Inkontinenz im Islam

Inkontinenz
Inkontinenz im Islam oder
Umgang mit Kontinenzstörungen im islamischen
Kulturkreis Deutschlands
von H. Behnje, K. Espendiller, M. Okwieka, St. Ramrath-Schweers
Der Artikel ist eine Zusammenfassung der Facharbeit
„Kultursensible Pflege bei Patienten mit Kontinenzstörungen“ zum Abschluss des Grundlagenjahres
der Weiterbildung Stomapflege und Inkontinenz am
Bildungszentrum Ruhr 2004/2006 in Herne.
Zentrale Frage im Rahmen der Projektarbeit war,
ob die Bedürfnisse muslimischer Patienten mit
Kontinenzstörungen in Deutschland durch die
betreuenden Pflegekräfte berücksichtigt werden.
Die geschichtliche Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft begründet die Notwendigkeit
zur Bearbeitung dieses Themas.
Erst im letzten Jahrzehnt wurde vereinzelt der
Aspekt der Kultur in der Pflege bearbeitet. Gleichzeitig hat sich die Pflegewissenschaft im Hinblick
auf die Professionalisierung von Pflegeberufen
etabliert. Die Pflegewissenschaft reflektiert seither
den Pflegealltag. Dabei wurde bisher der Schwerpunkt nicht auf die verschiedenen Kulturen
gelegt. Aufklärung, Entwicklung und Forschung
auf diesem Gebiet müssen intensiviert werden.
Durch die unzureichenden Informationen, aber
auch die Vielzahl der Kulturen in Deutschland ist
das Thema heute aktueller denn je.
In unserer Projektarbeit war es uns aufgrund der
Vielzahl der Kulturen in Deutschland nicht
möglich, alle Kulturen zu berücksichtigen. Daher
haben wir uns mit der größten Bevölkerungsgruppe der Migranten, den Muslimen, beschäftigt.
Um das Thema weiter einzugrenzen haben wir
uns auf die kulturellen Merkmale und das diesbezügliche Wissen des nicht-muslimischen
Pflegepersonals konzentriert.
Die muslimischen Menschen, die in den 70er
Jahren des 20. Jahrhunderts nach Deutschland
kamen und auch deren Familien erreichen zunehmend das Alter, in dem Kontinenzstörungen
gehäuft auftreten. Aus dieser Tatsache heraus
resultiert ein steigender Informationsbedarf.
In diesem Zusammenhang hat sich im Rahmen
unserer Projektarbeit ergeben, dass das nichtmuslimische Pflegepersonal nur geringe, lückenhafte oder falsche Kenntnisse über die Pflege und
Versorgung von muslimischen Patienten mit
Kontinenzstörungen besitzen. Dadurch ergibt
sich, dass die nicht-muslimischen Pflegekräfte
momentan auch noch nicht in der Lage sind, die
Bedürfnisse muslimischer Patienten mit Kontinenzstörungen zu berücksichtigen.
In der islamischen Kultur sind die Verantwortungsbereiche geschlechterspezifisch getrennt, der
Mann vertritt das öffentliche Leben, der Zuständigkeitsbereich der Frau ist innerhalb des Hauses.
Auch die Arbeitsbereiche sind nach Geschlechtern
getrennt. In der Öffentlichkeit gehen Männer und
Frauen sehr distanziert miteinander um, zum
Erhalt der Ehre und als Zeichen des Respekts.
Dies äußert sich beispielsweise im Senken des
Blickes bei Begegnungen, Wechsel der Straßenseite
um versehentliche Berührungen zu vermeiden.
Der Mann hat einen höheren Stellenwert als die
Frau, was sich auch in den Nachkommen widerspiegelt, die „Kinder werden strikt diszipliniert,
wobei Jungen größere Freiheiten genießen als Mädchen“.
Die Altershierarchie spielt eine große Rolle. Der
Junge wird durch die Beschneidung zum Mann,
das Mädchen wird durch die Hochzeit zur Frau.
Das Familienleben hat eine große Bedeutung bei
den Muslimen. Jeder Muslim hat Verantwortung
für die Familie, Kontakte werden durch Besuche
und Telefonate gepflegt und dürfen nicht vernachlässigt werden. „Zwischen verwandten Familien
besteht enger Kontakt“. Familienmitglieder helfen
und unterstützen sich gegenseitig. Das Wohl der
Familie geht über individuelle Interessen. Unter
anderem bei der Sure „Die Frauen“ steht die große
Bedeutung der Familie im Islam geschrieben.
Auch der Prophet Mohammed hat eine Reihe von
Aussprüchen zum Thema Ehe und Familie getätigt.
In der Auslegung gibt es jedoch Unterschiede zu
berücksichtigen: zwischen den verschiedenen
Ländern und zwischen den städtischen und ländlichen Bereichen. In unserer Projektarbeit haben
wir uns auf die Benennung einiger Gemeinsamkeiten beschränkt, die in vielen dieser muslimischen Länder vorkommen. Hierzu gehört das
folgende Verständnis von Krankheit.
Eine Heilung ohne Gebet ist nicht möglich,
gerade während einer Krankheit ist der Wunsch
besonders groß, die Riten und Gebräuche der
Religion auszuüben, um so die Tröstungen seines
Glaubens zu erfahren“. Körperlichen Leiden wird
eine große Bedeutung zugemessen, psychische und
seelische Leiden werden häufig über körperliche
Leiden zum Ausdruck gebracht. Bei der Behandlung bleibt der Patient eher passiv, die Familienmitglieder möchten in die Pflege des Patienten mit
einbezogen werden oder überwachen die Pflege.
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Inkontinenz
Der kranke Muslim wird nicht allein gelassen, er
erfährt das Mitgefühl seiner Angehörigen. Der
Kranke wünscht Besuch von Angehörigen, Freunden und Nachbarn, denn er soll nicht einsam und
traurig sein.
Ein Muslim wird immer einen Arzt/eine Pflegeperson des gleichen Geschlechtes aufsuchen, und
sich nur, wenn nicht anders möglich, vom anderen Geschlecht entblößen oder pflegen lassen.
Körperkontakt ist mit dem anderen Geschlecht
und fremden nicht erlaubt. Wenn nicht anders
möglich, greift die im Koran unter „Das Vieh AlAn´am 6:146“ stehende Regel: „Die Notsituation
macht das Verbotene erlaubt“.
Beschreibung der kulturellen Unterschiede
anhand der AEDL´s
Anhand der AEDL nach Krohwinkel möchten wir
vier kulturelle Unterschiede der islamischen
Kultur näher beleuchten. Hierfür haben wir die
AEDL´s „sich pflegen“, „ausscheiden“ und „mit
existentiellen Erfahrungen des Lebens umgehen“
ausgewählt:
Das Ausüben der persönlichen Körperhygiene
wird von vielen Faktoren beeinflusst. Zu diesen
gehört das persönliche Bedürfnis nach Reinheit,
das soziale Umfeld, eigene Erfahrung sowie die
Kultur jedes Einzelnen. Jede Kultur gibt der Körperpflege eine besondere Bedeutung.
Durch die individuellen Vorstellungen, Rituale
und Auffassungen von der Körperpflege der einzelnen Kulturen sind die Motive und die Ziele der
Körperhygiene unterschiedlich. Mit diesem AEDL
gehen wir auf die rituelle Waschung und die
Intimrasur der muslimischen Menschen ein.
Die rituelle Waschung wird als Vorbereitung auf
das tägliche Gebet durchgeführt. Jeder gläubige
Muslim führt 5 Gebete täglich durch:
1. Gebet Sonnenaufgang
2. Gebet Sonne im Zenit
3. Gebet Nachmittag
4. Gebet ca. Sonnenuntergang
5. Gebet ca. 2 Stunden nach dem Sonnenuntergang
Das Gebet wird auf einer sauberen Unterlage in
Richtung Mekka ausgeführt. Die genauen Zeiten
bestimmt der Sonnenaufgang in Mekka. Um diese
zu erfahren gibt es Berechnungstabellen, oder der
Gläubige schaut ins Internet.
Das Gebet ist die zweite Säule des Islams; jeder
Muslim ist dazu verpflichtet die Gebete durchzuführen. Dazu kommen eine Reihe von speziellen
Gebeten und das traditionelle Freitagsgebet, das in
der Moschee verrichtet wird.
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Im Falle einer Krankheit ist der muslimische
Mensch vom Gebet befreit. Wenn möglich sollte
der Kranke beten und um eine Heilung bitten.
Die Gebetshaltung muss nicht eingehalten werden, hierbei reicht eine Andeutung der Haltung
mit dem Kopf oder Arm aus. Nach einer Vorschrift durch den Koran ist für den kranken Gläubigen zu beachten, dass einige Suren nicht gebetet
werden dürfen. Das Betreten der Moschee ist bei
bestehender Unreinheit verboten, diese muss vorher beseitigt werden.
Die Voraussetzung zum Durchführen der Gebete
ist die rituelle Körperreinigung. Nur derjenige, der
sich auch seelisch auf das Gebet vorbereitet, ist
bereit, Allah anzubeten. Im Wochenbett, bei
Monatsblutungen, bestimmten Krankheiten und
bei bestehender Geisteskrankheit ist das Beten
und Betreten der Moschee sowie die Durchführung der rituellen Waschung verboten. Sonst ist es
Pflicht eines gläubigen Moslems, die fünf Gebete
täglich durchzuführen und bei Versäumnissen
nachzuholen, mindesten aber Freitags am Gebet
in der Moschee teilzunehmen.
Danach ist man bereit, die Waschung durchzuführen.
Diese wird unter fließendem Wasser durchgeführt,
eine Gießkanne oder Gefäß kann die fließende
Quelle ersetzen. Wenn am Waschbecken die
Waschung durchgeführt wird, muss darauf geachtet werden, dass sich der Wasserhahn auf der rechten Seite befindet.
Der Ablauf der Waschung wird im Ratgeber der
Projektgruppe dargestellt.
Die Sure „Der Tisch“ schreibt den Ablauf der
Waschung vor. Hier wird definiert, was eine kleine
und große Unreinheit ist und welche Art der
Körperreinigung durchzuführen ist.
Die große Unreinheit:
E Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner
E Ende der Menstruation
E Nach Beendigung des Wochenbettes
E Vor dem Freitagsgebet
E Vor dem Eintritt in den Islam
E Nach einer Fehlgeburt
Diese Unreinheiten verlangen vom gläubigen
Muslim eine Ganzkörperwaschung, möglichst
unter der Dusche. Wichtig hierbei ist auch das
Begießen des Kopfes und der Füße mit reinem
Wasser.
Die kleine Unreinheit
E Berührungen mit Alkohol
E Berührungen mit Blut
E Berührungen mit Schweinefleischhaltigem
E Berührungen mit Sperma
E Berührungen mit Exkrementen
E Berührungen mit Tieren insbesondere Hunden
und Schweinen
Inkontinenz
E Berührungen mit Personen des anderen
Geschlechts, die sich sexuell betätigen
E Nach Blähungen
E Nach dem Urin lassen
E Nach Stuhlgang
E Nach einem Ohnmachtsanfall
Die kleinen Unreinheiten verlangen vom Gläubigen eine rituelle Waschung zur Wiedererlangung
der Reinheit. Diese muss direkt nach dem Ereignis durchgeführt und zu den Gebetszeiten wiederholt werden, es reicht die Waschung nach der
Unreinheit nicht aus.
Sauberkeit und Körperpflege nehmen im Islam
einen sehr hohen Stellenwert ein, doch die Motive
für die Rasur der islamischen Anhänger sind nicht
nur hygienischer und ästhetischer Natur. Der
Hauptbeweggrund ist von religiöser Bedeutung.
Mit der bestehenden ursprünglichen religiösen
Tradition sowie aus hygienischer Sicht ist es für
jeden Moslem eine Selbstverständlichkeit, die
Intimrasur durchzuführen.
Die Ausscheidung von Harn und Stuhl in islamischen Ländern geschieht in der Regel in Hockstellung. Toilettenpapier wird nicht benutzt, falls
doch, wird es nicht in der Toilette, sondern im
Papierkorb entsorgt. Die Reinigung nach der
Miktion oder Defäkation erfolgt mit Wasser und
der linken Hand. Die linke Hand gilt als unrein.
Nach dem Urinieren ist es wichtig, das Tröpfeln des
Harns zu unterbinden (...), um sich äußerlich rein
zu halten“.
Frau Monika Krohwinkel (1993) erläutert die
Wichtigkeit des AEDL`S „Mit existentiellen
Erfahrungen des Lebens umgehen“, wie folgt:
Existentielle Erfahrungen wurden als wesentlicher
Bereich in das Gesamt der AEDL aufgenommen, um
sie explizit sichtbar zu machen und ihnen einen
gesonderten Stellenwert zu geben (…). Grundsätzlich
wird davon ausgegangen, dass existentielle Erfahrungen „Begleiterscheinungen“ aller anderen AEDLBereiche sind oder sein können, wenn sie nicht als
eigenständiger Bereich auftreten. Es ist allerdings
bekannt, dass gerade diese psychologischen Vorgänge
nicht wahrgenommen (…) werden. (S.151)
Unsere Aufmerksamkeit in diesem AEDL lenken
wir auf eine stark die Existenz gefährdende Erfahrung im Islam – die Genitalverstümmelung der
Frau.
Die weibliche Beschneidung, als so genannte
FGM – Female Genital Mutilation, auf deutsch:
weibliche Genitalverstümmelung, wird weiterhin
praktiziert. Die Hilfsorganisation TERRE DES
FEMMES Menschenrechte für die Frau e.V.
(2004) beschreibt, dass nach WHO schätzungsweise weltweit mehr als 150 Millionen Mädchen
und Frauen der Genitalverstümmelung unterzogen
worden sind. Dazu kommen jedes Jahr erneut
etwa zwei Millionen Mädchen, „Opfer“, dazu.
Das Gebiet, in dem das Ritual der Genitalverstümmelung praktiziert wird, ist sehr weitläufig.
Es umfasst neben den afrikanischen Ländern auch
die Länder, in der die muslimische Kultur gelebt
wird, u.a. Vereinigte Arabische Emirate, Oman,
Jemen, Indien, Pakistan, Indonesien u.v.m..
Auch in Deutschland leben etwa 20.000 betroffene Frauen, die teilweise illegal dem Ritual der
Genitalverstümmelung unterzogen werden. Die
Motive für die weibliche Genitalverstümmelung
sind breit gefächert.
Das Ritual der Beschneidung läuft nicht nach
einem bestimmten Schema ab. Es gibt 4 unterschiedliche Formen der Vorgehensweise, die nach
WHO eingeteilt sind. Die weitreichendste Form
mit negativen Folgen für die Gesundheit der
Frauen ist die „pharaonische Beschneidung mit
anschließender Infibulation - bei der die Klitoris und
die kleinen Schamlippen entfernt, die großen Schamlippen ausgeschabt und manchmal auch Gewebe aus
der Vagina entfernt werden und anschließend die
Wunde mit Dornen zusammengesteckt“ oder mit
Katzen- oder Schafdarm zusammengenäht wird.
Es soll nur ein streichholzgroßes Loch zum Abfließen von Urin und Menstruationsblut verbleiben.
„Diese Art macht 15 % aller Genitalverstümmelungen aus.“
Die Folgen der Beschneidung hängen vom Grad
der Verstümmelung ab. „Die Verstümmelungen verursachen bei den Frauen körperliche, seelische und
sexuelle Schäden, die zu drastischen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, häufig sogar zum Tod führen
können“. Durch den Einsatz des verschiedenen
Werkzeugs, sowie durch das eingeschränkte Sehvermögen der Beschneiderin kann es zur irreparablen Schädigung des Gewebes, der genitalen Blutgefässe, sowie der Nerven kommen. Durch die
Verletzung der Analmuskulatur, des Darmes oder
der Harnröhre können Kontinenzstörungen im
Bereich Urin und Stuhl auftreten. Des Weiteren
treten aufgrund der unhygienisch durchgeführten Operation Entzündungen im Urogenitalbereich auf, die oft in
einen chronischen Verlauf
übergehen. Diese Entzündungen führen häufig zur
Fistelbildung zwischen Blase
und Vagina oder Mastdarm
und tragen zur Entstehung
von Kontinenzstörungen bei. Beschneidungs-„Instrumentarium“
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Inkontinenz
Frauen, die einer Infibulation unterzogen worden
sind, haben bei der Miktion eine weitere Problematik. Die verbleibende Öffnung zum Abfließen
von Urin und Menstruationsblut ist oft zu klein,
so dass eine Blasenentleerung 30 Minuten bis
3 Stunden dauern kann. Unmittelbar nach der
Beschneidung unterdrücken betroffene Frauen
bewusst die Entleerung der Blase, um nicht unter
den entstehenden Schmerzen leiden zu müssen.
Es kommt zu schmerzhaften und gefährlichen
Stauungen bis hin zu einem akuten Harnverhalt.
Weiterhin kommt es zu rezidivierenden Entzündungen von Blase und Nieren. Die weiteren
gesundheitlichen Folgen können u. a. sein: ein
hoher Blutverlust, der bei der Durchtrennung der
Arterien entstehen kann, Infekte einschließlich
HIV-Übertragung. Fast alle Frauen leiden unter
chronischen Schmerzen, die aufgrund des Durchschneidens der Nerven, die im Genitalbereich sehr
zahlreich vorhanden sind, entstehen.
„Darüber hinaus können auch psychische Wunden
entstehen, u.a. wird von Schlaf-, Ess- und Konzentrationsstörungen und Depressionen bis hin zum
Suizid berichtet. Viele Frauen leiden aufgrund der
extremen Tabuisierung still“.
Auch in Europa wurden bis ins 19. Jahrhundert
Formen der Genitalverstümmelung aus medizinischen Gründen (Heilung von Hysterie, Behandlung des Gebärmuttervorfalls, Vermeidung der
Empfängnis) durchgeführt. Sie sind jedoch in
Europa ausgestorben durch Gesetze zum Schutz
der Frau, das zunehmende Selbstbewusstsein der
Frau und medizinische Beweise für körperliche
und seelische Schäden.
Umgang, Einschränkungen und Erwartungen
der Muslime
Aus unserer Literaturrecherche heraus war uns ein
Gespräch mit einem Imam zur grundsätzlichen
Haltung zum Umgang mit Kontinenzstörungen
wichtig. Wir haben daher mehrfach mit Herrn
Sevket Zengin, Imam der Islamischen Gemeinschaft e.V. Krefeld gesprochen.
Der Imam ist Diplom-Theologe und hat im
Umgang mit Krankheiten der Mitglieder seiner
Moschee viel Erfahrung. Nach einem Vorgespräch,
in dem das Projekt vorgestellt wurde, hat er sich
erst einmal selbst über unsere Projektarbeit informiert. In einem zweiten Schritt hat er sich die
Fragen detailliert erklären lassen und sich erneut
informiert. In einem dritten Gespräch hat er dann
Stellung zu den einzelnen Fragen genommen und
Grundsätzliches aus seiner Sicht gesagt.
Den Ausdruck Inkontinenz kennen die Muslime
nicht. Sie sprechen von einem Leiden bei der man
Flüssigkeit vorne oder hinten verliert.
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Eine geschlechtliche Trennung der Befragung sei
notwendig, da es eine solche Trennung auch im
täglichen Leben der Muslime gibt.
Bei Krankheiten einen Arzt aufzusuchen ist religiöse Pflicht eines jeden Muslims. Die Information
an Dritte wird freigestellt, wobei seiner Meinung
nach der Lebensgefährte oder Ehepartner informiert werden muss. Er selbst als Imam wird häufig ebenfalls informiert.
Für ihn würde es keine Einschränkungen im
gesellschaftlichen Leben geben und erklärte es wie
nachfolgend zusammengefasst:
Eins der ersten Gebote der Muslime ist es, vor
Feierlichkeiten und besonderen gesellschaftlichen
Anlässen zu duschen, um für sich selbst und seine
Mitmenschen angenehm zu riechen. Ist der
Muslime inkontinent und hat Angst, unangenehm
zu riechen, bleibt er freiwillig und gerne zu
Hause. Er verbringt damit eine gute Tat, indem er
die anderen nicht belästigt.
Im religiösen und kulturellen Leben sieht der
Imam Einschränkungen nur wenn das Problem
kurzfristig besteht. Dann ist die rituelle Waschung
nicht möglich, da immer Flüssigkeit aus Blase
oder Darm an die Haut kommt. Dies gilt nur bei
der Versorgung mit Vorlagen oder Windelhosen.
Ist der Muslime jedoch auf Dauer an diesem Leiden erkrankt und versorgt sich mit dem maximal
möglichen an Hilfsmitteln, kann er ohne Einschränkungen sein religiöses und kulturelles Leben
fortsetzen, solange er andere nicht mit z.B.
starkem Uringeruch schadet. Der Koran sage ausdrücklich, dass im Krankheitsfall, wenn alles zur
Bekämpfung dieser Krankheit getan wurde, es
keine Einschränkungen geben darf.
Die Frage, was sich Muslime von nicht-muslimischem Pflegepersonal wünschen würden, beantwortete er wie folgt: Oberster Grundsatz muss die
Gesundheit sein. Auf alles kann und muss verzichtet werden, wenn es der Gesundheit dient.
Hieraus sei auch zu erklären, dass der Muslime
alles ohne große Nachfrage ausführt, was von
einem Arzt angeordnet wird. Die Ermöglichung
der Gebete mit ritueller Waschung ist sicherlich
für die Genesung hilfreich und hierbei kann ohne
weiteres nicht-muslimisches Pflegepersonal Hilfestellung geben. Bei der Einhaltung der Regeln der
Körperpflege ist es wichtig, nach Möglichkeit die
linke Hand als unrein zu sehen und diese nicht
z.B. zum Waschen des Gesichts zu nehmen, aber
unbedingt zum Waschen der Genitalien.
Tägliches Duschen, wenn möglich, wird den
muslimischen Patienten bei der Genesung sehr
unterstützen, da er sich auch im religiösen Sinne
sauber fühlt. Die Vorschriften zur Einhaltung des
Ramadans müssen nur dann eingehalten werden,
wenn dem Muslime daraus kein gesundheitlicher
Inkontinenz
Nachteil entsteht. Soll der Muslime mittags
Tabletten wegen seines Leidens einnehmen darf er
trinken und wenn nötig auch essen. Gleichgeschlechtliche Pflege ist ein Muss, es sei denn, es ist
wirklich absolut begründbar und nachvollziehbar
um Schaden abzuwenden.
Der Muslime muss sich im Krankheitsfall beraten
lassen, so auch in der Versorgung seines Leidens,
um das Beste für seine Gesundheit zu tun.
Auf die Frage, warum bei den doch relativ klaren
Vorgaben so unterschiedliche Wünsche geäußert
wurden, meint er, gäbe es sehr viele Muslime, die
gar nicht Wissen, was der Islam ist und diese
Religion nur als Statussymbol verwenden. Viele
kennen nur die Überschriften und leben danach.
Andere halten sich überhaupt nicht an den Koran
und kennen diesen kaum.
Sein Fazit: Immer den Menschen mit seiner
Menschenwürde zu sehen und jeden Muslimen als
individuelle Person anzunehmen und zu pflegen.
Über dieses Projekt ist er sehr froh und wird es
gerne zum Anlass nehmen, eine Informationsveranstaltung in der Moschee zum Thema „Verlieren
von Flüssigkeit aus Blase oder Darm“ durchzuführen.
Bei unserer Recherche haben wir viel über die
Kultur, den Glauben und den Umgang mit
Krankheit bei muslimischen Menschen erfahren.
Allgemeine Informationen zu den Themen
Körperhygiene, Ausscheidung und soziale Aspekte
waren in der Literatur beschrieben. Die Literaturrecherche speziell zum Thema Kontinenzstörungen bei muslimischen Patienten war erfolglos.
Um Informationen zu erhalten, wie die Muslime
mit einer Kontinenzstörung umgehen würden,
welche Einschränkungen sie hätten, aber auch
welche Vorstellungen und Wünsche sie an das
Pflegepersonal richten, haben wir eine Befragung
mittels Fragebogen durchgeführt.
Der Fragebogen wurde an 215 muslimische
Menschen im Alter zwischen 20 und 80 Jahren
verteilt. Der überwiegende Teil der Befragten war
älter als 45 Jahre.
Die Verteilung der Fragebögen erfolgte über den
privaten Bekanntenkreis, im beruflichen Umfeld
und zum überwiegenden Teil in den Moscheen in
Krefeld. Die Bewilligung zur Durchführung der
Befragung durchlief mehrere Instanzen vom stellvertretenden Vorstand des Kulturvereins bis hin
zum Imam. Hierbei stellte sich heraus, dass viele
männliche Gläubige im Falle einer Kontinenzstörung zuerst den Imam aufsuchen würden und
dadurch den Fragebogen nicht ausfüllen wollten.
Wir haben aufgrund der Diskretion und der
Tabuisierung des Themas bewusst Personen
vermutlich ohne Kontinenzstörungen gewählt.
Daraus ergab sich die fiktive Formulierung der
Fragestellung.
Die Rücklaufquote der Fragebögen beträgt 44%,
das entspricht 95 Fragebögen. Bei der
Geschlechtsverteilung gab es 58 Antworten von
Männern und 37 von Frauen.
Beispielhaft sei hier die Frage: „Sollte ich mit dem
bestehenden Problem des unwillkürlichen Urinund Stuhlabganges im Krankenhaus/Rehaklinik/
Ambulant/Altenheim behandelt werden, würde
ich mir von nicht-muslimischem Pflegepersonal
wünschen (Mehrfachnennungen möglich)“ dargestellt. Es ist eine geschlossene Frage mit möglichen
Mehrfachnennungen die uns eine greifbare Aussage über die Wünsche der Befragten bei der
Pflege geben.
Diese Frage baut auf den vorangegangenen Fragen
auf. Zuvor hatten die Befragten zunächst allgemein die Möglichkeit, über den Umgang mit der
Kontinenzstörungen und ihrer Auswirkungen
nachzudenken. Wir haben uns bewusst zu dieser
Vorgehensweise entschieden, so dass sie einen
Bezug zur Problematik Kontinenzstörungen
bekommen. Die eigentlichen Wünsche und
Erwartungen an das nicht-muslimische Pflegepersonal werden erst hier formuliert.
Die Antworten geben darüber Auskunft:
männlich
weiblich
Nichts
4
5
Ermöglichung der Gebete mit ritueller
Waschung evtl. Hilfestellung
18
16
Einhaltung der Regeln der Körperpflege
17
18
Tägliches Duschen
27
23
Einhalten der Vorschriften des Ramadans
16
18
Pflege von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau
51
25
Verwendung meines bevorzugten Inkontinenzproduktes
3
3
Beratung
23
12
Keine Berührung an bestimmten Körperregionen, z.B.:
Brustregion
Intimbereich
Gesäß
Bauch
5
/
4
/
13
1
8
1
Intimsphäre wahren
/
1
Respektvolles Umgehen
1
/
Ein freundliches Lächeln
/
1
Kranke brauchen nicht fasten und beten
1
/
Braucht er Hilfe beim Waschen
kann der Patient in der Regel nicht beten
1
/
Türkisch sprechendes Personal
/
1
Verständnis für muslimische Feiertage und Gebetszeiten
/
1
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Inkontinenz
Es zeigt sich, dass die gleichgeschlechtliche Pflege
einen hohen Stellenwert hat. Eine relativ starke
Gewichtung liegt auf den Gebeten einschließlich
der rituellen Waschung, die Einhaltung der Regeln
der Körperpflege mit täglichem Duschen und das
Einhalten des Ramadans. Der Wunsch nach Beratung ist deutlich erkennbar.
Eine weitere Frage lautete: Haben Sie Interesse an
Informationen über die Pflege und Versorgung
von muslimischen Patienten?
Diese Frage wurde als halboffene Frage gestellt.
Die Antworten geben Aufschluss über das Interesse des Pflegepersonals zu diesem Thema, wobei
97 positive Rückmeldungen kamen.
Zeitgleich führten wir eine Befragung von nichtmuslimischem Pflegepersonal durch. Das Ziel der
Befragung war die Erfassung des Kenntnisstandes
in Bezug auf das kulturelle Pflegeverständnis beim
nicht-muslimischen Pflegepersonal in Deutschland. Der Fragebogen wurde an 200 Pflegekräfte
verteilt. Die Befragung erfolgte in verschiedenen
Krankenhäusern in operativen und konservativen
Fachabteilungen, sowie in einer Rehaklinik mit
neurologischem Schwerpunkt. Die Rücklaufquote
der Fragebögen beträgt 72%, das entspricht 144
Fragebögen.
Ein Vergleich zwischen der theoretischen Grundlage (Koran) und der praktischen Umsetzung
(Befragung der Muslime) und dem Kenntnisstand
des Pflegepersonals zeigt eine Diskrepanz zwischen
den Erwartungen der Muslime und dem Wissen
bzw. der Handlungsweise des nicht-muslimischen
Pflegepersonals.
Um dieses Missverhältnis auszugleichen, stehen uns
verschiedene Methoden der Informationsweitergabe zur Verfügung. Zur Aufklärung des Pflegepersonals wurde in der Projektarbeit ein Ratgeber
entwickelt, der Informationen zur Pflege muslimischer Patienten mit Kontinenzstörungen enthält.
Der entstandene Ratgeber hat Kitteltaschenformat,
so dass er zu jeder Zeit greifbar ist. Der in W-Form
entwickelte Ratgeber ist von beiden Seiten bedruckt und wie eine Ziehharmonika aufklappbar.
Um in Zukunft eine bedürfnisorientierte Pflege
durchführen zu können, füllen die Informationen
zur pflegerischen Versorgung die ersten zwei
Seiten des Ratgebers aus.
Da die muslimischen Mitmenschen einen großen
Wert auf die Beratung im Hinblick auf die
Kontinenzstörungen legen, sind auf der Seite drei
und vier die Hilfsmittel mit Angaben und ihrer
Indikation aufgeführt. Die Reihenfolge richtet
sich von aufsaugenden Versorgungsprodukten bis
hin zur invasiven Dauer-Harnableitung.
Ergänzend zu den Versorgungsprodukten wird die
Beckenbodengymnastik aufgeführt, die begleitend
angeboten werden kann.
Das Beten mit einer vorausgehenden rituellen
Waschung nimmt einen sehr großen Raum in der
muslimischen Kultur ein. Muslimen mit einer
Kontinenzstörung ist es wichtig, weiterhin das
Beten auszuüben. Ist ein Moslem nicht in der
Lage eine rituelle Waschung selbständig durchzuführen, ist er für eine Hilfestellung von Seiten
des Pflegepersonals offen. Um die Durchführung
der genannten Waschung den Pflegekräften zu
erläutern und um eine Hilfestellung zu ermöglichen, beinhalten die Seiten fünf und sechs eine
Anleitung in schriftlicher sowie bildlicher Form
zur rituellen Waschung.
Der Ratgeber ist über die Projektgruppenmitglieder zu beziehen.
Beispielhaft sei hier die Frage: Wissen Sie etwas
über die Gewohnheiten der Körperpflege von
Moslems insbesondere über die Intimpflege?
Diese Frage wurde als halboffene Frage gestellt,
bei einer Ja-Antwort wurden die Pflegekräfte dazu
aufgefordert, eine konkrete Aussage zu machen.
Wir haben uns bewusst für die Frage nach der
Körperpflege entschieden, da eine rituelle
Waschung immer nach der Ausscheidung erfolgen
sollte. 80 von 144 Personen antworteten mit nein.
Es zeigt sich, dass ein Teil der gegebenen Antworten nur unvollständig oder sehr allgemein gehalten
ist, einige der Antworten sind falsch.
Nicht-muslimisches Pflegepersonal scheint nur
geringe Kenntnisse zu den Pflegegewohnheiten
muslimischer Mitmenschen zu haben. Dies bestätigt sich durch weitere aufbauende Fragen.
Gruppenbild
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Anfragen an die Verfasser
Literaturangaben liegen der Redaktion vor