institution?
Familie ist ein auf Interaktion, Kommunikation angelegter Zusammenhang.
Familien agieren nicht auf ein Ziel hin. Sondern Familien haben ihr Ziel in
sich selbst, u. a. Kindern einen Rahmen zu bieten, in dem sie angemessen
aufwachsen und in Muße beim Entdecken ihrer Welt Krisenerfahrungen
machen können. Dazu brauchen Familien Zeit. Diese Zeit steht in Konkurrenz
zu anderen Zeitregimen. Diese Konkurrenz, die zum Beispiel das Berufsleben
mit sich bringt, ist auch mit flexiblen und sogenannten bedarfsorientierten
Kinderbetreuungsangeboten nicht zu beseitigen. Die Frage ist, in welche
Richtung sich die deutsche Gesellschaft entwickeln wird. Wie wird die Realität
von Familien in einer flexibilisierten Arbeitswelt aussehen? Wird die Arbeitswelt über die Familie dominieren? Kommt es zum Schwund von Familie und
Gemeinschaft? Oder kommt es zu einer Reformulierung des Problems der
Balance von Arbeit und Leben? Das Kräftefeld und dessen Dynamik, in dem der
Wandel von Zeitstrukturen stattfindet, sind nur schwer abzuschätzen. „Familie
zählt“ könnte heißen, zugunsten einer „Einheit der Vergemeinschaftung“ (Günter Burkart) Einschränkungen im Beruf zu akzeptieren, Geselligkeit praktizieren, die sich um Tempomaximierung nicht kümmert. Anstatt „Elternschaft
als universalisierte[r] Hektik“ (Tilmann Allert) zu betreiben, soll dem Kind
eine Erkenntnisbildung in der Entrücktheit der Zeit erlaubt sein. Also was ist
sozialisatorisch geboten? Singen, Tanzen, Springen, vielleicht auch Beten. Eine
284
entschleunigte familien?
Elternschaft, die behutsam drei Dinge enthält: Liturgie, d. h. Zeremonien wie
das allabendliche Vorlesen einer Geschichte; Riten, wie gemeinsame Gespräche
bei den Mahlzeiten; Trost und Muße als atmosphärische Rahmung der moralischen Reifung; Ernst statt Clownerie und Verkleidung.
Letztlich liegt auch viel daran, wie viel Widerständigkeit die Akteure gegen den
Sog der Beschleunigung aufzubringen imstande sind und auch daran, welche
Kosten sie dafür bereit sind zu zahlen. Die Frage danach, wie wir leben möchten, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen.
Vielleicht können wir von einigen Familien das „Projekt vom guten Leben“
(Burkart 2013, S. 404) lernen, in dem „Lebenssinn weniger als Selbstverwirklichung im Beruf, sondern eher als Eingebundensein in der privaten Lebenswelt
– Familie, Freunde, Verwandtschaft – verstanden wird“ (ebd).
285
dorett funcke
Literatur
Burkart, Günter (2007): Eine Kultur des Zweifels: Kinderlosigkeit und die Zukunft der Familie. In: Konietzka, Dirk/Kreyenfeld, Michaela (Hg.): Ein Leben ohne Kinder. In: Kinderlosigkeit in Deutschland.
Burkart, Günter (2013): Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungstrends für Familie und private Lebensformen der Zukunft. In: Krüger, Dorothea/
Herma, Holger/Schierbaum, Anja (Hg.): Familie(n) heute. Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen. Beltz Juventa Verlag, S. 392–411.
Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus.
Freyermuth, Gundolf S. (2000): „Digitales Tempo. Computer und Internet revolutionieren das Zeitempfinden. In: c’t, magazin für computer technik, Heft 14, S. 74–81.
Funcke, Dorett; Hildenbrand, Bruno (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag
Hildenbrand, Bruno (2009): Familie und Beschleunigung. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Jg. 10, Bd. 2, S. 265–281.
Hochschild, Arlie (2006): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. VS.
Koppetsch, Cornelia (2013): Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Campus.
Lasch, Christopher (1987): Geborgenheit. Die Bedrohung der Familie in der modernen Welt. München: dtv.
Lenz, Karl (2009): Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft? In: Burkart, Günter (Hg.): Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien. Verlag Barbara Budrich. Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6, S. 73–90.
Lübbe, Hermann (1994): Gegenwartsschrumpfung. In: Backhaus, K./Bonus, H. (Hg.):
Die Beschleunigungsfalle oder Der Triumph der Schildkröte. Stuttgart, S. 131–164.
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 7. Aufl. 2003. Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2009): Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. 4. Aufl. Wiesbaden: VS.
286
entschleunigte familien?
Oz, Amos (2013): Unter Freunden. Suhrkamp.
Reiss, David (1981): The Family's Construction of Reality. Harvard University Press.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp.
Wimbauer, Christine (2012): Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit. Campus.
Winkler, Michael (2012): Erziehung in der Familie. Innenansichten des pädago gischen Alltags. Kohlhammer.
287
U
bettina hünersdorf
(Un)sichtbar kindgerecht
Privatheit und Öffentlichkeit von Familie
Frauen und Kinder wurden in einer bürgerlichen Familie seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts von der Erwerbsarbeit freigestellt, um den Fokus
auf die Reproduktion und damit auf Erziehungs- und Sorgeaufgaben zu
legen (Baader 1996). Dadurch wird Familie in der bürgerlichen Gesellschaft
in die Privatsphäre verbannt und der Öffentlichkeit entzogen. Insofern
Erziehung und Sorge immer schon gesellschaftliche Erwartungen reproduzierte, muss diese säuberliche Trennung von privat und öffentlich infrage
gestellt werden. „Der Staat nimmt ,[…] eine zentrale Rolle in der Kontrolle der
Erziehungstätigkeit ein, in dem er eine normalistische Lebensweise fordert
und die Abweichungen überwacht“ (Demirovic 2004, S. 1), denn bei Kindern
finden Ereignisse, die die Normalitätsvorstellungen verletzen, vorwiegend in
der Familie statt (Bode/Turba 2014, S. 17). Dabei fallen insbesondere benachteiligte Familien in den Blick, da bei diesen häufiger Gefährdungseinschätzungen aufgrund von Vernachlässigung beobachtet werden und der Bereich
der Überforderung gerade hier eine große Rolle spielt. Inobhutnahmen
haben insbesondere aufgrund von ‚Überforderung‘ zugenommen, wobei
dieses eine Kategorie ist, die einen hohen Interpretationsspielraum hat (vgl.
Gadow u. a. 2013, S. 171).1 Ich werde bei meinen folgenden Ausführungen
auch den Fokus auf Fälle der Vernachlässigung legen, die 2/3 aller Fälle von
Kindeswohlgefährdung ausmachen.2
1 „Offensichtlich gibt es, was das Aufwachsen von Kindern betrifft, ein sich permanent erneuerndes lebensweltliches Krisenpotenzial. Insofern bestehen in der Gegenwartsgesellschaft, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht, „Probleme ohne Ende“ (Bode/Turba 2014, S. 21). Zwar wird in verstärktem Maße auf diese Endlosigkeit der Probleme reagiert, aber offen bleibt, ob damit der Kinderschutz besser geworden ist (Höynck/Haug, 2013, S. 171).
2 Unter Vernachlässigung ist ein chronisches „Ausbleiben eines andauernden oder wiederholt lebensnotwendigen fürsorglichen Handelns von sorgeverantwortlichen Personen für die Sicherstellung der physischen und psychischen
Versorgung des Kindes [zu verstehen, B. H.]. In Deutschland gab es 2012 insgesamt 106.623 Verfahren zur Gefähr-
dungseinschätzung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, dies entspricht (inklusive Mehrfachmeldungen) 289
bettina hünersdorf
Im Kontext öffentlich werdender Fälle von Kinderschutz wird das romantische
Bild des schutzbedürftigen Kindes hochgehalten und die Familien als abweichende Familien in die Öffentlichkeit gerückt und damit für jede(n) sichtbar
gemacht. Eltern werden als Täter(innen) und das Kinder als Opfer dargestellt,
vor allem, wenn es sich um tödliche Kinderschutzfälle handelt. Dem Kind gerecht scheint es zu sein, wenn minutiös das Grauen des Mords an den Kindern
dargestellt wird. Diesem Grauen möchte ich im Folgenden, wenn ich über den
Kinderschutzfall Lea-Sophie aus Schwerin spreche, auf keinen Fall leugnen.
Ich möchte vielmehr nach den gesellschaftlichen und situativen Bedingungen fragen, die dazu führten, dass Eltern das Verhungern ihres Kindes nicht
verhindern konnten. Diese Frage muss gestellt werden, um eine Wiederholung
zu verhindern.
Analog zur Hannah Arends Ausführungen über den Eichmannprozess in ihrem
Buch „Eichmann in Jerusalem. Bericht zur Banalität des Bösen“ möchte ich
darauf hinweisen, dass eine isolierte und detaillierte Schilderung des Grauens
das Geschehen soweit aus dem Alltagsleben der Menschen rückt, dass kaum
jemand mit einem solchem Kinderschutzfall etwas zu tun haben könnte, weil
es zunächst als ein isolierter Einzelfall gesehen wird, obwohl die Gewalt gegenüber den Kindern zum deutschen Alltag gehört.
Dass die Sorge der Eltern zum Wohl des Kindes nicht gänzlich selbstverständlich ist, wie es in der bürgerlichen Familie unterstellt wird, wird durch
die Institutionalisierung der Hilfen zur Erziehung, welche rechtlich im
KJHG grundgelegt ist, zum Ausdruck gebracht. Eltern werden Unterstützungsleistungen im Hinblick auf Erziehung geboten und Kindern ein Recht
auf Erziehung zugesprochen. Im Kontext des Kinderschutzes wird dieses
Sorgeverhältnis häufig der „Logik des Verdachts“ (Hildenbrand 2009) unter-
290
0,8 % der unter 18-Jährigen in Deutschland (vgl. StaBu 2013). Bei gut 2/3 dieser Fälle handelt es sich um Fälle von
Vernachlässigung. Als Ursachen werden folgende Risikofaktoren angegeben: „materielle Belastungen (Armut), soziale Belastungen (Isolation), persönliche Belastungen der Eltern (ungewollte Schwangerschaft, Sucht, eigene Deprivationserfahrungen), familiale Belastungen (anhaltende Paarkonflikte) oder auch die Persönlichkeit des Kindes (z. B. Krankheitsanfälligkeit“ (Kinderschutzbund 2014).
(un)sichtbar kindgerecht
worfen.3 Das heißt, Eltern werden verdächtigt, nicht hinreichend gut oder
sogar schädlich für das Wohl des Kindes zu sein. Die damit einhergehende
Viktimisierung der Kinder und Infragestellung, bisweilen auch Pathologisierung der Eltern haben nicht nur Auswirkungen darauf, dass Kinder selbst
nicht sprechen dürfen, sondern es wird den Eltern auch noch das anwaltschaftliche Sprechen für die Kinder teilweise entzogen, da sie als die Kinder
gefährdend wahrgenommen werden. Stattdessen sollen die Expert(inn)
en des Jugendhilfesystems die Sozialarbeiter(innen), Psycholog(inn)en etc.
dieses übernehmen. Deswegen verwundert es nicht, dass gleichzeitig mit
dem neuen Aufflammen des Kinderschutzes in den 90er Jahren auch die
Kinderrechte zunehmend zum Thema wurden: Denn die neue Form der
Thematisierung des Kinderschutzes nimmt die Kinder – noch weniger als
dies vorher bei den Hilfen zur Erziehung der Fall gewesen war – als mit
Rechten ausgestattete Akteure wahr. So wird aber von der Kinderrechtsbewegung die abhängige Stellung der Kinder von den Erwachsenen kritisiert
und von einer strukturellen Diskriminierung von Kindern ausgegangen.
Die generalisierte Perspektive der Erziehungs- und Schutzbedürftigkeit von
Kindern würde der Gerechtigkeitsperspektive insofern widersprechen, da
sie verhindert, Kindheit als eigenen Status zu betrachten. Trotz der UN-Kinderrechtskonvention würde aber die Jugendhilfe die Rechte der Kinder über
die Rechte der Eltern und deren Erziehungs- und Betreuungskompetenzen
stärken (vgl. Liebig 2013, S. 34).4 Stattdessen bedeute Kindergerechtigkeit, die
Kinder als Subjekte wahrzunehmen, damit Kinder durch den Schutzauftrag
nicht von weiten Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden
und gerade dadurch geschwächt werden (Liebig 2013, S. 83). Erwachsene
3 Seit einigen Jahren wird aber einerseits gefordert, dass möglichst frühzeitig und hart eingegriffen wird, ande
rerseits wird das Jugendamt aber auch kritisiert, da es sich in die Privatsphäre einmischt.
4 „Nach dem neuen Kindschaftsrecht müssen Kinder zwar in sorgerechtlichen Verfahren angehört werden (was nach gängiger Rechtspraxis ab dem 4. Lebensjahr geschieht) und ab 14 Jahren können sie gegen familienge-
richtliche Entscheidungen Beschwerde einlegen, aber sie haben keine eigene Entscheidungskompetenz. Dies bedeutet eine Einschränkung der Gerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung mit Erwachsenen und der Überwindung von Benachteiligung bei der Gewährung und Ausübung politischer und bürgerlicher Rechte“ (Liebel 2013, S. 34). Auch alle anderen Reformen wie das Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz von 2008 und das Bundeskinderschutzgesetzt haben daran nichts geändert.
291
bettina hünersdorf
sollten aber nicht aus der Verantwortung für die Kinder entlassen werden,
sondern Kinder sollten nicht entmündigt werden.5
Aus der Perspektive von Liebig bedeutet Gerechtigkeit aber nicht nur Rechte zu
haben und diese selbst in Anspruch zu nehmen (vgl. Liebig 2013, S. 21), sondern
Gerechtigkeit muss auch als ein relationales Verhältnis verstanden werden6
(ebd.). Das bedeutet aber, dass eine starke Kinderrechtsposition mit der Gefahr
einhergeht, die Kinderrechte gegen die Elternrechte auszuspielen.
Gerade weil das Elternrecht an die Kompetenzen der Eltern gebunden ist, erhalten auch die Eltern nur eine bedingte Anerkennung. Sie haben die Möglichkeit,
Unterstützung zur Erziehung zu erhalten, müssen aber dann entscheiden, was
sie im Kern über ihr Privatleben veröffentlichen, um die Unterstützung zu
bekommen, die sie für ihr Kind brauchen. Das bedeutet, dass Eltern sich eingestehen müssen, nicht gut genug zu sein, d. h. keine ausreichende Fähigkeit als
Eltern zu haben. Falls sie auch nicht fähig sind, diese an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen und die damit einhergehenden Fähigkeiten zu lernen, sogar
die Bereitschaft haben, das aktive Elternrecht abzugeben. Gerade darin würden
sie sich als verantwortlich gegenüber dem Kind zeigen. Dabei wird aber davon
ausgegangen, dass jede(r) die Fähigkeit hat, dieses zu lernen, aber nicht jede(r)
die Lernbereitschaft hat. Lernbereitschaft bedeutet, den gesellschaftlichen Erwartungen guter Elternschaft entsprechen zu wollen. Damit wird Elternschaft
pädagogisiert und dem Jugendhilfesystem unterworfen.
5 Aber wie viel Verantwortung haben Kinder, wenn sie auf Augenhöhe mit Erwachsenen sich auseinandersetzen, und
was ist hier mit Verantwortung gemeint? Liebel sieht eine Lösung darin, „nicht vorwiegend“ die Schutzbedürftigkeit von Kindern an sich infrage zu stellen, aber den Blick auf deren Bewältigung durch aktives Handeln zu richten (vgl. Liebel 2013, S. 94). Zugleich wird diese Perspektive auch wieder relativiert, wenn er schreibt, „dass dieses nicht allen Kindern gegenüber in gleichem Maße möglich“ sei und möglicherweise auch Kindern in Obhut genommen werden sollten.
6 Dabei grenzt er sich von Elisabeth Holzleithner ab, die Gerechtigkeit dadurch bestimmt, dass diese primär für
Beziehungen unter Menschen relevant sei und angebe, „was wir einander wechselseitig schulden: an Verhalten,
an Gütern und Lasten, an Rechten und Pflichten […] sie kommt dann ins Spiel, wenn menschliche Bedürfnisse und
Interessen divergieren oder sich auf dieselben knappen Güter richten“ (Holzleithner 2009, S. 7 in Liebel 2013, S. 21).
Liebel wendet gegen diese Definition ein, dass es nicht um subjektive oder objektive Zustände ginge, sondern
vielmehr um gerechte Verhältnisse zwischen den Menschen und was sie einander schulden (vgl. ebd. f.).
292
(un)sichtbar kindgerecht
Die Jugendhilfe trägt dazu bei, dass sich Eltern für die verantwortete Elternschaft qualifizieren, um sie dann in der Familie auszuüben. Elternschaft ist aber
nur bedingt Privatsache, sondern vielmehr staatliches Anliegen, weil Eltern,
insbesondere Mütter, als Anbieter einer Ware auftreten: der „Reproduktionskraft“ in einem Sozialstaat. Im Kontext eines sozialinvestiven Staates werden
Kinder als potenzielles Humankapital und damit als „öffentliches Gut“ begriffen, in das es gesellschaftlich zu investieren gilt (Olk 2011, S. 161, Nave-Herz 2012,
S. 36), sodass die Verfügungsgewalt des Staates über die Sorgeverhältnisse gegenüber den Kindern steigt. Entsprechend heißt es bei der OECD: „Die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Investitionen auf die frühkindliche Phase und
auf sozial schwache Kinder dürfte auch mit hoher Wahrscheinlichkeit ein wirksames Mittel sein, um der Abhängigkeit der Erfolgschancen der Kinder von der
Situation ihrer Eltern – das heißt der intergenerationalen Transmission von
Benachteiligungen – entgegenzuwirken, was in vielen Ländern ein Anliegen ist
(http://www.oecd.org/dataoecd/10/15/43554489.pdf). Damit wird aber strukturell die Möglichkeit eröffnet, die Rechte der Eltern zu schwächen. So heißt es
in § 6 BGB, § 1 Abs. 2 BKiSchG „Pflege und Erziehung der Kinder und Jugendlichen sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende
Pflicht. Über ihre Bestätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Ich vertrete
aber die These, dass das Ziel, zukünftig Kinder aus benachteiligten Familien
die Möglichkeit zu geben, selbst nicht mehr benachteiligt zu sein, nicht gegen,
sondern nur mit den Eltern gelingen kann. Das setzt aber voraus, dass Eltern
Gelegenheitsstrukturen und Verwirklichungschancen haben, gute Eltern zu sein
(vgl. Sen 2002, S. 31). Nach dem libertären Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit
ist aber die Handlungsfreiheit sowohl im instrumentellen Sinne als auch als
Selbstzweck von zentraler Bedeutung (Oelkers/Schrödter 2010, S. 157). Bei einem
Elternrecht als ein bedingtes Recht kann aber nicht davon ausgegangen werden,
dass die Voraussetzungen für eine Befähigungsgerechtigkeit gegeben sind.
Eltern haben weder in der Verfassung noch im Kontext des Kinderschutzes ein
eindeutig verbürgtes aktives Elternrecht, wenn auch das KJHG weitestgehend
das Leistungsrecht für Eltern betont. Sobald aber ordnungsrechtlich eingegriffen
wird, erlischt das Leistungsrecht (vgl. Münder et al. 2003, S. 82).
Darüber hinaus kann mit den Einsparungen in den öffentlichen Kassen der
Grundgedanke des Leistungsrechts des KJHGs kaum noch befriedigt ausgeübt
293
bettina hünersdorf
werden, sodass Leistungsrechte zurückgedrängt und zugleich die Notwendigkeit des Kinderschutzes betont wird. Das macht es Eltern gegenüber der
Jugendhilfe schwerer, über Probleme der Sorge oder der Erziehung zu sprechen,
da sie um ihren potenziellen Verlust des Elternrechts und – wie ich gleich
noch zeige – um ihre potenzielle Kriminalisierung wissen, die dann eintritt,
wenn sie nicht bereit sind, ihre Elternrechte zugunsten des Wohls des Kindes
teilweise aufzugeben. In diesem Moment werden sie nicht mehr als die Kinder
schützende, sondern sie gefährdende Personen wahrgenommen. Als solche,
dürfen sie zwar sprechen, aber durch die Logik des Verdachts werden sie häufig
nicht gehört. Dabei ist die Nachricht, die an sie gerichtet wird, paradox: Zeige,
dass du Verantwortung übernimmst, indem du aufzeigst, dass du Hilfe brauchst;
aber je mehr du an Hilfe erwartest, desto mehr musst du das Leben führen, wie
es von uns erwartet wird. Anders gesagt, für Benachteiligte, die mehr Hilfe
zur Autonomie brauchen, konstituiert gerade diese Hilfe insbesondere eine
Abhängigkeit von anderen (Heteronomie), die mit der Kindzentrierung tendenziell schon in jeder Familie zu beobachten ist. Das eigene Leben wird dann als
Geführtes gelebt (Nassehi 2003) (Konformitätsdruck). Eltern können dann nur
ihren Anspruch auf das aktive Elternsein aufgeben, oder sie müssen akzeptieren,
kriminalisiert zu werden. Die Eltern haben als potenzielle Täter(innen) kaum
Fürsprecher(innen), geschweige denn, dass ihnen eine Chance gelassen wird, für
sich selbst zu sprechen. Wird das den Kindern aus benachteiligten Familien gerecht? Oder entsteht Gerechtigkeit nicht gerade dadurch, dass Verwirklichungschancen der Kinder auf eine gute Kindheit und der Eltern auf eine gute Elternschaft erhöht werden, indem beiden eine Befähigungsgerechtigkeit zuteil wird,
was deren Handlungsfreiheit sowie die objektiven Möglichkeiten, ihre Ziele zu
erreichen, voraussetzt. Anders gesagt, erscheint es zur Förderung des Wohls der
Kinder notwendig zu sein, eine intersektionale Perspektive einzunehmen.
Es stellt sich auch die Frage, ob jedes zu Sehen-Geben und entsprechend Gesehen-Werden emanzipativ ist, wie es im Kontext der sozialen Rechtsbewegung
häufig zu sein scheint, oder ob es besonderer Bedingungen dafür bedarf. Wie
kann die (stellvertretende) „Forderung nach Anerkennung einer gesellschaftlichen und gesellschaftlich relevanten, d. h. mit Rechen und politischer/gesellschaftlicher Macht ausgestatteter Existenz“ (Schaffer 2010, S. 12) gelingen?
Im Folgenden wird im ersten Schritt dargestellt, was unter Sichtbarkeit und
294
(un)sichtbar kindgerecht
Unsichtbarkeit oder Sagbarkeit und Schweigen zu verstehen ist, um daraus
eine methodische Perspektive auf den Fall Lea-Sophie zu ermöglichen. Im
zweiten Schritt wird am Beispiel eines Zeitungsartikels die Falldarstellung von
Lea-Sophie in der Öffentlichkeit problematisiert. Im dritten Schritt wird der
Fall Lea-Sophie so dargelegt, dass es ermöglicht wird, die Eltern und Lea-Sophie
anerkennend sichtbar zu machen. Zum Schluss stelle ich die strukturellen Probleme dieses Falles dar.
1. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Diskurs
Der Diskurs zeichnet sich nach Foucault durch implizite Regeln aus, die definieren, was für ein bestimmtes Wissensgebiet gesagt und was nicht gesagt
werden kann. Dabei wird auch definiert, von wem etwas gesagt werden
kann und in welcher Form. So macht es z. B. einen Unterschied, ob ein(e)
Wissenschaftler(in) von Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern
spricht, verantwortungsvolle Eltern zu sein, oder ob die Eltern es selbst sagen.
Die gleiche Aussage kann durch die Ausstattung mit der Autorität des Wissens eher Gehör bekommen und auch die Form, wie dieses gesagt wird, durch
den Verweis auf wissenschaftliches Arbeiten erhöht die Wahrscheinlichkeit,
als relevant wahrgenommen zu werden. Da Diskurse Realität erzeugen und
strukturieren, ist es wichtig, eine Diskursanalyse durchzuführen, die aufzeigt,
was zu einem bestimmten Zeitraum gesagt werden kann (vgl. Foucault 1981,
S. 74). Der Diskurs reduziert die Pluralität von Möglichkeiten zu einer, die sich
als wahr begreift und andere Möglichkeiten ausschließt. So ist es z. B. sehr
brisant, im Kontext von Kinderschutzfällen Kinder nicht nur als Opfer zu betrachten, sondern ihren Beitrag an der Eskalation mit in den Blick zu nehmen;
umgedreht scheint es moralisch schwierig zu sein, auch die Eltern als Opfer zu
betrachten. Diese Stimmen, die das Andere des Diskurses repräsentieren, stehen in der Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Häufig wird mit der Möglichkeit
zu sprechen Emanzipation verbunden, aber ich werde aufzeigen, dass es auch
gegenteilige Effekte haben kann. Denn durch Geständnispraktiken wie in der
Sozialen Arbeit, im Gericht etc. kann überprüft werden, inwieweit die Adressaten den Erwartungen entsprechen, die z. B. durch das Jugendhilfesystem an
sie herangetragen werden. Und ggf. kann bei Abweichung interveniert werden
295
bettina hünersdorf
(vgl. Schaffer 2008, S. 52). Häufig wird nicht mehr wahrgenommen, dass das,
„was sichtbar ist, zugleich Produkt diskursiver Prozesse des Zu-Sehen-Gebens ist“
(Schaffer 2008, S. 53). Es geht dann eher um eine Zwangsdiskursivierung marginalisierter Lebensweisen und damit um eine bedingte Anerkennung eben an
bestimmte Voraussetzungen gebunden Form der Anerkennung (vgl. Schaffer
2008, S. 21). Mit der Zwangsdiskursivierung geht einher, das Schweigen zu
verbieten. Das zwanghafte Einführen privater Erfahrungen in dem öffentlichen Raum, das marginalisierte Personen bisweilen selbst betreiben, trägt zur
Privatisierung des Politischen bei, wodurch die Bedingungen, die zur Marginalisierung führen, entpolitisiert werden (vgl. Schaffer 2008, S. 57). Das Sprechen
der Eltern wird häufig für stereotypisierende Darstellungen hervorgebracht. Es
kommt also nicht nur darauf an, ein Recht zu sprechen zu haben, das ist den
betroffenen Eltern in den Kinderschutzfällen durchaus möglich, sondern, dass
die Eltern so positioniert sind, dass sie in ihrem Anliegen gehört werden (vgl.
Spivak 1996, S. 306). Es geht dann darum, mit den marginalisierten Eltern zu
sprechen und ihnen subversiv zuzuhören, sodass das Ungesagte erscheinen
kann (vgl. Dhawan 2005, S. 6, Lyotard/Thebaud 1985, S. 72).
Ich werde zunächst die Sichtbarkeit der Kinder und Eltern als eine stereotypisierende und pathologisierende Darstellungsform in den Medien beschreiben,
mit der nur eine bedingte Form der Anerkennung im Sinne des Gesehen-Werdens einhergeht. Vielmehr stellt diese Form des öffentlichen Darstellens eine
Form des Elendsvoyeurismus dar. Diese Darstellungsform ist insofern affirmativ, als sie eine vorherrschende Repräsentation über Familien in Kinderschutzfällen wiederholt. Ich werde im Folgenden am Beispiel aus einem Spiegel-Online-Artikel exemplarisch diese Form der Repräsentationsordnung am Beispiel
von Lea-Sophie aufzeigen. Es geht um die Analyse, wie uns von wem etwas zu
sehen gegeben wird.
2. Zur stereotypisierenden Darstellung von Eltern und Kindern in den Medien am Beispiel einer Berichterstattung der Verurteilung der Eltern Lea-Sophies im Gericht
Jörg Diehl schreibt als Headline des Artikels „Mörderisches Prinzip Hoffnung“:
Der Autor betitelt den Bericht mit Hoffnung. Durch das Prädikat mörderisch,
296
(un)sichtbar kindgerecht
wird die Hoffnung so klassifiziert, dass das, was Hoffnung normalerweise ausmacht, eben eine zuversichtliche innere Einstellung mit einer positiven Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes in der Zukunft eintritt, desavouiert. Damit wird das, was die Eltern ‚vermeintlich‘ geleitet hat, schon im Titel
des Berichtes bloßgestellt. Der Bericht selbst beginnt in der Headline mit „Vor
ihren Augen verhungerte ihre fünfjährige Tochter Lea-Sophie, doch Stephan T.
und Nicole G. sahen tatenlos zu. Wegen Mordes durch Unterlassen müssen die
Schweriner nun für mehr als elf Jahre in Haft. Dabei hatten die beiden allen
beweisen wollen, was für gute Eltern sie sind“.
Sehenden Auges, d. h. sich dem Risiko des Sterbens ihrer Tochter bewusst,
die Gefahr kommen sehend, lassen sie tatenlos ihr Kind verhungern, suggeriert eine Absichtlichkeit der Unterlassung, dem Kind zu helfen. Deswegen
verwundert es auch nicht, wenn im folgenden Satz genau dieses auf den
Punkt gebracht wird: „Mord durch Unterlassung“. Die Höhe der Strafe von elf
Jahren spricht bezüglich der Schwere der Tat eine eigene Sprache. Indem das
gute Eltern-Sein-Wollen neben die Schwere der Tat gestellt wird, wird es ins
Lächerliche, genauer gesagt in Zynische gezogen. Das Große Wörterbuch der
deutschen Sprache definierte 1999 zynisch als „eine [...] Haltung zum Ausdruck bringend, die besonders in bestimmten Angelegenheiten, Situationen
als konträr, paradox und als jemandes Gefühle missachtend und verletzend
empfunden wird“. Missachtet und mit Füßen getreten werden hier die
Worte der Eltern, die in einen Kontext gestellt werden, indem ihre Anerkennbarkeit nicht möglich ist, da die scheinbare Folge der guten Elternschaft der
Mord an Lea-Sophie sowie die hohe Strafe für diese Tage gleich vorangestellt
wurde.
Im ersten Absatz heißt es „Selbst jetzt, in diesem entscheidenden Augenblick, in dem besiegelt wird, was sie getan haben und was deshalb mit ihrem Leben geschehen wird, sind sie wie erstarrt“. In dem „selbst jetzt“ wird
auf die Zeitlichkeit des Geschehens hingewiesen, mit „in diesem entscheidenden Augenblick“ wird sehr deutlich der Wendepunkt als Entscheidungsmöglichkeit markiert. Aber wer entscheidet hier? Haben in diesem Moment
die Eltern noch etwas zu entscheiden, oder ist es nicht gerade der Punkt, wo
durch das Urteil über sie entschieden wird. Die Angststarre wird den Eltern
297
bettina hünersdorf
als Handlungsunfähigkeit ausgelegt und nicht als Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Gericht.
Weiter heißt es „Stefan T., 26, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, stiert auf die
Anklagebank vor ihm. Seine ehemalige Freundin Nicole G., 24, blasses Gesicht,
die Wangen feucht von Tränen, faltet ihre Hände und schaut zu Boden.“
Das Vor-sich-Hinstieren transformiert die Erstarrung des Vaters und macht ihn
zu einem ‚wilden potenziell gewaltvollen Tier‘, das zwar gerade nichts tut, aber
das Potenzial hat, etwas Gefährliches tun zu können, indem es das Gegenüber
mit seinen Hörnern aufspießt. Dadurch wird der Vater als ‚tierisch‘ und damit
als unberechenbar stilisiert. Zugleich wird dieses in Kontrast zu seiner guten
Kleidung – einem schwarzen Anzug – gesetzt, durch den er sich als Geschäftsmann darstellt. Auch hier werden Gegensätze von Irrationalität und Rationalität hervorgebracht und die Wahrheit im Sinne der ‚richtigen‘ Klassifikation des
Täters als ‚wildes Tier‘ der falschen Selbstdarstellung eines harmlosen, rationalen Geschäftsmanns gegenübergestellt.
Trotz der Darstellung der Mutter als verletzliche Person, wird diese auch
durch das Falten der Hände als jemand repräsentiert, die sich dem Irdischen abwendet und die Erlösung von Gott erwartet. Damit wird auch sie
als jemand dargestellt, die sich entzieht, wenn sie auch weniger gefährlich
wirkt als der Vater, obwohl im Urteil für beide elf Jahre Haftstrafe verhängt
wurden. Diese Darstellungen sind sexistisch stereotypisierend aufgeladen.
Mitleid kann dabei für keinen von beiden so richtig aufkommen. Das kurze
Schluchzen der Mutter bei der Urteilsverkündigung durch das Voranstellens
des Fokuspartikels ‚nur‘ als relational unbedeutsam gegenüber dem Mord
durch Unterlassung dargestellt. Damit wird die Anerkennbarkeit, selbst
verletzlich zu sein, infrage gestellt. Durch das Zitieren der höchsten Rechtsinstanz des Landes MVP „Mord durch Unterlassen – nennt das die Große
Strafkammer 2 des Schweriner Landgerichts“ wird Bezug auf eine unbeteiligte, aber das Recht repräsentierende Autorität genommen, die diese Verletzlichkeit als das aufdeckt, was es eigentlich ist „Mord durch Unterlassung“.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird jegliche Identifikationsmöglichkeit mit
den Eltern verhindert.
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(un)sichtbar kindgerecht
„T. und G. hätten aus Angst, das Jugendamt könnte ihnen das Sorgerecht für
Lea-Sophie und deren kleinen Bruder Justin entziehen, keine Hilfe für ihre
abgemagerte, verwahrloste Tochter geholt“. Es sei ihnen wichtiger gewesen, die
Kinder bei sich zu behalten, als das Leben der Fünfjährigen zu retten, so Piepel.
Die Eltern hätten daher aus niedrigen Beweggründen getötet, also: „Mord“.
Als problematisch wird hier das Nicht-Holen von Hilfe beschrieben, sowie, dass
der Wunsch nach dem eigenen Großziehen ihrer Tochter größer gewesen sei
als das Wohl ihrer Tochter. Die Angst vor dem Jugendamt wird als lächerlich
und dadurch unberechtigt aufgezeigt. Dramatisiert wird die Aussage durch
das Zitieren des Richters, der dabei ein naturalistisches Bild von Familie als
eigentlicher Familie entwirft: „Beide haben sehenden Auges tatenlos zugelassen, dass ihr eigen Leib und Blut jämmerlich dahinsiecht“. Das „Dahinsiechen“
und damit das unumkehrbare Leiden wird dem bewussten Sehen gegenübergestellt. Es wird nicht nur übersehen, dass der tödliche Verlust eines Kindes
sehr schmerzhaft ist, sondern vielmehr wird eine Absichtlichkeit unterstellt,
wodurch das Schlimmste, was Eltern erleben können, ihr Kind zu verlieren, in
eine gnadenlose Brutalität transformiert wird. Den so als ‚mörderisch‘ klassifizierten Eltern wird das Leid des Kindes gegenübergestellt, indem dessen
körperlicher Zustand genau beschrieben wird.
„Das 95 Zentimeter große Mädchen magerte immer weiter ab, bei seinem Tod
wog es schließlich noch 7375 Gramm, gerade einmal halb so viel wie eine gesunde Fünfjährige. Ihr Körper war von Hungerödemen gezeichnet, an Gesäß und
Rücken hatte sie kotverschmutzte Durchliegegeschwüre bis auf die Knochen.“
Es wird der Richter mit der Frage zitiert: „Was sind das für Menschen, die so
etwas zulassen?“ Es seien persönlichkeitsgestörte Menschen, was ein psychiatrisches Gutachten belege. Das wird dann sehr anschaulich ausgeführt. „Stefan
T. sei ein unsicherer Mensch, dem es vor allem um sich gehe und der wegen
seiner verminderten Empathiefähigkeit nicht in der Lage sei, eine gesunde
Partnerschaft zu führen.“ Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Details
eingehen, sondern nur zusammenfassend deutlich machen, wie ein Einblick in
das Privatleben dieser Familie gegeben wird. Zugleich wird dieser Einblick aber
nicht als Möglichkeit der Empathie mit den Eltern genutzt, sondern vielmehr
299
bettina hünersdorf
werden diese Aussagen gegen die Eltern gerichtet, um die Verantwortungslosigkeit und Brutalität der Eltern zu unterstreichen.7 Wurde der Fall zunächst als
Mord durch unterlassene Hilfe klassifiziert, ist es nun „Totschlag mit bedingtem Vorsatz“.
Als weiteres Gegenargument gegen diese Verurteilung könnte die systemische
Perspektive eingeführt werden, indem der Bezug zu den Eltern der Kindesmutter angeführt wird. „Auch die Eltern von Nicole G. spielten wohl keine vollkommen glückliche Rolle. Wahrscheinlich in guter, fürsorglicher Absicht belagerten
sie das junge Paar, brachten Essen, gaben Tipps, informierten schließlich das
Jugendamt, als sie immer häufiger vor verschlossenen Türen standen und sich
sorgten“. T. und G., die schon von ihren Eltern verkuppelt worden waren, blieb
laut Piepel jedoch kaum noch „Luft zum alleine Atmen“. Es wird die fürsorgliche und vom Ansatz her richtige8 aber dennoch übergriffe Art der Großeltern
dargestellt. Mit dem Zitat, dass die Eltern aber „kaum noch Luft zum alleine
Atmen“ bekommen hätten, wird die Stimme der Eltern scheinbar erhört, indem
das großelterliche Verhalten problematisiert wird, aber letztendlich doch als
bedeutungslos dargestellt wird. Die anschließende Selbstaussage der Eltern
„Wir hatten das Gefühl, alles falsch zu machen“, wird nicht nur als falsche
7 Zwar gibt es viele junge Erwachsene, die mit einer Playstation spielen, aber in diesem Falle wird durch den Kontrast zu dem leidenden Kind das Spielen mit der Playstation pervertiert und der Vater als nicht verant-
wortungsvoll auf das Kind bezogen handelnd dargestellt. Die Mutter wird ebenfalls als nicht erwachsene Person beschrieben, die verwöhnt gewesen ist und in ihrer Hilflosigkeit sich nicht wehren kann. Es wird trotz dieser
Darstellung aber nicht die Frage gestellt, ob die beiden überhaupt schon Erwachsen seien, sondern vielmehr wird das Erwachsensein der Eltern als selbstverständlich genommen, obwohl genau das deutlich infrage zu stellen ist, denn bei der Geburt von Lea-Sophie waren die Eltern 18 und 19 Jahre alt, hatten keinen eigenständigen Haushalt und waren nicht ins Erwerbsleben eingestiegen. Stattdessen wird deren Verhalten als Persönlich-
keitsstörung dargestellt, wodurch er und die Mutter zu anderen, eben Ver-rückten konstituiert wurden, die zum Totschlag mit bedingtem Vorsatz fähig seien. Die Persönlichkeitsstörung ist so, dass sie zwar nicht psychiatrisiert werden, aber noch die volle Verantwortung für ihre Tat haben, d. h. voll schuldfähig sind und entsprechend eine elfjährige Gefängnisstrafe einbüßen müssen. Im Fokus steht das Sich-an-den-Eltern-
Rächen für die Tat, die sie ihrer Tochter angetan haben. Je höher die Strafe, desto eher kann das Böswillige durch Einsperren ins Gefängnis aus der Welt gesperrt werden.
8 Dass die Großeltern damit einem Grundsatz der Jugendhilfe ambulant vor stationär gefolgt sind, wird verschwiegen.
300
(un)sichtbar kindgerecht
Selbsterkenntnis dargestellt, sondern mit dem abschließenden Zusatz „Wir
wollten allen beweisen, dass wir keine schlechten Eltern sind“ angesichts der
Tat ins Absurde geführt. Darauf wird die Irrationalität des Handelns mit vielfältigen Substantiven zum Ausdruck gebracht. „Es entstand eine verhängnisvolle
Melange aus Unvernunft, Unfähigkeit und Unlust, angereichert mit Trotz,
Scham und Angst.“
Der Artikel wird letztendlich damit abgeschlossen, dass zitiert wird, was auf
dem Marmorstein, der mit Schmetterlingen verziert sei, geschrieben ist. „Ich
wollte leben so wie ihr, doch das Schicksal versagte es mir“.
Es wird gezeigt, dass die Eltern sich nicht schuldig sprechen, sondern mit der
Stimme des Kindes eine höhere Macht anrufen, die die Entscheidungsfreiheit
der Eltern relativiert. In dem Kontext des Artikels wird damit aber noch einmal
auf die Irrationalität der Eltern verwiesen, die die Stimme des Kindes für ihr
eigenes Anliegen, nicht schuldig sein zu wollen, missbrauchen. Damit wird die
Aussichtslosigkeit des Falles und die Eltern als hoffnungslose Fälle zum Schluss
zur Darstellung gebracht und damit der Bezug zum Anfang „Mörderisches
Prinzip Hoffnung“ hergestellt, da jegliche Anliegen der Eltern im Kern degradiert sind.
Der Bericht versucht also, mithilfe des ‚Einfühlungsgedankens‘, d.h. dem Aufzählen, was dem bzw. der/die Leser(in) für die Eltern einnehmen könnte, die
Ereignisse möglichst adäquat wiederzugeben. Ergebnis ist eine Berichterstattung, die jegliche Rückschlüsse auf die Gegenwart anderer Kinderschutzfälle
bewusst vermeidet, da der Fall als in sich abgeschlossen dargestellt wird. Es
handelt sich um eine Berichterstattung der Sieger, da es jene sind, in die sich
der Berichtschreiber einfühlt: Es sind der Richter, die Großeltern, der Psychiater etc., die alle anwaltschaftlich für das Kind sprechen und die Tat der Eltern
rächen. Durch die Pathologisierung und Dämonisierung der Eltern wird „der
Normbereich in ungetrübter Reinheit sichtbar sowie der Normbrecher als
taugliches Objekt für Entrüstung und Bestrafung, an dem dann exemplarisch
die Wiederherstellung der Geltung der Norm demonstriert werden kann“ (Bock
2003, S. 181). Dadurch werden gesellschaftliche Normen zur Geltung gebracht:
Lea-Sophie wird als verwundbare Person und als Opfer dargestellt. Dass Eltern,
301
bettina hünersdorf
die sich dieses Ansehen können, keine Hilfe holen, obwohl diese mit dem Jugendhilfesystem doch möglich wäre und noch immer keine Schuld empfinden,
macht die Geschichte gegenüber dem Publikum zu einem Skandal. Das ermöglicht dem Publikum, sich zugleich als gute Eltern davon distanzieren zu können,
da es sich in diesem Fall um Ver-rückte handelt, die zu Recht eingesperrt werden
müssen, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Die Stimmen der Eltern werden in einen Diskurs übersetzt, indem sie eine neue Bedeutung gewinnen, da er
es verhindert, diese anerkennend zu hören, obwohl ihre Stimme zitiert wird. Begründet wird die Klassifikation der Eltern mit Expert(inn)en, Psychiater(inne)n
und Jurist(inn)en, die dieses Urteil durch Objektivität und Wissen rechtfertigen
(vgl. Afinidad Rebelde 2011, S. 11–12 übersetzt und zitiert von Herranz Rodriguez
2012, S. 11) und die Eltern in ihren Widerstandsstrategien ignorieren.
Im Folgenden möchte ich diese Fallgeschichte anders darstellen und zwar so, dass
auch die Bedingungen geschaffen werden, die Stimme der Eltern und die Möglichkeit und Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit zu hören und damit das, was in den
Medien aber auch in den Urteilen der in dem Bericht zitierten Expert(inn)en zum
Schweigen gebracht wurde, sichtbar wird. Es handelt sich um ein „konstruktives
Prinzip“ der Falldarstellung. Verantwortung heißt dann im Sinne von Derrida, die
Fähigkeit zu antworten, zu hören, wobei es ein Spiel von Zuhören und Sprechen ist
(vgl. Dhawan 2005, S. 3). Dabei werde ich einerseits die Leidensgeschichte darstellen, andererseits die darin latent liegenden Widerstandsformen herausarbeiten.
3. Zur anerkennenden Darstellung des Falles Lea-Sophie
Aufbauend auf den Informationen des Buches von Kay Biesel und Reinhart
Wolff „Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie“ werde ich im Folgenden eine alternative, den
herrschenden Diskurs infrage stellende Falldarstellung vornehmen. Dabei geht
es mir um den „Unterschied zwischen richtigem und falschen Handeln [welches; B. H.] mit dem Zusammenhang zwischen Handlungsentscheidungen und
der Verwirklichung des individuellen Glücks eines Menschen zu tun“ (Radke
2003, S. 27) hat. Im weiteren Schritt werde ich dann aber aufzeigen, dass diese
scheinbar ‚charakterlichen‘ Entscheidungen eingebunden sind in Diskurse über
302
(un)sichtbar kindgerecht
die bedingten Elternrechte in einem sozialinvestiven Staat, die gerade strukturell die Verwirklichungschancen der Eltern, gute Eltern zu sein, verhindern. Das
heißt, dass sich in diesem Familiendrama etwas in dynamischer Weise zeigt, was
gesellschaftlich strukturell verankert ist und fallspezifisch Bedeutung erlangt.
Die Kindesmutter von Lea-Sophie wurde 1981 geboren und nach wenigen Wochen in
die Familie aufgenommen, von der sie nach wenigen Monaten adoptiert wurde. Sie
erlebte dort eine positive umsorgende Kindheit, wurde aber von ihren Eltern nicht
über ihre Adoption aufgeklärt, bis sie 1997 zufällig davon erfährt. Das führte zu einem ersten Bruch in der Beziehung zu ihren Eltern. Sie nennt die leiblichen Eltern in
dem Interview mit Biesel/Wolff auch die ‚richtigen‘ Eltern und das obwohl die leibliche Mutter weggelaufen ist und der Vater ihr als Onkel zwar bekannt war, aber sich
kaum um die Kindesmutter kümmerte und Selbstmord beging. Damit schlägt aber
das zunächst positive Verhältnis schon in ein negativeres um, da die Bezeichnung
als nicht ‚richtige‘ Eltern das Engagement der sozialen Eltern infrage stellt. Damit
handelt es sich um eine Widerstandsform gegen die deindividualisierende Tendenz
ihrer Eltern, sie als Kind einzuverleiben. Diese deindividualisierende Tendenz der
Großeltern setzte sich fort, indem sie sie mit einem zwei Jahre älterem Mann aus der
Nachbarschaft verkuppelten, welcher eine tragische Kindheit hatte (Unfälle, die zu
dauerhaften Kopfschmerzen führten, seine Handgelenkte brachen; Scheidung seiner
Eltern in seinem 8. Lebensjahr, der aber mit Schulabschluss, Lehre und als freiwillig
Längerdienender der Bundeswehr auf gutem Wege war). Der Kindsvater war 20
Jahre, die Mutter 18 Jahre als sie zusammen kamen. Drei Monate später im Jahr 2002
war sie von ihm schwanger und gebar im August 2002 Lea-Sophie als Frühgeburt in
der 33. Schwangerschaftswoche. Dann wechseln sich Phasen ab von bei den Großeltern und der Mutter leben und kurzzeitigen Krankenhausaufenthalten wegen einer
Polysomnographie zur Untersuchung einer Nahrungsverweigerung, einer akuten
Gastroenteritis durch Rotaviren und eines Apnoe-Syndroms. Die Großeltern unterstützten bei der Geburt von Lea-Sophie die Tochter, indem sie sich um ihr Enkelkind
kümmerten. Das ermöglichte der Tochter, ihre Ausbildung fortzusetzen und dem
Schwiegersohn bei der Bundeswehr erfolgreich zu arbeiten. Dadurch wurden sie
aber auch die primären sich um das kranke Kind sorgenden Bezugspersonen. Diese
Großzügigkeit im Hinblick auf die Sorge um das Kind, die möglicherweise auch gepaart war mit dem Neid auf die Adoptivtochter, ein eigenes Kind zu haben, wollten
sie insbesondere von der Tochter wertgeschätzt wissen und erwarteten diesbezüg-
303
bettina hünersdorf
lich Anerkennung. Die Eltern von Lea-Sophie mussten aber durch den Vergleich mit
den so gut sorgenden Eltern mütterlicherseits damit leben, von diesen als schlechte
Eltern wahrgenommen zu werden. Dieses betraf insbesondere den Vater, der aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit nur am Wochenende kommen und sich um das
Kind kümmern konnte. Damit waren die Möglichkeit der jungen Eltern, autonom zu
werden, beschnitten. Die Dankbarkeit für die Sorge um ihr Kind schlägt in eine Wut
um. Als Lea-Sophie acht Monate alt ist (April 2003), bricht der Vater seinen Dienst bei
der Bundeswehr ab, um ‚nun endlich‘ seine Rolle als Vater wahrnehmen zu können,
sodass die drei in die eigene Wohnung ziehen und sich von den Großeltern abgrenzen, um autonom zu sein. Seitdem verdient der Vater sein Geld in einem Abrissunternehmen und ist neben diversen 1-Euro-Jobs Harz-IV-Empfänger. Anders gesagt, die
Eltern opferten ihre finanzielle Autonomie, um dem negativen Bild der Großeltern
etwas entgegensetzen zu können, aber auch aufgrund der eigenen Erfahrung des
Vaters, vaterlos aufzuwachsen, und erhofften dadurch, ihr Elternglück (Erwartung,
da die Großeltern offensichtlich eine große Lust an der Sorge um Kinder haben) zu
erreichen. Die damit einhergehende ‚uneigentliche‘ Autonomie stieß mit Lea-Sophie
auf eine Person, die sich ebenfalls als schein-autonom darstellte. Zwar war Lea-Sophie mit dem immer wieder Kranksein auf eine besondere Sorge angewiesen, aber
sie lernte von Anbeginn, sich als wenig bedürftig zu zeigen und dafür Anerkennung
zu bekommen. Von den Ärzten wurde sie entsprechend als ‚pflegeleichter‘ Säugling,
als ein „Durchläufer“ bezeichnet.
Auch Lea musste sich früh von den primär sie umsorgenden Großeltern lösen,
an die sie vielleicht schon emotional gebunden gewesen ist, und von diesen im
Hinblick auf das Misstrauen gegenüber ihren Eltern auch affiziert gewesen ist,
indem sie immer ihre Eltern mit den Großeltern im Hinblick auf ihre Fähigkeit
zu sorgen verglich. Durch diesen Vergleich war der kritische prüfende Blick der
Großeltern gegenüber der Fähigkeit der Mutter und insbesondere des Vaters,
für das Kind sorgen zu können, wenn auch in verwandelter Form, ein Blick von
Lea-Sophie selbst.9 Damit wurde er aber zugleich ein Teil der Kernfamilie, ob-
9 Unter narzisstischer Störung versteht Miller die „Isolierhaft des wahren Selbst im Gefängnis des falschen“ 304
(Miller 1981, S. 11). Sie geht davon aus, dass die Anpassung an elterliche Bedürfnisse zur Entwicklung des falschen Selbst oder der „Als-ob-Persönlichkeit“ führt.
(un)sichtbar kindgerecht
wohl sie sich gerade von diesem kritisch prüfenden Blick distanzieren wollten.
Dieser kritisch misstrauische Blick führte dazu, dass sich Lea-Sophie autonomer
darstellte, als sie es war, das heißt, dass sie sich als jemand darstellte, der kein
Umsorgt-Werden nötig hat. Die Eltern haben, anstatt Lea-Sophies Bedürfnisse
zu erkennen, sich von der Selbstdarstellung überzeugen lassen, dass sie nicht
so viel Umsorgt-Sein bräuchte, was aber auch in Ärger übergegangen ist, da sie
auch spürten, dass Lea-Sophie die Fürsorge verweigerte und damit ihr Selbstbild, gute Eltern zu sein, infrage stellte. Die Wut darüber, an dem gehindert zu
werden, was ihr oberstes Ziel gewesen ist, ist nachvollziehbar. Sie bezog sich
aber wahrscheinlich auf das (selbst-) zerstörerische autonome Spiegelbild LeaSophies und weniger auf die real bedürftige Lea-Sophie.
Die Großeltern lassen sich die Sorge um Lea-Sophie nicht nehmen und
weisen immer wieder auf die Scheinautonomie der Familie hin. Erst beim
Kindergarten, zumindest wird ihnen das von den Eltern unterstellt, dann
auch beim Jugendamt. Während die Eltern das Kind aus dem Kindergarten nehmen, um sich der indirekten Beobachtung durch die Großeltern zu
entziehen sowie aus finanziellen Gründen (das Jobben reicht nicht aus, um
sich über Wasser zu halten, zugleich verlieren sie ab 2006 immer wieder
die finanzielle Unterstützung durch die ARGE10) (Biesel/Wolff 2013, S. 61),
zeigen sie sich gegenüber dem Jugendamt als funktionierende Familie. Das
Jugendamt warnt mit dem Besuch bei den Eltern diese, greift aber nicht
ein, da es sich von der Scheinautonomie der Familie aufgrund mangelnder
Ressourcen schnell überzeugen/verblenden lassen hat (Biesel/Wolff 201311).
Durch die Geburt eines weiteren Kindes versuchten sich Leas Eltern, deren
10 Seit März 2006 wurden monatliche Leistungen regelmäßig gekürzt, aber die möglichen Auswirkungen auf die Kinder nicht reflektiert, und es wurde kein Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen (Wolff 2012, S. 63).
11 Die Kontakte, die zum Jugendamt bestanden, wurden nicht systematisch in Akten dokumentiert (vgl. Biesel/
Wolff 2013, S. 70), da die Mitarbeiter(innen) massiv mit Arbeitsüberlastungen und unzureichender sachlicher Ausstattung und keinen Möglichkeiten der Supervision und Weiterbildung zu kämpfen hatten (vgl. ebd. f.). Nach der Verteilung des Falles Lea-Sophie und der Aufklärung dieses Falles durch eine verwaltungsinterne Arbeits-
gruppe wurden folgende konkrete Maßnahmen vorgeschlagen: „Änderung der Arbeitsanweisung im Umgang mit Kindeswohlgefährdung, sofortige personelle Verstärkung des Sozialpädagogischen Dienstes, Verbesserung der organisatorischen Arbeitsbedingungen, Einsatz eines Kinderschutzkoordinators etc.“ (Biesel/Wolff 2013, S. 71).
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bettina hünersdorf
Partnerschaft schon am Zerbrechen war, doch noch einmal als gute Eltern
bestätigen zu lassen und sich dadurch von der Macht Lea-Sophies, sie als
schlechte Eltern darzustellen, zu entziehen. Im September 2007 wurde der
Bruder geboren, wodurch die Gefahr für Lea-Sophie umso größer wurde, noch schlechter versorgt zu werden. Darüber hinaus ist aber auch die
mögliche Angst Lea-Sophies über das Aufdecken des Scheins schlechter
Elternschaft sehr bedrohlich. Im Oktober/November kotet Lea-Sophie ein
und fällt damit in das Säuglingsalter zurück. Dadurch zeigt sie zum einen
ihre Bedürftigkeit wie bei einem Neugeborenen und unterstreicht zugleich
durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme das schlechte UmsorgtWerden durch die Eltern. Der Neid und die Eifersucht gegenüber dem Bruder
führen dazu, dass Lea-Sophie nicht nur sich zerstört, sondern damit auch die
ganze Familie, das heißt die Möglichkeit der Eltern, gegenüber dem Bruder
Eltern zu sein. Indem die Eltern für den ‚Mord‘ an Lea-Sophie mit elfjähriger
Haft bestraft werden, ist die Möglichkeit, eine gute Familie zu sein oder zu
werden, endgültig zerstört.
4. Über die gesellschaftliche Konstituierung des Eltern in diesem Kinderschutzfall
Die Psychodynamik in dieser Familie spiegelt weniger eine Persönlichkeitsstörung der Eltern wider, sondern vielmehr ein Strukturproblem der Gesellschaft,
welche die Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern, gute Eltern
sein zu können, einschränkt. Die Unentschiedenheit des ersten Konflikts zwischen der Großmutter und der Tochter überträgt sich ganz natürlich auf den
zweiten zwischen der Tochter und Lea-Sophie, der den ersten wiederholt und
auf eine Vielzahl von Personen wie dem Mann, die Erzieherin im Kindergarten,
die Jugendhilfemitarbeiter(innen) etc. ausweitet. Nach Girad wird dabei aber
übersehen, dass es etwas Identisches in der Tragödie gibt. Und zwar die immer
wieder gleich ablaufenden Mechanismen der Gewalt, durch die nicht mehr
zwischen gut und böse unterschieden werden kann (vgl. Girad 1987, S. 74). Sind
es die Großeltern mütterlicherseits oder die Eltern oder das Kind, die Schuld
haben? Das Drama zeigt aber gerade, dass diese Fragen eben gerade für diesen
Fall nicht angemessen sind, da deutlich wird, dass die Frage nach der Schuld die
strukturellen Probleme individualisiert.
306
(un)sichtbar kindgerecht
Indem das Gericht die Schuldfrage zu klären sucht und die Eltern mit elf Jahren
Haft verurteilt, unterscheidet sich das Gerichtswesen aber nicht von der Rache,
die von den Großeltern auf die Eltern und wiederum auf das Kind übertragen
wurde, da es selbst die anwaltschaftliche Infragestellung des staatlichen Sorgerechts für das Kind rächt. Aber es unterscheidet sich von der Rache, die wir in
der Großfamilie von Lea-Sophie beobachten konnten, da das Gericht als unbeteiligter Dritter nicht gerächt wird. Der Umgang mit Rache erscheint im Gericht
rationaler, da durch die Stellungnahmen und Begründungen im Gerichtswesen
die Rache rationalisiert wird (vgl. Girad 1987, S. 38).
Der Rückzug der Eltern von Lea-Sophie von denjenigen, die den Sorgeentzug
verkörpern – den Großeltern, dem Kindergarten, der Jugendhilfe und dem
Gericht – wird dagegen als irrational dargestellt. Die Eltern erfüllen nicht
die Erwartung, gelernt zu haben, „sich als Private oder Öffentliche von sich
selbst zu unterscheiden“ (Demirovic 2004, S. 9). Sie müssen überlegen, in
welcher Weise die Erziehung ihres Kindes allgemeinen/staatlichen Interessen entspricht. Paradoxerweise dürfen sie dann privat sein, d. h. den (Kinderund Jugend-) Hilfeinstitution zu Recht den Zutritt verbieten. Sobald sie
aber merken, dass sie von den Erwartungen abweichen, die im Hinblick auf
Erziehung gesellschaftlich an sie herangetragen werden, sollen sie bereit
sein, diese Abweichung zu veröffentlichen, sofern sie glauben, dass dieses
einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Wohls des Kindes hat. Sie
erhalten dann bei Veröffentlichung Unterstützung, sich an die gesellschaftlichen Normierungen anzupassen, als Voraussetzung dafür, sich wieder ins
Private zurückziehen zu dürfen, oder sie rutschen in die Gefahr, als die Kinder gefährdend wahrgenommen zu werden. „Äußern sie sich öffentlich (ihr
Verhalten erklärend), müssen sie Kritik antizipieren, dass ihr Interesse, ihre
Sicht der Dinge nicht legitim, nicht allgemein [und vor allem auf Kosten der
Kinder; B. H.] ist. […]“ (Demirovic 2004, S. 9). Es wird deutlich, wie unwahrscheinlich es für solche Eltern ist, die um ihre Rechte bangen, Eltern zu sein,
zu sprechen. Sie haben Erfahrungen gemacht und können beobachten, wie
Aussagen von Menschen in ähnlicher Situation im Diskurs so verzerrt werden, dass sie nicht gehört werden. Sie spüren, dass sie für so verachtenswert
gehalten werden, wie andere Eltern in den Gerichtsverfahren und in den
Medien re-präsentiert werden.
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Die durch Lea-Sophie und die Eltern auf den/die Sozialarbeiter(innen)
übertragenen Gefühle der Abwehr dürfen nicht zu einer Gegenwehr führen,
indem die Adressaten pathologisiert, psychiatrisiert oder sogar kriminalisiert
werden. Sie müssen vielmehr als Folge der Übertragung pathogener Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet werden, die sich in der
sozialisatorischen Interaktionspraxis der Familie widerspiegeln. Die mit der
Scheinautonomie einhergehende nicht-kooperative Haltung, die sich häufig
durch (Ver-)Schweigen oder Lügen ausdrückt, muss als Ausgangspunkt des
Zuhörens genommen und damit die Frage der Verantwortung neu gestellt
werden. Denn die bei der Übertragung entstehenden Gegenübertragungsgefühle der Enttäuschung gegenüber diesen Eltern, aufgrund dessen, dass
sie von ihnen getäuscht wurden, sind die Bedingung der Möglichkeit eines
szenischen Verstehens der latenten Sinnstruktur der paradoxalen Entwicklungsdynamik, die durch bedingte Elternrechte bei benachteiligten Eltern
entsteht. Verschiedene Formen des Schweigens treten immer dann auf, wenn
es Eltern als unwahrscheinlich erleben, die Ansprüche ‚guter‘ Elternschaft
verwirklichen zu können. Erst auf dieser Grundlage kann es Eltern gelingen,
auch gegenüber ihren Kindern gerecht zu sein, d. h. sie sprechen zu lassen,
ohne sich sofort von ihnen bedroht zu fühlen. Das erscheint mir im Kontext
einer bürgerlichen, die Bedeutung der Familie betonenden Gesellschaft eine
zentrale Voraussetzung zu sein, den Kindern benachteiligter Familien unsichtbar, da indirekt, gerecht zu werden.
Ich fasse zusammen: Nicht jede Form der Herstellung von Sichtbarkeit und
damit Öffentlichkeit ist (kind-) gerecht:
1. Die mediale Öffentlichkeit sowie die es Gerichts neigen dazu, „Kind(er)gerechtigkeit“ im Sinne des Dem-Kind-gerecht-Werdens durch Pathologisierung der Eltern herzustellen. Dadurch werden aber Kinderschutzprobleme
individualisiert.
2. Die Jugendhilfe muss sich entscheiden, ob sie sich diesem öffentlichen
Diskurs anschließt oder ob sie eine andere (gegenhegemoniale) Öffentlichkeit bilden möchte. Bezugspunkt wäre dann, einen Beitrag zur
Verbesserung der Verwirklichungschancen von benachteiligten Eltern
zu leisten, welche nicht nur durch die bereit gestellten Sozialleistungen
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(un)sichtbar kindgerecht
des KJHGS ermöglicht würde, sondern auf einer kritischen Hinterfragung
der bedingten Elternrechte bei Vernachlässigung basiert.
3. Kindgerecht erscheint mir das insofern, als das Infragestellen des bedingten Elternrechts bei Vernachlässigung dazu beiträgt, dass nicht nur Handlungsspielräume von Eltern entstehen, sondern auch für Kinder, die im
Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft, die die Privatsphäre der Familie
schützt, auf die Mitwirkung ihrer Eltern angewiesen sind.
4. Voraussetzung dafür ist ein reflexiver Umgang mit der Öffentlichkeit im
Kontext der Jugendhilfe, der Schweigen nicht nur als Problem, sondern
auch als Schutzmöglichkeit für benachteiligte Eltern sieht, sofern diese
zunächst keine Möglichkeiten sehen, ihre Ansprüche auf verantwortliche
Elternschaft erfolgreich durchsetzen zu können.
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312
W
dominic frohn
„Wir sind Eltern!“
Studie zur Lebenssituation Kölner
Regenbogenfamilien
Vorabbemerkung 1
Zunächst ist wichtig, zu benennen, dass die im Folgenden beschriebenen
Erkenntnisse des quantitativ-qualitativen Forschungsprojekts, welches
aus einer Online-Befragung und persönlichen Interviews bestand, auf den
Erfahrungen von 143 Personen basieren. Diese Befragten leben in 114 Familien
mit 169 Kindern. Eine umfassende Beschreibung der Stichprobe inklusive
weiterer demografischer Informationen ist der Studie selbst zu entnehmen
(Frohn et al. 2011).
Die Vielfalt der Familienkonstellationen im Kontext gleichgeschlechtlicher
Elternschaft ist bemerkenswert, gleichzeitig lässt der Versuch einer abstrakten Abbildung dieser Familienmodelle folgende übergeordnete Strukturierung zu:
·
·
·
·
Familien mit Kind(ern) aus heterosexueller Vergangenheit
Familien lesbischer Mütter
Familien schwuler Väter
Familien lesbischer Mütter und schwuler Väter (Queer Families)
1 Bei diesem Fachbeitrag handelt es sich um das aktualisierte und leicht modifizierte Fazit der Studie „Wir sind
Eltern!“ (Frohn/Herbertz-Floßdorf/Wirth 2011, siehe Literaturverzeichnis inkl. Link zum PDF-Dokument der Studie),
die im Auftrag der Stadt Köln das Ziel verfolgte, die Lebenssituation Kölner Regenbogenfamilien zu erheben.
Erschienen ist der Artikel zunächst in: Frohn, D. (2012): „Wir sind Eltern!“ Studie zur Lebenssituation Kölner
Regenbogenfamilien. In: Lenz, I./Sabisch, K./Wrzesinski, M. (Hg.): „Anders und gleich in NRW“ – Gleichstellung und
Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Forschungsstand, Tagungsdokumentation, Praxisprojekte. Essen:
Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, S. 77–83.
315
dominic frohn
Insgesamt ist die Entscheidung für das Kind in 65 % der Fälle in der gleichgeschlechtlichen Lebensphase getroffen worden, sodass davon auszugehen ist,
dass das Konzept solcher „Regenbogenfamilien“ denk- und lebbarer geworden zu sein scheint. Den größten Anteil an den vier Familienmodellen in der
Studie machen die Familien lesbischer Mütter aus, gefolgt von Queer-FamilyKonstellationen.
Es handelt sich in 89 % der Fälle um leibliche Kinder (wenigstens eines
Elternteils), die zu großen Teilen noch recht jung sind – insbesondere in den
Familien lesbischer Mütter bzw. den Queer-Families sind 81 % der Kinder
6 Jahre oder jünger. So wundert es nicht, dass ein großer Teil der Familien
(noch) relativ klein ist: 69 % haben bisher ein Kind.
Im Weiteren ist von Bedeutung, dass in diesen Familien ein ausgeprägt demokratisches Familienklima vorherrscht, was sich in einer egalitären Verantwortungsaufteilung (bei Haushalts- und Erziehungsaufgaben) der Elternteile
manifestiert. Auch hier gilt: Sämtliche Erkenntnisse in umfassender Form
sind der Studie selbst zu entnehmen (Frohn et al. 2011).
Insgesamt bleibt zu resümieren, dass diese Familien einen wichtigen Beitrag
gesellschaftlicher Verantwortung unter schlechteren Startvoraussetzungen
leisten, denn die Regenbogenfamilien sind im Vergleich zu Familien, die aus
der heterosexuellen Ehe heraus gegründet werden, deutlich benachteiligt in
verschiedenen Lebensbereichen.
Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der Studie, die Lebenssituation von
Kindern und Eltern in diesen besonderen Familienkonstellationen in Köln
genauer zu betrachten, um Empfehlungen für die Stadt abzuleiten. Die so
elaborierten Empfehlungen lassen sich freilich auf Nordrhein-Westfalen bzw.
Deutschland als Ganzes übertragen. Daher soll an dieser Stelle zum aktualisierten und leicht modifizierten Fazit der Studie „Wir sind Eltern!“ übergeleitet werden.
316
„wir sind eltern!“
Wünsche der Regenbogenfamilien und daraus abgeleitete Empfehlungen aus dem
Fazit der Studie „Wir sind Eltern!“
1. Empfehlung:
Die rechtliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe
aktiv unterstützen.
„Einige Befragte formulieren den Wunsch, dass die Tatsache ihrer Verantwortungsübernahme innerhalb der Partner- und Elternschaft mit den gleichen Rechten zu institutionalisieren ist, wie es in der Ehe in Deutschland möglich ist. Einige Schwierigkeiten,
vor denen die Befragten aktuell stehen, ließen sich auf diese Art und Weise unkompliziert beheben. Der Wunsch ist z. B., dass die gemeinsame (Fremdkind-)Adoption ermöglicht und auch der Zugang zu Samenbanken bzw. die Spendersamenbehandlung
legalisiert wird – wie es in einigen europäischen Nachbarländern bereits der Fall ist.
Daneben wünschen sich die Befragten, auf der Ebene der finanziellen Unterstützung
ebenso behandelt zu werden wie Ehepartner(innen) mit Kind(ern). Diese Wünsche
liegen zwar außerhalb des direkten Einflussbereichs der Kommune, dennoch könnte
die Stadt Köln die aus der Studie resultierende Empfehlung aktiv an die Landes- und
Bundespolitik herantragen und damit den Ergebnissen der Studie ‚Wir sind Eltern!‘
als familienfreundliche Stadt ein besonderes politisches Gewicht verleihen.“
Im Rahmen dieses Fachbeitrags gilt es, diese Empfehlung auch und gerade unter
Kindeswohlperspektive zu diskutieren, denn die Auswirkungen der rechtlichen
Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft, welche mit 67 % der
Befragten die häufigste Form des elterlichen Zusammenlebens abbildet, betreffen
final vor allem die Kinder, die in diesen Familienkonstellationen aufwachsen.
2. Empfehlung:
Zur Verbesserung der Möglichkeiten zur Familiengründung und zur Optimierung
der rechtlichen Absicherung von Kindern in Regenbogenfamilien und eingetragenen Lebenspartnerschaften beitragen.
„Einige Familien äußern den Wunsch, dass die Möglichkeiten zur Familiengründung für lesbische und schwule Paare mit Kinderwunsch erleichtert werden. Hier
317
dominic frohn
sind alle verschiedenen Realisierungsformen der Elternschaft gemeint. Unabhängig davon, ob es um die Realisierung des Kinderwunsches durch Adoption oder
Pflegschaft geht. Oder, ob die Familien sich für Mehrelternschaftsmodelle oder
Spendersamenbehandlung (im Optimalfall im Inland) mit jeweils anschließend
stattfindenden Stiefkindadoptionen entscheiden, in allen Fällen könnte die Stadt
im Rahmen ihrer Verantwortung, z. B. über die Angebote des Amtes für Kinder,
Jugend und Familie oder Aufklärung der Kölner Gynäkolog(inn)en bzw. Fertilisationszentren, mehr Unterstützung bieten. Auch der Wunsch nach Optimierung
der rechtlichen Absicherung könnte im Rahmen der Entscheidungsbefugnisse der
Stadt durchaus geschehen: Z. B. könnte die Stadt Köln – auch in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern LSVD und Rubicon – Empfehlungen in Bezug
auf einen guten Umgang mit dem Konstrukt der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften erarbeiten und als Best-Practise-Beispiel
etablieren. Darüber hinaus sind Angebote zur Unterstützung bei der Gründung
der Regenbogenfamilie zu empfehlen (siehe 9. Empfehlung).“
In diesem Fachbeitrag und der daraus resultierenden Aktualisierung der Empfehlungen sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung.
Erstens ist im Zusammenhang mit der Stiefkindadoption zu diskutieren, dass
hier ein heterosexuelle Trennungsfamilien betreffendes Konstrukt auf die
eingetragene Lebenspartnerschaft übertragen wurde. Dieses Konstrukt ist aber
ausschließlich für Konstellationen unmittelbar passend, in denen auch eine
Trennung erfolgt ist, z. B. also für Familien mit Kind(ern) aus heterosexueller
Vergangenheit. Für alle Konstellationen, in denen die Kinder in die gleichgeschlechtliche Partnerschaft hineingeboren werden, ist die Stiefkindadoption
mit ihren Regelungen ein der Lebensrealität der Familien nicht entsprechendes Hilfskonstrukt. Eine für diese Familien kongruente und darauf aufbauend
rechtlich wohl durchdachte Regelung wäre hier wünschenswert.
Zweitens ist – insbesondere die Tatsache einbeziehend, dass es sich in einem Viertel der Familien um Queer-Families handelt – zu berücksichtigen, dass im Rahmen
der Vielfalt der Familienmodelle eine völlig neue Form der Elternschaft entstanden
ist: die Mehrelternschaft. Für die rechtliche Absicherung dieser Form der elterlichen Verantwortung besteht in Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt keine Mög-
318
„wir sind eltern!“
lichkeit. Jedoch ist für einige Familien, beispielsweise für ein lesbisches Paar, das in
seiner eingetragenen Lebenspartnerschaft den Lebensmittelpunkt für seine zwei
Kinder bildet und den Vater dieser Kinder, der aus seiner Rolle als schwuler Freund
der beiden Mütter heraus auch soziale Verantwortung für seine Kinder übernimmt,
eine neue Form der juristischen Abbildung wünschenswert. Hier sind völlig neue
Konzepte zu diskutieren, die im Übrigen auch für Patchworkfamilien unabhängig
von der sexuellen Identität der Eltern von Vorteil sein könnten.
3. Empfehlung:
Die Sensibilisierung und Erweiterung der Kompetenz von
Verwaltungsmitarbeiter(inne)n im Umgang mit Regenbogenfamilien fördern.
„Wie in der Online-Befragung und in den persönlichen Interviews deutlich wurde, besteht ein großer Teil des Konflikterlebens in Auseinandersetzungen und
Diskriminierung mit Ämtern und Behörden – insbesondere jedoch dem Amt für
Kinder, Jugend und Familie. Demnach wünschen sich viele Familien, dass die
Mitarbeiter(innen) in der Verwaltung sensibilisiert und geschult werden. Weiterbildungsmaßnahmen, die sowohl auf der persönlichen Ebene eine Reflexion der
eigenen Familienbilder abdecken als auch auf der Ebene von Informationen, die
Beschäftigten mit dem notwendigen Wissen ausstatten, könnten diesem Wunsch
in angemessener Art und Weise Rechnung tragen.“
Jedwede Form von Berücksichtigung vielfältiger Lebensweisen in der Aus- und
Weiterbildung von Mitarbeiter(inne)n im öffentlichen Dienst bzw. der Verwaltung gerade auch über die Stadt Köln hinaus, ist auf der Basis der Erkenntnisse
der vorliegenden Studie sehr zu begrüßen.
4. Empfehlung:
Die Sensibilisierung und Qualifikation von Fachkräften (und Ehrenamtler(inne)n)
in der pädagogischen Arbeit fördern.
„Analog zu den Wünschen, die in der dritten Empfehlung mündeten, äußern die
Befragten Wünsche bzgl. der Mitarbeiter(innen) im pädagogischen Bereich. Gera-
319
dominic frohn
de für die Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen in städtischer Trägerschaft, die von den Regenbogenfamilien ohnehin primär in Anspruch genommen
werden, hat die Stadt Köln die Gelegenheit, die Situation sowohl für die Kinder als
auch für die Eltern positiv zu beeinflussen. Hinzu kommt die Tatsache, dass die
Kinder noch relativ jung sind und davon auszugehen ist, dass weitere Kindergenerationen hinzukommen, sodass ein zügiges Handeln in dem Themenfeld für
eine nicht unbeträchtliche Zahl an Kindern nachhaltige Veränderungen erzeugen
könnte. Ebenso wie in der dritten Empfehlung ist hier einerseits eine Sensibilisierung des pädagogischen Personals im Sinne der Selbstreflexion eigener Familienbilder und andererseits die Qualifikation der Fachkräfte bzgl. ihres Wissens um
diese neuen Familienformen indiziert. Ein fundiertes Konzept zur Weiterbildung
pädagogischen Fachpersonals würde dem Wunsch der Familien gerecht werden.“
Für diesen Fachbeitrag gilt – analog zur dritten Empfehlung – auch für diesen
Bereich, dass die Berücksichtigung vielfältiger Lebensweisen nicht nur in der
Weiterbildung, sondern insbesondere auch in der Ausbildung des pädagogischen Fachpersonals einen grundsätzlichen Baustein für die fachlichen Basiskompetenzen darstellt und demnach in den jeweiligen Curricula vorgesehen
sein sollte.
5. Empfehlung:
Die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen unterstützen.
„Ein Wunsch der Befragten ist es, dass ihre Kinder in den Betreuungseinrichtungen
und auch im Freizeitbereich keine Diskriminierung durch die Peers (Gleichaltrigengruppe) erleben. Dafür ist zum einen die Kompetenz des pädagogischen
Personals gefragt, denn nur, wenn diese eine adäquate Weiterbildung bzgl. der
benannten Themen durchlaufen haben, sind sie qualifiziert, in entsprechenden
Situationen geeignete Interventionen zu platzieren. Darüber hinaus erscheint die
Anschaffung entsprechender (Informations-)Materialien hilfreich und sinnvoll. So
würde den Kindern von vorneherein die real existente Vielfalt von Familienformen – und damit sind nicht ausschließlich Regenbogenfamilien, sondern jedwede
der modernen Familienformen gemeint – auch in den Bilderbüchern, Spielen etc.
in der jeweiligen Einrichtung begegnen.“
320
„wir sind eltern!“
Diese Empfehlung ist uneingeschränkt auf alle Einrichtungen in Deutschland zu übertragen.
6. Empfehlung:
Die Öffentlichkeit bezüglich vielfältiger Familienformen sensibilisieren.
„Neben der Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen ist den Befragten
eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit ein Anliegen. Manche Befragte haben
heftige Diskriminierungserfahrungen in der Öffentlichkeit gemacht – bis hin
zu körperlicher Gewalt. Hier wünschen sich die Befragten ein deutliches Signal
der Stadt, dass ‚Köln zu seinen Regenbogenfamilien steht […] ein klares ‚Ja’ zu
Lesben und Schwulen […] ein ‚Ja’ zu Familie’. Einige Befragte haben hier eine
öffentlichkeitswirksame Kampagne, so ähnlich wie aktuell in Berlin, vor Augen,
sodass neue Familienformen und insbesondere Regenbogenfamilien sichtbarer
werden und die Kölner Bürger(innen) dadurch ihr Bild von Familie erweitern
können.“
Auch diese Empfehlung ist uneingeschränkt auf Deutschland zu übertragen;
hier ist sicher zu berücksichtigen, dass eine öffentlichkeitswirksame Kampagne, die themenspezifisch ist, emotional anspricht und mehrere Aspekte von
Vielfalt einbezieht, besonders Erfolg versprechend ist.
7. Empfehlung:
Regenbogenfamilien wahr- und ernst nehmen, fördern und stärken.
„Ein deutliches Signal der Stadt Köln in einer Form wie in der sechsten Empfehlung formuliert, würde sicher auch dazu beitragen, dem Wunsch der Familien
nach mehr Sichtbarkeit, Wertschätzung und Förderung gerecht zu werden. Hier
wünschen sich einige Befragte, auf den Seiten der Stadt Köln – insbesondere zum
Thema Pflegschaft – explizit angesprochen zu werden. Für einige lesbische oder
schwule Paare mit Kinderwunsch wird in den Online-Angeboten der Stadt nicht
deutlich, ob sie als Eltern überhaupt in Frage kommen. Gäbe es hier eine eindeutige Formulierung auf der Homepage, würden sich auch potenzielle Pflegemütter
321
dominic frohn
bzw. -väter in lesbischen oder schwulen Lebenszusammenhängen eingeladen
fühlen und könnten so Kindern ein Zuhause bieten. Auch hier wird die Idee einer
Pflegeelternkampagne platziert, so wie sie vor einigen Jahren in Wien stattgefunden hat. Es gibt auf Seiten der Stadt einen hohen Bedarf an zuverlässigen
Pflegeeltern und laut den Befragten gibt es in der angesprochenen Zielgruppe
einige Eltern, die dafür sehr gut geeignet seien.“
Diese siebte Empfehlung kann als Kernempfehlung gelten, die die Basis
sämtlicher anderer Empfehlungen bildet. Es geht darum, Familie an sich –
unabhängig von Kriterien, die diese Familie als besonders erscheinen lassen,
sei es ein spezifischer kultureller Aspekt, eine körperliche Besonderheit
eines Kindes oder Elternteils oder die sexuelle Identität der Eltern – als
achtens- und schützenswerten Ursprung gesellschaftlicher Entwicklung zu
würdigen.
8. Empfehlung:
(Herkunfts-)Familien im Umgang mit den neuen Familienformen begleiten.
„Die Befragten berichten teilweise über starke Konflikte mit ihrer eigenen Herkunftsfamilie. Gleichzeitig sind Angehörige der Herkunftsfamilie oft hilfreiche
und notwendige Unterstützer(innen) bei der Kinderbetreuung, auf die Regenbogenfamilien wegen der Konflikte dann nicht zurückgreifen können. Daher
könnten die Produktion entsprechender (Informations-)Materialien und/oder
Angebote für Beratung von und Vernetzung unter Herkunftsfamilien sinnvoll
sein. Ggf. wären auch Angebote zur Konfliktklärung und -beilegung, ggf. Mediation zwischen den Regenbogenfamilien und ihren Herkunftsfamilien eine
hilfreiche Maßnahme.“
Auch alle diese Maßnahmen, die sich aus der achten Empfehlung ableiten
lassen, sind hilfreiche Instrumente für Nordrhein-Westfalen bzw. Deutschland als Ganzes und können als sichernd und stabilisierend für Regenbogenfamilien im Kontext ihrer Herkunftsfamilien betrachtet werden.
322
„wir sind eltern!“
9. Empfehlung:
Die auf Regenbogenfamilien spezialisierten Angebote im Beratungs-, Freizeit- und
pädagogischen Bereich sicherstellen und ausbauen.
„Viele Befragte haben spezialisierte Angebote – insbesondere im Beratungsund Freizeitbereich – in Anspruch genommen. Die Tatsache, dass es sich um
Angebote bzw. Anbieter handelte, die auf die individuellen Belange der Regenbogenfamilien spezialisiert sind, wurde von den Befragten als ein wesentliches
Kriterium zur Nutzung angesehen. Auch die Kompetenz der spezialisierten
Anbieter wird von den Befragten durchgehend positiv bewertet. Bezogen auf
die spezialisierten Angebote lässt sich also resümieren, dass die Befragten
diese ausgesprochen schätzen und sich nicht nur für die Sicherstellung dieser
Angebote aussprechen, sondern sich explizit einen Ausbau derselben wünschen.
Darüber hinaus könnten diese spezialisierten Träger dann auch verstärkt
Angebote zur Unterstützung bei der Gründung einer Regenbogenfamilie
machen, Beratung für bereits bestehende Familienkonstellationen anbieten
und wichtigen Expert(inn)en-Rat für andere Anbieter oder auch für städtische
Einrichtungen geben.“
Die neunte Empfehlung ist nicht nur uneingeschränkt auf Deutschland zu
übertragen, sie ist sogar noch expliziter zu formulieren. In Köln finden wir
mit der Ansiedelung des Regenbogenfamilienprojekts des LSVD Deutschland
e. V. und dem Rubicon Beratungszentrum, das im Rahmen seiner Beratungsschwerpunkte Regenbogenfamilien auch explizit adressiert, eine im
bundesweiten Vergleich sicher erfreuliche Struktur vor. In anderen Städten
Deutschlands oder im ländlichen Raum finden lesbische und schwule Paare
mit Kinderwunsch bzw. Regenbogenfamilien eine deutlich schwierigere
Situation vor, sodass die Empfehlung hier insofern modifiziert werden muss:
Die auf Regenbogenfamilien spezialisierten Angebote im Beratungs-, Freizeit- und pädagogischen Bereich aufbauen, sicherstellen und bei weiterem
Bedarf ggf. ausbauen.
323
dominic frohn
10. Empfehlung:
Studien zum Thema Regenbogenfamilien und ihren Kinder forcieren.
„Nicht zuletzt wurde durch die Befragten – vor allem im letzten Freitextfeld der
Online-Befragung, in dem sie die Möglichkeit hatten, Anregungen zu geben oder
dem Forscher(innen)-Team noch etwas mitzuteilen – deutlich darauf hingewiesen, dass sie die Initiative zu einer solchen Studie ausgesprochen begrüßen.
‚Vielen Dank für diese Studie. Ich halte das für sehr wichtig.’ Einige Befragte
äußern, dass sie sich weitere Forschung in dem Feld wünschen und es noch einige
Themen gibt, die mit dieser Befragung noch nicht abgedeckt sind: ‚Wir finden
es gut, dass sich mal einer dafür interessiert und hoffen, dass auf Grund dieser
Studie auch Konsequenzen folgen’. ‚Wir freuen uns, dass es solch eine Studie gibt
und erhoffen uns – auch durch unsere Teilnahme als Regenbogenfamilie – dass
unsere Lebensform als komplett selbstverständlich angesehen wird...! Danke.’
Daher bleibt festzuhalten, dass Forschung in diesem Themenfeld nicht nur für
die Befragten ein Zeichen von Wertschätzung ihrer Person darstellt, sondern
auch unter wissenschaftlicher und politischer Perspektive eines der zentralen
Instrumente bildet, um die Lebenssituation von Regenbogenfamilien und ihren
Kindern nachhaltig zu verbessern.“
Die zehnte Empfehlung ist sowohl auf andere Kommunen zu übertragen, als
auch bundesweit weiterzuentwickeln. Bezogen auf andere Kommunen kann
die Kölner Studie als Beispiel genutzt werden, um in ähnlicher Art und Weise
die Lebenssituation der dortigen Regenbogenfamilien zu erheben und in der
Umsetzung der Erkenntnisse bei Bedarf zu einer Verbesserung beizutragen.
Bundesweit erscheint darüber hinaus weiterer Forschungsbedarf – insbesondere auch, was die Lebenssituation der Kinder im schulischen Kontext und
grundsätzlich auch die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder angeht.
Abschließend soll der Fokus – wie im Fazit der Studie selbst – noch darauf
gerichtet werden, welche besonderen Ressourcen denn diese neuen Familienkonstellationen für die Kinder selbst und ggf. darüber hinausgehend für die
gesellschaftliche Entwicklung bieten. Für ein tieferes Verständnis der Genese
dieser Betrachtungsweise sei noch einmal auf die Lektüre der gesamten Studie
verwiesen (Frohn et al. 2011).
324
„wir sind eltern!“
Ressourcenperspektive: Neben den Wünschen, die die Regenbogenfamilien an
ihre Stadt haben – was haben diese Familien zu bieten?
„Bisher war der Fokus darauf gerichtet, welche Wünsche an die Stadt Köln bestehen, damit die Besonderheit(en) der befragten Familien die notwendige Berücksichtigung finden. Die umgekehrte Perspektive erscheint jedoch mindestens
genauso wichtig und sinnvoll: Inwiefern bilden die Besonderheiten dieser Familienkonstellationen bedeutsame Ressourcen für die Stadt Köln bzw. generell für die
Familienpolitik in Deutschland? Es ist davon auszugehen, dass in wenigen deutschen Familien die Entscheidung für Kinder so bewusst getroffen und planvoll
durchgeführt wird. Ein ausgeprägtes Engagement im Zuge der Realisierung der
Elternschaft einerseits und ein hoher Grad an Verantwortung gegenüber dem/der
Partner(in) und dem/den Kind(ern) andererseits lassen sich bei den Eltern in Regenbogenfamilien deutlich erkennen. In der gleichgeschlechtlichen Partner- und
Elternschaft liegt die Chance einer gleichberechtigten Verantwortungsaufteilung
bzgl. der notwendigen Haushalts- und Erziehungsaufgaben. Diese Chance wird
von einem großen Teil der Befragten deutlich genutzt. Dadurch werden ein demokratisches Familienklima sowie eine stärker egalitäre Verantwortungsaufteilung
möglich. Diese Tatsache und generell das (Mit-)Erleben, dass es Konstellationen
gibt, in denen zwei Mütter bzw. zwei Väter in elterlicher Verantwortung sind, trägt
für heterosexuelle Eltern zur Reflexion von Geschlechterrollen und deren Zuschreibungen bei. Bezogen auf Geschlechterrollen ist auch für die Kinder in diesen
Konstellationen ein breiterer Fokus möglich, sodass sie selbst die Gelegenheit
erhalten, ein für sich persönlich stimmiges genderbezogenes Handlungsrepertoire
zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Kinder in ihrer Sozialisation aus vielfältigen
Rollenvorbildern auswählen können. Hinsichtlich der zukünftigen Bildungsbiografie ist davon auszugehen, dass diese Familien den Kindern besonders günstige
Startvoraussetzungen bieten.
Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Regenbogenfamilien in einigen Aspekten
sicher als ein Best-Practice-Beispiel für moderne Familienformen gelten können.“
325
dominic frohn
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Willhoite, Michael (1994): Papas Freund. Köln: Jackwerth. [3–6 Jahre].
Zehender, Dirk (2008): So lebe ich ... und wie lebst Du? Hanstedt: Mardi.
[ab 4 Jahre].
Zehender, Dirk (2011): Inga und der verschwundene Wurm. Hanstedt: Mardi. [ab 4 Jahre].
328
R
sabina schutter
Risikofaktor Alleinerziehend?
Einelternfamilien zwischen Stigmatisierung
und Bewunderung
Die Begriffe Alleinerziehend und Risiko scheinen so eng miteinander verknüpft,
dass die Familienform mitunter undifferenziert als defizitär betrachtet wird.
Alleinerziehende verfügen über ein erhöhtes Armutsrisiko, über geringere Erwerbsteilhabe, und Kinder von Alleinerziehenden leben überdurchschnittlich
lange in Armutslagen. Der Anteil der Alleinerziehenden-Haushalte wächst und
damit auch der Anteil der Kinder, deren Eltern sich trennen oder nie zusammengelebt haben. Alleinerziehen wird damit zur Normalität und entwickelt
sich widersprüchlich: Alleinerziehen ist normal und risikobehaftet? Der folgende Beitrag geht dieser Frage empirisch auf den Grund. Er ist in drei Abschnitte
unterteilt: Abschnitt eins nähert sich der Frage, was ein Risiko ist und was wir
mit dem Begriff verknüpfen. Abschnitt zwei widmet sich den empirisch beobachtbaren Lebensbedingungen von Familien mit einem Elternteil im Haushalt:
den Alleinerziehenden1. In Abschnitt drei wird der Begriff des Risikos mit dem
der Alleinerziehenden verknüpft und die Frage untersucht, ob die Lebensform
alleinerziehend ein Risikofaktor ist.
I Vom Risiko zum Vorurteil
Ein Risiko ist negativ konnotiert und wird zunächst damit verknüpft, dass ein
unerwünschtes Ereignis eintrifft. Insofern ist der Begriff Risikofaktor ebenso
negativ belegt. Zunächst ist ein Risiko aber lediglich die Auftretenswahrschein-
1 Abschnitt zwei ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der auf der Homepage des Deutschen Jugendinstituts
erschienen ist: Schutter, Sabina/Pinhard, Inga (2012): DJI Online August 2012. AID:A-Befunde zur Lebenssituation
alleinerziehender Mütter. Auf einen Blick. http://www.dji.de/index.php?id=42874 (Aufruf: 4.12.2014).
331
sabina schutter
lichkeit eines Ereignisses, also liegt z. B. das Risiko, dass man am Geburtstag
ein Jahr älter wird, bei etwa 100 Prozent. Wenn allerdings alleinerziehend und
Risiko gemeinsam genannt werden, fallen relativ schnell Begriffe wie Überforderung, Armut, prekäre Lebensbedingungen. Wie sieht die Empirie zu Alleinerziehenden aus?
Der Anteil der Alleinerziehenden ist im Vergleich zu anderen Familienformen
anwachsend, was vor allem an seiner zahlenmäßigen Stabilität liegt. Während
der Anteil der verheirateten Paarfamilien rückläufig ist, gibt es relativ durchgängig etwa 1,6 Millionen Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Ein
weiterer Teil der Zunahmen findet sich bei nicht miteinander verheirateten
Eltern mit gemeinsamen Kindern oder bei Patchworkfamilien. Dieser zunächst
wenig aufregende Befund ist dann relevant, wenn es sich bei Alleinerziehenden tatsächlich um eine Lebensform handelt, die unter schwierigen Bedingungen lebt. Bringt die Familienform „alleinerziehend“ Bedingungen mit sich, die
sie zu einer risikobehafteten Lebensform machen? Und was bedeutet das für
die Kinder in diesen Familien?
Im Folgenden wird auf Daten aus dem DJI-Survey „AID:A“ Aufwachsen in
Deutschland: Alltagswelten zurückgegriffen, um ein paar Bedingungen darzustellen. Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren, soweit nicht anders dargestellt, auf den Daten aus dem DJI-Survey AID:A, „Aufwachsen in Deutschland:
Alltagswelten“ (2009). Die Auswertung bezieht sich auf 18- bis 55-jährige Frauen mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren im eigenen Haushalt. Dabei
wird nicht unterschieden zwischen leiblichen Kindern, Adoptiv-, Stief- oder
Pflegekindern. Es wurden zwei Gruppen gebildet: zum einen alleinerziehende Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung keinen Partner haben oder mit
einem Partner liiert sind, der nicht im gleichen Haushalt lebt, zum anderen
Frauen mit Partner im eigenen Haushalt. Zentrale Fragestellungen bezogen
sich auf Unterschiede im Erwerbsstatus: Als erwerbstätig werden alle Frauen
gefasst, die mehr als 15 Stunden in der Woche arbeiten und die als Haupttätigkeit „erwerbstätig“ angegeben haben. Als nicht erwerbstätig gelten diejenigen
Frauen, die nach eigener Angabe unter 15 Stunden in der Woche arbeiten.
Gemäß der Definition von „Arbeitsfähigkeit“ im Rahmen des SGB II gilt als
arbeitsfähig, wer mindestens drei Stunden pro Tag erwerbstätig sein kann. In
332
risikofaktor alleinerziehend?
Anlehnung an diese Definition geht diese Studie davon aus, dass unter einer
wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden keine eigenständige Existenzsicherung möglich ist. An einigen Stellen wird weiter unterschieden zwischen Vollerwerbstätigkeit, die auch eine reduzierte Vollzeit mit 33 Stunden einbezieht,
und Arbeit in Teilzeit bis zu einem Stundenumfang von 33 Stunden in der
Woche. Die Stichprobe der befragten alleinerziehenden Frauen liegt bei N=451,
davon sind 39 Prozent erwerbstätig und 61 Prozent gehen keiner Erwerbstätigkeit nach. Von den 1.644 Befragten mit Partner im Haushalt üben 46,4 Prozent
der Frauen eine Erwerbstätigkeit aus; 53,6 Prozent sind nicht erwerbstätig. Im
Vergleich zur Gesamtbevölkerung weisen die befragten Personen im AID:ASurvey ein überdurchschnittliches Bildungsniveau und dadurch auch erhöhte
finanzielle Ressourcen auf, dies muss mit Blick auf die vorliegenden Ergebnisse berücksichtigt werden. Im Mikrozensus liegt die Quote der erwerbstätigen
Frauen sowohl bei den Alleinerziehenden mit 60 Prozent wie auch bei den
Frauen in Paarfamilien mit 58 Prozent (Statistisches Bundesamt 2010, S. 17)
deutlich höher als im AID:A-Survey. Diese Diskrepanz ergibt sich aus den
Kriterien für die Stichprobe. Erwerbstätigkeit wird mit einer Wochenarbeitszeit ab 15 Stunden relativ eng gefasst, während der Mikrozensus sich an der
Definition der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) orientiert, nach der
erwerbstätig ist, wer mindestens eine Stunde wöchentlich entgeltlich oder
selbstständig arbeitet.
II Empirische Befunde zu Alleinerziehenden
Grundinformationen
Alleinerziehend zu sein, ist eine familiale Lebensform, die aus der gesellschaftlichen Realität nicht mehr wegzudenken ist. In jeder fünften Familie
in Deutschland wachsen laut Mikrozensus 2010 Kinder entweder nur mit der
Mutter oder nur mit dem Vater im Haushalt auf. Von den 8,2 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern sind 19 Prozent Einelternfamilien, zu 72 Prozent sind es verheiratete Eltern mit Kindern, 9 Prozent leben in nicht-ehelichen
Lebensgemeinschaften (Statistisches Bundesamt 2010, S. 7). Im Jahr 1996 lag
der Anteil von Familien mit alleinerziehenden Eltern noch bei 14 Prozent.
333
sabina schutter
Der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung weist nach, dass die
Existenzsicherung insbesondere für alleinerziehende Mütter nicht nur
Zwang, sondern auch Bedürfnis ist (BMFSFJ 2011a, S. 118). Gewünschte und
tatsächliche Arbeitszeiten von alleinerziehenden Müttern, aber auch von
Vätern, differieren erheblich (BMFSFJ 2011, S. 179f.). Alleinerziehende Mütter
arbeiten, auch mit jüngeren Kindern, häufig in Vollzeit (BMFSFJ 2011a,
S. 118). Dennoch sind vor allem junge Alleinerziehende überproportional
häufig auf staatliche Unterstützung angewiesen und leben oft in prekären
Verhältnissen (BMFSFJ 2008, S. 25f.). Soziale Herkunft, Bildungshintergrund,
Alter, Gesundheit, regionale Herkunft, Religion und die Präsenz von Unterstützungsnetzwerken haben dabei großen Einfluss auf die individuellen
Gestaltungspotenziale. Risikofaktoren sind insbesondere Erwerbslosigkeit,
ein niedriger Bildungsstand und ein Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens (Autorengruppe Bildungsberichterstattung
2012).
90 Prozent aller Alleinerziehenden sind Frauen (Statistisches Bundesamt
2010, S. 14). Das Allein-mit-Kindern-Leben folgt zumeist auf Trennung oder
Scheidung vom Lebenspartner, nur in geringem Maße ist Verwitwung die
Ursache (Meier-Gräwe/Kahle 2009, S. 91). Alleinerziehen ist, wie die Studie
„Lebenswelten und -wirklichkeiten von Alleinerziehenden“ zeigt, für viele
Mütter kein Selbstkonzept, sondern ein Prozess (BMFSFJ 2011b). Der Wunsch
nach einer neuen Partnerschaft und nach einem Alltag, der gemeinschaftlich
mit einem Partner oder einer Partnerin organisiert wird, ist besonders bei
jüngeren Frauen groß (BMFSFJ 2011, S. 7). Der Begriff „alleinerziehend“ markiert einen gesellschaftlich-strukturellen Status und kann durchaus stigmatisierend wirken. In der Diskussion wird Alleinerziehen häufig assoziiert mit
Vorstellungen von Versagen und Überforderung. Zugleich werden alleinerziehende Mütter allerdings zum Teil auch zu wahren Heldinnen der Spätmoderne stilisiert (Dürr/Voigt 2006). Eines ist klar: Eine dürftige und teilweise
ausschnitthafte Datenlage emotionalisiert die „Mutter ohne Mann“ (Herbold
2006), lebt sie doch ein Modell, das dem Ideal der Kernfamilie mit einem
verheirateten Elternpaar nicht entspricht.
334
risikofaktor alleinerziehend?
Auch erwerbstätige Alleinerziehende haben weniger Einkommen zur Verfügung
als Mütter mit Partner
Alleinerziehende sind überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen. Dabei
wird Erwerbstätigkeit häufig als derjenige Faktor beschrieben, der vor Armut
schützt. Die vorliegenden Auswertungen belegen: Die erwerbstätigen Alleinerziehenden haben zu höheren Anteilen ein größeres Einkommen als Nichterwerbstätige. Dennoch findet sich der höchste Anteil erwerbstätiger Alleinerziehender in Einkommensbereichen unter 100 Prozent des Medianeinkommens
2008 (vgl. Abb. 1).
335
sabina schutter
Abb. 1: Einkommenshöhe der befragten Mütter orientiert am
Medianeinkommen (in Prozent)2
200 % oder
mehr
3,0 %
5,5 %
1,0 %
0,8 %
11,4 %
19,0 %
unter 200 %
5,5 %
6,6 %
17,7 %
28,0 %
unter 130 %
3,6 %
20,5 %
39,1 %
33,6 %
unter 100 %
23,6 %
39,0 %
11,9 %
7,5 %
unter 70 %
12,0 %
16,7 %
7,3 %
unter 60 %
2,6 %
17,8 %
6,9 %
6,8 %
unter 50 %
2,3 %
16,6 %
8,1 %
unter 40 %
2,7 %
1,5 %
19,9 %
1,5 %
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.910 (gewichtet, eigene Berechnungen)
2 Das Medianeinkommen beschreibt die Einkommenshöhe, bei der genau 50 Prozent der Bevölkerung darüber und
50 Prozent darunter liegen. Das Medianeinkommen 2008 lag bei 1.542 Euro pro Monat. Als armutsgefährdet gilt,
wer weniger als 60 Prozent (952 Euro) des Medianeinkommens zur Verfügung hat (vgl. Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008).
336
risikofaktor alleinerziehend?
Der höchste Anteil der Mütter in Paarbeziehungen, die selbst nicht erwerbstätig sind, verfügt über ein Haushaltseinkommen von mehr als 100 Prozent des
Medianeinkommens und steht damit wesentlich besser da als erwerbstätige
Alleinerziehende. Hier bestätigt sich ein mehrfach beschriebener Befund, der
auf eine gesellschaftlich tradierte geschlechtliche Arbeitsteilung in Paarfamilien hindeutet. Besonders auffällig ist die Einkommensverteilung bei nichterwerbstätigen Alleinerziehenden, von denen über die Hälfte weniger als 60
Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat und damit laut Armutsund Reichtumsbericht 2008 armutsgefährdet sind. Im Zusammenspiel mit
dem vergleichsweise hohen Bildungsniveau im vorliegenden Sample (fast zwei
Drittel der nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden haben die mittlere Reife
oder das Abitur) wird der bereits hinlänglich bekannte Befund bestätigt.
Alleinerziehende haben seltener einen Hochschulabschluss
Die Verteilung der Bildungsabschlüsse in AID:A deckt sich mit den allgemeinen
Befunden: Alleinerziehende verfügen zu etwas geringeren Anteilen über hohe
Bildungsabschlüsse als Frauen in Paarhaushalten. Dies zeigt sich vor allem am
Anteil Alleinerziehender, die einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss
haben (vgl. Abb. 2). Etwa ein Fünftel der erwerbstätigen Alleinerziehenden und
mehr als ein Drittel der nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden verfügen über
einen solchen Abschluss. Ebenso qualifiziert ist etwa die Hälfte der Mütter in
Paarhaushalten: 45,7 Prozent (nicht erwerbstätig) und 53,6 Prozent (erwerbstätig).
Dabei ist zu bedenken, dass Alleinerziehende bei der Geburt des ersten
Kindes nach den AID:A-Daten insgesamt jünger sind als die Frauen in Paarfamilien. Fast ein Drittel der Stichprobe hat das erste Kind in einem Alter
zwischen 17 und 25 Jahren bekommen, während der Anteil bei den Frauen
mit Partner in dieser Altersgruppe nur bei 22 Prozent liegt. Von letzteren hat
über die Hälfte das erste Kind im Alter zwischen 26 und 32 Jahren bekommen.
Die Geburt des ersten Kindes in jüngeren Jahren beeinflusst meist auch die
weitere Bildungs- und Berufsbiografie. Ganz konkret: Haben die jungen Mütter, die über mittlere Reife und Abitur verfügen, eine Chance, ihre Ausbildung
oder ein Studium zu beenden?
337
sabina schutter
Dreiviertel der Kinder von Alleinerziehenden wachsen ohne Geschwister auf
Im Schnitt haben die Alleinerziehenden der AID:A-Stichprobe zum Zeitpunkt
der Befragung 1,3 und die Frauen in Paarfamilien 1,6 Kinder unter 15 Jahren.
Es zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Eineltern- und Paarhaushalten: Während drei Viertel der Kinder von Alleinerziehenden als Einzelkind
aufwachsen, ist es bei den mit Partner lebenden Frauen fast die Hälfte. Nur
jede fünfte Alleinerziehende hat zwei Kinder, während der Anteil der Familien mit beiden Elternteilen und zwei Kindern doppelt so hoch ist (42 Prozent).
Abb. 2
Alleinerziehend
mit Partner im Haushalt
76 %
49 %
42 %
21 %
9 %
3 %
1
2
3 und mehr
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.910 (gewichtet, eigene Berechnungen)
338
risikofaktor alleinerziehend?
Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich mit Blick auf die Familien mit drei und
mehr Kindern, die mit drei und neun Prozent allerdings in beiden Gruppen
sehr viel seltener sind. Im Vergleich zu den Daten des Mikrozensus finden
sich im vorliegenden Sample somit deutlich mehr Alleinerziehende, die nur
ein Kind haben, sowie deutlich weniger Alleinerziehende, die drei und mehr
Kinder haben. Im Mikrozensus leben 25,2 Prozent mit einem Kind und 11,7
Prozent der Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern zusammen. Bereits
dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Alleinerziehenden im vorliegenden Sample vermutlich finanziell besser gestellt sind und zudem womöglich mit einem Kind eher und früher in das Erwerbsleben einsteigen können.
Gut die Hälfte der alleinerziehenden Erwerbstätigen ist überwiegend zufrieden
mit der Zeitverwendung für den Beruf
Mütter in Paarhaushalten sind überwiegend zufrieden mit der Zeit, die sie für
Beruf und Ausbildung aufwenden. Die Mehrheit der erwerbstätigen Frauen
in Paarhaushalten empfindet den zeitlichen Rahmen ihrer Berufstätigkeit als
gerade richtig (70 Prozent). Jede Fünfte gibt an, eher zu viel zu arbeiten, nur
ein sehr kleiner Teil würde gern mehr arbeiten.
Ein anderer Befund ergibt sich bei den erwerbstätigen Alleinerziehenden.
Zwar gibt über die Hälfte an, ein genau richtiges Arbeitszeitvolumen zu haben; allerdings sagt immerhin auch fast ein Drittel, die Arbeitszeit sei zu lang,
während knapp 20 Prozent gern mehr arbeiten würden. Im Schnitt fühlen
sich Alleinerziehende durch ihre Berufstätigkeit zeitlich stärker belastet als
erwerbstätige Frauen in Paarhaushalten. Ein Grund mag darin liegen, dass Alleinerziehende auch mit kleinen Kindern sehr viel häufiger in Vollzeit arbeiten (BMFSFJ 2012, S. 51f.). Zudem sind sie stärker auf außerfamiliale Unterstützungsleistungen z. B. im Hinblick auf die Kinderbetreuung angewiesen. Der
Wunsch nach einer Erhöhung der Arbeitszeit resultiert vermutlich aus der
Notwendigkeit, allein für den Lebensunterhalt der Familie sorgen zu müssen.
Die Mehrzahl der erwerbstätigen Mütter empfindet ihren Beruf nur selten
als Belastung. Diese positive Belegung der Erwerbstätigkeit in AID:A kann als
339
sabina schutter
Bestätigung des von Arlie Russell Hochschild beschriebenen Phänomens, den
Beruf als Zuhause und das Zuhause als Arbeit zu erleben (Hochschild 2006),
gelesen werden. Hochschilds Studie zeigt, dass Mütter in der Kontinuität ihrer Arbeit einen Entfaltungsraum finden, eine Zeit, die sie selbstbestimmt gestalten können, während Heim und Familie eine massive Verantwortung und
Arbeit bedeuten. Und doch gibt es bei der eher positiven Bewertung des Belastungspotenzials Einschränkungen: Erwerbstätige Alleinerziehende geben am
häufigsten an, sehr oft oder oft durch ihren Beruf belastet zu sein. Mit einem
Anteil von 40 Prozent liegen sie dabei aber nur knapp vor den erwerbstätigen
Müttern mit Partner, die diese Angabe zu 38 Prozent machen. Unterschiede
in der Belastung zeigen sich hier weniger zwischen Alleinerziehenden und
Müttern in Paarfamilien als vielmehr zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Müttern. Dass alleinerziehende Mütter ohne Erwerbstätigkeit
sich überhaupt zu fast einem Viertel häufig durch den Beruf belastet fühlen,
könnte bei jüngeren Müttern auf Ausbildung und Studium bezogen sein und
hängt sicher auch mit der vorliegend gewählten engeren Erwerbsdefinition
(erwerbstätig ist, wer mindestens 15 Stunden pro Woche arbeitet) zusammen.
Auch diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit eigener Berufstätigkeit
sichern können, empfinden eine Belastung durch den Beruf. Doch möglicherweise liegt die Belastung ja gerade darin, die Familie durch die auf wenige
Stunden reduzierte Erwerbsarbeit nicht ernähren zu können.
Über ein Drittel der erwerbstätigen Alleinerziehenden hätte gern mehr Zeit für
die Kinder
Die zeitlichen Ressourcen, die alleinerziehende erwerbstätige Mütter auf
Familie und Beruf verwenden können, sind vermutlich mangels familiärer
Unterstützung stark begrenzt. Dies zeigen auch die älteren Zeitbudgetstudien
des Statistischen Bundesamts (1991/92 und 2001/02) sowie der jüngste Familienbericht (BMFSFJ 2012).
340
risikofaktor alleinerziehend?
Abb. 3: Zufriedenheit mit der für Kind/Kinder zur Verfügung stehenden Zeit
Mit Partner,
7,8
nicht erwerbstätig
81,5
Mit Partner,
1,8
erwerbstätig
68,7
Alleinerziehend,
11,8
nicht erwerbstätig
Alleinerziehend,
2,5
erwerbstätig
29,3
72,7
63,4
eher zu viel
10,6
15,5
34,2
gerade richtig
zu wenig
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.875 (gewichtet, eigene Berechnungen)
Gut ein Drittel der Alleinerziehenden berichtet, dass sie zu wenig Zeit für ihre
Kinder haben. Mit knapp 30 Prozent liegen erwerbstätige Mütter mit Partner
direkt dahinter. Bei den nicht-erwerbstätigen Müttern haben rund 12 Prozent
der Alleinerziehenden eher zu viel Zeit für ihre Kinder. Diese Unterschiede in
der Einschätzung zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Müttern deuten auf ein zugrunde liegendes normatives Leitbild der traditionellen
Mutterrolle hin. Während die Mehrheit der nicht-erwerbstätigen Mütter
mit Partner (über 80 Prozent) angibt, die Zeit, die sie für ihre Kinder hat, sei
genau richtig, trifft dies auf alle anderen Gruppen deutlich weniger zu. Diese
nicht-erwerbstätigen Mütter mit Partner, die vermutlich die meiste Zeit zur
Verfügung haben, um sie mit ihren Kindern zu verbringen, und damit dem
traditionellen Mutterbild am klarsten entsprechen, sind auch am zufriedensten mit ihrer Zeitverwendung.
341
sabina schutter
Die höhere Unzufriedenheit insbesondere bei erwerbstätigen Alleinerziehenden spiegelt sich zum Teil auch in der unterschiedlichen Zeitverwendung
wider. Fast die Hälfte der erwerbstätigen Alleinerziehenden gibt an, sich unter
der Woche jeden Tag ein bis zwei Stunden aktiv mit den Kindern beschäftigen
zu können (vgl. Abb. 4). Der Anteil der erwerbstätigen Mütter in Paarfamilien,
die ebenso viel Zeit mit dem Kind verbringen, ist etwas niedriger und liegt
bei 41,1 Prozent. Demgegenüber geben mehr erwerbstätige Mütter mit Partner
(15,7 Prozent) ebenso wie erwerbstätige Alleinerziehende (17,6 Prozent) an,
dass sie sich täglich nur etwa eine halbe bis eine Stunde mit ihren Kindern
beschäftigen.
Abb. 4: Wie viele Stunden beschäftigen sie sich unter der Woche pro Tag
aktiv mit ihrem Kind/ihren Kindern?
Alleinerziehend
4,3
erwerbstätig
Alleinerziehend
nicht erwerbstätig
32
28,1
Mit Partner
4,9
erwerbstätig
Mit Partner
nicht erwerbstätig
26,9
46,1
17,6
46,7
37,9
37,6
41,1
41,9
7,6
15,7
24
6,8
mehr als fünf Stunden
3 – 5 Stunden
1 – 2 Stunden
circa eine halbe bis eine Stunde
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.868 (gewichtet,
eigene Berechnungen)
342
risikofaktor alleinerziehend?
Täglich drei bis fünf Stunden Zeit mit den Kindern verbringt etwa ein Drittel
der erwerbstätigen Alleinerziehenden gegenüber 37,9 Prozent der erwerbstätigen Frauen mit Partner. Diese Ergebnisse zeichnen ein anderes Bild als die
Zeitbudgetstudie (2001/02), deren Zahlen keine signifikanten Unterschiede
zwischen Alleinerziehenden und Paarhaushalten im durchschnittlichen
täglichen Zeitaufwand für die Kinderbetreuung, der damals bei etwa 1,5
Stunden lag, nachwies (BMFSFJ 2011a, S. 188).
Die größten Unterschiede in der Zeitverwendung finden sich daher wieder zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Müttern, wobei
insgesamt der überwiegende Anteil aller Mütter angibt, eine bis maximal
fünf Stunden pro Tag mit ihren Kindern zu verbringen. Dabei ist zu bedenken, dass die Gestaltung der gemeinsamen Zeit auch wesentlich von den
Wünschen, Bedürfnissen und Verpflichtungen der Kinder beeinflusst wird
und je nach deren Alter stark variiert. Die relativ große Gruppe der erwerbstätigen Alleinerziehenden, die sich nur gut eine halbe Stunde pro Tag mit
ihren Kindern beschäftigt (17,6 Prozent), mag den mit rund 35 Prozent recht
hohen Anteil derer erklären, die angeben, dass sie eher zu wenig Zeit für ihre
Kinder haben (vgl. Abb. 3).
Das Gros der Mütter mit und ohne Partner fühlt sich durch die Kinderbetreuung
selten belastet
Interessanterweise unterscheidet sich das Gefühl, durch die Kinderbetreuung
belastet zu sein, zwischen den verschiedenen Gruppen nicht signifikant (vgl.
Abb. 5).
343
sabina schutter
Abb. 5: Empfundene Belastung durch die Betreuung und Erziehung der Kinder
Alleinerziehend
4,2
erwerbstätig
15,4
60,4
19,3
Alleinerziehend
3,8
nicht erwerbstätig
19,8
49,6
26,8
Mit Partner
2,1 16,5
erwerbstätig
63,3
18
Mit Partner
2,3 20,7
nicht erwerbstätig
59,8
17
sehr häufig
selten
häufig
nie
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.870 (gewichtet,
eigene Berechnungen)
Am stärksten belastet fühlt sich mit gut 20 Prozent ein Teil der nicht berufstätigen Mütter, die mit Partner und Kind im Haushalt leben. Insgesamt fällt
auf, dass die nicht-erwerbstätigen Mütter zu höheren Anteilen angeben, sehr
häufig oder häufig durch die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder belastet zu
sein. Die erwerbstätigen Mütter in Paarbeziehungen und die nicht-berufstätigen alleinerziehenden Mütter, die sich aktiv die meiste Zeit mit ihren Kindern
beschäftigen, sind mit der Zeitspanne, die sie mit ihren Kindern verbringen,
am zufriedensten, dicht gefolgt von den nicht-erwerbstätigen Müttern in
Paarbeziehungen.
344
risikofaktor alleinerziehend?
Die Eigenzeit kommt insbesondere bei den erwerbstätigen Frauen zu kurz
Die persönliche Freizeit kommt für die meisten Mütter zu kurz: Nur rund zwei
Prozent aller befragten Mütter gelingt es, sich täglich oder mehrmals wöchentlich Zeit für sich zu nehmen.
Wieder sind es überwiegend die erwerbstätigen Mütter, die über einen
akuten Mangel an Zeit für sich selbst ohne Familie und Partner berichten.
Gut 75 Prozent der berufstätigen Mütter mit Partner sagen, sie hätten zu
wenig Zeit für sich. Bei den erwerbstätigen Alleinerziehenden sind es etwa
69 Prozent. Umgekehrt heißt das: Sie sind etwas zufriedener (30,4 Prozent) als Mütter in Paarbeziehungen (24,2 Prozent) mit ihrer individuell zu
gestaltenden freien Zeit. Dieser Befund legt nahe, dass das Zusammenleben
mit einem Partner nicht unbedingt zu Entlastungen führt. Die Daten lassen
den Schluss zu, dass Mütter mit Partner im eigenen Haushalt eher unzufriedener mit dem Zeitkontingent sind, das ihnen für selbstbestimmt gestaltete „eigene“ Zeit zur Verfügung steht. So scheint die Paarzeit zu Lasten der
Eigenzeit zu gehen.
Gleichwohl sind es die Mütter mit Partner im eigenen Haushalt, von denen
zwar über die Hälfte selten (55,9 Prozent), aber immerhin gut 42 Prozent zumindest ein- bis zweimal im Monat allein oder mit Freundinnen und Freunden
etwas unternimmt bzw. unternehmen. Bei den Alleinerziehenden liegen die
Zahlen im Schnitt etwa vier Prozent niedriger. Zumindest im Hinblick auf
Treffen mit Freundinnen und Freunden scheinen Mütter in Paarbeziehungen
weniger Anlass zur Unzufriedenheit zu haben.
Trotz sehr unterschiedlicher zeitlicher Ressourcen sind auch in der Alltagsgestaltung weniger Unterschiede zwischen alleinerziehenden Müttern und Müttern in Partnerschaften erkennbar als vielmehr zwischen erwerbstätigen und
nicht-erwerbstätigen Müttern. Woran dies liegt, wer im Alltag Unterstützung
leistet, und welche Rolle ein oder kein Partner im eigenen Haushalt einnimmt,
wird im Folgenden näher beleuchtet.
345
sabina schutter
Alleinerziehende sind gut mit Freunden vernetzt
Private Unterstützung, Rat und Hilfe werden als wesentliche Faktoren für
die Gewinnung von Zeitressourcen und die Zufriedenheit Alleinerziehender
benannt. Wenn es die Möglichkeit gibt, beispielsweise bei kurzfristigen Engpässen in der Kinderbetreuung Freundeskreis oder Nachbarinnen und Nachbarn
um Hilfe zu bitten, ist mehr Flexibilität möglich und auch die Potenziale, sich
zu erholen und Eigenzeit zur Verfügung zu haben, wachsen an. Alleinerziehende sind auf ein stabiles soziales Netzwerk angewiesen, nicht nur, um Hilfe
in Anspruch nehmen zu können, wenn es notwendig ist, sondern auch, um
Isolation zu vermeiden. Einige Untersuchungen stellen fest, dass insbesondere
erwerbslose Alleinerziehende mit Minderwertigkeitsgefühlen und sozialer
Isolation zu kämpfen haben (Rinken 2010).
Andere Befunde (BMFSFJ 2011, S. 8) verweisen dagegen auf einen neuen Typus
von Einelternfamilien, in denen die Mütter optimistisch in die Zukunft blicken
und über ein hohes Selbstbewusstsein verfügen. Diese befragten Mütter gaben
in Gruppendiskussionen an, häufig über gute bis sehr gute soziale Netzwerke
zu verfügen oder in einer neuen Partnerschaft zu leben, jedoch ohne gemeinsamen Haushalt.
Die AID:A-Analysen zeigen, dass sowohl Alleinerziehende als auch Mütter
in Partnerschaften offenbar über ausreichend Gelegenheiten verfügen, sich
Hilfe zu suchen, sei dies bei Nachbarn, Verwandten oder Freunden. Über
90 Prozent der Mütter aller befragten Gruppen haben geantwortet, dass
es jemanden gibt, den sie um Hilfe bitten können. Insgesamt finden sich
unterschiedliche Typen der Unterstützung. Es gibt Alleinerziehende, die eher
auf die Hilfe der eigenen Eltern, insbesondere der Mutter, zurückgreifen oder
diejenigen, die ein dichtes Netz von Freunden haben. Der Verteilung dieser
Inanspruchnahme gehen die folgenden Daten auf den Grund. Im Rahmen des
AID:A-Surveys wurden die Erwachsenen gefragt: „Wenn Sie mal Hilfe brauchen: Gibt es da Personen außerhalb Ihres Haushaltes, an die Sie sich wenden
können?“ (vgl. Abb. 6).
346
risikofaktor alleinerziehend?
Abb. 6: Inanspruchnahme von Hilfe bei Freunden, Verwandten oder Nachbarn (in Prozent)
Mit Partner
nicht erwerbstätig
78 %
48 %
Mit Partner
erwerbstätig
79 %
56 %
26 %
84 %
37 %
37 %
Alleinerziehend
nicht erwerbstätig
Alleinerziehend
erwerbstätig
28 %
Freunde
Nachbarn
86 %
63 %
82 %
Verwandte
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=1.955 (gewichtet, eigene Berechnungen)
Nicht-erwerbstätige Mütter mit Partner suchen mit 85 Prozent am häufigsten die Unterstützung der eigenen Verwandten. Demgegenüber bitten die
nicht-erwerbstätigen Alleinerziehenden über alle Gruppen mit 75 Prozent am
häufigsten Freunde um Hilfe. Da auch die erwerbstätigen alleinerziehenden
Mütter mit 69 Prozent immer noch häufiger als Mütter in Partnerschaften
von Freunden unterstützt werden, scheint es sich hierbei um ein Merkmal
der Familienform zu handeln (vgl. Abb. 6). Hierfür kann es vielfältige Gründe
geben. Möglicherweise wird die Beziehung zu Verwandten, insbesondere zu
denen des ehemaligen Partners, eher beendet werden, wenn auch die Bezie-
347
sabina schutter
hung endet. Eventuell geht mit dem Beziehungsende auch ein Umzug einher,
der gegebenenfalls direkte Kontakte durch die Wohnentfernung einschränkt.
Nicht-erwerbstätige Mütter in Paarbeziehungen bitten eher Verwandte um
Hilfe. Über alle Gruppen fällt allerdings auf, dass ausgerechnet Nachbarn, die
ja qua Wohnortnähe als häufige Anlaufstelle gelten könnten, am wenigsten
gefragt werden.
Es wäre möglich, dass insbesondere erwerbstätige Alleinerziehende weniger
Zeit zur Verfügung haben, um sich in ihrem nachbarschaftlichen Umfeld zu
engagieren oder Kontakte zu knüpfen. Dies kann ein Grund dafür sein, dass der
Zusammenhalt schlechter bewertet wird. Es ist darüber hinaus gut möglich,
dass Alleinerziehende auch infolge ihrer prekäreren finanziellen Situation
eher in problematischeren Wohnumgebungen wohnen, in denen sie daher
schlechter Anschluss finden. Nicht-erwerbstätige Mütter in Paarbeziehungen
in Ostdeutschland geben zu mehr als 50 Prozent an, dass der Zusammenhalt in
ihrer Nachbarschaft eher gut ist. Die schlechtere Bewertung der Nachbarschaft
ist also kein ostdeutsches Phänomen, sondern geht eher mit der Familienform
einher.
Alleinerziehende suchen in schwierigen Situationen bei Freunden und Geschwistern Unterstützung
Neben dem Aspekt alltäglicher Hilfen kann es Situationen geben, die einer
weitergehenden Unterstützung bedürfen. Denkbar sind hier Konflikte in
Familie oder Beruf, wichtige Entscheidungen in der Erziehung oder andere heikle Situationen. Es stellt sich die Frage, ob Alleinerziehende neben
Hilfe zusätzlich auch Rat und Unterstützung in schwierigen Situationen
suchen, und wenn ja, bei wem. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass
Alleinerziehende auch schwierige Entscheidungen hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder allein treffen müssen, wenn der Vater des Kindes nicht
mehr erreichbar ist, ist diese Unterstützung von besonderer Bedeutung. Im
allgemeinen Vergleich fällt auf, dass alle Mütter vor allem Freunde und
Bekannte angeben, wenn es um Unterstützung in schwierigen Situationen
geht (vgl. Abb. 7).
348
risikofaktor alleinerziehend?
Abb. 7:
Suche nach Rat und Unterstützung in schwierigen Situationen (in Prozent)
76 %
80 %
Freunde/
Bekannte
85 %
86 %
24 %
23 %
Verwandte
Kinder
33 %
33 %
19 %
22 %
13 %
24 %
47 %
43 %
40 %
Geschwister
54 %
37 %
Vater
32 %
43 %
31 %
60 %
Mutter
53 %
66 %
57 %
Mit Partner nicht erwerbstätig
Alleinerziehend nicht erwerbstätig
Mit Partner erwerbstätig
Alleinerziehend erwerbstätig
Quelle: AID:A DJI-Survey 2009, 18- bis 55-jährige Frauen, N=2.092 (gewichtet,
eigene Berechnungen)
Mütter suchen unabhängig von ihrem Familienstand oder Erwerbsstatus
seltener Rat und Unterstützung bei ihrem Vater als bei ihrer Mutter. Dabei
geben nicht-erwerbstätige Alleinerziehende mit 66 Prozent über alle Gruppen
ihre Mutter am häufigsten als Ratgeberin an. Dies kann damit zu tun haben,
349
sabina schutter
dass diese Gruppe mitunter jünger ist. Erwerbstätige Alleinerziehende suchen
im Vergleich mit den anderen Gruppen am häufigsten bei ihren Geschwistern
Rat. Insgesamt zählen jedoch vor allem Freunde und Bekannte als die Gruppe,
bei denen Alleinerziehende am häufigsten Hilfe suchen. Sowohl bei den nichtberufstätigen (85 Prozent) als auch den arbeitenden Müttern (86 Prozent) ist
dies die bevorzugte Wahl.
Die hier untersuchte Gruppe Alleinerziehender stellt sich trotz berichteter
Zeitengpässe und wirtschaftlicher Nöte nicht als Problemgruppe dar. Alleinerziehende Mütter erziehen nicht per se allein; so, wie manche Mütter in Paarbeziehungen nicht davor gefeit sind, im Prinzip ihre Kinder allein zu erziehen.
Alleinerziehende, die gut vernetzt sind, leben ähnlich wie Mütter in Partnerschaften. Zwischen Alleinerziehenden und Müttern in Paarhaushalten gibt es
manche Parallelen, während sich die Dimension der Erwerbstätigkeit häufig
als ein Kriterium erweist, das trennend wirkt.
So gibt es interessanterweise keine signifikanten Unterschiede, wenn es darum
geht, wie stark sich Mütter durch die Kinderbetreuung belastet fühlen. Mit und
ohne Partner, mit und ohne Job: Über alle Gruppen hinweg empfinden zwischen 50 und 60 Prozent der Mütter die Erziehung und Betreuung der Kinder
selten als Belastung.
Allerdings hätte über ein Drittel der erwerbstätigen Alleinerziehenden gern
mehr Zeit für ihre Kinder. Rund 18 Prozent von ihnen verbringen pro Tag
weniger als eine Stunde mit ihren Kindern. Am zufriedensten sind die nichtberufstätigen Mütter in Paarhaushalten, die dem traditionellen Mutterbild am
klarsten entsprechen, mit der zur Verfügung stehenden „Kinderzeit“.
Die AID:A-Befunde zur Einkommensverteilung bei Alleinerziehenden, insbesondere bei denen, die nicht erwerbstätig sind, bestätigen ein bekanntes Risiko.
Der Hälfte aller Alleinerziehenden, die nicht berufstätig sind, steht weniger als
60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung und ist damit armutsgefährdet. Und selbst bei den Müttern im vorliegenden Sample, die über eine relativ hohe Bildung verfügen, zeigt sich: Erwerbstätige Alleinerziehende haben
weniger Einkommen zur Verfügung als Mütter mit Partner.
350
risikofaktor alleinerziehend?
III Alleinerziehen als Risikofaktor für Kindeswohlgefährdung?
Was bedeuten diese Daten für die Bedingungen von Kindern in Einelternfamilien und eventuelle Risikolagen? Im Hinblick auf die Einschätzung von Risiken
für das Kindeswohl lässt sich die Statistik zu Einschätzungsverfahren bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII heranziehen. Die Analyse
der Zahlen von 2013 zeigt deutlich, dass ein erhöhter Anteil von Kindern alleinerziehender Eltern ein Verfahren zur Gefährdungseinschätzung durchläuft.
Verfahren
insgesamt
115.687
Aufenthalt bei …alleinerden Eltern
ziehendem
Elternteil
45.284
49.128
(39,1%)
(42,5%)
Elternteil mit
neuem/neuer
Partner/in
13.813
(11,9%)
Großeltern /
Verwandte
4.820
(12,5%)
851
(2,2%)
2.103
(1,8%)
Ergebnis: akute/latente Kindeswohlgefährdung
38.622
13.534
(35%)
16.313
(42,2%)
Zieht man in Betracht, dass etwa 20% aller Familien Einelternfamilien sind,
ist ein Anteil von mehr als 40% an den Verfahren eine deutliche Überrepräsentation. Diese Überrepräsentanz bleibt auch im Ergebnis des Verfahrens
stabil, d. h. auch von den Fällen, die eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung als Ergebnis haben, sind mehr als 40% Kinder, die in Einelternfamilien leben.
Zunächst gibt dieser Befund allerdings keinen genauen Aufschluss darüber,
in welchem Ausmaß Alleinerziehende einem erhöhten Risiko einer akuten
oder latenten Kindeswohlgefährdung unterliegen. Dies eröffnet sich bei
Betrachtung des sogenannten „relativen Risikos“. Ein relatives Risiko ist
die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, wenn ein
Risikofaktor vorliegt. Das heißt, wer raucht hat z. B. ein siebenfach erhöhtes
351
sabina schutter
Risiko eines Herzinfarktes. Dazu wurde aus einer Gruppe von Rauchern und
Nichtrauchern verglichen, wer einen Herzinfarkt erlitt und wer nicht.
Relatives Risiko für Kinder Alleinerziehender gegenüber Kindern aus Paarfamilien
(Ehepaare und nicht verheiratete Eltern)
Einschätzungsverfahren nach § 8a SGB VIII
4,6
Ergebnis einer latenten oder akuten Kindeswohlgefährdung
5,1
Ergebnis einer latenten Kindeswohlgefährdung
5,5
Ergebnis einer akuten Kindeswohlgefährdung
5,9
Nur auf das Einschätzungsverfahren gerechnet liegt das relative Risiko bei Kindern aus Einelternfamilien gegenüber denen aus Paarfamilien bei 4,6. Für die
Berechnung wurden Daten zu Alleinerziehenden aus dem Mikrozensus (2013)
mit minderjährigen Kindern mit denen aus der Statistik zu Einschätzungen
nach § 8a SGB VIII verglichen. Da die Daten die Familienformen unterschiedlich differenzieren, sind sie nur bedingt vergleichbar. Im Mikrozensus werden
Haushalte mit minderjährigen Kindern nach Lebensform der Erwachsenen
(Ehepaare, Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften) unterschieden. In der Statistik zum § 8a SGB VIII wird nach den leiblichen Eltern
unterschieden, unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Im vorliegenden Fall wurden aus dem Mikrozensus die nichtehelichen Lebensgemeinschaften und die Ehepaare mit den zusammenlebenden leiblichen Eltern in der
8a-Statistik verglichen. Das relative Risiko kann als Näherungswert gelten.
Kinder von Alleinerziehenden haben danach eine über viermal höhere Wahrscheinlichkeit, ein Kinderschutzverfahren zu durchlaufen. Dies kann auf eine
erhöhte institutionelle Aufmerksamkeit oder eine erhöhte Meldebereitschaft
hindeuten. Ob die Aufmerksamkeit aber ein Vorurteil in diesen spezifischen
Fällen ist, lässt sich etwas besser beurteilen, wenn man das relative Risiko
einer latenten oder akuten Kindeswohlgefährdung betrachtet. Hier liegen die
relativen Risiken zwischen 5,1 und 5,9. Dies bedeutet, dass bei Kindern aus
Einelternfamilien auch nach der Prüfung der konkreten Situation durch Fachkräfte der Jugendämter häufiger eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung bejaht wird, was zumindest gegen ein nur diffuses Misstrauen spricht.
352
risikofaktor alleinerziehend?
Dies bedeutet, dass Kinder in Einelternfamilien nach erster Einschätzung
tatsächlich ein erhöhtes Risiko haben, eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung zu erfahren.
Die Zuschreibung der Alleinerziehenden als diejenigen Mütter, die ihre Kinder
nicht ausreichend versorgen, ist nicht neu und ein wiederholtes Narrativ, wenn
es um politische oder moralische Verurteilung der Autonomiebestrebungen
von Frauen bzw. Müttern geht (vgl. Buske 2004). Das „Fräulein Mutter“ kann
nach wie vor als Anzweifeln des bürgerlichen Familienideals gelten und
speziell Mütter sind und waren hohen normativen Anforderungen ausgesetzt,
wenn es um die Versorgung oder eben Unterversorgung von Kindern geht (vgl.
z. B. Schutter 2011). Der vorliegende Beitrag soll daher keinesfalls den Anschein
erwecken, alle Alleinerziehenden (Mütter) seien eine Gefährdung für das Wohl
ihrer Kinder. Empirisch ist das Gegenteil der Fall: Der überwiegende Anteil der
alleinerziehenden Elternteile meistert die Herausforderung der alleinigen Verantwortung für eigene Kinder mit Bravour. Entwicklungsnachteile durch das
Alleinerziehen lassen sich in vorliegenden Studien nicht feststellen.
Die Zahl der bei Kindern in Einelternfamilien durchgeführten Gefährdungseinschätzungen lag in Deutschland 2013 bei 49.128. Gemessen an der Zahl aller Alleinerziehender (1,6 Millionen) ist dies nach wie vor ein äußerst geringer Anteil.
Die oben dargestellten Daten zeichnen ebenfalls ein überwiegend positives
Bild der Lebensbedingungen von Alleinerziehenden. Es sind dennoch kleinere
Nachteile erkennbar: Zeitnot, geringes Einkommen und auch die Unzufriedenheit mit der Zeitverwendung für die eigenen Kinder zeigen sich bei Alleinerziehenden etwas häufiger. Auch lassen sich vereinzelte Unterschiede in der Unterstützung durch Nachbarn und Verwandte abbilden. Es ist denkbar, dass unter
besonders schwierigen Bedingungen wie konflikthaften Trennungen, Gewalt,
psychischen Belastungen oder ausgeprägter Armut Lebenslagen vorkommen,
die von mehrfachen Belastungen geprägt sind. Wenn dies mit geringer Unterstützung aus dem sozialen Umfeld oder sozialer Isolation einhergeht, so sind
für einen kleinen Teil von Familien die Situationen so bedrängend, dass sie
womöglich auch zu Gefährdungen der Kinder führen und Mehrfachbelastungen die eigene Erziehungs- und Fürsorgefähigkeiten einschränken.
353
sabina schutter
Mögliche erhöhte Risiken sollten nicht zu einer Verschärfung von Zuschreibungen oder Kontrollen nach einfachen Kriterien führen. Vielmehr soll eine offene
Reflexion dazu angestoßen werden, wie Kinder und ihre Eltern in besonderen
Belastungslagen besser unterstützt werden können, um die Ungleichheiten
zwischen den Familienformen abzubauen. Details zu den Lebenssituationen
von Alleinerziehendenfamilien, in denen eine Kindeswohlgefährdung vorkommt, stehen noch aus. Es besteht daher dringender Forschungsbedarf zu der
Frage, unter welchen Bedingungen genau diese kleine Gruppe von Familien
lebt und welche präventiven Angebote unterstützend und schützend wirken
könnten.
354
risikofaktor alleinerziehend?
Literatur
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008): Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2012): Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik. Achter Familienbericht. Berlin.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011a): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. Berlin.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011b): Lebenswelten und -wirklichkeiten von Alleinerziehenden. Berlin.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2008): Alleinerziehende: Lebens- und Arbeitssituation sowie Lebenspläne. Berlin.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Berlin.
Buske, Sybille (2004): Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit 1900–1970. Göttingen.
Dürr, Anke/Voigt, Cornelia (2006): Die Unmöglichen. Mütter, die Karriere machen. München.
Herbold, Astrid (2006): M.O.M. Mutter ohne Mann. Warum Alleinerziehende so verdammt glücklich sind. Berlin.
Hochschild, Arlie Russell (2006): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause die Arbeit wartet. Wiesbaden.
Meier-Gräwe, Uta/Kahle, Irene (2009): Balance zwischen Beruf und Familie. Zeitsituation von Alleinerziehenden. In: Heitkötter, Martina/Jurczyk, Karin/
Lange, Andreas, Meier-Gräwe, Uta (Hg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien. Opladen, S. 91–111.
Rinken, Barbara (2010): Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie? Alleinerziehende Mütter und Väter mit ost- und westdeutscher Herkunft. Wiesbaden.
Schutter, Sabina (2011): Arme Alleinerziehende: Strukturen, Ursachen, Folgen und Mythen. In: BZgA Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, Heft 1,
S. 24–27.
355
sabina schutter
Statistisches Bundesamt (2010): Alleinerziehende in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2010. Berlin.
Statistisches Bundesamt (2001/02): Zeitbudgetstudie. Berlin.
356
W
klaus roggenthin
Was wir den Kindern inhaftierter
Eltern schulden
1
Was geht in den Seelen der Kinder vor, wenn der Vater oder die Mutter im
Gefängnis sitzen? Vermissen sie das Elternteil im täglichen Leben oder sind
sie eher froh, dass es hinter Schloss und Riegel ist? Welchen Risiken sind sie
ausgesetzt, wenn sie Vater oder Mutter im Knast besuchen und welchen
biografischen Gefährdungen, wenn es ihnen verwehrt wird? Drohen Traumatisierungen, gar eine eigene kriminelle Karriere, oder ist alles halb so schlimm?
Brauchen wir organisatorische Veränderungen im Justizvollzug und der
Jugendhilfe, um den schuldlos in diese Lage geratenen Kindern gerecht zu werden? Wer muss an welcher Stelle tätig werden, um den betroffenen Kindern
gerecht zu werden?
Stimmen betroffener Kinder
Bis auf wenige Fachleute weiß das eigentlich niemand so genau in Deutschland. Der Grund? Die mitbetroffenen Kinder der Gefangenen sind nur recht
selten Thema der Politik, der Verwaltung oder der Forschung.2 Ein blinder
Fleck in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Kinderpolitisches Niemandsland, für das sich niemand zuständig fühlen will. In anderen Staaten, insbesondere solchen mit starker kinderrechtlicher Tradition, ist man diesbezüglich wesentlich aufmerksamer. Dort ist es vertraute Praxis, junge Menschen
in ihren eigenen Angelegenheiten zu Wort kommen zu lassen und daraus
politische Konsequenzen in deren bestem Interesse zu ziehen. Ein gutes Bei-
1 Der Beitrag knüpft an dem Werkstattgespräch »Wenn Eltern kriminell werden – Was macht der Knast mit den
Kindern?« an, das der Autor am 11.9.2014 in Köln geleitet hat.
2 Das spiegelt sich auch darin, dass die Situation und die Bedarfe von Kindern Inhaftierter in den vom Deutschen
Jugendinstitut gesteuerten Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung bisher kein Thema sind.
359
klaus roggenthin
spiel dafür ist Norwegen. Die in Oslo ansässige Angehörigenorganisation »For
Fangers Pårørende«3 hat gemeinsam mit einem Filmteam eine bemerkenswerte DVD zu diesem Thema gemacht. Grundlage des Films sind Interviews mit
betroffenen Kindern verschiedenen Alters. Herausgekommen sind fünf kurze
Porträts mit den Stimmen der Kinder und liebevoll gezeichneten Charakteren.4
Da gibt es beispielsweise Aron, dessen Vater gerade eine Freiheitsstrafe verbüßt. Der 5-Jährige erzählt, dass er anderen Kindern die Sache verheimliche:
»Ich sage, er ist auf der Arbeit oder so was. Mehr sage ich nicht. Alle anderen im
Kindergarten haben einen Papa, der nicht im Gefängnis ist. Das ist ein Problem.«
Die Besuche im Gefängnis fühlen sich für ihn irgendwie fremd und ungemütlich an: »Wenn wir reingehen, sind da viele Türen. Und links ist eine Tür, da
können nur die Aufseher durchgehen, wir nicht. Mehr weiß ich nicht. (Aron überlegt ein paar Sekunden.) Aber es ist nicht sehr schön dort. Im Spielzimmer gibt es
ziemlich wenig Spielsachen, ja.«
Die 11-jährige Ronja hat bereits schlechte Erfahrungen damit gemacht, anderen
von der Inhaftierung zu erzählen. »Meine Freundinnen haben immer gefragt,
wo mein Papa ist. Ich sagte, er ist auf der Arbeit, bis spät am Abend. Weil er nie
Zuhause war sozusagen. Aber schließlich musste ich sagen, dass er im Gefängnis
ist. Ich habe Angst, dass ich mal so ende wie er, wenn ich groß bin. Ein Mädchen,
das früher in meiner Klasse war, hat mal gesagt: „Erst dein Papa, dann dein großer Bruder und dann du.“ Das hat sie zu mir gesagt. Das hat mich wirklich traurig
gemacht.«
Drittes Beispiel, Marine. Sie ist 14 Jahre alt. Wegen Drogenhandels wurde ihr
Vater zu einer langen Haftstrafe verurteilt, von der er erst ein Jahr verbüßt hat.
Gefragt, wie es ihr damit gehe, sagt sie: »Das Schlimmste daran, dass mein Vater
im Gefängnis sitzt, ist, dass ich ihn nicht oft sehe. Als ich jünger war, mussten wir
uns vor ihm verstecken. Damit Papa uns nicht finden konnte. Ich war wütend auf
ihn, weil ich mich fragte: Warum musste der das tun? Weil–- er hat es irgendwie
auch uns angetan. Er macht uns Angst. Und traurig, weil er im Gefängnis ist. Ich
3 Dt.: Für Angehörige von Gefangenen.
4 Der 15-minütige Animationsfilm „Du velger selv“ soll im Frühjahr 2015 in synchronisierter Fassung unter dem
voraussichtlichen Titel „Papa ist im Gefängnis – Fünf Kinder erzählen“ als DVD mit didaktisch aufbereitetem
Begleitmaterial für Multiplikatoren auch in Deutschland erhältlich sein. Anfragen: [email protected].
360
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
verstehe nicht warum. Das macht mich sauer und traurig und froh. Alles zur
selben Zeit, irgendwie. (…) Ich sage nicht immer, dass mein Vater im Gefängnis ist,
denn sonst bekommen die anderen vielleicht Angst vor mir, weil sie denken, dass
ich auch so bin.«
Ein besonders folgenreicher Verlust
Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland an jedem beliebigen Tag mehrere Zehntausend Minderjährige mit einer haftbedingten Trennung von den
Eltern fertig werden müssen5 und ganz ähnliche Sorgen und Nöte haben wie
Aron, Ronja und Marine. Die von der EU-Kommission initiierte COPING-Studie
ließ vor ein paar Jahren in fünf Staaten, darunter Deutschland, die gesundheitlichen Auswirkungen von Gefängnisaufenthalten der Eltern auf deren
Kinder untersuchen. Dabei bestätigte sich, was Fachkräfte hierzulande aus
ihrer praktischen Arbeit seit geraumer Zeit übereinstimmend berichten: Die
Minderjährigen stehen unter hohem emotionalen Stress, sind abwechselnd
wütend und traurig, fühlen sich im einen Moment schuldig und im anderen
verraten. Sie vermissen das Elternteil, machen sich große Sorgen, sie sind aber
zuweilen auch wie Marine erleichtert, dass durch die Inhaftierung etwas Ruhe
in einen zuletzt unberechenbaren Alltag einkehrt. Gleichzeitig sind sie bemüht
oder gehalten, die familiäre Katastrophe gegenüber ihren Mitschüler(inne)n
und Peers zu verbergen, teils weil sie sich schämen, teils um Kränkungen und
drohende Beziehungsabbrüche zu vermeiden.
Dieses innere Ringen mit ambivalenten Gefühlen, mit dem Wunsch, sich zu
offenbaren, aber nicht reden zu dürfen, oder der Schmerz bereits erfahrener
Stigmatisierungen hinterlassen bei vielen Kindern tiefe Spuren. Die COPINGForscher stellten fest, dass es um das seelische Wohlbefinden der Kinder Inhaftierter aus statistischer Sicht deutlich schlechter bestellt ist als in der davon
5 Die zuständigen Landes- oder Bundesbehörden erfassen die Zahl der betroffenen Minderjährigen bisher nicht. Die
Universität Dresden hat aber im Rahmen der sogenannten COPING-Studie (2013) für Deutschland errechnet, dass
es sich um ca. 100.000 junge Menschen unter 18 Jahren handelt.
361
klaus roggenthin
nicht betroffenen Referenzgruppe (s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 6ff.).
Eine aktuelle repräsentative Studie von Kristin Turney (USA) auf Basis des
„Nationalen Surveys Gesundheit von Kindern“ belegt eine größere Häufigkeit
einer Vielzahl gesundheitlicher Beeinträchtigungen wie ADS/ADHS, Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, Sprechbehinderungen, Sprachprobleme
und Entwicklungsverzögerungen. Die Studie zeigt, dass Aufmerksamkeitsdefizit- und Verhaltensstörungen in dieser Gruppe eher zu beobachten sind als bei
Scheidungskindern (s. American Sociological Association Press Releases 2014).
Amanda Geller und Kollegen (2011) kommen in ihren eigenen aufwendigen
empirischen Analysen zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie stellen fest, dass die
Abwesenheit der elterlichen Bezugsperson durch Inhaftierung mit höherer
Aggressivität sowie Aufmerksamkeitsstörungsdefiziten korreliere und schädlicher für die kindliche Entwicklung sei als andere Formen der väterlichen
Abwesenheit.
Bindungen werden eingefroren
Für den französischen Psychologen Alain Bouregba sind die beobachtbaren
Reaktionen der Kinder verschiedene Ausdrucksformen ein und desselben
existenziellen Mangels, der haftbedingten Abwesenheit von Elternfiguren.
Kinder brauchen für ihr gesundes Aufwachsen verlässliche Beziehungen zu
ihren Eltern. Die zuverlässige Anwesenheit der Eltern ist fundamental für die
Identitätsentwicklung. Nach Erkenntnissen der Bindungsforschung ist sie
die Voraussetzung dafür, dass das Kind Ängste und neue Herausforderungen
bewältigen kann und dadurch reift (s. Bouregba 2013). Es sei wichtig, sich zu
vergegenwärtigen, dass die Bindung zwischen Kind und einem Elternteil,
sobald sie einmal aufgebaut sei, dauerhaft bestehen bleibe. Selbst dann, wenn
das Kind durch den Gefängnisaufenthalt keinen hinreichenden Kontakt mehr
zu den Eltern habe. Häufig würde eine Trennung die emotionale Bindung
sogar verstärken. Allerdings erstarre sie dann in dem Zustand, den sie zuletzt
erreicht habe. Zu beobachten sei, dass die Kinder auf den Freiheitsentzug
des Elternteils mit einer ganz spezifischen Form der Trauer reagierten, je
nach Persönlichkeit und Temperament könne sich dies eher als Rückzug und
Depression, Aggression oder ADHS äußern (s. ebd.). Die Inhaftierung einer
362
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
zentralen Bezugsperson, seine erzwungene Herausnahme aus der Familie und
die seltenen, stark formalisierten und reglementierten Kontaktmöglichkeiten
im Gefängnis stellen eine besonders schwierige Trennungserfahrung für die
Kinder dar.
Gehört Papa noch zur Familie oder nicht?
Diese Erfahrung hat viel Ähnlichkeit mit dem Phänomen des „uneindeutigen
Verlusts“, das Pauline Boss (2000) mit Blick auf bestimmte, besonders schwer
zu verarbeitende zwischenmenschliche Verluste beschrieben hat. Darunter
versteht die emeritierte amerikanische Psychologieprofessorin und Familientherapeutin den Verlust eines nahestehenden Menschen, der physisch
nicht mehr greifbar, aber mental nach wie vor als anwesend empfunden
wird. Solche Verluste beziehen sich beispielsweise auf nie gefundene Opfer
von Natur- und Verkehrskatastrophen, Kriegsverschollene und -verschleppte
oder unauffindbar bleibende Entführungsopfer. Die andere Variante eines
uneindeutigen Verlusts bezieht sich auf Menschen, die zwar körperlich noch
präsent sind, aber kognitiv immer weniger oder nicht mehr ansprechbar sind,
etwa an Demenz Erkrankte bzw. Wachkoma-Patient(inn)en. Das besondere
Bewältigungsproblem liegt in beiden Fällen in einem andauernden, nie zum
Abschluss kommenden Prozess des Abschiednehmens. So wird die vormals
vertraute Person einem immer fremder, ohne dass eine gefühlsmäßige Loslösung gelingen mag (s. Boss 2000, S. 9ff.). „Abwesenheit und Anwesenheit sind
keine absoluten Daseinszustände. Menschen, denen wir uns nahe fühlen, verschwinden physisch oder welken psychisch dahin, ohne dass ihr Tod bestätigt
wird oder sie tatsächlich sterben. Der Mensch mit Alzheimer-Krankheit, der
geistig Behinderte und das Schlaganfall-Opfer sind genauso wenig erreichbar,
wie der Entführte oder Gefangene. Durch diese Nichtentscheidbarkeit von Anwesenheit und Abwesenheit ist eine ganz spezifische Art von Verlust gegeben,
der sowohl physische als auch psychische Auswirkungen auf die Betroffenen
hat“ (Boss 2008, S. 8). Wie Bouregba beobachtet auch Boss bei den Betroffenen
eine Art erstarrter Trauer, aus der sich diese, solange sich nichts an der äußeren Situation ändere, nicht ohne kompetente Hilfe von außen lösen könnten
(s. Boss 2000, S. 13ff.).
363
klaus roggenthin
Scheitern vorprogrammiert?
Diese Befunde unterstreichen, dass die Folgen der Inhaftierung eines Elternteils nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Es besteht das
Risiko einer nachhaltigen Störung des seelischen Gleichgewichts, mit allen
negativen Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg in Beruf und Familie.
Kirsten Neimann6, die leider früh verstorbene Pionierin des familiensensiblen
Strafvollzugs in Dänemark, hat viele Jahre dafür gekämpft, dass sich die Justizund Sozialbehörden in ihrer dänischen Heimat ernsthaft der mitbestraften
Kinder annehmen. Sie war überzeugt, dass die Inhaftierung eines Elternteils
die entscheidende Weichenstellung für die spätere kriminelle Karriere eines
Kindes sein kann (s. Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe u. a. 2014,
S. 11). Aus den Vereinigten Staaten, einem Land von Masseninhaftierungen,
hört man sogar, dass 70 Prozent der betroffenen Minderjährigen im Laufe ihres
Lebens selbst wieder straffällig werden (s. Walker 2011, S. 3).
Es stellt sich natürlich die Frage, ob und wie mit wissenschaftlichen Methoden ein ursächlicher Zusammenhang zwischen elterlicher Inhaftierung und
eigenem Freiheitsentzug festgestellt werden kann und in welchem Umfang
insgesamt ungünstige Sozialisationsbedingungen und erzieherische Einflüsse
auf delinquentes Verhalten nehmen. Ein dänischer Sozialwissenschaftler hat
sich die Mühe gemacht, einen Teil der verfügbaren aktuellen internationalen
Forschungsarbeiten zu den Wirkungen der Inhaftierung auf die Kinder einschließlich der Frage des transgenerationalen Freiheitsentzuges auszuwerten.
In seiner Analyse verzichtet er wohl aus gutem Grund auf genauere Quantifizierungen, kommt jedoch insgesamt zu dem Schluss, dass die „Kinder Inhaftierter eine sehr gefährdete Gruppe sind“, die ein „relativ großes Risiko“ aufweisen,
„unter psychischen Problemen zu leiden“ und die „ein signifikantes Risiko
(tragen), sich asozial zu verhalten und straffällig zu werden. Für manche Kinder
stehen diese und andere Probleme in einem unmittelbaren Zusammenhang
mit der Tatsache, dass ein Elternteil im Gefängnis ist“ (Smith 2014, S. 138).
6 Kirsten Neimann war viele Jahre als Anstaltsleiterin für die dänische Justiz tätig. Ihrem langen Atem ist es zu
verdanken, dass im Jahre 2005 am Rande Kopenhagens das erste Familienhaus Europas entstand. In dieser bahnbrechenden Einrichtung des offenen Vollzuges leben seitdem straffällig gewordene Menschen gemeinsam mit
ihren Kindern und Partner(inne)n. Frau Neimann starb 2013 nach schwerer Krankheit.
364
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
Vertrauen aufbauen
Bis zu diesem Punkt sind wir stillschweigend davon ausgegangen, dass die
Kinder wissen, dass ihr Vater oder ihre Mutter im Gefängnis sitzt. Das ist aber
keineswegs immer der Fall. Gerade jüngere Kinder werden nicht selten über
den tatsächlichen Verbleib des verschwundenen Vaters7 getäuscht. Manche Eltern meinen, dem Kind die Wahrheit nicht zumuten zu können, ein
andermal soll vermieden werden, dass sich die Schande in der Nachbarschaft
herumspricht. Dann heißt es zum Beispiel „Papa arbeitet jetzt im Ausland“.
Eltern sollten aber lieber versuchen, dem Kind die tatsächlichen Umstände
sensibel zu erklären, um nicht das Vertrauen in sie als seine Bezugspersonen
noch stärker zu strapazieren. Darüber hinaus hat das Kind über die Kinderrechtskonvention das Recht auf Information in allen es betreffenden Angelegenheiten (Art. 12). Der UN-Kinderrechtsausschuss hat daher im Rahmen
der Erörterung der Situation von Kindern inhaftierter Eltern gefordert, dass
„die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt das Kind alters- und reifegerecht
informieren, damit es die Inhaftierung seines Elternteils verstehen kann“
(Schmahl 2013, S. 9).
Aber auch Kinder, die die Wahrheit mehr oder weniger kennen, haben es
schwer. Wem können oder dürfen sie sich anvertrauen? Wohin mit den Ängsten, der Scham, der Wut und den Fragen? Der in Freiheit verbliebene Elternteil ist durch die Inhaftierung des Partners häufig selbst „durch den Wind“.
Damit beschäftigt, die eigenen Gefühle zu sortieren, und davon gestresst,
plötzlich hereinbrechende existenzielle Probleme um das Einkommen und
Wohnen lösen zu müssen, fehlt oftmals einfach die Ruhe und Geduld, sich
mit den Sorgen der Kinder ausgiebig zu befassen.
Bei der Frage wie gut oder schlecht ein Kind den Freiheitsentzug eines Elternteils kurz- oder langfristig bewältigt, fällt der Kontaktqualität zum inhaftierten
Elternteil eine Schlüsselrolle zu (s. COPING-Konsortium 2012).
7 In Deutschland sind 95 Prozent der Insassen Männer.
365
klaus roggenthin
Unterlassene Hilfeleistung
Viele der geschilderten gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind mit darauf
zurückzuführen, dass die Mädchen und Jungen zu wenig echten persönlichen
Kontakt haben und ihnen weder die Möglichkeit gegeben wird, die ElternKind-Beziehung mit Leben zu füllen, noch das Geschehene gemeinsam mit
dem straffällig gewordenen Elternteil aufzuarbeiten. Aber die Haftanstalten in
Deutschland und den meisten anderen Staaten sind darauf in keiner Weise vorbereitet. Im Gegenteil: Das Gefängnis ist der Inbegriff einer kinderfeindlichen
Institution. Eine Mutter berichtet: „Wir haben einmal richtig Ärger bekommen,
als unser Sohn, ein Kleinkind, unter den Tisch zu seinem Vater gekrabbelt ist.
Wir wurden rausgeworfen und mein Sohn wurde dann noch untersucht“ (ebd.,
S. 15). All das, was das Zusammenleben mit Kindern in Freiheit ausmachen
kann, nämlich Nähe, Vertrautheit, Geborgenheit, Spontanität und Ausgelassenheit ist hinter den Mauern erst einmal verdächtig oder unerwünscht. Wenn
also die Kinder die Eingangskontrollen passiert haben, persönliche Gegenstände (Spielsachen, Kuscheltiere, Handys etc.) abgegeben haben, wartet meist
kein gemütlicher Besuchsraum auf sie, in dem gespielt, gelacht und gekuschelt
werden kann.
Sprechstunden statt Spielstunden
Regelbesuch heißt das Standardformat, das die meisten Justizvollzugsanstalten (JVAs) praktizieren und zu dem auch – in gewissen Grenzen – die eigenen
Kinder mitgebracht werden dürfen. Dabei handelt es sich im Grunde um
Sprechstunden in einem etwas größeren Raum. Dort sind dann zum Beispiel
acht, zehn oder noch mehr kleine Tische aufgestellt, an denen die Gefangenen
gleichzeitig ihre Besuche empfangen können. Der Besuchsraum wird in der
Regel optisch und/oder akustisch überwacht, oft sitzt zu diesem Zweck ein Beamter mit im Raum. Ein Junge erinnert sich: „Das erste Gefängnis in dem mein
Vater war, war voll schrecklich. Ein Beamter stand da und musste mit anhören,
worüber wir redeten. Wir saßen in einem kleinen Raum und es kam einem vor,
als wäre man komplett umzingelt von Menschen, die man nicht kannte“ (Smith/
Jakobsen, zit. in Smith 2014, S. 143). Um das Einschmuggeln verbotener Gegen-
366
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
stände (z. B. Mobiltelefone) oder Drogen zu erschweren, ist unter der Tischplatte zuweilen eine Verblendung angebracht. Schlimmer für die Kinder (und die
Eltern) ist, wenn zudem der Körperkontakt unterbunden wird. Leider zeichnet
sich in den vergangenen Jahren in einigen Bundesländern der Trend ab, (wieder) Trennscheiben zwischen den Besuchern auf den Tischen anzubringen (s.
Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe 2012a).
Insbesondere für die jüngeren Kinder ist das Setting Regelbesuch/Sprechzeit
schlicht frustrierend. Man kann aus ihrer Sicht dort eigentlich nur reden und
auch nur dann, wenn einem die Erwachsenen, die selbst so viele organisatorische Dinge untereinander zu besprechen haben, Raum geben. So können die
zur Verfügung stehenden 30, 45 oder 60 Minuten vergehen, ohne dass man
sich überhaupt näher gekommen ist. Wie oft besucht werden darf, regeln im
Großen und Ganzen die Anstalten selbst. Mindestens eine Stunde im Monat
steht einem Gefangenen laut dem ehemals bundesweit geltenden Strafvollzugsgesetz (StVollGz) zu, mit der Einschränkung, dass nicht besondere Gründe
dagegen sprechen. Nach der 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform
haben die meisten Bundesländer Landesstrafvollzugsgesetze erlassen, in den
anderen gilt noch das StVollGz. In einigen Bundesländern wurden und werden
daraufhin die Besuchszeiten etwas ausgedehnt. Das grundsätzliche Problem
ist aber geblieben, nämlich dass sich das Recht auf Besuch am Gefangenen
und nicht etwa den Bedarfen seiner Kinder orientiert. Dies bedeutet auch, dass
die Ausgestaltung der Regelbesuche darauf ausgelegt ist, effektiv und effizient
Sicherheit und Ordnung in der Besuchssituation zu gewährleisten. Der personelle Aufwand für die Organisation der Besuche ist durch die Zuführung der
Gefangenen aus ihren Zellen, der Kontrolle der Besucher(innen), der Überwachung der Besuche und ggf. der nachträglichen Durchsuchung der Gefangenen
ohnehin sehr hoch. Kinder werden vor diesem Hintergrund eher als Störung im
Betriebsablauf denn als pädagogische Herausforderung gesehen.
Verantwortung übernehmen
Dennoch, bei allem Verständnis für die dünne Personaldecke der JVAs, dabei
kann und wird es nicht bleiben. Zum einen weil sich Deutschland als Unterzeichner der Kinderrechtskonvention in Art. 3 zu einer kindeswohlorientierten
367
klaus roggenthin
Anwendung des Strafrechts und des Strafvollzugsrechts verpflichtet hat und
in Art. 9 (Abs. 3) zusichert, für kindgerechte Umgangsmöglichkeiten mit ihrem
inhaftierten Elternteil zu sorgen (s. Schmahl 2013, S. 5ff). Zum anderen, weil
sich die Einsicht immer stärker durchsetzen wird, dass wir um unserer familien- und justizpolitischen Verantwortung gerecht zu werden, die betroffenen
Kinder bestmöglich unterstützen müssen. Dazu gehört es, neben räumlichen
Verbesserungen auch über familientaugliche Besuchszeiten an den Wochenenden und Feiertagen nachzudenken. Gerade dann nämlich, wenn berufstätige
Eltern und schulpflichtige Kinder Zeit hätten, oder längere Anfahrtszeiten auf
sich nehmen könnten, sind die meisten Gefängnisse für Besucher geschlossen.
Man würde dem Justizvollzug aber nicht gerecht, wenn unerwähnt bliebe,
dass es durchaus einige weitere Kontaktmöglichkeiten zwischen Kindern und
Eltern gibt. Beispielsweise stellen nicht wenige Haftanstalten unter bestimmten Voraussetzungen den Familien nicht überwachte Langzeitbesuchsräume
für mehrere Stunden zur Verfügung. Diese sind in der Regel mit Sofa, Spielen
und Spielsachen, sanitären Anlagen und Küchenzeile eingerichtet und daher
schon eher zur Pflege der Eltern-Kind-Beziehung geeignet. Diese Räume sind
natürlich sehr gefragt, zumal sie auch noch dem Zweck der Pflege von Sexualkontakten mit (Ehe-)Partnern von draußen dienen. Entsprechend lang sind
die Wartezeiten. Außerdem richten immer mehr Vollzugsanstalten – oft mit
Unterstützung von Gefängnisseelsorgern und Fachkräften der freien Straffälligenhilfe – Vater-Kind-Gruppen ein oder führen Familiennachmittage durch.
Diese Gruppenveranstaltungen sind bei Kindern und Eltern sehr beliebt, weil
sie echte Begegnungen und familiengerechte Aktivitäten (zusammen Singen,
Basteln, Essen) zulassen. Freilich übersteigt auch hier die Nachfrage bei weitem
das Angebot. Und natürlich werden manche Eltern auch „gelockert“, wie es im
Vollzugsjargon heißt. Das bedeutet, dass man ihnen kurze oder längere Familienbesuche in Form von Ausgängen oder Hafturlauben gewähren kann. Wie
viele Kinder wie oft davon bundesweit profitieren, ist nicht bekannt.
Aus der Perspektive der Kinder
Insgesamt ist wichtig, dass diese Besuche und Kontakte immer im besten
Interesse des Kindes und nicht etwa des Gefangenen stattfinden. Der Blick der
368
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
Vollzugsanstalt richtet sich bis dato in der Regel fast ausschließlich auf den
Häftling. Was bringt der Kontakt im Hinblick auf seine Resozialisierung? Täte
ihm ein Langzeitbesuch gut? Hat er sich ihn verdient durch gute Führung? Man
muss aber versuchen herauszufinden, was die Kinder wollen und brauchen,
denn ein Gefängnisbesuch hat auch eine belastende Seite. Eigentlich sind es
die jungen Menschen, die Zuspruch und Ermutigung vom inhaftierten Elternteil brauchen, und doch haben sie mitunter das Gefühl, für das emotionale
Befinden des Elternteils Verantwortung übernehmen zu müssen. Ein Mädchen
erzählt: „Meistens waren wir aufgeregt und auch glücklich, weil wir ihn gesehen haben. Aber anfangs, als wir gegangen sind, haben alle immer geweint.
Aber so zum Schluss haben wir gedacht, wenn wir jetzt heulen, dann geht es
dem Papa ja noch schlechter“ (Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 14). Fachkräfte
der Straffälligenhilfe berichten, dass sich die meisten Kinder den regelmäßigen
Kontakt zum inhaftierten Vater bzw. zur inhaftierten Mutter wünschen. Die
COPING-Studie konnte dies bestätigen: „Auch wenn den meisten Kindern die
Umstände des Besuches nicht gefielen, freuten sie sich doch sehr über den
Kontakt zum Elternteil“ (ebd.). Damit das Umgangsrecht des Kindes nicht zur
Umgangspflicht gerät, müssen sie sensibel und altersangemessen gefragt werden, ob sie den Besuch wollen. Sie müssen auch nein sagen dürfen.
Eltern befähigen
Besuche in Haft können eine Gratwanderung sein, für die Kinder, aber auch für
die Eltern. Alain Bouregba (2013) sagt, dass die Haft für manche Insassen eine
emotionale Wüste sei, sie zögen sich zurück, blieben monate- oder jahrelang
ohne Freunde und vertraute Menschen. In dieser Welt wirkten die eigenen
Kinder draußen wie ein Versprechen auf ein besseres Leben. Das Verlangen des
Gefangenen, die Kinder zu sehen, kann zur alles bestimmenden Idee werden.
Gleichzeitig kann der Gefangene das Gefühl entwickeln, kein guter Vater zu
sein, eine Furcht aufbauen, das Kind mit seinem verpfuschten Leben zu kontaminieren. Am Ende solcher Besuche bleiben beide Seiten – Kinder und Eltern
– überfordert und traurig zurück.
Auf einer internationalen Tagung berichtete eine Teilnehmerin, die im
Besuchsbereich eines Gefängnisses arbeitet, dass ein Vater mehrere Monate
369
klaus roggenthin
auf den ersten Besuch seiner Tochter warten musste. Als die Fünfjährige
ihn schließlich besuchen kam, weinte der Mann während der gesamten
Besuchszeit und konnte keinen einzigen Satz mit seiner Tochter sprechen.
In solchen und anderen kritischen Besuchssituationen bedarf es einer
professionellen Besuchsbegleitung, die behutsam mit den Beteiligten nach
Lösungen sucht. Im geschilderten Fall gelang es schrittweise, den Vater
anzuleiten, seine Gefühle besser zu beherrschen und eine aktive elterliche
Rolle einzunehmen, sodass bei den Folgebesuchen die Tochter mehr von
ihm hatte. Dies zeigt, dass ein Justizvollzug der Kinderbesuche ernst nimmt,
gut daran tut, inhaftierte Eltern zu ermutigen und anzuleiten ihre elterliche
Verantwortung anzunehmen. Doch davon ist man weit entfernt. Zwar gibt es
in einzelnen Haftanstalten Angebote wie „Vätergruppen“ oder „Elternkompetenztrainings“, aber die Aufnahmekriterien sind streng und die wenigen
zur Verfügung stehenden Plätze decken nicht annähernd den Bedarf
(s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 15).
Schützen allein genügt nicht
Es ist wenig bekannt, wieweit sich die Kinder- und Jugendhilfe bisher den
Kindern Inhaftierter annimmt. Vieles deutet darauf hin, dass die Jugendämter,
falls sie von Inhaftierung eines Elternteils Kenntnis erhalten, zwar durchaus
Risiken für das Wohl betroffener Minderjähriger wahrnehmen. Jedoch scheint
dies häufig einseitig durch die Brille „schlechte Eltern“ zu geschehen. Mit
anderen Worten, Jugendämter werden vor allem dann tätig, wenn es gilt, den
Kontakt zu einem als potenziell „schädlich“ eingeschätzten Elternteil zu unterbinden. Dass jedoch in vielen Fällen die weitere psychosoziale Entwicklung
durch unzureichende Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten sowie ausbleibende
Beratungs- und Therapieangebote gefährdet sein kann, wird von den Jugendbehörden nicht immer gesehen. Eine Freiheitsstrafe kann zweifellos eine harte
Prüfung für Eltern und Kinder sein, weil Glaubwürdigkeit, Vertrauen und
Identifikation erschüttert worden sind. Straffällig gewordene Väter oder Mütter
bleiben aber für die meisten Kinder wichtig. Deshalb geht es weniger darum
festzustellen, ob es gute oder schlechte Eltern sind (s. Bourgeba). Viel nötiger ist
es, Kindern zu helfen, das Geschehene zu verstehen und zu verarbeiten sowie
370
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
eine Haltung zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht, sich weiterzuentwickeln.
Ein von außen verordneter Kontaktabbruch ist oft das falsche Signal und sollte
die Ultima Ratio sein. Jeder Fall sollte daher individuell betrachtet werden und
den Willen des Kindes berücksichtigen. Dies gilt besonders dann, wenn der
Grund der Freiheitsstrafe ein Verbrechen in der Familie oder gar am eigenen
Kind ist. Je gefährlicher ein Elternteil von den Fachkräften eingeschätzt wird,
desto professioneller müssen die gefundenen pädagogischen und therapeutischen Lösungen für das Kind sein (ebd.).
Eine Handvoll Angebote
In einigen Städten bieten Träger der Freien Straffälligenhilfe spezialisierte Angebote für Kinder und Angehörige von Inhaftierten an, z. B. begleitete Besuche
in die Gefängnisse, Beratung und Freizeitaktivitäten. Es handelt sich um ca.
20–30 kleinere und kleinste Anlaufstellen, die, wie zum Beispiel „Freiräume“8
oder „Rückenwind“9, mit großem Engagement lebenspraktische und psychosoziale Unterstützung leisten (s. auch Schützwohl 2012). Auf Landesebene
ist das finanziell vergleichsweise sehr gut ausgestattete Eltern-Kind-Projekt
Chance in Baden-Württemberg hervorzuheben. Fast 60 Sozialpädagog(inn)en
von verschiedenen Trägern der Freien Straffälligenhilfe wurden im Rahmen
des zeitlich befristeten Projekts für die Arbeit mit betroffenen Kindern und
Eltern qualifiziert (s. Belz 2014). Trotzdem ist nach Auffassung der deutschen
COPING-Forschungsgruppe der tatsächliche Hilfebedarf bundesweit nicht annähernd gedeckt. Auf der Deutschlandkarte zeigen sich große weiße Flecken
ohne jegliches Angebot (s. Bieganski/Starke/Urban 2013, S. 29). Aber auch dort,
wo es etwas für betroffene Kinder und Familien gibt, findet ein großer Teil nur
alle vier bis zwölf Monate statt. Nur eine Handvoll der Angebote ist wöchentlich verfügbar (s. Schützwohl 2012). Seit 2014 können sich Kinder und Jugendliche – falls sie Kenntnis von dem Angebot erlangen – zumindest virtuell auf
den Besuch im Gefängnis vorbereiten. Seit 2014 bieten sowohl der Deutsche
8http://tinyurl.com/ncdpydf
9http://www.rueckenwind-wittlich.de/
371
klaus roggenthin
Caritasverband als auch TREFFPUNKT e. V. speziell auf diese Zielgruppen zugeschnittene Informationen und Beratungen im Internet an.10
Die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen könnten ebenso wie die Sozialarbeiter(innen) und Lehrkräfte an den Schulen wichtige Ansprechpartner(innen) für Kinder sein, die damit zurechtkommen müssen, dass ein Elternteil im Gefängnis ist. Es hat den Anschein, dass dieses Thema im Bildungsbereich bisher weitgehendes Neuland darstellt. Daher ist es gut, dass in einem
aktuellen Projekt mit Namen „TAKT“11 in Zusammenarbeit mit Fachkräften
aus freier Straffälligenhilfe, Jugendämtern, Schulen, Gefängnissen und Polizeidienststellen ein Leitfaden erstellt werden soll, der Pädagog(inn)en und
Erzieher(inne)n Orientierung für den sensiblen Umgang mit den Kindern von
Inhaftierten geben soll (s. Starke 2014).
Kindgerechtere Lösungen
Obwohl in Deutschland wohl niemand will, dass Kinder für die Verbrechen
ihrer Eltern bestraft werden, läuft es hierzulande faktisch genau darauf hinaus.
Wie deutlich wurde, unterliegen die Mädchen und Jungen einem hohen Risiko,
psychische Auffälligkeiten zu entwickeln und sozial ausgegrenzt zu werden
mit allen negativen biografischen Konsequenzen. Dennoch fühlen sich weder
die Justiz noch die Kinder- und Jugendhilfe originär für sie zuständig. Es ist
höchste Zeit, sich der vergessenen Kinder zu erinnern und ihnen die Unterstützung zu geben, die wir ihnen schulden. Nicht alles muss dabei neu erfunden
werden. In unseren Nachbarländern, aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche, praxiserprobte Modelle, an denen sich staatliche Behörden und Wohlfahrtsverbände orientieren können.
Zweifellos steht die Justiz in besonderer Verantwortung gegenüber den Kindern.
Wenn es unvermeidbar ist, Eltern für ihre Taten einzusperren, müssen entspre-
10 www.besuch-im-gefängnis.de und www.juki-online.de
11https://www.treffpunkt-nbg.de/projekte/takt.html
372
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
chende Rahmenbedingungen für einen kindgerechten Umgang gewährleistet
sein. Doch wie verschafft man der Kinderperspektive im Vollzug Geltung?
Von Europa lernen
Wie das geht, kann man zurzeit in Dänemark beobachten. Dort hat man, nach
sehr positiven Erfahrungen mit einem vom Dänischen Institut für Menschenrechte initiierten Modellprojekt, begonnen, in jeder Haftanstalt Kinderbeauftragte zu benennen (s. Hagerup, S. 19). Diese Fachkräfte haben die Aufgabe,
Ideen für kinderfreundliche Besuchsbedingungen zu entwickeln und umzusetzen. Dafür sind sie nicht nur mit einem robusten Mandat der Anstaltsleitung
ausgestattet, sondern auch mit einem eigenen zeitlichen und finanziellen
Budget. Da es sich in der Regel um Mitarbeitende handelt, die bereits vorher in
der jeweiligen Anstalt tätig waren, sind ihnen die jeweiligen baulichen, personellen und organisatorischen Besonderheiten des Gefängnisses vertraut. Es ist
faszinierend zu sehen, wie in relativ kurzer Zeit Eingangs- und Besuchsbereiche
so umgestaltet werden, dass sie die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen.
Wert wird auch auf die Einführung geeigneter Informationsmaterialien gelegt.
Ein freundlich gestaltetes Plakat erklärt Kindern die Eingangskontrollen, ein
Fotobuch im Warteraum zeigt Räume, die zum Alltag des Elternteils gehören,
(z. B. Werkstatt, Sportraum, Gemeinschaftsküche), aber für die Kinder nicht
zugänglich sind. So können sich die Kinder ein realistischeres Bild machen,
wie es ihren Eltern im Gefängnis geht, machen sich weniger Sorgen. Neben
gestalterischen Veränderungen haben die Kinderbeauftragten vieles auf der
zwischenmenschlichen Ebene angestoßen. Dazu zählen Gesprächsgruppen
und Besuchsausschüsse für inhaftierte Eltern, aber auch Sensibilisierungsmaßnahmen für das Anstaltspersonal. Dänemark ist auch die Heimat des Familienhauses Engelsborg, einer Einrichtung des offenen Vollzuges. Dort können
Straftäter(innen) ihre Strafe oder Reststrafe gemeinsam mit ihren Kindern und
Partner(inne)n verbüßen. Sie werden intensiv familientherapeutisch begleitet
und auf vielfältige Weise für ein Leben in Freiheit vorbereitet. Das Wohlergehen
der Kinder stellt im Mittelpunkt der therapeutischen und sozialpädagogischen
Bemühungen (s. Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe u.a. 2014).
In Belgien wurden mit Unterstützung der Angehörigenorganisation Relais-
373
klaus roggenthin
Enfants-Parents in insgesamt neun Haftanstalten multifunktionale Besucherräume für Kinder und ihre inhaftierten Eltern geschaffen. Das Konzept heißt
„Le Trilieux“ und zielt darauf, den emotionalen, kognitiven und körperbezogenen Bedürfnissen des einzelnen Kindes ganzheitlich und situativ gerecht zu
werden. Zu diesem Zweck werden drei miteinander verbundene Räume angeboten. Der erste Raum bietet die Möglichkeit, sich zu bewegen, also zu klettern,
zu rennen oder sich zu verstecken. Der zweite Raum dient der Entfaltung
künstlerischer Kreativität. Es kann gebastelt, gemalt und anderweitig gestaltet werden. Der dritte Raum ist für ruhige Aktivitäten vorgesehen. Hier kann
man sich beispielsweise mit einem Buch zum Vorlesen zurückziehen. Das Kind
kann während der Besuchszeit alle drei Bereiche abwechselnd nutzen, wenn es
die dort geltenden Regeln jeweils einhält. Hauptamtliche und ehrenamtliche
Mitarbeiter(innen) sorgen für einen sicheren Ablauf (s. Roggenthin 2013).
„Spazio Giallo“, also „Gelber Raum“, heißt das in der Lombardei entwickelte Besuchskonzept, das es Kindern emotional erleichtern soll, ihre Eltern im Gefängnis
zu besuchen. Es bietet einen kindgerechten Willkommensbereich, den Gelben
Raum, in dem die Kinder sich unter Anleitung spielerisch oder kreativ auf den
Besuch vorbereitet können. Dazu gehört auch ein Bilderbuch, das Kindern zeigt,
wie ein Besuch verläuft. Zum anderen haben die Organisatoren unter dem Motto
„Trovo Papa“ („Ich finde Papa“) einen sichtbaren Pfad – von der Durchsuchung
über den Besucherraum und zurück zum Ausgang – gelegt, um Kinder in den
gesamten Ablauf mit einzubeziehen. Ziel ist es, die Ängste vor der ungewohnten
und abweisenden Gefängnisumgebung zu verringern (s. Sacerdote 2014).
Köln traut sich
Das Projekt „Bindungsräume“ im Köln-Bonner Raum greift einige Ideen der
Italiener auf und entwickelt zum Teil neue Wege, Kindern und Jugendlichen
den Elternbesuch im Gefängnis zu erleichtern.12 Die Initiative zu diesem Projekt
12 Zum Projektverbund gehören: BAG-S, JVA Köln, Alanus Hochschule, Morning Tears und SKM/SKF Köln. Einen Beitrag
zur Finanzierung leistete auch Children for a better world. Die Alanus Hochschule hat ein Spendenkonto für das
unterfinanzierte Projekt eingerichtet, http://tinyurl.com/kqlv8o4.
374
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
ging von der in Bonn ansässigen Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) aus. Sie wollte den praktischen Beweis erbringen, dass es im
Verbund auch in deutschen Strafanstalten möglich ist, mitbestraften Kindern gerechter zu werden. Das 1969 fertig gestellte Kölner Gefängnis schien
dafür die richtige Herausforderung zu sein. Es gehört zu den größten JVAs in
Deutschland. Bis zu 1.200 Gefangene verbüßen hier ihre Haftstrafe. Der Bau
ist mittlerweile so sanierungsbedürftig, dass sein Abriss beschlossene Sache
ist. Die Anstaltsleitung war schnell für das Projekt zu gewinnen. Zum einen
bestand ohnehin großes Interesse an familienfreundlicheren Eingangs- und
Besuchsräumen. Zum anderen war für die Anfangsphase des Projekts sichergestellt, dass keine nennenswerten Mehrkosten auf die Anstalt zukamen. Die
kreative Kraft zieht Bindungsräume vor allem aus der Zusammenarbeit mit der
Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Bindungsräume ist als interdisziplinäres und semesterübergreifendes Projekt konzipiert. Engagierte Dozentinnen bringen ihre Expertise aus den Bereichen Kindheitspädagogik, Malerei
sowie Partizipation im öffentlichen Raum ein. Seit der Auftaktveranstaltung
mit fachlichen Inputs der Projektpartner entwickelt eine Gruppe Studierender
künstlerisch-pädagogische Konzepte zur Verbesserung der Besuchssituation
in Köln-Ossendorf. Ein Teil der Projektbausteine wurde von den Studentinnen
bereits erfolgreich implementiert (s. Fengler/Schilling/Tegtmeyer). Angelehnt
an Spazio Giallo entwickelte eine Studentin mit dem Teilprojekt „Buddy“
kindgerechte Pfade durchs Gefängnis. Ein Bär namens „Buddy“ begleitet die
Kinder auf Schritt und Tritt. Als lebensgroße Abbildung holt er die Kids bereits
an der Eingangspforte ab. Seinen Tatzenspuren folgend gelangen die Kinder
spielerisch unbeschwert in den Besucherraum und von da auch wieder nach
draußen. Im Besucherraum liegt ein Bilderbuch aus. In diesem wird gezeigt,
was Buddy im Gefängnis so alles erlebt. Außerdem können die Eltern Buddy
als Kuschelbär kaufen und als „Trostspender“ mit nach Hause nehmen. Der Bär
wird von Gefangenen in der Anstalt genäht. In einem weiteren Baustein wurde
begonnen, die Atmosphäre im Regelbesuchsraum zu verbessern. Ein meterlanges Wandbild, das abstrakte Naturmotive zeigt und in warmen Farben gehalten
ist, wurde mittlerweile montiert. In das Gemälde sind selbstgewählte Motive
der Gefangenen aus ihren Zellen eingearbeitet. Es ist geplant, die bisherigen,
schäbig wirkenden Tische und Stühle farblich darauf abzustimmen. Ferner soll
der Langzeitbesuchsraum für die Familie grundlegend umgestaltet werden, um,
375
klaus roggenthin
inspiriert durch „Le Trillieux“, Spiel und Kommunikation innerhalb der Familie
und Raum für kreatives Tun zu schaffen. Mehrere andere Teilprojekte zielen
darauf, auch älteren Kindern und Jugendlichen den Besuch zu erleichtern, so
werden zum Beispiel die Wartebereiche mithilfe von jugendkulturellen Ausdrucksformen und Motiven sowie Informationsmöglichkeiten neu gestaltet.13
Düsseldorf fehlt der letzte Mut
Einzelprojekte wie Bindungsräume lösen nicht das bundesweite Versorgungsproblem, aber sie zeigen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft exemplarisch
auf, dass kindgerechte Lösungen im Gefängnis nicht auf einem fernen Stern in
weiter Zukunft gesucht werden müssen. Man hört, dass das nordrhein-westfälische Justizministerium zur Erfüllung seines familienpolitischen Anspruchs
im Ende 2014 in Kraft getretenen Landesstrafvollzugsgesetz prüfen will, wieweit sich der Ansatz von Bindungsräume auf andere Haftanstalten übertragen
lassen kann. Das ist eine gute Idee. Immerhin enthält das neue Gesetz ein paar
Ansatzpunkte, an denen ein kindgerechter Umgang im Gefängnis festgemacht
werden könnte. In § 19 (Besuche) heißt es beispielsweise: „Ein familiengerechter Umgang zum Wohl der minderjährigen Kinder ist zu gestatten. Bei der
Ausgestaltung der Besuchsmöglichkeiten, namentlich der Besuchszeiten und
der Rahmenbedingungen der Besuche, sind die Bedürfnisse der minderjährigen Kinder der Gefangenen zu berücksichtigen.“ Die reguläre monatliche
Besuchszeit von zwei Stunden soll „zur besonderen Förderung der Besuche von
minderjährigen Kindern der Gefangenen“ um zwei weitere Stunden verlängert werden. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zu bedauern ist
jedoch, dass die Landesregierung in Düsseldorf noch nicht den Mut aufbrachte,
Kinderbeauftrage in ihren JVAs zu verankern. Auch eine Verpflichtung zur
landesweiten statistischen Erfassung der Zahl der betroffenen Minderjährigen wäre notwendig gewesen, um den tatsächlichen Bedarf ermitteln und
entsprechende Maßnahmen planen zu können. Sehr fraglich scheint, ob die
13 Weitere Informationen zu Bindungsräume unter http://tinyurl.com/nhatxmy.
376
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
veranschlagten jährlichen Mehrausgaben in Höhe von 524.000 € für Personal
ausreichen werden, um in den immerhin 37 selbstständigen Justizvollzugsanstalten des Landes die geboten Verbesserungen anzustoßen. Insbesondere deshalb, weil auch räumliche Veränderungen in den Gefängnissen vorzunehmen
sein werden. Nicht immer wird es gelingen, dass, wie im Projekt Bindungsräume, die Kosten der kindgerechten Umgestaltung der Eingangs- und Besuchsbereiche weitestgehend von externen Partnern geschultert werden.
Der Weg beginnt, wo die befestigte Straße aufhört
Erfreuliche Signale dringen zu uns aus dem Osten und Norden Deutschlands.
Das Land Sachsen betrat im Jahre 2012 mutig Neuland und leistet sich seitdem
einen Koordinator für den familienorientierten Vollzug.14 Dieser hat u. a. die
Aufgabe, entsprechende Maßnahmen für betroffene Eltern und Kinder landesweit anzuregen, den Austausch zwischen den sächsischen JVAs zu koordinieren und die Sensibilisierung des Vollzugspersonals zu fördern (s. Börner
2013). Die sächsische Justiz hat in allen Vollzugsanstalten feste Ansprechpartner für die Angehörigenberatung benannt. Parallel dazu haben Vollzugsbedienstete in der JVA Dresden einen gemeinnützigen Verein zur Förderung der
Beziehungen zwischen inhaftierten Eltern und ihren Kindern gegründet.15
Der Verein akquiriert Spenden und führt zusätzliche Maßnahmen wie Spielzeiten für Väter und Kinder, Familiennachmittage und sogar externe Wochenendfreizeiten durch (s. Schäfer 2014). In Berlin gibt es einen Begleitdienst der
Freien Straffälligenhilfe, speziell für Kinder alleinerziehender Mütter mit
Freiheitsstrafe. „Kid mobil“ wird weitgehend von Ehrenamtlichen getragen.
Sie holen die Mädchen und Jungen aus dem Heim oder der Pflegestelle ab,
begleiten sie in die Vollzugsanstalt und bringen sie wieder zurück. Auch für
die Vor- und Nachbereitung der Kinder stehen die engagierten Bürgerinnen
bereit. Das Angebot zielt darauf, die Mutter-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und zu festigen (s. Strang-Kempen 2012). Im aktuellen Entwurf des
14http://tinyurl.com/lpsctpq
15http://www.mitgefangenverein.de/
377
klaus roggenthin
Schleswig-Holsteinischen Landesstrafvollzugsgesetzes16 wird so deutlich wie
nirgends im Lande auf die Notwendigkeit eines neuen familienorientierten
Vollzuges (§ 24) hingewiesen: „Familienunterstützende Angebote bieten den
Gefangenen Hilfe bei der Bewältigung ihrer familiären Situation, zur Aufrechterhaltung und Pflege ihrer familiären Beziehungen sowie Unterstützung in der
Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung an, unter anderem im Rahmen
von Familien-und Paarberatung sowie von Väter- oder Müttertraining. Kinder
und Partner der Gefangenen können in die Gestaltung einbezogen werden. Für
Besuche und Kontakte im Rahmen dieser Angebote sind geeignete Räumlichkeiten vorzuhalten. In geeigneten Fällen nimmt die Anstalt Kontakt zu den
zuständigen Sozialleistungsträgern auf.“
Diese und andere Beispiele zeigen, dass es in der der sozialen Strafrechtspflege
nicht ohne Sozialarbeiterinnen, Vollzugsbedienstete, Anstaltsleiter, Ministerinnen und freiwillig Engagierte geht, die bereit sind, bestehende Verhältnisse
zu hinterfragen, Initiative zu ergreifen und eine Zeit lang gegen den Strom zu
schwimmen, damit sich etwas Grundlegendes ändert. Allerdings sind die Bretter, die es zu bohren gilt, im Justizvollzug besonders hart. Mehrausgaben in diesem Bereich sind ein politisch heikles Thema. Investitionen in Sicherheit oder in
die Arbeit mit Opfern/Geschädigten sind noch verhältnismäßig gut vermittelbar. Bei ästhetisch ansprechenden und lichtdurchfluteten (Besucher-)Räumen
mit entsprechendem Mobiliar hört der Spaß offenbar auf. Wiebke Hollersen
überschrieb ihren Beitrag im KulturSpiegel über die humane Architektur des
neuen Berliner Gefängnisses Heidering bezeichnenderweise mit „Schöner sitzen“.17 Welche Wohn- und Lebensqualität darf ein Knast bieten? Sein Architekt
Josef Hohensinn vertritt selbstbewusst die Auffassung, dass ein Zweckbau wie
ein Gefängnis nicht absichtlich hässlich sein müsse. Muss es aber offensichtlich
doch. Resozialisierung mag als vornehmstes Ziel der Freiheitsstrafe nach wie
vor in den meisten Landesstrafvollzugsgesetzen hochgehalten werden. In den
Köpfen vieler potenzieller Wähler(innen) ist hingegen fest verankert, dass ein
Gefängnis der Bestrafung, Vergeltung und Abschreckung diene und deshalb
16 Stand 10.12.2014.
17http://tinyurl.com/os6tqky
378
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
auch so aussehen müsse. Dem kann in unserem Kontext entgegnet werden, dass
auch die Kinder durch die Folgen der elterlichen Straftat geschädigt wurden und
daher Anspruch auf Wiedergutmachung und Ausgleich haben (s. Fengler/Schäfer
2012). Der herkömmliche Gefängnisbesuch tut Kindern nicht selten emotionale
Gewalt an. Er bietet viel zu wenig, um die Eltern-Kind-Beziehungen zu klären
oder zu heilen, und gleichzeitig zu viel, um die Beziehung loslassen zu können …
ein ungesundes Dazwischen. Daraus folgt, dass sich die staatliche Gemeinschaft
auf die Suche nach gerechten Lösungen für das Kind begeben muss. Soziale
Lösungen, die geeignet sind, die Folgen des erlittenen Unrechts abzumildern und
die darauf zielen, entwicklungsfördernde Beziehungen zu ermöglichen.
Gesamtgesellschaftliche Verantwortung
Was kann nun eine aufgeklärte Gesellschaft, wie die unsere, tun, um zu verhindern, dass Minderjährige mit ihrem eigenen Scheitern am Ende vielleicht den
höchsten Preis für die Straftaten ihrer Eltern zahlen? Es beginnt damit, dass
das Problem in seinen Dimensionen stärker bekannt und transparent gemacht
werden muss. Wir überfordern die betroffenen Kinder und Jugendlichen, wenn
wir ihnen zumuten, selbst für ihre Belange einzutreten. Der Strafvollzug muss
daher in jedem Bundesland, in jeder JVA dazu verpflichtet werden, zu erfassen
und zu dokumentieren, wie viele Kinder und Jugendliche jährlich betroffen
sind, und wie es um ihre materielle und soziale Versorgung bestellt ist. Diese
Daten sind als Planungsgrundlage für eine kind- und jugendgerechte Versorgungsstruktur der einzelnen Justizvollzugsanstalten heranzuziehen und auf
Bundesebene, wenn möglich auch in der Kinder- und Jugendhilfestatistik,
zusammenzuführen. Lägen die konkreten Zahlen auf dem Tisch, würde es nicht
nur den Ländern, sondern auch dem Bund mit Sicherheit leichter fallen, entsprechende Praxismodellprojekte in den Ressorts Justiz, Familie, Soziales und
Gesundheit aufzulegen und die notwendige nationale Forschung anzustoßen.
Wir brauchen dringend einen Mentalitätswechsel im Strafvollzug. Die Zuständigkeit des Vollzuges muss wirkungsvoll auf die Angehörigen des Gefangenen
erweitert werden. Eine Freiheitsstrafe greift tief in bestehende soziale Beziehungen ein. In der Pflege dieser sozialen Beziehungen während der Haft kann
der Schlüssel einer gelingenden Wiedereingliederung liegen. Mitarbeitende
379
klaus roggenthin
im Vollzug müssen sensibilisiert werden, Gefangene als Teil einer Familie
zu begreifen, sie als (verhinderte) Eltern wahrzunehmen. Das Personal sollte
befähigt werden, sie in ihrer erschwerten Vater- oder Mutterrolle zu unterstützen (s. Walker 2011). Kindeswohl und Sicherheit müssen keine Gegensätze im
Gefängnis sein. Im Gegenteil, Praxis und Forschung zeigen: Zufriedenstellende
Beziehungen zu den Kindern verbessern die Anstaltsatmosphäre, reduzieren
destruktive Impulse und erhöhen die Sicherheit (s. Roggenthin 2012).
Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (2000) und
die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (2012b) haben in der Vergangenheit ähnlich lautende Vorschläge für die nötige kinder- und familienorientierte Weiterentwicklung des Strafvollzuges zusammengestellt.
In ihrer neuesten Stellungnahme bekräftigten und konkretisieren die Gefängnisseelsorger diese Vorarbeiten zur kindersensiblen Organisationsentwicklung.
Dem Gefängnis als Institution wird darin empfohlen,
· die Perspektive von Kindern und ihren Familien bei allen Entscheidungen zu berücksichtigen,
· Kinderbeauftrage/Familienbeauftragte als Manager im Veränderungsprozess einzusetzen,
· das Gefängnispersonal für den täglichen Umgang mit Kindern, Eltern und Angehörigen zu qualifizieren,
· Fachdienste zur Begleitung von Angehörigen einzurichten,
· mit externen Trägern zu kooperieren, die entsprechende Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Eltern haben.
In Bezug auf die Kinder wird empfohlen,
· die Besuchszeiten bedarfsgerecht zu flexibilisieren und auszuweiten,
· Besuchsräume anzubieten, die den Bedürfnissen von Kindern und Familien entsprechen,
· eigenständige Kontakte mit den inhaftierten Eltern zu ermöglichen (z. B. Vater-Kind-Besuche),
· moderne und bezahlbare Telekommunikationsmöglichkeiten (in die An stalt hinein und aus der Anstalt heraus) regelmäßig zur Verfügung zu stellen,
· altersgerechte Informationen über die Lebensalltag in Haft bereitzustellen.
380
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
In Bezug auf das inhaftierte Elternteil wird vorgeschlagen,
· Angebote zur Förderung der Elternkompetenz anzubieten,
· Ausgangsmöglichkeiten zur Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung und zur Alltagsbewältigung in der Familie zu schaffen,
· den Gefangenen bei der Wahrnehmung ihres Umgangsrechts zu unterstützen,
· für schützende Haftbedingungen und Fürsorge bei Schwangerschaft zu sorgen (s. Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland 2014).
Da der Anteil der Gefangenen mit ausländischen Wurzeln erheblich ist, sollten
entsprechende familiensensible Maßnahmen idealerweise auch kulturelle
Besonderheiten verschiedener Migrantengruppen in die Überlegungen mit
einbeziehen.
Die Justizvollzugsanstalten stehen zweifellos in einer besonderen Verantwortung, das Wohl der Kinder zu wahren, weil sie während des Freiheitsentzuges
wesentlich über die Kontaktqualität zwischen dem Kind und dem Elternteil
entscheiden. Wenn man auf das Ganze blickt, erkennt man aber auch andere
wichtige Akteure. Das beginnt bei der polizeilichen Festnahme, die, vor allem,
wenn das Kind anwesend ist und sie gewaltsam verläuft, traumatisierend
wirken kann. Die Polizeibehörden sollten nach Auffassung der COPING-Forschungsgruppe im Vorfeld einer Verhaftung deshalb möglichst über die Familienverhältnisse des Festzunehmenden informiert sein und über ein Konzept für
den rücksichtsvollen, altersangemessenen Umgang mit anwesenden Minderjährigen verfügen (s. COPING-Konsortium 2012). Die Untersuchungshaft kann
für die betroffenen Kinder eine besonders belastende Zeit sein. Zum einen,
weil zwischen der Verhaftung und dem ersten Besuch lange Wochen vergehen
können. Zum anderen, weil die Ungewissheit der Familie über die mögliche
Verurteilung, das Strafmaß und den Ort, wo die Freiheitsstrafe schließlich
vollstreckt werden soll, ausgesprochen hoch ist. Daher ist es für die meisten
Kinder emotional bedeutsam, dass sie binnen weniger Tage zuverlässig wissen,
wo sich das Elternteil aufhält und dass sie es bald sehen können. Die Behörden
sollten daher „sicherstellen, dass Kinder ihr inhaftiertes Elternteil innerhalb
der ersten Woche nach der Inhaftierung besuchen können … und dass die
381
klaus roggenthin
Verwaltungs- und Sicherheitsverfahren so organisiert sind, dass sie einem
frühzeitigen Familienbesuch nicht entgegenstehen“ (ebd. S. 50). Eine Schlüsselrolle fällt den Gerichten zu. Die Richter(innen) entscheiden über die Haftdauer,
darüber, ob eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird und ob sie im offenen
oder geschlossenen Vollzug verbüßt werden muss. Das COPING-Konsortium
rät dazu, im Strafverfahren das Kindeswohl mit zu bedenken und hierzu eine
Kinder-Folgeneinschätzung vorzunehmen (s. ebd.). Mit der Gerichtshilfe steht
in Deutschland ein wenig genutztes Instrument zur Verfügung, die familiären
Lebensumstände eines Beschuldigten zu recherchieren. „Die Einschätzung
sollte den Status des Täters in Bezug auf das Kind (alleiniger oder gemeinsamer
Fürsorgender), den aktuellen Wohnort des Kindes und die voraussichtliche
Aufenthaltsregelung für das Kind nach Verhängung der Freiheitsstrafe berücksichtigen“ (ebd.). Vermutlich wäre es im besten Interesse der betroffenen Minderjährigen, spätestens bei Urteilsvollstreckung, aber besser unmittelbar nach
der Verhaftung von staatlicher Seite den Kontakt zu den Jugendbehörden oder
einer geeigneten Anlaufstelle der Freien Straffälligenhilfe herzustellen. Deren
Fachkräfte könnten dann am Einzelfall orientiert den spezifischen Hilfebedarf
klären, Besuche in Haft arrangieren oder diese im Bedarfsfall begleiten. Die
Expertise und die Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe, des Kinderschutzes
und der spezialisierten Anlaufstellen der Freien Straffälligenhilfe sollten künftig in folgenden Handlungsfeldern stärker zum Tragen kommen:
· Beratung des Vollzugs bei der Entwicklung bedarfsgerechter kindgerechter Besuchssettings,
· Aufarbeitung der Inhaftierung und der Straftat mit den Betroffenen (ver urteiltes Elternteil, Kinder, Partner, Geschwister),
· pädagogische Begleitung der Besuche zum inhaftierten Elternteil,
· Entwicklung von Umgangslösungen für das betroffene Kind in Konfliktfällen,
· fachliche Schulung von Ehrenamtlichen für die Begleitung von Kindern zu ihren inhaftierten Eltern,
· Unterstützung der Rückkehr in die Familie am Haftende (familiales Übergangsmanagement),
· Elternkompetenztraining innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern,
· begleitete Langzeitaktivitäten mit Inhaftierten und ihren Kindern (z. B. Vater-Kind-Wochenenden, Familienfreizeiten),
382
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
·
·
Beteiligung an der familiensensiblen und kinderrechtlichen Fortbildung des JVA-Personals,
Einrichtung von Kinder-, Jugend- und Familiensprechstunden
(s. Roggenthin 2014, S. 68).
Es spricht viel dafür, auch die Bildungseinrichtungen in der Pflicht zu nehmen,
denn die Kinder von Inhaftierten bringen ihren Rucksack drückender Probleme
zwangsläufig mit in die Kindertagesstätte und ins Klassenzimmer. „Sie laufen
Gefahr, auch dort Druck zu bekommen, statt verstanden und unterstützt zu
werden. Dann nämlich, wenn es PädagogInnen nicht gelingt, ihre auffälligen
Reaktionen richtig einzuordnen und das vertrauensvolle Gespräch mit ihnen
und ihren Eltern zu suchen. Oder sie vor Ausgrenzung durch MitschülerInnen zu
schützen und bei Bedarf an externe Fachkräfte zu vermitteln“ (Roggenthin 2015).
Von der Kür zur Pflicht
Der Staat kommt nicht umhin, Verbrechen zu sanktionieren, auch wenn die
Täter Eltern minderjähriger Kinder sind. Genauso zwingend ist aber, dass
er öffentliche Verantwortung für die mitbetroffenen Kinder und Familien
übernimmt. Letztlich ist es unsere Gesellschaft diesen Kindern und Eltern
schuldig, wohnortnahe, tragfähige und flächendeckende Unterstützungsnetze
und Besuchsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Diese Netze müssen auf
lokaler/regionaler Ebene in geteilter Verantwortlichkeit und klarer Zuständigkeit von den Gerichten, dem Justizvollzug, den Gefängnisseelsorgern, der
Kinder- und Jugendhilfe, dem Kinderschutz, den Kindertageseinrichtungen,
den Schulen und der Polizei geknüpft werden. Um die Zusammenarbeit zu
erproben und Verbesserungsbedarfe zu ermitteln, sollte der Bund ein ressortübergreifendes Modellprojekt (Familien-, Justiz- und Sozialministerium) mit
mehreren Modellstandorten auflegen und wissenschaftlich begleiten lassen.
Parallel dazu müsste im Rahmen eines mit öffentlichen Mitteln geförderten
Rechercheauftrages eine regelmäßig zu aktualisierende öffentlich zugängliche, internetbasierte Datenbank erstellt werden, die alle bestehenden Hilfe-,
Beratungs- und Kontaktangebote im Justizvollzug, in der Jugendhilfe und in
der Straffälligenhilfe beinhaltet. Für die Entscheidungsträger und Fachkräfte
383
klaus roggenthin
in den Handlungsfeldern Justizvollzug sowie Kinder- und Jugendhilfe wäre
ein Katalog mit bereits umgesetzter guter Praxis in Deutschland und anderen
Ländern sehr hilfreich. Der Ausbau der Versorgungsstruktur ist auf Fachkräfte
angewiesen und sollte durch engagierte, fachlich begleitete Freiwillige ähnlich
wie in Frankreich oder Belgien (Relais Parents Enfants18) sinnvoll ergänzt
werden. Dieses bürgerschaftliche Engagement könnte in einem ersten Schritt
an bestehenden zivilgesellschaftlichen Engagementstrukturen im Gefängnis19 anknüpfen und das bisherige Handlungsfeld erweitern. Eine Allianz aus
Kinderverbänden wie dem Deutschen Kinderschutzbund oder der Deutschen
Liga für das Kind, Elternverbänden, Menschenrechtsorganisationen, der Kinderkommission des Deutschen Bundestages sowie der Freien Straffälligenhilfe
muss das Thema Fürsorge und Rechte für Kinder Inhaftierter so lange auf ihre
Agenden setzen, bis sich flächendeckend nachhaltige Verbesserungen für die
betroffenen Minderjährigen abzeichnen. In den Landesstrafvollzugsgesetzen
sollten im Nachgang die rechtlichen Grundlagen für eine wirksame familienorientierte Vollzugspraxis fixiert werden. Hilfreich wäre eine Plattform oder
Regiestelle auf Bundesebene, die Fördermittel akquiriert, den fachlichen Austausch unterstützt, Hindernisse identifiziert, Ideenwettbewerbe ausschreibt
und den Entwicklungsstand regelmäßig dokumentiert. Utopisch, illusorisch?
Vielleicht, aber Bescheidenheit kann nach Jahrzehnten der Untätigkeit nicht
die Richtschnur sein. Wir brauchen in Deutschland Akteure, die sich für eine
radikal andere, humanere Kultur des Umgangs mit Kindern inhaftierter Eltern
einsetzen. Sind Sie demnächst dabei?
18http://www.relaisenfantsparents.be
19 Beispiel Baden-Württemberg: http://www.ehrenamt-jva.de/.
384
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
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klaus roggenthin
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386
was wir den kindern inhaftierter eltern schulden
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387
N
thomas fertig
Niemand hat gesagt, dass Inklusion einfach ist ...
Wege in eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe
Einleitung
Was ist denn nun Inklusion?
Der Begriff „Inklusion“ ist inzwischen schon seit einigen Jahren in aller Munde.
Ein Zustand, den „wir“ aus der sonderpädagogischen Ecke uns all die Jahre
vorher gewünscht hätten und nicht davon zu träumen wagten, dass die Idee
einer inklusiven Pädagogik, einer inklusiven Jugendhilfe und eines inklusiven
Bildungssystems mal in einer solchen Breite öffentlich diskutiert wird. Nun ist
es genauso, sowohl politisch als auch in Verbänden und bei allen Pädagog(inn)
en. Man hat den Eindruck, kaum eine pädagogische oder bildungspolitische
Diskussion kommt mehr ohne diesen Begriffskomplex aus. Zu diesem Komplex
gehören:
Inklusion, Inklusive Schule, Inklusionspädagogik, Schule für alle, Inklusive
Gesellschaft, Inklusiver Kiez, Inklusive Haltung, Inklusives Leitbild, Inklusives
Bildungssystem usf.
Die jeweiligen Begriffe begegnen uns in Medien, Politik und Pädagogik
leider nun schon so inflationär, dass der Begriff inzwischen bereits abgenutzt
scheint und bei vielen Kolleg(inn)en zu durchaus nachvollziehbaren Abwehrhaltungen führt.
„Wie sollen wir das denn nun noch bewältigen?“, hört man hier und da, insbesondere in Fort- und Weiterbildungen zum Themenbereich.
Aber „Inklusive Pädagogik“ ist keine neue, zusätzliche Pädagogik, sondern
lediglich eine stärkere und aufforderndere Betonung des inklusiven Charakters, den eigentlich per se jede Pädagogik haben sollte: Was ist denn eine
Pädagogik, die nicht einem emanzipatorischen, gleichberechtigenden, demokratischen Anspruch folgt, eine Pädagogik, die den Ausschluss als pädagogisches Mittel nicht überwinden will?
Inklusive Prinzipien sind urpädagogische Prinzipien.
389
thomas fertig
Alles was wir aktuell zu tun haben, ist eigentlich nur über viele Jahre versäumtes nachzuholen und wieder geradezurücken: nämlich die gleichberechtigte
Teilhabe ALLER Kinder und Jugendlichen oder etwa Bürger(innen) im Stadtteil
als eines der wichtigsten pädagogischen Prinzipien wieder stark in den Fokus
unserer alltäglichen Arbeit stellen.
Das hört sich fast unmöglich an in einer Phase, in der gleichzeitig individuelle
Verhaltensweisen, sogenannte herausfordernde und stark auffällige und gruppenstörende Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen immer stärker zu
werden scheinen.
So ist bspw. der Anteil der Schüler(innen) mit Förderbedarf „sozial-emotionales
Verhalten“ in den vergangenen Jahren in der schulischen Integrationshilfe
rasant angestiegen. Das zeigen nicht nur Zahlen von Studien, etwa von der
Bertelsmann-Stiftung, sondern insbesondere die Tatsache, dass inzwischen
bereits bis zur Hälfte aller Integrationsmaßnahmen über die Jugendämter über
SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) finanziert werden.
„Inklusion“ hat also schon lange nicht allein mehr mit Sonderpädagogik zu tun,
sondern ist schon längst ein wichtiger Bestandteil der alltäglichen Arbeit der
Kinder-und Jugendhilfe geworden.
Der Gesamtkomplex „Inklusion“ hat für das Bildungssystem und für die gesellschaftliche Entwicklung eine zentrale Bedeutung in der Zukunft:
Wie Stichweh in seinem Text „Inklusion/Exklusion und die Theorie der Weltgesellschaft“ (in: Rehberg (1997) (Hg.): Differenz und Integration. Opladen)
ausführt, steht im Mittelpunkt des Themenkomplexes „Inklusion/Exklusion“
die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gesellschaft und insbesondere die
Frage nach der bürgerrechtlichen Zugangsgleichheit zu allen gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Kultur, Arbeitsmarkt und finanzieller
Grundversorgung. Als weiterer Kern steht die demokratische Anerkennung der
Gleichberechtigung individueller Verschiedenheit im Mittelpunkt, unabhängig
von Bedingungen, außer demokratischen Bedingungen.
Dabei liegt der Fokus der notwendigen Anpassung und Veränderung mindestens genauso stark auf dem System, in anderen Worten: auf dem Umfeld, der
Gesellschaft, den gesellschaftlichen oder pädagogischen Rahmenbedingungen,
wie auf dem Individuum selbst.
Prof. Dr. Alfred Sander (Saarbrücken, 1987) nannte es den „Ökosystemischen Ansatz“.
390
niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ...
Das „System“ sind im pädagogischen Alltag längst nicht nur die Gebäudebarrieren, sondern auch Sprachbarrieren, kulturelle/religiöse Vorurteile, pädagogische Kompetenzen des Personals, Methoden in Unterricht und pädagogischem
Angebot, Materialien und vor allem Haltung und Einstellung der beteiligten
Akteure zueinander, also Fachkräfte, Eltern und Kinder und Jugendliche.
Barrieren stellen die grundsätzliche Art des „Auf-das-Individuum-Zugehens“
dar – wie Andreas Hinz es in seinem Text „Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der
Inklusion“ (2007) beschrieb:
Das „Readiness-Modell“, das System wartet sozusagen, bis das Individuum
„fertig und bereit“ ist, um teilnehmen zu können. Sollte das Individuum nicht in
der Lage sein, bereit zu werden, muss es in ein anderes Nebensystem, bspw. in
eine Sonderschule oder Ähnliches selektiert werden.
Inklusion aber bedeutet Abschied von der Idee des Readiness-Modells und zwar
prinzipiell und von Anfang an.
Der Begriff „Behinderung“ im inklusiven Denken
Man kann „Inklusion“ gut beschreiben, ohne den Begriff „Behinderung“ ein
einziges Mal zu verwenden. „Behinderung“ ist auch nach der UN-Konvention
für die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. a. dann passend, wenn der
Begriff Behinderungen beschreibt, die Kinder, Jugendliche oder Erwachsene
an der Partizipation behindern: Behindert, weil niemand im Personal da ist,
der es schafft, einen Zugang zu finden. Behindert, weil zu wenig Personal da
ist. Behindert, weil niemand auf kreative Kommunikationswege mit dem Kind
kommt, das nur auf Ja- und Nein-Fragen antworten kann. Behindert, weil die
Vorurteile gegenüber dem Arbeiterkind oder dem Rroma-Kind so stark und verfestigt sind, dass das Kind nicht aus der Negativ-Wahrnehmung der Umgebung
herauskommt. Behindert dadurch, dass das Kind in ein soziales, bildungsfernes
Milieu geboren wurde, aus dem es ohne aufwendige Unterstützung und Förderung nicht herauskommt.
Behinderung ist im inklusiven Sinne und auch im Sinne der aktuellen Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein sozialer Begriff und kein
Schädigungs- oder Krankheitsbegriff.
391
thomas fertig
Diese Perspektive der sozialen Wahrnehmung erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit Menschenbild, Haltung, Einstellung zu Verschiedenheit und
Diskriminierung etc.
Die Entwicklung einer „inklusiven Haltung“ ist ein entscheidender Baustein
inklusiver Einrichtungsentwicklung und inklusiver Konzeptentwicklung und
erfahrungsgemäß ein sehr effektiver Baustein.
Unterschied Integration/Inklusion
„Jede Menschenrechtsverletzung verletzt nicht nur ein Recht, sondern sie verletzt
vor allem immer auch einen Mensch.“ (Amnesty-Kalenderspruch vom 11.12.12)
Üblicherweise unterscheidet man das Konzept der Integration und Integrationspädagogik und das der Inklusion/Inklusionspädagogik durch mehrere
Punkte:
Das Konzept der inklusiven Gesellschaft / eines inklusiven Angebotes / eines
inklusiven Bildungssystems ist menschenrechtsgestützt und basiert auf einem
demokratischen Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Partizipation jedes
einzelnen, unabhängig von seiner/ihrer individuellen, besonderen Erscheinung.
Im Mittelpunkt steht die bedingungslose Verpflichtung einer Gesellschaft, die
Partizipation für jede/n zu ermöglichen. Einzige Bedingung: Die Einhaltung
demokratischer Regeln und Grundwerte.
Das Grundrecht auf Partizipation ist unteilbar, muss also für jeden gelten. Die
Unteilbarkeit ist ein menschenrechtliches Grundprinzip.
Im Konzept der Integration gab es die Frage nach der Integrationsfähigkeit,
sprich es wurde (und wird!) danach gefragt, welches Kind, welches Individuum
überhaupt fähig ist, dabei zu sein und welches nicht. Die, die nicht integrationsfähig sind, müssen separiert werden. Die Idee einer Integrationsfähigkeit
oder -unfähigkeit widerspricht jedem inklusiven Menschenbild.
Wenn aber jemand (INTEGRATIONSpädagogisch) integriert wird, dann ist er/
sie jederzeit noch als „Integrationskind“ erkennbar, als Zugehörige(r) zu einer
auffälligen Minderheit und unterscheidet sich weiterhin deutlich von „der
Mehrheit“, sei es durch die Bezeichnung und den begutachteten sonderpäd-
392
niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ...
agogischen Förderbedarf, sei es durch das Herausfallen aus den allgemeinen
Gruppenangeboten und das Auffallen durch spezielle Angebote.
Im integrativen Denken wird simpel in zwei Welten differenziert (2-GruppenTheorie):
· in Mehrheit und Minderheit
· in nicht-behindert und behindert
· in Deutsche und Ausländer oder Migrant(innen)
· in Alte und Junge
· in Arme und Reiche
· in Arbeitende und Arbeitslose
· in Muslime und Nicht-Muslime usw.
Dies sind alles Aufteilungen (nach Hinz „Aufräumungen“) in sehr simple, wenig
differenzierte und letztlich falsche Gruppen, da die einzelnen Gruppen bei genauerem Hinsehen in sich so unterschiedlich sind, dass eine Aufteilung in eine
„Zweierwelt“ eigentlich nicht möglich und vor allem nicht mehr zeitgemäß ist.
Wir sehen es jeden Tag, wozu simples Schwarz-weiß-Wahrnehmen und -Denken führt: zu Aufteilung und Aufspaltung von Gruppen bis hin zum gegeneinander Aufbringen von gesellschaftlichen Gruppen.
Der differenzierte, feinere und genauere Blick auf einen Menschen und eine
Gruppe ist einer der wichtigen inklusiven Schlüssel bspw. auch in Diagnose
und Hilfeplanung.
Das „inklusive Konzept“, die inklusive Haltung fordert ein komplexeres und
individuelleres Herangehen an Wahrnehmung, Begegnung, Beurteilung und
Fördern von Menschen: Dazu bemüht sich eine inklusive Pädagogik in der
Beschreibung, Diagnose, Einschätzung von Personen kategorienbewusst und
begriffsbewusst vorzugehen: Begriffe und Aussagen wie „Geistig Behinderte
sind ...“, „Deutsche sind ...“, „die Rroma sind ...“, „die Araber machen ....“ usw. passen nicht mehr in ein komplexes und differenziertes gesellschaftliches Weltbild.
Die Zeit der einfachen Rezepte ist vorbei.
Ein weiterer wichtiger Unterschied, der sich aus den oben genannten Unterschieden in der Haltung und Wahrnehmung ergibt, ist der der Aufteilung
393
thomas fertig
in verschiedene Integrationsbereiche: Bisher waren die Integrationsbemühungen der Minderheit „Behinderte“, der Minderheit „Migrant(inn)en“ oder
die Gleichberechtigungsbemühungen der Frauenbewegung oder die der
„Homosexuellen“ oder etwa die Seniorenarbeit strikt voneinander getrennt.
Der Berufsstand der Sozialpädagog(inn)en hatte bisher wenig oder gar nicht
mit dem der Sonderpädagog(inn)en zu tun. Die Ehrenamtlichen oder die
Altenpfleger(innen) in der Seniorenarbeit hatten bisher wenig mit dem Berufsstand der Erzieher(innen) o. Ä. zu tun.
In einer „Pädagogik der Vielfalt“ (einen Begriff, den Annemarie Prengel schon
in den 80er prägte) oder in der „Pädagogischen / Gesellschaftlichen Bewältigung von individueller Heterogenität“ löst sich die strikte Zuständigkeit
bestimmter (Berufs-)gruppen für die Integration bestimmter konstruierter
sozialer Minderheiten und Gruppen genauso auf wie sich das Aufrechterhalten
dieser sozialen Gruppen überhaupt auflöst.
Moderne Kinder-und Jugendhilfe ist also per se für ALLE Kinder und Jugendlichen
bis 27 Jahre (und deren Eltern) zuständig und sollte die Rechte aller gleichberechtigt zu vertreten versuchen.
Wie Stichweh sagt ist die gemeinsame (!) Aufgabe einer inklusiven Gesellschaft
und einer inklusiven Pädagogik, sich mit Ursachen zu beschäftigen, die zu
Exklusion führen, und Strategien (politisch wie pädagogisch) zu entwickeln,
solchen Exklusionsentwicklungen entgegenzuwirken. Die Ursachen von
Exklusion können dabei individuell sehr unterschiedlich sein: Geschlecht,
kultureller, nationaler Hintergrund, religiöser Hintergrund, bestimmte auffällige Abweichungen im körperlichen Erscheinungs- oder Bewegungsbild, in
der Verständniskompetenz, in der Hör-, Seh- oder Wahrnehmungskompetenz,
im sozialen Verhalten, in der sexuellen Orientierung und dergleichen mehr.
Um diese „Exklusions-Vermeidungs-Anstrengungen“ oder eben Inklusionsanstrengungen gemeinsam bewältigen zu können, ist Vernetzung und
Kooperation von verschiedenen Kompetenzen, Berufsbereichen, Trägern,
Vereinen, Institutionen, die bisher möglicherweise noch kaum miteinander
zu tun hatten, ein elementarer konzeptioneller, methodischer Ansatz im
inklusiven Arbeiten.
394
niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ...
Der Begriff Inklusion tauchte in Europa zum ersten Mal im Zusammenhang
mit der Salamanca-Erklärung von 1994 auf (Verpflichtung / freiwillige Konvention weltweiter Lehreinrichtungen zur Entwicklung inklusiver Bildungssysteme und Schulsysteme). In der Sonderpädagogik fasste der Begriff aber erst ab
etwa dem Jahr 2000 Fuß und setzte sich langsam hier und da durch. Erst seit
der Ratifizierung der UN-Konvention 2009 breitete sich der Begriff allmählich
in anderen Berufsbereichen aus, insbesondere Sozialpädagogik/Sozialarbeit,
Migranteninitiativen und v. a. auch Sozialpolitik.
Mit der UN-Konvention wurde der Rechtsanspruch, der Menschrechtscharakter von Partizipation nicht erfunden, sondern lediglich hervorgehoben und
mahnend darauf hingewiesen, da er insbesondere im deutschen Bildungs- und
Sozialsystem laut UN immer noch zu wenig Durchschlagskraft hat.
In den Medien wird Inklusion leider immer noch völlig verkürzt und oberflächlich einfach mit „Gemeinsames Lernen Behinderter und Nicht-Behinderter“
übersetzt, was eine gesellschaftliche Chance, sich tatsächlich in eine echte
inklusivere Richtung weiterzuentwickeln, ausbremst, da solch eine Interpretation des Begriffes die alten Trennungen weiter zementiert und die bequeme
Haltung zulässt: „Aha, wenn Inklusion nur Menschen mit Behinderung betrifft,
hab ich damit ja nichts zu tun.“; andererseits verhilft es wenigstens diesem
Themenausschnitt zu solch einem Auftrieb, dass es im Sinne von „besser als gar
nichts“ möglicherweise nach Andreas Hinz immerhin eine frühe Phase hin zu
einer „Gesellschaft und Pädagogik der Vielfalt“ sein kann.
Systemischer Zugang zu Inklusion/Exklusion
Die inklusive Haltung, die Idee der inklusiven Gesellschaft oder eines inklusiven pädagogischen Bildungsangebotes ist systemisch, geht also von der besonderen Verantwortung des Systems aus, sich den unterschiedlichen individuellen Bedarfen der Einzelnen anzupassen, sich dementsprechend zu verändern
und mit diesen Bedarfen konstruktiv auseinanderzusetzen. Das „System“ ist
also im inklusiven Sinne immer in Bewegung und Entwicklung, immer in dem
Bemühen, der individuellen Heterogenität aller gerecht zu werden.
395
thomas fertig
„Das System“ ist mal die gesamte Gesellschaft, mal eine Schule, mal ein Jugendzentrum, mal ein Beratungs- oder ein offenes Bildungsangebot, mal eine Kita usw.
Niklas Luhmann, der bekannte sozialwissenschaftliche Systemtheoretiker,
hatte direkt wenig mit dem Thema „Inklusion“ zu tun und hat sich in seinen
Veröffentlichung doch immer wieder auf die beiden Begriffe Inklusion/Exklusion bezogen. Luhmann hat sehr klar gesagt, dass er nichts von der Vision einer
„fertigen, erreichten inklusiven Gesellschaft“ oder eines „endlich erreichten
inklusiven Bildungssystems“ hält. „Inklusion“ als Endzustand oder als konkret
anzustrebendes Ziel ist nach Luhmann nicht verwirklichbar. Für Luhmann und
auch für seinen ideellen Nachfolger Prof. Dr. Peter Fuchs ist Inklusion bereits
„das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Systemen und Individuen“.
Dieses Aufeinandertreffen ist im demokratischsten Sinne mit Konflikten, Auseinandersetzungen und Reibungen verbunden. Wichtig ist, dass Kommunikation und, wie Fuchs es nennt, „Adressiertheit“, also aufeinander Bezogen-Sein
entsteht. Für beide, Luhmann und Fuchs, ist das Inklusion: Der beginnende und
nicht abzuschließende Prozess von Aufeinandertreffen, Kommunikation und
immer wieder Konfliktaustragung und zeitweise Konfliktlösung.
Meinem Verständnis nach ist dies eine urdemokratische Kultur des Miteinanders: Gegensätze, Anderes, Fremdes, andere Werte aushalten, sich damit auseinandersetzen und immer wieder vorübergehend haltbare Kompromisse finden.
Konflikte und Konfrontation bspw. zwischen Deutschen muslimischen und
Deutschen christlichen Glaubens oder zwischen an konservativen Familienbildern und an offeneren, moderneren Familienbildern orientierten Mitgliedern
als normalen Bestandteil eines demokratischen, inklusiven Gesellschafts- und
Gruppenprozesses anerkennen.
Aufgabe der Jugendhilfe ist hier also, Aufeinandertreffen zu ermöglichen und
konfliktkompetent zu begleiten.
Dieser systemtheoretische Ansatz Luhmanns und Fuchs‘ hat für die alltägliche
Praxis etwas sehr Entlastendes: Konflikte in der Gruppe oder in der Schule,
misslungene Versuche inklusiven Unterrichts oder misslungene Versuche,
Heterogenität zu bewältigen, sind nicht automatisch Zeichen schlechter oder
unprofessioneller pädagogischer Qualität!
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Mal misslungene inklusive Tage und mal überforderte, sehr schwierige Tage,
konfliktreiche und scheinbar bildungsmäßig nicht sehr effektive Tage, sind
normaler Bestandteil des inklusiven Weges.
Wichtig ist: im menschenrechtlichen Sinne gibt es ja sowieso keine Alternative zum Inklusionsversuch. Selektion und Exklusion einzelner „Störer“ oder
„schwieriger Kinder“ kommt sowieso nicht Frage. Heterogenität und Konfliktpotenzial im demokratischen Zusammenhang wird also als belebend, lehrreich
für alle und normal anerkannt. Diese Haltungsänderung erleichtert inklusiven
Alltag.
Methodisch-praktischer Zugang
Die Bewältigung von Heterogenität im bildungspädagogischen Alltag verlangt
differenzierte Lern-, Informations- und Gesundheitsangebote:
· in unterschiedlichen Sprachen,
· mit unterschiedlichen Lernniveaus,
· mit unterschiedlichen Inhalten,
· mit unterschiedlichen methodischen Zugängen, je nachdem wie das
· jeweilige Kind, der jeweilige Klient am besten lernen kann.
Dazu braucht es im Idealfall das nötige Maß an Fachwissen über Assistenzkonzepte für bestimmte spezielle Assistenzbedarfe im Bereich Sozialverhalten
(bspw. „Wie setze ich effektiv Grenzen?“) oder im Bereich Motivation („Wie
kann ich effektiv motivieren?“), im Bereich Konzentration oder im Bereich
Strukturierung von Lernangeboten („Wie kann ich einen Raum, ein Lernangebot, einen Tagesablauf, ein Arbeitsblatt so strukturieren, dass es verständlich,
ansprechend, nicht verunsichernd und einladend wirkt?“) oder im Bereich
kognitives, abstraktes Verständnis („Wie kann ich Inhalte so vermitteln und
aufbereiten, dass sie praktisch, sinnlich, körperlich erfahrbar und verstehbar
sind?“).
Neben den möglichst individuellen und differenzierten Arrangements von Angeboten und Assistenz ist ein anderer wichtiger Baustein die Frage: Wie helfe
ich, Brücken zwischen den sehr verschiedenen Klient(inn)en zu bauen?
Wie kann ich Angebote arrangieren, dass Kontaktaufnahme, Austausch und
397
thomas fertig
Miteinander möglich sind? (Gruppenspiele, Gesprächsrunden und: Lernduos,
Kinder als Expert(inn)en für andere Kinder, Tutorien, Patenschaften zwischen
Kindern, Besuch eines benachbarten Flüchtlingsheimes und dergleichen mehr).
Ein typisches inklusives Arrangement ist die stückweise Loslösung der
Klient(inn)en von der Leitungs-, Erzieher- oder Lehrerperson und das möglichst
frühe Eintrainieren selbstständiger Lernmethoden.
Ein weiteres Merkmal ist Teamarbeit, sprich Zweier-Fachkräfte-Teams plus
Assistent(inn)en wie Praktikant(inn)en, Freiwillige oder Schulhelfer(innen).
Die Hauptaufgabe der Erzieher- und Lehrperson im inklusiven Setting liegt
stärker auf der Vorbereitung verschiedener, differenzierter Lernangebote und
weniger auf der zentralen Leitung eines Lernangebotes für alle.
Ein weiterer Baustein inklusiven Arbeitens ist die Begleitung und Bearbeitung
von Konflikten, die Entwicklung einer demokratischen Kultur, ob in Kleinkindergruppen oder in Erwachsenenbildungsgruppen oder in der Gemeinwesenarbeit. Die Entwicklung einer inklusiven, demokratischen Kultur ist die Grundbedingung für alle Teilnehmer(innen). In einem offenen Kiez-Bildungsangebot
bspw. muss die Frage gelöst werden: Wie können wir unsere Angebote so
vielseitig und unterschiedlich ansprechend gestalten, dass wir besonders unterschiedliche Bewohner(innen) des Kiezes in unsere Angebote locken können,
damit sie sich hier begegnen und Vorurteile voneinander abbauen können,
Konflikte offen und moderiert klären können und sich in erster Linie als verantwortliche Kiez-Bürger(innen) sehen, unabhängig von Herkunft, religiösem,
kulturellen oder etwa intellektuellem Hintergrund.
Neben Konzepte- und Praxisveränderung ist die Unterstützung von Haltungsund Einstellungsentwicklung der einzelnen Mitarbeiter(innen), des Teams,
der Eltern, der Kiez-Bewohner(innen) und der Kinder eine Basisvoraussetzung für nachhaltige inklusive Entwicklung. Ohne inklusive Haltungs- und
Wahrnehmungsentwicklung kann keine effektive Praxisveränderung
gelingen. Die Auseinandersetzung mit Menschenbild, Haltung, Einstellung
und Wahrnehmung kann bspw. in Teamtagen, in kommunalen Zukunftskonferenzen, in Elternabenden, in Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung
stattfinden.
398
niemand hat gesagt, dass inklusion einfach ist ...
Inklusion und Grenzen
Inklusives Arbeiten ist ein anspruchsvolles pädagogisches Arbeiten, das in
manchen Phasen den Fachkräften sehr viel abverlangen kann, insbesondere
dann, wenn die personellen Ressourcen sehr knapp sind und die Gruppengrößen stark. Dafür erlebt man aber auch in den Phasen, in denen positive Effekte
sichtbar werden, eine umso stärkere Bestätigung und Befriedigung.
Weder menschenrechtlich noch vom prozesshaften Inklusionsverständnis
her kann es eigentlich grundsätzliche Inklusionsgrenzen geben, höchstens
vorübergehende.
Diese sollten unbedingt auch vom eigenen Gesundheitsbewusstsein der Fachkräfte geleitet sein: Aufopferung und permanente Verausgabung sind keine
professionellen Bausteine. Fachkräfte sollen sich für bessere Umfeldbedingungen und für eigene Weiterbildung und Haltungsentwicklung einsetzen, aber
gleichermaßen auch ein feines Gespür für die eigene Belastbarkeit entwickeln.
In diesem Gesamtrahmen können inklusive Prozesse mit Geduld und ohne
Perfektionismus Stück für Stück gedeihen, ein paar Schritte vor und auch mal
einen Schritt zurück. Das ist erlaubt und völlig normal.
399
thomas fertig
Literatur
Fuchs, P. (2011): Keine Inklusion ohne Exklusion, keine Exklusion ohne Inklusion. In: G.I.B. Info. Heft 2/2011. URL:
www.fen.ch/texte/gast_fuchs_inklusion-exklusion.pdf.
Heinrich-Böll-Stiftung, „Initiative „Hoch inklusiv“, siehe: http://www.boell.de/
wirtschaftsoziales/stadtentwicklung/hochinklusiv-hochinklusivzusammenhalteiner-vielfaeltigen-gesellschaft-14753.html.
Hinz, Andreas. (2007): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!?
URL: www.comenius-regioflip.eu/uploads/media/Vortrag-hinz.2007.pdf.
Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik (Schule und Gesellschaft). 3. Aufl. Wiesbaden.
Sander, Alfred et al (1993): Kind-Umfeld-Diagnose – ein ökosystemischer Ansatz. St. Ingbert.
Stichweh, R. (1997): Inklusion/Exklusion und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Differenz und Integration: die Zukunft
moderner Gesellschaften. Opladen, S. 601–607.
URL: http://www.ssoar.info/ssoar/View/?resid=16897&lang=de).
400
U
johanna karpenstein
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
zwischen Jugendhilfe und Ordnungsrecht
Der vorliegende Artikel beschreibt, wie das Ankommen und die Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF) in Deutschland im Rahmen der
Jugendhilfe geregelt ist. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht unterscheidet sich als
Ordnungsrecht maßgeblich in der Zielsetzung von der Jugendhilfe. Die Soziale
Arbeit mit UMF agiert an der Schnittstelle dieser Rechtsbereiche, was gerade
dann, wenn der Übergang in die Verselbstständigung hergestellt werden soll,
weitreichende Folgen für die Jugendlichen hat. Neben einer kurzen Einführung
widmet sich der Artikel Fragestellungen dieses Übergangs. Zudem wird ein
Blick auf aktuelle politische Entwicklungen geworfen. Der Artikel entstand aus
einem Workshop im Rahmen des Kinderschutzforums 2014. Er dokumentiert
und vertieft die Schwerpunkte der hier entstandenen kurzen, aber intensiven
Auseinandersetzung mit dem Thema.
UMF in der Jugendhilfe
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) – Flüchtlingskinder und Jugendliche, die ohne Sorgeberechtigte einreisen – gelten international als besonders
schutzbedürftige Gruppe.1 Auch Deutschland erkennt die besondere Schutzbedürftigkeit an, spätestens seit Rücknahme des Vorbehalt gegenüber der Gültigkeit der UN-Kinderrechtskonvention für ausländische Kinder 2010. Bereits
2005 trat das „Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes“ (KICK) in Kraft und
nahm unbegleitete minderjährigen Flüchtlinge als besonders schutzbedürftige
Gruppe explizit mit auf. Laut § 42 I des SGB VIII ist das Jugendamt in Ausübung
seines staatlichen Schutzauftrages verpflichtet, ausländische Minderjährige,
die ohne Personensorge- bzw. Erziehungsberechtigte nach Deutschland kom-
1 Vgl. Kapitel IV EU Aufnahmerichtlinie.
403
johanna karpenstein
men, in Obhut zu nehmen.2 Diese Verpflichtung zur Inobhutnahme kennzeichnet die verbindliche Unterbringung und Versorgung durch die Jugendhilfe
für UMF. Dies mag selbstverständlich erscheinen, handelt es sich jedoch um
besonders schutzbedürftige, alleinreisende Minderjährige. Allerdings bestand
dieser Schutz für UMF nicht immer bundesweit in dieser Verbindlichkeit. Noch
bis vor wenigen Jahren wurden auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
wie erwachsene Flüchtlinge behandelt. Es stand die Flüchtlingseigenschaft im
Mittelpunkt, nicht die Minderjährigkeit. Das Ergebnis eines jahrelangen Einsatzes für die Rechte von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist daher,
dass aufenthaltsrechtliche Restriktionen in ihrer Wirksamkeit gemildert sind,
so lange sich die Kinder und Jugendlichen in Maßnahmen der Jugendhilfe
befinden, einen Vormund haben3 und zur Schule gehen können.
Jugendhilfe und Ausländerrecht
Nichtsdestotrotz ist die Arbeit mit UMF in der Jugendhilfe von den Themen
Flucht und Asyl geprägt, und die Mitarbeitenden sehen sich häufig gezwungen, im Kontext migrationspolitischer und -rechtlicher Rahmenbedingungen
zu agieren. Junge Flüchtlinge, die ohne Begleitung in Deutschland ankommen, haben häufig eine nervenaufreibende und langjährige Flucht hinter sich.
Oft mussten sie Trennungen von Familie und Freunden bereits bei Verlassen
des Heimatlandes oder aber während der Flucht erfahren. Nicht selten ist
die Konsequenz des Erlebten ein hoher psychischer Leidensdruck, der sich in
Schlaflosigkeit, Albträumen, Ängsten oder körperlichen Beschwerden äußern
kann und häufig behandlungsbedürftig ist. Die Arbeit der Jugendhilfe fußt
daher auf einen Vertrauensaufbau unter oft erschwerten Bedingungen. Die
2 Gemäß dem Geltungsbereich nach § 6 Abs. 2 SGB VIII können Ausländer (Gesetzeswortlaut) nur im Falle des
rechtmäßigen Aufenthaltes oder einer aufenthaltsrechtlichen Duldung Leistungen nach dem SGB VIII beanspruchen. Dies umfasst auch Minderjährige, die sich im Asylverfahren befinden und über eine Aufenthaltsgestattung verfügen, allerdings nicht undokumentierte Minderjährige oder Erziehungsberechtigte.
3 Minderjährige sind nach dem Aufenthalts- und Asylrecht bereits mit 16 handlungsfähig. Das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge führt jedoch mittlerweile i. d. R. keine Anhörung im Asylverfahren von 16–18-Jährigen mehr ohne Anwesenheit oder Zustimmung durch den Vormund durch.
404
unbegleitete minderjährige flüchtlinge
Unterstützung bei Spracherwerb, Ausbildung und dem Weg in Richtung
Selbstständigkeit und einer Zukunftsperspektive ist angesichts des Erlebten
der Jugendlichen ebenso wie durch ausländerrechtliche Unsicherheiten herausfordernd. Da viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Deutschland
im Alter von 16 oder älter erreichen, ist die Arbeit der Jugendhilfe zusätzlich
durch Zeitdruck geprägt.
„Die rechtlichen Grundlagen der ausführenden Institutionen – Träger der
Jugendhilfe und das Jugendamt auf der einen Seite, Ausländerbehörde und
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der anderen Seite – könnten
unterschiedlicher kaum sein.“4 Die Jugendhilfe orientiert sich an den Bedarfen
der Einzelnen und den damit verbundenen Rechten. Das Asyl- und Aufenthaltsrecht als Ordnungsrecht fokussiert primär den Schutz der Gesellschaft auch
gegenüber Interessen von Einzelnen. Das Kindeswohl und das Kindesinteresse
leitet die Jugendhilfe und begrenzt die Migrationskontrolle an dieser Schnittstelle. In den entsprechenden Aushandlungen, die hieraus erwachsen, nehmen
Vormünder wie Sozialarbeiter(innen) eine prominente Stelle ein. Dies erfordert
ein hohes Maß an Kenntnis der betreffenden rechtlichen Kontexte ebenso wie
eine parteiische und hinsichtlich von Fluchterfahrungen und migrationsrechtlichen Möglichkeiten erfahrene Haltung.
UMF als Kategorie
Für eine solche Haltung ist es maßgeblich, sich bewusst zu machen, dass
U-M-F eine Kategorie ist, die minderjährige alleinreisende Flüchtlinge
von anderen Migrant(inn)en und Flüchtlingen5 unterscheidet. Der Schutz
4 Schwarz, Ulrike (2013): Die Jugendhilfe und das Ausländerrecht. In: Forum Jugendhilfe Heft 4.
5 In Anlehnung an die Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter aus Mai 2014 orientiert sich der Begriff Flüchtling
nicht an Fragen der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern
beschreibt umfassender auch die Personengruppen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt wurde.
405
johanna karpenstein
durch die Jugendhilfe ist eine Chance, der ein Ankommen und Verbleiben
in Deutschland ebenso wie einen angemessenen Umgang mit der oftmals
einschneidenden und häufig traumatisierenden Fluchterfahrung immerhin
ermöglicht. Dies ist gemessen an der Situation von Kindern und Jugendlichen,
die in Begleitung ihrer Eltern einreisen und in Gemeinschaftsunterkünften für
Asylbewerber(innen) leben müssen, keineswegs selbstverständlich.6 Vergessen werden sollte nicht, dass der besondere Status oder Schutz für UMF an den
Rändern der Kategorie U-M-F zu bröckeln beginnt, nämlich dann, wenn einzelne Komponenten der Kategorie nicht oder nicht mehr erfüllt sind: Sind die Jugendlichen nicht alleinreisend oder werden im Rahmen von Altersfestsetzungen7 volljährig gemacht, endet die „Sonderbehandlung“ durch die Jugendhilfe
und sie werden etwa auf Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber(innen)
verwiesen, erhalten Asylbewerberleistungen als Hilfe zum Leben, Fragen der
Beschulung wie der Zukunftsperspektive werden mangels Unterstützung und
aufgrund rechtlicher Restriktionen prekär.
Phasen des Übergangs – junge volljährige Flüchtlinge
Der Situation von jungen unbegleiteten volljährigen Flüchtlingen, die mit
Erlangen der Volljährigkeit direkt oder mittelfristig nicht mehr von der
Jugendhilfe profitieren können, gilt es aus Sicht des Bundesfachverbandes
UMF in dieser Phase des Übergangs besondere Aufmerksamkeit zu widmen,
da sie als Zielgruppe in öffentlichen wie Fachdiskursen bisher keine Rolle
spielen.8 Sie befinden sich – zugespitzt formuliert – an der Schnittstelle von
6 Vgl. hierzu die von Thomas Berthold im Auftrag von UNICEF 2014 durchgeführte Studie „In erster Linie Kinder- Flüchtlingskinder in Deutschland“.
7 Um bei Zweifeln festzustellen, ob die Angabe der Minderjährigkeit richtig ist und die betreffende Person entsprechend in Obhut zu nehmen ist, müssen Altersfestsetzungsverfahren durchgeführt werden. Diese sollten
idealerweise durch Fachpersonal des Jugendamtes und im Gespräch erfolgen. Spätestens im Klageverfahren
gegen die Ergebnisse von Altersfestsetzungen werden häufig medizinische Verfahren angewendet, deren
Durchführung ethisch und deren Ergebnissgenauigkeit sachlich kritisch zu betrachten sind.
8 Der Bundesfachverband führt derzeit zu dieser Thematik das Projekt „Auf eigenen Füßen stehen. Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge zwischen Jugendhilfe und Selbstständigkeit“ durch.
406
unbegleitete minderjährige flüchtlinge
Kinderschutz und Migrationskontrolle, unterliegen sie doch als Careleaver9
häufig nicht mehr der Jugendhilfe, sondern dem Primat des Ordnungsrechts.
In vielen Kommunen wird bei Erreichen der Volljährigkeit die Jugendhilfe
beendet oder nur durch hohen Argumentationsaufwand der betreuenden
Einrichtungen wenige Monate verlängert. Die Möglichkeit der Gewährung
von Hilfen für junge Volljährige10 bemisst sich nach dem Hilfebedarf der
Jugendlichen, dieser wiederum nach der psychosozialen Reife und Selbstständigkeit. Eine offene Formulierung von Leistungsvoraussetzungen ist in einem
„Sozialpädagogischen Gesetz“11 notwendig. Zugleich ist die weiche Regelung
Einfallstor für fiskalische Interessen, die Fachkräfte nicht selten daran hindern,
fachlich Begründungen zur Grundlage von Verwaltungsentscheidungen zu
machen.12 Zudem: Wonach werden Selbstständigkeit und Reife beurteilt?
Volljährigkeit allein ermöglicht bekanntlich kein Leben ohne Unterstützung.
Im Fall der jungen Flüchtlinge ist beispielsweise fraglich, ob der Begriff der
Selbstständigkeit den Umgang mit deutschen Behörden oder mit aufenthaltsrechtlichen Verfahren einschließt.
Die Jugendhilfe sucht durch Betreuung und den Aufbau eines sozialen Netzwerkes Stabilität und Vertrauen (wieder) herzustellen. Das Vertrauensverhältnis zu Betreuer(inne)n, Vormündern und anderen Jugendlichen ist hier
konstitutiv. Wird dieses abrupt abgebrochen, stellt dies für die Jugendlichen
eine Gefahr da, Retraumatisierungen zu erleiden und erlangte Sicherheit
einzubüßen. „Der Verlust der Familie wird durch den Verlust der Unterstützungsstruktur wiedererlebt.“13 Aus Untersuchungen zur Situation von
Careleavern ist die Bedeutung von Beziehungsabbrüchen nach der Jugendhilfe etwa im Kontext von prekären Ausbildungsverläufen bekannt: „Eine
9 „Careleaver“ ist der aus dem Englischen übernommene Begriff für Heranwachsende, die die stationäre
Jugendhilfe verlassen haben.
10 Vgl. § 41 SGB VIII.
11 Wiesner, Reinhard (2007): Was will das SGB VIII? Und was sieht es für junge Volljährige vor? In: Sozial Extra 7/8.
12 Vgl. ebd.
13 Andernach Lisa/Tavangar, Patho (2014): Junge Flüchtlinge in der Volljährigkeitsfalle. In: Forum Erziehungshilfen 3.
407
johanna karpenstein
Phase der Orientierung und eine Toleranz gegenüber Scheitern stehen kaum
zur Verfügung“.14 Mit dem Ende der Jugendhilfe wird fraglich, ob Wohnraum
zur Verfügung steht, ob Gesundheitsversorgung in vollem Umfang gewährt
wird und ob (Aus-)Bildung und Arbeit in zukunftsweisender Form bewältigt
werden können. Die Frage nach dem Ob und Wie der Unterstützung bei der
Verselbstständigung bestimmt – abhängig von der psychosozialen Stabilität
der Jugendlichen sowie ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation und deren Implikationen für Ausbildungsförderung und Arbeitsmarktzugang – ihre Zukunftsperspektiven. Deutlich wird dies beispielsweise anhand der Problematik der
Unterbringung nach Beendigung der Jugendhilfe: Bereits für junge Volljährige
ohne aufenthaltsrechtliche Problematik ist eine Wohnungssuche aufgrund der
angespannten Wohnungsmärkte ein schwieriges Unterfangen. Die Wohnungssuche sprengt daher nicht selten die zeitlichen und auch personellen Möglichkeiten der Jugendhilfe. Bei jungen Flüchtlingen kommt durch die aufenthaltsrechtliche Problematik ein strukturelles Problem hinzu: Wird keine Unterkunft
gefunden, kommen jugendliche Flüchtlinge nach der Jugendhilfe häufig in
eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber(innen). Das bedeutet i. d. R.
eine Unterbringung in Mehrbettzimmern und entsprechend wenig angemessenen Rückzugsraum, um etwa Prüfungsvorbereitungen im Ausbildungskontext gewährleisten zu können. Stellen Jugendliche erst nach der Jugendhilfe
einen Asylantrag, müssen sie mit einer bundesweiten Umverteilung an einen
Ort rechnen, der sie von ihrem sozialen Umfeld und ggf. auch von begonnenen
Therapieprozessen o. Ä. trennt. Die Jugendlichen, die nach Ende der Jugendhilfe
noch nicht über einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen, erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und unterliegen zahlreichen
Beschränkungen. Aufgrund der kommunalen Hoheit der Jugendhilfe kommt es
zu regional höchst unterschiedlichen Formen von Leistungsgewährung. Zudem
ist auch der Zugang zu Ausbildung und Arbeit stark abhängig von regionalen
sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen: Bayern etwa hat die Berufsschulpflicht auf 21 Jahre angehoben und ermöglicht somit eine Einschulung nach
Ermessen der Schule bis zum 25. Lebensjahr.
14 Strahl, Benjamin/Thomas, Severine (2014): (Er)wachsen ohne Wurzeln? Der Weg aus den stationären Erziehungshilfen. In: Forum Erziehungshilfen 3.
408
unbegleitete minderjährige flüchtlinge
Zusammenfassend ist die Perspektive junger Volljähriger abhängig von ihrer
aufenthaltsrechtlichen Situation, der Voraufenthaltsdauer (über die sich
Zugang zu Ausbildungsförderung herleitet), dem Existieren (und Fortbestehen)
eines sozialen Netzwerkes und von – nach der Jugendhilfe meist ehrenamtlich
tätigen – Bezugspersonen wie ehemalige Betreuer(innen) oder Einzelvormünder, der Gesundheitsversorgung, den ökonomischen und infrastrukturellen
Bedingungen vor Ort und der Wohnsituation. Da die meisten unbegleiteten
Minderjährigen im Alter von 16 und 17 Jahren einreisen, sind viele nur kurze
Zeit in der Jugendhilfe. Umso bedeutender ist es, die Übergänge in die Selbstständigkeit von vorneherein in den Mittelpunkt zu stellen.
Aktuelle Entwicklungen – Steigende Zahlen, bundesweite Umverteilung
Aktuell ist ein Anstieg der Zugangszahlen15 von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen nach Deutschland zu verzeichnen. Das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge verzeichnet für das Jahr 2014 einen Zuwachs von alleinreisenden minderjährigen Erstantragssteller(inne)n im Asylverfahren von 77 % im
Vergleich zum Vorjahr, es handelt sich um schätzungsweise 173.000 Anträge.
Hauptherkunftsländer der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind
derzeit Afghanistan, Eritrea, Syrien und Somalia.
Die steigende Anzahl von Flüchtlingen hat Konsequenzen sowohl für die
Qualität der Versorgung im Einzelfall als auch für die Gewährleistung dieser
Versorgung durch die Kommunen. Der Druck vieler Kommunen vor allem
in grenznahen Gebieten im Süden Deutschlands als auch in Großstädten
wie Hamburg, Bremen, aber auch Passau und Aachen wird nunmehr durch
aktuelle Gesetzesvorhaben zu einer bundesweiten Umverteilung unbegleiteter
Minderjähriger zu lösen gesucht. Diese Lösungsversuche stützen sich auf eine
15 Zahlen unbegleiteter minderjährige Flüchtlinge in Deutschland dezidiert zu erheben, ist schwierig. Zu dieser
Schwierigkeit, die hier nicht ausgeführt werden kann, vgl. Espenhorst, Niels (2014): Wir zählen nicht! –
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind (k)ein Thema der Jugendhilfestatistik. In: Migration und Soziale
Arbeit 4.
409
johanna karpenstein
Verteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nach dem Königsteiner Schlüssel als Verwaltungsschlüssel um einen Lastenausgleich herbeizuführen. Der Bundesfachverband sowie Erziehungshilfe- und Kinderschutzverbände sehen die Not der betreffenden Kommunen und die Konsequenzen für
die Jugendlichen in zahlenmäßig überlasteten Einrichtungen. Zu kritisieren ist
jedoch, den Lastenausgleich auf Kosten von Kinderschutzaspekten sowie angesichts absehbarer Einbußen hinsichtlich der Entwicklung länderübergreifender
Qualitätsstandards durchzusetzen.16
Fazit
Steigende Zahlen von in Deutschland ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stehen im Kontext eines weltweiten Anstiegs von Flüchtlingsbewegungen. Die Gesetzesvorhaben zur bundesweiten Umverteilung von
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen reagieren auf diese Entwicklung.
Sofern sie in bisher angedachter Weise Mitte dieses Jahres Umsetzung finden,
stellen sie viele Etappenziele des politischen Einsatzes für UMF der letzten
Jahren in Frage. Beispielsweise das Clearingverfahren im Rahmen der Inobhutnahme, welches sich – mittlerweile fast bundesweit – in meist drei Monaten
intensiver Betreuung nach Ankunft ausführlich der gesundheitlichen, psychosozialen und aufenthaltsrechtlichen Situation der Jugendlichen und dem
jeweiligen Handlungsbedarf widmet, wird gesplittet. Die Jugendlichen sollen
in Obhut genommen und – voraussichtlich nach einem Gesundheitsclearing –
nach 7–14 Tagen verteilt werden. Zuständigkeiten ändern sich und mit ihnen
Kostenverantwortlichkeiten, deren Einfluss auf die Intensität der Jugendhilfe
abzuwarten bleibt. Die Frage der Vormundschaft kann überhaupt erst nach der
Verteilung geklärt werden, was gegen die am Kindeswohl orientierte Vorgabe der EU zur umgehenden Bereitstellung eines Vertreters für unbegleitete
Minderjährige verstößt.17 Kompetenzzentren im Umgang mit UMF, die sich in
16 Vgl. zu dieser Kritik die ausführlichen Stellungnahmen des Bundesfachverbandes: http://www.b-umf.de/de/
publikationen/stellungnahmen.
17 S. Art. 6 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung.
410
unbegleitete minderjährige flüchtlinge
den letzten Jahren entlang der „HotSpots“ des Aufgriffs durch die Bundespolizei oder der Ankunft unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland
etabliert haben, sollen durch die bundesweite Verteilung – auch in mit UMF
unerfahrene Kommunen – entlastet werden. Möglichkeiten des Wissenstransfers sind hierbei jedoch offenbar ebenso wenig mitgedacht wie bundesweite
Qualitätsstandards.18
Obgleich in vielen Bereichen der Aufnahme und Versorgung von UMF Handlungsbedarf besteht, soll an dieser Stelle nochmals auf die Bedeutung des
Übergangs – als ein zentrales Thema des Kinderschutzforums 2014 – verwiesen
werden: Ränder der „Kategorie U-M-F“ werden deutlich, wenn man den Blick
über das Ende der Jugendhilfe hinaus richtet: Die jungen Volljährigen werden
dann – und nicht selten an ihrem 18. Geburtstag – zu jungen alleinreisenden,
häufig männlichen Flüchtlingen. Sie gleiten aus dem Status des Kinderschutzes hinein in die nächste Kategorie – oder genauer – das Klischee von jungen (meist) männlichen Flüchtlingen, denen jeder besondere Schutzbedarf
abgesprochen wird. Es gilt, hier weiter zu insistieren und öffentlich auf die
besonders vulnerable Situation dieser jungen Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Dies ermöglicht auch die Verknüpfung mit der Debatte um einheimische
Careleaver, Jugendliche, die nach mehreren Jahren der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit starten und häufig ohne familiären Rückhalt oder
Ressourcen ihre Zukunft in die Hand nehmen müssen.
Konsequenterweise sollten weder erkämpfte Rechte und Standards für UMF im
Zuge politischer Aushandlungen übergangen werden noch der Einsatz für UMF
mit der Jugendhilfe enden.
18 Der Bund übernimmt keine finanzielle Verantwortung und überlässt somit den Kommunen alle Aufgaben.
Bundeseinheitliche Standards werden so verunmöglicht.
411
A
autor(inn)enverzeichnis
Prof. Dr. phil. Kay Biesel
Case Manager, Fachkraft für Dialogisches Coaching und Konfliktmanagement,
Diplom-Sozialpädagoge/Sozialarbeiter FH; Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kindesschutz an der Hochschule für Soziale Arbeit
FHNW, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Basel.
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Michael Böwer
Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge, Kath. Hochschule
Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Leiter
des Forschungsprojekts „Institutionelle Schutzkonzepte in Einrichtungen der
Erziehungshilfe (ISkE)“.
Internet: www.katho-nrw.de/paderborn/forschung-entwicklung
E-Mail: [email protected]
Wolfgang Brandstetter
Studium der Germanistik, Geschichte und Sozialen Arbeit, M. A. für Systemische Sozialarbeit, seit über 30 Jahren Mitarbeit in verschiedenen Projekten der
stationären Jugendhilfe bei unterschiedlichen freien Trägern. Seit 1997 für die
Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe im oberbayerischen Tutzing zunächst als
Gruppenleitung für eine therapeutische Wohngruppe für Jugendliche, dann als
Projektleitung – später Bereichsleitung – für ‚Betreutes Wohnen‘ für junge Erwachsene tätig. Seit 2006 Qualitätsbeauftragter für alle Bereiche der Tabaluga
Kinder- und Jugendhilfe.
E-Mail: [email protected]
413
autor(inn)enverzeichnis
Thomas Fertig
Sonderpädagoge, seit über 20 Jahren Arbeit in unterschiedlichen inklusiven Zusammenhängen, sowohl im Kontext von Behinderung als auch im Kontext von Migration, kultureller Heterogenität in verschiedenen Lebensbereichen. Seit 2009 Leitung
des Weiterbildungsgangs „Fachkraft für inklusive Pädagogik und Praxis“ an der Universität des Saarlandes, seit 2015 den zusätzlichen Weiterbildungsgang „Begleiter_
in für inklusive Prozesse und Systeme“ ebendort. Außerdem als Berufsschullehrer
in Berlin und freiberuflich als Dozent in unterschiedlichen Zusammenhängen tätig.
Internet:
www.uni-saarland.de/einrichtung/zell/inklusion.html; www.thomas-fertig.de
E-Mail: [email protected]
Christina Frank
Mag.a, Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems,
Forschungsschwerpunkte: Quantitative Forschung im Bereich der Psychotherapie und psychosozialer Interventionen sowie der Genderforschung.
E-Mail: [email protected]
Dominic Frohn
Diplom-Psychologe, selbstständig in eigener Praxis für Beratung, Coaching, Mediation und Training in Köln, Ausbilder für Mediation und Coaching im INeKO-Institut an der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter für Differenzielle Psychologie
an der Hochschule Fresenius. Durchführung der Studie „Wir sind Eltern!“ im Auftrag der Stadt Köln als wissenschaftlicher Leiter mit seinem Team im Jahr 2010/11.
Internet: www.dominicfrohn.de
E-Mail: [email protected]
414
autor(inn)enverzeichnis
Prof. Dr. Dorett Funcke
Ernsting‘s family-Junior-Stiftungsprofessur für das Fach Soziologie familialer Lebensformen, Netzwerke und Gemeinschaften an der FernUniversität in
Hagen.
E-Mail: [email protected]
Univ.-Prof. Dr. phil. Silke Birgitta Gahleitner
Studium der Sozialen Arbeit, Promotion in Klinischer Psychologie und langjährige Arbeit als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen sowie in eigener Praxis. Seit 2006 Professorin für
Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der ASH Berlin, seit 2012 für den
Forschungsbereich Integrative Therapie und Psychosoziale Interventionen
am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der
Donau-Universität Krems zuständig.
E-Mail: [email protected]
Mag.a Dr.in Katharina Gerlich
Promovierte Soziologin, seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vortragende am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems. Forschungsschwerpunkte: qualitative
soziologische Erhebungs- und Analyseverfahren zu spezifischen Fragestellungen der psychosozialen Interventionen, Psychotherapieforschung und
Gender Studies.
E-Mail: [email protected]
415
autor(inn)enverzeichnis
Britt Heinrichs
B. A. Soziale Arbeit, Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Studierende im Masterstudiengang Gesundheitsfördernde Soziale Arbeit und wissenschaftliche Hilfskraft der Projektphase I: Expert/innen-Hearing.
E-Mail: [email protected]
Heidemarie Hinterwallner
MA MA, Studium der Soziologie an der Universität Wien und Klinische Sozialarbeit an der Fachhochschule Campus Wien. Seit 2008 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2012 Lehrgangsleiterin des Universitätslehrgangs
Psychotherapeutisches Propädeutikum am Department für Psychotherapie
und Biopsychosoziale Gesundheit tätig. Schwerpunkte: Qualitative Forschung,
Gesundheits- und Medizinsoziologie.
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Bettina Hünersdorf
Professorin für Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studium der Erziehungswissenschaft an
den Universitäten Würzburg und Trier. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und
Assistentin am Institut für Pädagogik der Universität Trier sowie an Institut für
Pädagogik an der Universität Zürich, Vertretungsprofessorin für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Universität Heidelberg und der Universität
der Bundeswehr München, Professorin für Theorie Sozialer Arbeit an der Alice
Salomon Hochschule Berlin.
E-Mail: [email protected]
416
autor(inn)enverzeichnis
Philipp Ikrath
Studienleiter bei T-Factory Hamburg, seit 2007 in deren Geschäftsleitung;
wissenschaftlicher Leiter und Vorsitzender von Jugendkulturforschung.de –
Jugendkulturforschung und Kulturvermittlung e. V. in Hamburg.
Internet: www.jugendkulturforschung.de
E-Mail: [email protected]
Johanna Karpenstein
Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V.
Internet: www.b-umf.de
E-Mail: [email protected]
Dr. Catarina Christina Katzer
Volkswirtin, Sozialpsychologin, Soziologin; Institut für Cyberpsychologie &
Medienethik, Köln.
Internet: www.cyberbullying-germany.de
E-Mail: [email protected]
Jessika Kuehn-Velten
Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin.
Stellvertretende Leitung der KinderschutzAmbulanz Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Begleitung und Gestaltung von Klärungsprozessen mit Kindern und Familien im Umfeld von Gewalterleben und Traumatisierung, Fachberatungen, Fort- und
Weiterbildung. Seit 2012 Mitglied des Bundesvorstands der Kinderschutz-Zentren.
E-Mail: [email protected]
417
autor(inn)enverzeichnis
Dr. Anne Katrin Künster
Diplom-Psychologin, Leitende Psychologin am Universitätsklinikum Ulm,
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Sektion: Pädagogik,
Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie.
E-Mail: [email protected]
Mike Lenkenhoff
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwesen der FH Münster, war dort u. a. im Projekt Schutzkonzepte tätig. Als Diplom-Sozialarbeiter/
Diplom-Sozialpädagoge zunächst in der ambulanten Drogenhilfe und in den
Erziehungshilfen, danach als ASD-Fachkraft in einem kommunalen Jugendamt
tätig. Abschluss als Master in Nonprofit-Management.
E-Mail: [email protected]
Birgit Maschke
Diplom-Sozialpädagogin, Familientherapeutin (DGSF), Traumatherapeutin
(Kirschenbauminstitut), Supervisorin (DGSF), STEEP-Qualifikation (HAW HH),
Qualitätsentwicklerin (Kronberger Kreis e. V.). Angestellt beim Jugendamt des
Kreises Hzgt. Lauenburg in der Fachstelle Kinderschutz. Mit halber Stundenzahl
freiberuflich tätig, Schwerpunkte: Supervision, Fortbildung, Fallwerkstätten.
Internet: www.fallwerkstätten.de
E-Mail: [email protected]
418
autor(inn)enverzeichnis
Cecilia Mingazzini
Diplom-Sozialpädagogin, Studium der Sozialpädagogik, langjährig als Gruppenleitung im geschlossenen Mädchenheim Gauting tätig, anschließend
Bezirkssozialarbeit im Jugendamt Heilbronn. Ab 2005 Gruppenleitung im
Gruppendienst bei der Tabaluga Kinder und Jugendhilfe und ab 2008 Bereichsleitung für das Haus in Schongau und die Außenwohngruppe in Tutzing.
Zugleich Weiterbildung zur Mediatorin und Ausbildung zur Traumapädagogin
(mit Abschluss in 2014) durch das Zentrum für Traumapädagogik . Seit 2011
auch Zuständigkeit für die traumapädagogische Fortbildung der Mitarbeiter
der Tabaluga Kinder und Jugendhilfe.
E-Mail: [email protected]
Thomas Mörsberger
Rechtsanwalt, Vorsitzender des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF), Heidelberg.
E-Mail: [email protected]
Dr. phil. Peter Mosser
Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut, Traumatherapeut. Seit 1999
Mitarbeiter von kibs in München [Arbeit mit Jungen und jungen Männern
(< 27 J.), die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind]. Mitglied des von
der Bundesregierung einberufenen Runden Tisches „Kindesmissbrauch“
(2010/2011), Mitarbeit an Forschungsprojekten zum Thema sexualisierte
Gewalt (u. a. DJI-Studie „Sexuelle Gewalt in Institutionen“ 2011, Studie zum
Kloster Ettal 2013), zahlreiche Veröffentlichungen [z. B.: Expertise im Auftrag
des IzKK: „Sexuell grenzverletzende Kinder – Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen“ (2012)].
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autor(inn)enverzeichnis
Mareike Naß
B. A. Soziale Arbeit, Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Studierende im Masterstudiengang Gesundheitsfördernde Soziale Arbeit und wissenschaftliche Hilfskraft der Projektphase I: Expert/innen-Hearing.
E-Mail: [email protected]
Bernd Reiners
Diplom-Psychologe, Fachpsychologe für klinische Psychologie und Psychotherapie (BDP), Paar-, Familien- und Lehrtherapeut für systemische Therapie (DGSF),
Supervisor (DGSv, DGSF), Lehrsupervisor (DGSv). Seit 2005 Arbeit mit Kinderorientierter Familientherapie, seit 2009 Lehre, 2013 Fachbuchveröffentlichung.
E-Mail: [email protected]
Dr. Klaus Roggenthin
Soziologe und Sozialpädagoge, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft
für Straffälligenhilfe e. V., Bonn.
E-Mail: [email protected]
Martha Schneider
Studentin der Psychologie an der Universität Wien, Diplomandin am Institut
für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden. Studienschwerpunkte: Klinische- und Gesundheitspsychologie sowie Angewandte
Kinder- und Jugendpsychologie.
E-Mail: [email protected]
420
autor(inn)enverzeichnis
Prof. Dr. Christian Schrapper
Professor für Pädagogik, Schwerpunkt Sozialpädagogik, an der Universität Koblenz-Landau, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie
sozialer Arbeit, Planung und Organisation sozialer Arbeit, Methoden sozialer
Arbeit, sozialpädagogische Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe.
E-Mail: [email protected]
Dr. Sabina Schutter
Leitung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik im Deutschen Jugendinstitut. Zuvor Grundsatzreferentin und stellvertretende Abteilungsleitung in der
Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts.
E-Mail: [email protected]
Teresa Siefer
Diplom-Psychologin, Psych. Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Leiterin des Kinderschutz-Zentrums Lübeck.
Internet: www.kinderschutz-zentrum-luebeck.de
E-Mail: [email protected]
Dr. llse Wehrmann
Beratung und Management für Frühpädagogische Praxis, Wehrmann Education Consulting.
Internet: www.ilse-wehrmann.de
E-Mail: [email protected]
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Prof. Dr. Michael Winkler
Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik.
Arbeitschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Pädagogik, Theorie der Sozialpädagogik, Familienerziehung.
E-Mail: [email protected]
Reinhart Wolff
Erzieherwissenschaftler und Soziologe, Hochschullehrer für Sozialarbeit und
Sozialpädagogik von 1977 bis 2008 an der Alice Salomon Hochschule Berlin,
1990–1994 deren Rektor, seit 1975 Privatdozent an der Freien Universität Berlin,
Familienberater und Familientherapeut, System- und Organisationsberater,
Praxisforscher und Qualitätsentwickler in freier Praxis / Sprecher des Kronberger Kreises für Dialogische Qualitätsentwicklung e. V.
E-Mail: [email protected]
Birgit Zeller
Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter.
E-Mail: [email protected]
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autor(inn)enverzeichnis
Prof. Dr. phil. Ute Ziegenhain
Leiterin der Sektion: Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie am Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie/Psychotherapie.
E-Mail: [email protected]
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